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Detektei Lessing
Band 53
Mord im Herzen unserer Stadt
1
Auf einen warmen Spätsommer folgten ein heftiger Temperaturabsturz und ein nasser September. Die Feuer im Harz waren gelöscht und die Fraktion der Rentner konnte endlich wieder durchatmen. In den Regalen der Discounter und Supermärkten lockten längst Christstolle und Spekulatius. Viel zu früh, fand ich, wie in jedem Jahr. Ich schob den noch leeren Einkaufswagen demonstrativ daran vorbei. Weihnachtszeit war dann, wann ich bereit dafür war, basta!
Ich suchte sämtliche Hosentaschen ab. Irgendwo musste die verdammte Einkaufsliste doch sein! „Hallo Sie, junger Mann! Ihnen ist da gerade was heruntergefallen.“ Ich drehte mich um und sah zunächst in das gutherzige Gesicht einer älteren Dame. Sie deutete mit der Hand auf den vor einem Kühlregal liegenden Zettel. Ich schüttelte den Kopf. „Vielen Dank. Ohne die Liste hätte ich bestimmt die Hälfte vergessen.“
Vielleicht bin ich ja schon etwas zu altmodisch. Gespeichert in meinem Handy wäre mir das sicher nicht passiert. Ich kaufte nicht besonders häufig für Miriam ein, aber ich wurde dennoch das Gefühl nicht los, dass sich die Preise für eine ganze Reihe von Lebensmitteln nahezu verdoppelt hatten. Wieso eigentlich? Die hohen Transportkosten, die von vielen Herstellern als Grund für horrende Preiserhöhungen genannt wurden, waren längst wieder gesunken. Wieso blieben dann die Waren teuer? Wahrscheinlich muss man Politiker sein, um das zu begreifen.
Miriam hatte dieser Tage viel mit dem zu tun, was sich in letzter Zeit vor allem des Nachts am Kornmarkt ereignete. Nach der Neugestaltung des zentralen Busbahnhofs war dieser auch bei einigen Krawallbrüdern sehr beliebt. Leider hatte dies dazu geführt, dass sich dort über die Sommermonate immer mehr Jugendliche aufhielten. Anwohner, die nachts kein Auge mehr zu bekamen, verlangten ein Platzverbot. Genau darin lag jedoch das Problem. Durch ein Verbot kommt man zu keiner Lösung, mit der alle zufrieden sind, das Problem wird lediglich verlagert.
So, wie ich mein Problem in ein anderes Geschäft verlagerte, weil mir dieses zu teuer war. Eine Möglichkeit, die jedem freigestellt ist, der es, wie ich, nicht so dicke hat.
Auf dem Weg zur Detektei fuhr ich, wie zuvor mit Miriam besprochen, an der Kita vorbei. „Wieso kommt mich die Mama heute nicht abholen?“, erkundigte sich Ramona. „Schon vergessen? Wir sprachen heute Morgen darüber“, entgegnete ich ein Auge skeptisch zukneifend. „Weiß ich doch, aber sonst hast du immer so viel zu tun. Haben die Verbrecher heute frei?“ Es sind Momente wie dieser, die mich nachdenklich machen. „Das nicht, aber ab und an möchte ich dich auch mal abholen.“ „Ach so.“ Wieder einmal nahm ich mir vor, in Zukunft mehr Zeit mit meinem Sonnenschein zu verbringen.
„Haben Sie uns ein Päckchen Kaffee mitgebracht, Chef?“, empfing uns Trude mit zweifelndem Blick. Meine Mimik verhieß nichts Gutes. „Der stand nicht auf meiner Liste“, entgegnete ich beschämt. „Sorry, aber an den Kaffee für die Detektei habe ich nicht gedacht.“ „Dann tuts mir leid, aber wer sich drückt, muss zugucken.“ „Ich weiß, wo Mama den Kaffee aufbewahrt“, meldete sich Ramona zu Wort. „Stimmt“, griff ich mir an den Kopf. „Die Mama hat sicher nichts dagegen, wenn ich mir ein Päckchen ausleihe“, griff ich die Idee meiner Kleinen auf. „Aber nicht, dass es deswegen Ärger gibt“, gab mir meine Putzsekretärin mit auf den Weg. Die Sache war mir so schon peinlich genug, zumal ich mich diesmal wirklich nicht vor meinem Obolus drücken wollte.
Kurz darauf saßen wir alle glücklich im Vorzimmer meiner Detektei und genossen den Kaffee, den ich Dank Ramonas Beschreibung in einer Blechdose im Vorratsraum gefunden hatte. „Das ist der beste Kaffee, den ich je getrunken habe“, lobte Trude überschwänglich. „Und Sie wissen wirklich nicht, von welcher Firma der ist?“ „Die Blechdose hatte keinen Aufdruck“, zuckte ich mit den Achseln. „Hoffentlich ist es für Ihre Frau in Ordnung.“ „Da machen Sie sich mal keine Sorgen, Trude. Miriam hat sicher nichts dagegen, dass ich mir ein Tupper voll davon ausgeliehen habe.“
„Wo wir gerade so nett beisammensitzen“, nutzte die gute Seele die Gelegenheit. „Ich bin ja nun nicht mehr die Jüngste und so langsam schleichen sich auch immer mehr Fehler in meine Arbeit.“ „Also davon ist mir bislang nichts aufgefallen“, log ich. „Lieb von Ihnen, Chef, aber ich merke es doch selber, wie mir die Arbeit immer schwerer fällt. Ich glaube, es ist an der Zeit, etwas kürzer zu treten.“ „Sie stecken Leonie und mich doch noch locker in die Tasche“, versuchte ich das Unausweichliche abzuwenden.
„Sie haben mir vor kurzem das Angebot gemacht, halbtags zu arbeiten“, rückte sie mit der Sprache heraus. Mir fiel ein Stein vom Herzen, hatte ich doch das Schlimmste befürchtet. „Ja klar, es wird zwar nicht einfach sein, Sie auch nur für ein paar Stunden zu ersetzen, aber ich denke, Leonie und ich werden irgendwie klarkommen… müssen.“ „Das wird zwar ohne dich echt langweilig werden, aber ich hatte ja die beste Lehrmeisterin, um alleine zurecht zu kommen“, seufzte Leonie. „Ich bin ja nur den halben Tag weg“, relativierte Trude. „Und wenn du Mist baust, werde ich dir schon die Leviten lesen“, fügte sie in ihrer unnachahmlichen Art an. „Na dann bleibt ja doch alles beim Alten“, lachte ich amüsiert.
Bevor wir unsere tägliche Arbeit fortsetzten, sah ich nach Ramona. Sie spielte ganz lieb mit dem Puppenhaus, das ihr Patenonkel für sie gebastelt hatte. Ich erinnerte mich, wie Axel und ich uns kennenlernten und in diesem Zusammenhang an den Toten, der bei den Sanierungsarbeiten der Bahnhofsbrücke im Flussbett der Oker gefunden wurde[1]. Damals lebte er noch als Obdachloser in einer Hütte am Bahndamm. Durch ihn kam ich auf die grandiose Idee, mein Erbe, die ‚Twelkenmühle‘ in eine Stiftung umzuwandeln.
[1] Detektei Lessing Band 20 ‚Penner(un)glück
„Alles in Ordnung, mein Schatz?“, erkundigte ich mich von meinen Gedanken ergriffen. „Bei mir schon, Papi, aber weshalb bist du so traurig?“ „Oh, nein, nein, ich bin nicht traurig“, beruhigte ich sie. „Ich erinnerte mich nur gerade an früher und daran, wie langweilig es ohne dich war.“ „Ach so.“
Ein Blick zur Uhr verriet mir, wie viel Zeit ich noch für die Zubereitung des Abendessens hatte. Da Miriam und ich sehr darauf achteten, gesund und frisch zu kochen, hatte ich mich beim Einkauf für Spaghetti mit Tomatensauce entschieden und eine Rebe mit Kirschtomaten gekauft. Ich hatte mal gelesen, dass diese Sorte einen recht intensiven Geschmack hat. Ein mediterranes Aroma konnte nur von Vorteil sein, wenn Ramona und ich Miriam mit unseren Kochkünsten begeistern wollten, aber bis es so weit war, hatte ich noch genug Zeit, um in die Detektei hinunterzugehen.
„Na Mädels wie sieht es aus, habt ihr euch heute schon ins Verdienen gebracht?“ Trude und Leonie sahen mich herausfordernd an. „Meinen Sie nicht, dass dazu mal wieder ein vernünftiger Auftrag von Nöten wäre?“, konterte meine Putzsekretärin. „Es scheint, als wären die Wolfenbütteler über Nacht solide geworden. Wir müssen uns wohl oder übel mit langweiligen Versicherungsrecherchen über Wasser halten“, seufzte ich. „Immer noch besser als immer neue Fälle von Ehebruch“, gab Leonie zu bedenken. „Ich bin schon so weit, dass ich schon gar nicht mehr heiraten will.“ „Oh, da musst du den Job aber besser vom Privatleben trennen“, hielt Trude dagegen. „Die Liebe ist etwas Wunderbares, dass du unbedingt erleben solltest.“ „Na so toll kanns nicht sein, wenn sich so viele Paare wieder trennen. Da bleibe ich lieber gleich solo.“
Als langjähriger überzeugter Junggeselle hatte ich mich mit dem Schritt in die Ehe schwergetan und lange gezweifelt, ob sie für mich das richtige war, aber letztlich war es für mich genau der richtige Zeitpunkt, um in ruhiges Fahrwasser zu wechseln. Sicher galt es so mancher steifen Briese zu trotzen und dem einen oder anderen Felsen in gefährlicher Brandung auszuweichen, aber letztlich umschifften Miriam und ich dabei so manche Turbulenzen.
„Lass dir Zeit, genieße das Leben und wenn es irgendwann so weit ist, wirst du es schon wissen“, riet ich meiner Azubine. „Wenn der Richtige an deine Tür klopfst, wirst du ihm öffnen“, lächelte Trude süffisant. „Ist noch was von dem Kaffee da?“, erkundigte ich mich, ehe ich in meinem Büro verschwand. „Nee, der ist alle“, entgegnete Trude. „Wenn Sie wollen, setze ich noch mal eine Kanne an.“
Umso mehr getrunken wurde, umso schneller musste ich für Nachschub sorgen, überlegte ich. „Nein, das ist nicht nötig“, wiegelte ich ab. „So viel Kaffee ist ja auch gar nicht gesund.“ „Der war aber auch lecker. Wissen Sie inzwischen die Marke?“ „Ups, da habe ich jetzt gar nicht nachgesehen, aber eigentlich sind Sie doch unsere Expertin.“ „Wenn Sie mal dran denken, Chef, es würde mich schon interessieren.“ Ich versprach es ihr und verschwand in meinem Büro.
2
Seit einer guten Stunde schon saß Bernd Giebel an der Theke seiner, um seinen Kummer in Bier zu ertränken. Obwohl seine Scheidung bereits mehrere Monate zurücklag gab es keinen Tag, an dem er nicht mit seinem Schicksal haderte. Er war sich seiner Schuld bewusst und er kämpfte seitdem um seine große Liebe und natürlich auch um Kevin und Marie. Er hatte das alte Fachwerkhaus in der ‚Krumme Straße‘, welches er schon vor einigen Jahren von seinem Vater überschrieben bekam, mit viel Fleiß und noch mehr Geld über die Zeit in ein modernes Wohnhaus verwandelt. Dabei war seine Familie zu kurz gekommen. Ein Umstand, den er immer wieder als unumgänglich abtat, wenn sich Madeline deswegen beklagte.
Er bekam nicht mit, wie sie sich an anderer Stelle Trost und Aufmerksamkeit suchte, wie sie letztlich ihr Leben ohne ihn lebte. Als er es bemerkte, war es zu spät. Er zog aus, weil sie ihm erklärte, etwas Abstand zu brauchen, weil sie ihm weismachte, sich ihrer Gefühle zu ihm bewusst werden zu wollen, weil sie ihm versprach, dass er nach einer Weile der Trennung zu ihr zurückkehren konnte. In Wirklichkeit war ihr neuer Liebhaber, kaum dass er das Haus verlassen hatte, bei ihr eingezogen. Ein Umstand, von dem er erst erfuhr, als ihr nach der Scheidung das Haus zugesprochen wurde.
Selbst danach kämpfte er weiter um sie und die Kinder. Er passte sie nach der Schule ab, machte ihnen Geschenke und schickte seiner Ex jede Woche rote Rosen. Er schrieb Briefe und rief sie fast täglich an, um ihr seine Liebe zu beweisen, doch trotz all seiner Bemühungen wurde die Kluft zwischen ihnen immer größer. Irgendwann begann er aus lauter Verzweiflung zu trinken und als er keinen Sinn mehr in seinem Leben sah, verlor er auch noch seine Arbeit.
„Gibst du mir noch was auf Pappe, Claudi?“, fragte er die Bedienung nach einem ernüchternden Blick in sein Portmonee. „Nee Bernd, sorry, aber du stehst schon zu tief in der Kreide. Ich bekomme sonst Ärger mit meinem Chef.“ „Ist schon gut, es reicht ja auch für heute“, entgegnete er einsichtig. „Mach ihm noch ein Bier auf meine Rechnung“, meldete sich ein weiterer Gast zu Worte. Bernd sah zu ihm hinüber. Er hatte den Mann nie zuvor im ‚Zimmerhof 13‘ gesehen.
„Wie komme ich zu der Ehre?“, erkundigte sich der Dachdecker. „Es scheint Ihnen momentan nicht so gut zu gehen und ich kann mich dagegen derzeit nicht beklagen“, entgegnete der unbekannte Gast. „Weshalb soll ich nicht ein wenig von meinem Glück abgeben?“ „Das ist aber sehr anständig von Ihnen“, lallte Bernd. „Ich habe Sie noch nie hier gesehen“, bekundete er, während er von seinem Barhocker rutschte und zu dem edlen Spender hinüberwechselte. „Vielleicht wollen Sie mir ja von Ihrem Glück erzählen?“
Nachdem sich Bernd Giebel auf dem Hocker neben dem Unbekannten niedergelassen hatte, begann er seinem neuen Freund von seinem Schicksal zu erzählen. Der hörte ihm geduldig zu und spendierte eine Runde nach der anderen. „Wieso habe ich dich hier noch nie gesehen?“, fragte er irgendwann. „Ich bin erst kürzlich von Hannover nach Wolfenbüttel umgezogen.“ „Haste schon ne Bleibe?“ „Na klar, mach dir keine Sorgen.“ „Verheiratet bist du wohl nicht?“, hakte Bernd nach. „Ich komme ganz gut ohne aus“, zwinkerte ihn der Mann zu, der sich Malte nannte. „Aber schwul biste nicht, oder?“ Bernds spendabler Freund lachte. „Keine Angst, ich bin einfach nur gern Single.“
Es folgten etliche Bier und Schnapsrunden, bei denen Bernd von seiner Ex und den Kindern erzählte. Kein einziges Wort verlor er dagegen über ihren neuen Liebhaber. Es hatte fast den Anschein, als würde er dessen Existenz geradezu leugnen. Gegen Mitternacht waren sie die letzten Gäste und Claudi verkündete den Feierabend. Während Malte in Richtung ‚Krambuden‘ ging, saß Bernd noch eine Weile auf der Ufermauer neben der Kneipe. Die frische Luft setzte ihm mächtig zu, oder war es die Tatsache, dass er viel zu viel getrunken hatte?
„Seht mal, da vorn pennt einer auf der Mauer“, deutete Luca auf den Dachdecker. „Der ist sicher total besoffen“, vermutete Nuetcho, während sich der Abstand zu Bernd Giebel verkleinerte. „Wenn der sich im Schlaf herumdreht, weil er sich in seinem Bett glaubt, wird er eine böse Überraschung erleben“, lachte der sechzehnjährige Luca. „Warum sollen wir es dem Zufall überlassen?“, überlegte Giuseppe. „Ich wette, der ist schlagartig wieder nüchtern.“ „Das kannst du nicht machen“, brachte Luca seine Bedenken zum Ausdruck. „Der könnte einen Herzschlag bekommen oder in der Oker ertrinken.“ „Ich mach doch nur Spaß.“
Im selben Moment richtete sich Bernd auf und sah die Jugendlichen keine zehn Meter von ihm entfernt. „Morgen“, begrüßte er die Kids lallend. „Ach du scheiße, ich kenn den“, flüsterte Giuseppe seinen Freunden zu. „Das ist der Vater von Kevin Giebel.“ „Habt ihr nen Schluck zu trinken?“, hatte Bernd noch immer nicht genug. „Mein Hals ist so trocken.“ „Du hast doch noch den Flachmann“, erinnerte sich Nuetcho. „Mal sehen, was passiert, wenn er sich den auch noch reindrückt.“
Giuseppe reichte dem Mann auf der Mauer die Flasche mit Wodka. „Das is sehr anständig von euch, Jungs“, entgegnete Bernd, während er sich mühte, den Verschluss zu öffnen. Die Jugendlichen sahen ihm amüsiert zu, wie er sich von der Mauer erhob und von einem Bein auf das andere torkelte. Irgendwann hatte er den Verschluss abgedreht und setzte den Flachmann an, um ihn in einem einzigen Zug zu leeren.
„Ich fass es nicht, der Kerl steht immer noch“, konnten es Luca und seine Freunde kaum glauben. So etwas wie Enttäuschung machte sich unter den Kids breit. Die erhoffte Reaktion war ausgeblieben und somit wurde der Betrunkene uninteressant. „Ach lasst den doch, mal sehen was auf dem Kornmarkt abgeht.“ Somit beachteten sie Bernd Giebel nicht mehr und gingen weiter in Richtung ‚Harztorplatz‘.
Am Durchgang zum Stadtmarkt setzten sie sich auf das Geländer der Oker, wo sie sich über Bernd lustig machten. Nuetcho steckte einen Joint an und ließ ihn kreisen. Die Stimmung unter den Kids wurde ausgelassener. Ziemlich aufgekratzt setzen sie schließlich ihren Weg in Richtung Kornmarkt fort. Sie bemerkten nicht, dass ihnen Bernd in einigem Abstand folgte.
„Der Penner ist tatsächlich Kevins Alter?“, fragte Luca irgendwann nach. „Ist wohl ein ziemlicher Loser.“ „Seine Mutter hat sich von dem scheiden lassen“, bestätigte Giuseppe. „Trotzdem stalkt der die ganze Familie.“ „Dann hätten wir ihm einen Denkzettel verpassen sollen.“ „Was geht es uns an?“, zuckte Nuetcho mit den Achseln.
Die drei Jugendlichen waren inzwischen an den überdachten Sitzbänken der Bushaltestellen vor dem Möbelhaus Balzer angekommen. Nuetcho zog zur Überraschung seiner Freunde eine Dose Bier aus der Jackentasche und öffnete sie. Während die Jungs das Getränk kreisen ließen, näherte sich ihnen Bernd Giebel. Er konnte sich kaum auf den Beinen halten, stolperte mehr als er ging und doch erkannte er die Jugendlichen wieder.
„Ihr habt ja noch zu trinken“, stammelte er sich auf Luca zubewegend, weil der die Bierdose in der Hand hielt. „So nicht, du Penner!“, sprang Nuetcho auf und schubste den Betrunkenen von seinem Freund weg. Woraufhin Bernd auf Giuseppe zu stolperte. Der schubste ihn zurück und so machten sich die Jungs einen Spaß daraus, den Betrunkenen im Kreis herumzuschubsen. Dabei grölten sie so ausgelassen, dass in den Wohnungen über der ‚Wursteluffe‘ die Fenster aufgingen und wütende Anwohner um Ruhe ersuchten.
Plötzlich stürzte der Volltrunkene und schlug mit dem Kopf an eine der Sitzbänke der Haltestelle. „Die Polizei ist gleich da!“, rief einer der Zeugen und bewirkte damit, dass sich Nuetcho und Luca aus dem Staub machten, während Giuseppe nach dem Betrunkenen sah. „Jetzt raubt der ihn auch noch aus!“, schlussfolgerte einer der Anwohner empört und filmte alles mit seinem Handy.
3
„In der vergangenen Nacht ist das passiert, was ich seit Wochen befürchtete“, informierte mich Miriam zwischen Orangensaft, Boretsch und Marmelade. „Auf dem Kornmarkt gab es einen Toten. Mehrere Jugendliche sollen einen Mann angegriffen und ausgeraubt haben. Offenbar eskalierte die Situation so heftig, dass sich das Opfer bei einem Sturz tödlich verletzte.“ Ich schüttelte betroffen den Kopf und fragte mich, wohin die Verrohung in unserer Gesellschaft noch führen würde.
„Hauptkommissar Sinner rief eben an und bat mich, in die Dienststelle zu kommen. Offenbar wurde bereits ein Tatverdächtiger festgenommen.“ „Na das ging ja schnell.“ „Bist du so lieb und kümmerst dich um Ramona?“ „Ja klar. Wir kochen dann wieder was Leckeres zum Abendessen.“ Miriam sah mich geschockt an. „Bitte nicht! Ich habe die vielen Spritzer von der Tomatensauce immer noch nicht alle wegbekommen.“ „Sei nicht so spießig“, hielt ich dagegen. „Unser Schatz hatte eine Menge Spaß.“ „Ja, ich auch.“
Meine Güte, wo gehobelt wird, da fallen schon mal ein paar Späne, dachte ich mir insgeheim. Ramona und mir hatte es zumindest richtig gut geschmeckt und das ist doch wohl die Hauptsache. Ich fragte mich nur, was ich mit dem Rest machen sollte. Da ich nur das Rezept für ein Kilo Spagetti kannte, war mehr als ein halber Topf voll übriggeblieben. Davon würden wir wahrscheinlich noch den Rest der Woche essen.
„Guten Morgen Frau Lessing-Herz“, begrüßte Hauptkommissar Sinner die Staatsanwältin in seinem Büro. „Wie kommt es, dass Sie bereits einen Verdächtigen festnehmen konnten?“ „Die Kollegen der Streife wurden von mehreren Zeugen noch während der Tat zum Tatort gerufen. Sie konnten nicht nur präzise Angaben zum Hergang machen, zwei Zeugen filmten die Tat sogar mit ihren Handys.“ „Na Hauptsache die haben die Videos nicht gleich in die sozialen Netzwerke hochgeladen.“ „Leider doch“, musste der Ermittler einräumen. „Wir haben zwar sofort versucht, die Verbreitung zu unterbinden, aber Sie wissen ja, wie schnell das geht.“
Der Hauptkommissar spielte das Video auf dem Monitor seines Rechners ab. „So können Sie sich am besten einen Eindruck von der Tat verschaffen.“ Miriam sah angespannt, was sich ereignet hatte. „Das sind ja noch halbe Kinder“, stellte sie entsetzt fest. „Einer von Ihnen ist Nuetcho Montante. Er ist 17 Jahre und arbeitet in einer Pizzeria in der Fußgängerzone. Er ist wegen eines Vergehens gegen das Betäubungsmittelgesetz vorbestraft.“ „Er ist Italiener?“ Sinner nickte seufzend. „Kein Migrant.“ „Das macht es auch nicht besser.“
„Bis jetzt konnten wir ihn nicht verhören, weil er einen Rechtsbeistand verlangt hat“, erklärte Sinner. „Gut so“, atmete Miriam auf. „Wir dürfen uns in dieser Sache nicht den kleinsten Fehler erlauben. Der Verdächtige ist noch minderjährig.“ „Der Tote ist übrigens der vierundvierzigjährige arbeitslose Dachdecker Bernd Giebel. Als der Notarzt eintraf, war er noch am Leben. Leider verstarb er trotz Reanimierungsversuche noch auf dem Weg ins Klinikum. Seine Kopfverletzung allein dürfte laut Notarzt nicht verantwortlich sein. Er wird derzeit obduziert.“
„Im Video scheint er stark angetrunken zu sein“, bemerkte die Staatsanwältin. „Möglicherweise trug ja auch eine Alkoholvergiftung zu seinem Tod bei.“ „Wir sollten uns besser nicht in Spekulationen verlieren“, mahnte Miriam davor, sich vorschnell festzulegen. „Möglich ist derzeit alles.“ „Ich wollte die Zeit bis zum Eintreffen des Rechtsanwalts nutzen, um mit dem Vater zu sprechen. Wenn Sie wollen, können Sie ja dabei sein“, schlug Sinner vor. „Wo ist eigentlich Kommissar Schubert?“ „Der ist zur Pizzeria gefahren, um dort etwas über die Freunde des Verdächtigen herauszubekommen. Möglicherweise ist einer der Gesuchten sogar ein Kollege von ihm“, mutmaßte der Ermittler „Wenn sich der Aufbau einer Kameraüberwachung auf dem Kornmarkt nicht endlos ziehen würde, hätten wir jetzt wahrscheinlich vernünftige Bilder.“
„Gut Ding braucht Weile“, wie man so schön sagt“, entgegnete der Hauptkommissar betrübt. „Guten Tag Herr Montante, es tut mir leid, dass Sie warten mussten“, entschuldigte sich der Ermittler. „Das ist Staatsanwältin Lessing-Herz. Sie wird bei Ihrer Befragung anwesend sein.“ „Ist der Anwalt endlich gekommen?“, erkundigte sich der Vater des Tatverdächtigen. „Es ist der Rechtsbeistand Ihres Sohnes. Von uns aus könnten wir längst alles geklärt haben.“ „Damit Sie nach seiner Aussage alles verdrehen können“, entgegnete der Italiener emotional.
„Wie lange leben Sie in Deutschland?“, erkundigte sich Miriam. „Über zwanzig Jahre“, entgegnete der Mann. „Ihr Vertrauen in unser Rechtssystem ist erschreckend. Gibt es einen Grund dafür?“ Der Südländer sah Miriam durchdringend an. „Strega maledetta[2].“ „Ich muss Sie enttäuschen, bei uns gibt es schon lange keine Hexen mehr“, beschämte sie den Mann. Sinner hielt ihm zwei Aufnahmen entgegen. „Wenn Sie diese Jugendlichen kennen, sollten Sie uns das nicht verschweigen.“ „Waren die beiden dabei?“, wollte der Italiener wissen. „Es liegt ganz bei Ihnen, ob Ihr Sohn allein zur Verantwortung gezogen wird“, ließ sich Miriam nicht in die Karten gucken. „Kenne ich nicht.“ „Wir finden auch so heraus, wer die beiden sind.“
[2] Verfluchte Hexe
Matteo Montante dachte angespannt nach. „Was hat mein Sohn davon, wenn er Ihnen die Namen seiner Freunde nennt?“, erkundigte er sich letztlich bei Miriam. „Wenn er sich kooperativ zeigt, werde ich dies zu seinen Gunsten werten.“ „Ich will allein mit Nuetcho sprechen.“ „Nur in unserem Beisein“, erwiderte die Staatsanwältin. „Also gut“, stimmte der Italiener schließlich zähneknirschend zu. „Müssen deutsche Frauen immer das letzte Wort haben?“ „Ja!“
Obwohl Nuetchos Rechtsbeistand immer noch nicht da war, betraten Sinner, Miriam und der Vater des Tatverdächtigen erneut das Verhörzimmer. „Ich denke ohne den Anwalt soll ich nichts sagen?“, reagierte Nuetcho verunsichert, als sein Vater mit den Ermittlern das Zimmer betraten. „Wenn du ihnen sagst, mit wem du heute Nacht unterwegs warst, wirst du weniger hart bestraft.“ „Spinnst du? Ich kann doch meine Freunde nicht hinhängen!“ „Glauben Sie mir, wir kriegen die Jungs so oder so“, stellte Sinner klar.
Der Jugendliche schüttelte verunsichert den Kopf. „Es war alles nur ein Spaß, wir wollten dem Mann bestimmt nichts Böses. Er ist gestolpert und hat sich den Kopf an diesem Sitzpilz angeschlagen. Es war ein Unfall.“ „Wenn es tatsächlich so war, werden Sie maximal wegen Körperverletzung verurteilt“, stellte ihm Miriam eine milde Strafe in Aussicht. „Sie sind bislang nicht vorbestraft, was sich ebenfalls auf das Strafmaß auswirken dürfte. Hinzu käme Ihre Kooperation…“ „Na los Nuetcho, gibt dir einen Ruck“, machte ihm sein Vater Mut.
„Also gut, wir waren zu dritt. Luca Strada und Giuseppe Fontanella waren dabei.“ „Gut und nun erzählst du uns bitte, wie es zu dem Übergriff kam“, forderte ihn Hauptkommissar Sinner auf. „Ein umfängliches Geständnis wirkt sich ebenfalls strafmildernd aus“, fügte Miriam hinzu. Nuetcho holte tief Luft, sah zu seinem Vater und erzählte schließlich, wo sie Bernd Giebel zum ersten Mal trafen. „Wir hatten Angst, dass er von der Mauer in die Oker stürzt und ertrinkt“, versuchte er sich und seine Freunde in ein gutes Licht zu rücken.
„Giuseppe gab ihm sogar eine kleine Flasche Wodka, weil er Durst hatte. Dann sind wir weiter in Richtung Kornmarkt. Er muss uns nachgekommen sein. Als wir vor dem Möbelladen saßen und eine Dose Bier tranken, kam er dann und wollte Luca die Dose abnehmen. Ich ging dazwischen und schubste ihn zur Seite. Daraus entwickelte sich dann so was wie ein Spiel.“ „Wer war der Letzte, der ihn schubste, bevor er stürzte und mit dem Kopf gegen den Sitzpilz knallte?“, unterbrach ihn Sinner. Nuetcho zuckte mit den Achseln. „Das kann ich gar nicht sagen.“ „Versuch dich zu erinnern“, erahnte sein Vater die Tragweite dieser Aussage.
Im selben Moment öffnete sich die Tür zum Verhörzimmer und Kommissar Schubert betrat den Raum. „Was um alles in der Welt gibt es denn so Wichtiges?“, erkundigte sich Sinner angefressen. Schubert reichte ihm den Obduktionsbefund der Rechtsmedizin und tippte auf einen Absatz der mit einer handfesten Überraschung aufwartete. „Das ändert natürlich alles“, resümierte er, während er den Bericht an die Staatsanwältin weiterreichte.
Nuetcho und dessen Vater bemerkten die Unruhe, die von der Nachricht ausging. „Was ist passiert?“, erkundigte sich Herr Montante. Sinner blieb ihm die Antwort schuldig. Stattdessen stellte er selbst eine Frage, dessen Klärung alles verändern konnte. „Du hast uns vorhin von einer Flasche Wodka erzählt, die Giuseppe dem Opfer übergab. Wie groß war diese Flasche?“ „Na so ein Flachmann halt.“ „Weißt du, ob der noch versiegelt war?“, hakte der Hauptkommissar nach. Der Tatverdächtige verzog nachdenklich das Gesicht. „Keine Ahnung, aber soviel ich weiß, hatte noch keiner von uns daraus getrunken.“
„Hast du gesehen, was Herr Giebel mit der Flasche machte?“ „Na er trank daraus.“ Nuetcho erinnerte sich plötzlich. „Wir haben uns noch darüber lustig gemacht, dass er die Flasche zuerst nicht aufbekam. Also muss sie wohl noch fest verschlossen gewesen sein.“ „Warum wollen Sie das alles wissen?“, fragte der junge Italiener nach. „Das Opfer wurde offenbar vergiftet“, klärte Sinner die Situation auf. „Dann starb er gar nicht an der Kopfverletzung?“, schlussfolgerte Nuetcho. „Es deutet zumindest derzeit einiges darauf hin“, sorgte Miriam für Erleichterung bei dem Jugendlichen und seinem Vater. „Können wir dann jetzt gehen?“, leitete der Italiener daraus ab. „Solange die Freunde Ihres Sohnes keine Aussage bei uns gemacht haben, liegt uns lediglich sein Geständnis vor und damit nur ein möglicher Tathergang“, relativierte Sinner den Wahrheitsgehalt von Nuetchos Geständnis.
4
Es war bereits später Vormittag, als Kommissar Schubert und sein Vorgesetzter an der Haustür der Familie Fontanella klingelten. Eine junge Frau öffnete ihnen. „Kriminalpolizei, Hauptkommissar Sinner“ „Kommissar Schubert“, stellten sich die Ermittler vor. „Ist Giuseppe Fontanella zuhause?“ „Was wollen Sie denn von meinem Bruder?“, rief die Schwester des Tatverdächtigen so laut, dass es auch noch in der Nachbarschaft zu hören war. Schubert reagierte am schnellsten, schob die junge Frau zur Seite und stürmte ins Haus. „He, das dürfen Sie doch gar nicht!“, rief sie ihm nach. „Das nennt man Gefahr im Verzug“, klärte Sinner auf. „Polizeistaat!“, schrie sie. „Mein Bruder ist nicht hier.“ „Davon überzeugen wir uns lieber selber.“
Sinner eilte auf die Rückseite des Hauses und bekam gerade noch mit, wie der Verdächtige über den Zaun und das Nachbargrundstück flüchtete. Die Jahre, in denen er hinterherrannte, waren zwar längst Geschichte, aber es wurmte ihn genauso wie damals, wenn ihm jemand durch die Lappen gegangen war. Es dauerte, ehe Schubert über die Treppe nach unten in den Flur kam und schließlich neben ihm stand. Er sah seinen Chef fragend an. „Lass gut sein, weit kann er nicht kommen. Wir werden ihn zur Fahndung ausschreiben.“
„Da haben Sie Ihrem Bruder einen Bärendienst erwiesen“, rügte er Marcella Fontanella. Die allem Anschein nach, jüngere Schwester von Giuseppe zuckte gleichgültig mit den Achseln. „Ich hatte keine Ahnung, dass mein Bruder noch in seinem Zimmer war“, log sie. „Was ist denn überhaupt los?“ „Das würde ich gerne Ihren Eltern mitteilen, aber die sind wohl nicht daheim“, entgegnete der Hauptkommissar. „Klasse kombiniert“, erwiderte die Fünfzehnjährige schnippisch. „Und, wo finde ich sie?“, hielt sich der Ermittler erstaunlich gut zurück. „In der Firma, wo sonst?“ „Also gut, richten Sie Ihrem Bruder bitte aus, dass er sich in der Polizeidienststelle an der ‚Lindener Straße‘ einfinden soll.“ „Mach ich doch gern, Herr Kommissar“, lächelte sie aalglatt, während sie sich das genaue Gegenteil dachte.
„Hast du eine Ahnung, von was für einer Firma das Gör sprach?“, ließ Sinner den aufgestauten Druck ab, kaum dass er und Schubert das Haus verlassen hatten. „Ich bin gerade am Googlen. Es handelt sich um eine Baufirma in ‚Linden‘. Tiefbau und Containerverleih.“ „Na dann auf in den Süden der Stadt.“ „Ich bin gespannt, was die Eltern zu ihrem Sprössling sagen“, verriet Schubert eine gewisse Anspannung. „Was meinst du damit?“ „Das sind Italiener, da steht die Familie über allem.“ Sinner sah seufzend zu seinem Kollegen hinüber. „Mal ehrlich, diesen Zusammenhalt würde ich mir von uns Deutschen auch wünschen.“
Die Firma von Roberto Fontanelle befand sich in der Nähe des Recyclinghofs. Die Ermittler fuhren durch die breite Einfahrt auf den Betriebshof und parkten vor dem Büro, welches sich in vorderen Teil einer Halle befand. Die Tür führte sie in eine Anmeldung, in der ein langer Tresen den Raum zweiteilte.
„Guten Tag, wir hätten gern Frau Fontanelle oder ihren Mann gesprochen.“ „Um was geht es denn?“, erkundigte sich die Frau hinter dem Schreibtisch. „Sagen Sie Ihrem Chef einfach, die Polizei würde ihn gern sprechen“, erwiderte Schubert genervt. „Mein Mann ist auf einer unserer Baustellen, Sie müssen also mit mir vorliebnehmen.“ Sinner sah seinen Kollegen vorwurfsvoll an. „Entschuldigen Sie bitte, ich dachte…“, stammelte Schubert. „Nun brechen Sie sich mal keinen ab, nennen Sie mir lieber den Grund für Ihren Besuch.“
„Es geht um Ihren Sohn, Giuseppe“, erklärte Sinner zögerlich. „Was ist mit ihm? Hatte er einen Unfall, oder…?“ „Nein, nein“, beruhigte sie der Ermittler. „Es geht ihm wahrscheinlich gut. Wir würden Ihren Sohn gern im Zusammenhang mit einer Straftat sprechen.“ „Madonna! Hat er schon wieder etwas ausgefressen?“ „Wir stehen noch am Anfang der Ermittlungen“, verriet Sinner. „Deswegen müssen wir ihn dringend befragen.“ „Giuseppe müsste eigentlich zuhause sein.“ Sie griff zum Handy. „Da waren wir bereits“ erklärte der Hauptkommissar. „Leider hat er sich der Befragung entzogen.“
In den Augen der Italienerin stand Unverständnis. „Giuseppe ist abgehauen?“, schlussfolgerte sie letztlich schockiert. „Ihr Sohn kletterte aus dem Fenster seines Zimmers und flüchtete durch den Garten des Nachbarn“, beschrieb Schubert. „Non può essere vero!“, überschlug sich fast die Stimme der Italienerin entsprechend ihrer Emotionen. „Was hat er angestellt?“, fragte sie nachdrücklich. „Es geht um Körperverletzung mit Todesfolge, die sich in der vergangenen Nacht auf dem Kornmarkt in Wolfenbüttel ereignete.“ Frau Fontanella starrte die Kommissare geschockt an. „Giuseppe war die ganze Nacht zuhause“, log sie spontan.
„Das war er leider nicht“, entgegnete Sinner verständnisvoll. „Ihr Sohn wurde gesehen und es gibt auch ein Video, welches etwas anderes sagt. „Ich rufe meinen Mann an.“ „Machen Sie das und dann kommen Sie bitte umgehend in die Polizeidienststelle an der ‚Lindener Straße‘. Es wäre gut, wenn Sie Ihren Sohn mitbringen würden“, betonte der Ermittler. „Durch seine Flucht hat er alles nur schlimmer gemacht.“
„Ich setzte dich am Büro ab“, eröffnete Sinner seinem Kollegen. „Ich fahre bei der Rechtsmedizin vorbei und lasse mir den Befund von Doktor Schnippler noch mal etwas detaillierter erklären.“ „Mach das, in der Zwischenzeit werde ich zusehen, dass ich mit den Eltern von Luca Strada spreche und sie ebenfalls in die Dienststelle beordere.“ „Das wird ein italienischer Abend der besonderen Art“, seufzte Sinner in erwartungsvoll.
Kurz darauf begrüßten sich Doktor Schnippler und der Hauptkommissar im Rechtsmedizinischen Institut an der ‚Celler Straße‘. „Nun, Herr Sinner, so wie es aussieht, wurde der Tote das Opfer einer Calciumchlorid-Vergiftung. Durch diese Substanz, die in flüssiger Form verabreicht wurde, kam es zu einer Hyperkalzämie und daraus resultierend zu einer metabolischen Azidose.“ „Okay, wie äußert sich das?“ „Die Folgen sind Übelkeit, Erbrechen und Herzrhythmusstörungen.“
„Dann starb das Opfer gar nicht an dem Schlag auf den Hinterkopf“, schlussfolgerte Hauptkommissar Sinner. „Nun, das kann man so nicht sagen. Es hängt irgendwie alles miteinander zusammen.“ Das Gesicht des Ermittlers war ein einziges großes Fragezeichen. „Nun, aufgrund des exorbitanten Alkoholgenusses von weit über zwei Promille und letztlich durch die Prellung des Schädels ergab sich eine massive Schwächung des gesamten Körpers, welche schließlich zum Exodus führte.“
„Ja aber, war es denn nun Mord, Totschlag oder Körperverletzung?“, schien sich der Ermittler im Hinblick auf den Obduktionsbefund überfordert.“ „Sehen Sie es doch mal so, Herr Sinner, wer auch immer dem Toten das Mittel verabreichte, nahm zumindest billigend in Kauf, dass sein Opfer daran versterben konnte.“ „Na schön, dann also doch Mord“, sinnierte der Hauptkommissar. „Was ist das eigentlich für ein Gift?“, hakte Sinner nach. „Ich würde Calciumchlorid gar nicht als Gift im herkömmlichen Sinne bezeichnen“, überraschte Doktor Schnippler. „Das Mittel wird tatsächlich in Lebensmitteln und zur Absorption genutzt. Sogar zur Enteisung und Staubbindung auf Straßen wird es angewendet.“ „Im Tiefbau“, kam Sinner ein Gedanke.
„Schmeckt man das Zeug nicht heraus?“ „Nun, es kommt ganz darauf an, in was man es hineinmischt. Ich denke, hochprozentiger Alkohol wäre ein guter Geschmacksträger.“ „Wodka?“, hakte Sinner nach. „Wie kommen Sie ausgerechnet auf Wodka?“ „Offenbar trank das Opfer etwa eine halbe Stunde vor seinem Tod ein Zentel Liter davon“, klärte Sinner den Doktor auf. „Bei der Analyse seines Mageninhalts zeigten sich neben Ethanol vor allem die destillierte Kartoffel als Grundträger. Meines Wissens wird sonst nur Aquavit aus Kartoffeln hergestellt.“ „Das passt natürlich alles zusammen“, bekundetet der Hauptkommissar. „Gut, dass ich nochmal selber vorbeigekommen bin.“
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Detektei Lessing
Band 52
Face to face
1
Es ist später Nachmittag am 12. September 2024. Der Regionalzug der Erixx Eisenbahngesellschaft fährt vom Hauptbahnhof in ‚Braunschweig‘ kommend, über ‚Wolfenbüttel‘ in Richtung ‚Schladen‘. Keiner der Reisenden nimmt Notiz davon, als in ‚Wolfenbüttel‘ eine Person mit Rucksack einsteigt. Die Kapuze seines Hoodies hat sie bis tief in das Gesicht gezogen. Niemand ahnt, was sie im Schilde führt. Niemand kann in ihren perfiden Gedanken lesen. Niemand wird ihren hinterhältigen Plan durchkreuzen.
Als der Zug durch den ehemaligen Bahnhof in ‚Hedwigsburg‘ rollt, wechselt sie in das Abteil, in dem sich Isabelle Schade befindet. Der Regio fährt mittlerweile von ‚Ohrum‘ nach ‚Dorstadt‘. Das monotone Geräusch, welches entsteht, wenn die Stahlräder des Zuges die Nahtstelle zwischen zwei Gleisen überrollt, suggeriert den Fahrgästen ein trügerisches Gefühl von Sicherheit. Die Person streift die Kapuze zurück. Sie geht völlig gelassen auf ihr Opfer zu. Es ist der Moment, als Isabelle Schade in der Person ihren Geliebten erkennt.
Sie begrüßt ihn freudig, aber auch verwundert. Sie nennt ihn bei seinem Namen und sieht, wie er mit demselben Atemzug ein Messer zieht. Völlig perplex ist sie zu keiner Reaktion fähig. Sie starrt ihn entsetzt an. Ist alles nur ein böser Traum? Sie schreit, sie hebt ihre Hände um sich zu schützen, doch der Angreifer drückt sie mit aller Gewalt in den Sitz. Bevor sie ihren Irrtum aussprechen kann, rammt er ihr das Messer in die Brust und mit einem weiteren Stich mitten ins Herz. Seelenruhig nimmt er ihr Handy und steckt es ein.
Als er sich umdreht, starren die übrigen Fahrgäste vor Entsetzen gelähmt auf das blutige Messer. Einige schreien, andere halten schockiert die Hände vor ihr Gesicht. Der Attentäter selbst ist vollkommen ruhig. Fast hat es den Anschein, als wenn er gar nichts mit der Tat zu tun hat. Völlig gelassen zieht er die Notbremse. Niemand wagt ihn aufzuhalten, niemand hindert ihn, als er kurz darauf die Waggontür öffnet und den Zug verlässt. Einer der Fahrgäste fotografiert immerhin, wie er einen Elektroroller aus seinem Rucksack zieht, ihn auseinanderklappt und über die ‚Dorstädter Straße‘ in Richtung ‚Bornum‘ davonfährt.
-2-
Sechs Monate zuvor:
„Wieso ist keines meiner Diensthemden gebügelt? Es dürfte doch wohl nicht zu viel verlangt sein, wenn ich erwarte, dass sich meine ach so überlastete Ehefrau wenigstens bemühen könnte, dass ich in ordentlichen Klamotten meinen Dienst antreten kann.“ „Es tut mir leid, Hagen, ich bin einfach noch nicht dazu gekommen.“ „Weiß jemand, wo meine Sportschuhe sind?“, unterbrach der zwölfjährige Martin die angespannte Situation. „Schau mal auf der Terrasse nach. Ich glaube, ich habe sie gestern Abend dort liegen sehen,“ erinnerte sich seine Mutter.“
„Was ist nun, bügelst du mir das Hemd nun noch schnell?“ Isabelle Schade atmete tief durch, ehe sie antwortete. „Entweder ich kümmere mich um das Frühstück oder ich bügele dein Hemd. Beides geht nicht.“ „Was für eine Frage, dann müssen sich die Kids eben mal selber eine Stulle schmieren.“ „Es wäre auch nicht schlecht, wenn du selber mal ein Bügeleisen in die Hand nehmen würdest.“ Hagen lächelte verschmitzt, als er ihr einen Kuss auf die Stirn gab. „Aber dazu bist du doch da, Liebling.“
Sie wusste, dass seine Worte schon lange nicht mehr aufrichtig waren, wenn sie seine Gefühle zu ihr wiedergaben. Sie waren nur noch Mittel zum Zweck, um das zu bekommen, was er wollte. Seit sie und Hagen das kleine Häuschen am ‚Oderblick‘ erworben hatten und er zur Polizeidienststelle nach ‚Börßum‘ versetzt worden war, litt ihre Ehe unter den Zielen, die sie sich steckten. Zu ihren Jobs kam der Umbau des in die Jahre gekommenen Hauses. Vor allem belastete sie der kaum noch stattfindende Kontakt zu ihren Freunden.
„Wieso sind mein Borretsch und der Orangensaft nicht fertig?“, erkundigte sich die vierzehnjährige Finja vorwurfsvoll bei ihrer Mutter. „Wie soll ich mich in der Schule konzentrieren, wenn mir die nötigsten Cerealien für den Tag fehlen?“ „Wie wäre es, wenn du morgens etwas zeitiger aufstehst und mir ein wenig zur Hand gehst, dann kämen wir alle etwas entspannter in den Tag.“ „Bin ich Mutter oder du? Wenn du nicht klarkommst, solltest du deinen Job an den Nagel hängen“, entgegnete Finja mit der Arroganz ihres Vaters.
„Mein liebes Fräulein, nicht in diesem Ton!“, setzte sich Isabelle zur Wehr. „Was willst du? Sie hat doch gar nicht so Unrecht“, stand ihr Hagen bei. „Wenn wir uns alle etwas einschränken, musst du nicht unbedingt arbeiten.“ „Einschränken? Na so weit kommt es noch. Am Ende könnt ihr mir die Reitstunden nicht mehr zahlen.“ „Vielleicht denkt hier auch mal jemand an mich? Ich arbeite, weil ich es möchte und weil ich nicht den ganzen Tag hier rumsitzen will“, erwiderte Isabelle. „Wieso sitzen? Wenn du deinen Haushalt mal gewissenhaft führen würdest, hättest du sicherlich keine Langeweile“, setzte Hagen noch einen drauf.
„Scheiße, wegen euch komme ich zu spät in die Schule!“ „Wenn deine Mutter endlich mit meinem Hemd fertig ist, nehme ich euch mit.“ „Geht das so?“, präsentierte Martin seine klitschnassen Sneakers. „Himmel, was hast du mit den Schuhen gemacht?“, fragte Isabelle entsetzt. „Die waren total schmutzig vom Bolzen.“ Finja griff sich an den Kopf. „Wie kann man so blöd sein, und mit neuen Sneakers Fußball spielen?“ „Da muss ich deiner Schwester Recht geben. Nimm heute noch mal deine alten Sportschuhe. Mit den nassen kannst du nicht gehen. Du holst dir ja den Tod.“ „Können wir jetzt endlich los?“, verdrehte Finja die Augen.
Erst als die Familie aus dem Haus war, sank der Blutdruck der Sekretärin auf ein erträgliches Maß. Während sie sich in der Küche umsah, atmete sie einige Male tief ein. Auf dem Tisch und darunter sah es aus wie auf einem Schlachtfeld. In einer Pfütze aus verkleckertem Borretsch schwamm der Esslöffel. Klebrige Messer lagen auf verschmierten Frühstücksbrettern und der restliche Tisch war mit Nussnougatcreme besudelt. Wie satt sie das alles hatte. Mehr als eine billige Putzfrau war aus all ihren Träumen und Illusionen nicht übriggeblieben.
Liebte sie Hagen eigentlich noch? War sie bereit, ihre Ehe mit ihm aufzugeben und mit den Kindern fortzugehen? Er war Polizeibeamter und kannte sich mit dem Gesetz bestens aus. Er würde es niemals zulassen, dass sie Finja und Martin mit sich nahm. Sollte sie wirklich alles auf eine Karte setzen? Die Antwort auf diese Fragen blieb sie sich zumindest an diesem Morgen schuldig.
So reihte sich ein Tag an den anderen und eine Woche an die nächste, ohne dass sich irgendetwas zum Besseren wandte. Isabelle wurde zunehmend unglücklicher, war kurz davor, sich in ihr Los zu fügen, als das Schicksal ein Einsehen mit ihr zu haben schien.
Wie an jedem Wochentag fuhr sie mit dem Zug von der Arbeit nach Hause. Bereits während der Fahrt war ihr ein gutaussehender Mann aufgefallen. Ihre Blicke hatten sich einige Male zaghaft berührt. Einen Moment lang kokettierte sie mit ihren Gedanken, um sie schnell wieder zu verdrängen.
Sie bemerkte nicht, wie der Mann ebenfalls am Bahnhof in ‚Börßum‘ den Zug verließ und ihr in einigem Abstand folgte. Ihr Weg über die sich immer länger hinziehende Bahnhofstraße war nach der Arbeit umso ermüdender. Wenigstens regnete es nicht. Dafür musste sie heute auch noch beim Edeka-Markt einige Lebensmittel einkaufen. Auch wenn ihr eigentlich die Zeit fehlte, kochte sie für ihre Familie und sich lieber frisch. Dass ihr die Anerkennung dafür versagt blieb und all ihre Arbeit als normal und selbstverständlich abgetan wurde, schlug ihr mehr und mehr aufs Gemüt.
Ganz in ihren Gedanken versunken, schob sie ihren Einkaufswagen von der Gemüseabteilung in den Gang, in dem sich die Molkereiprodukte befanden. Plötzlich rammte sie einem anderen Kunden den Wagen in die Seite. Der Mann, den sie schon im Zug bemerkt hatte, stöhnte kurz auf und hielt sich die Hüfte. „Oh, wie dumm von mir, das tut mir leid. Ich habe Sie gar nicht gesehen.“ „Alles okay, es tut nicht weh.“ Als er jedoch weitergehen wollte, sah sie, wie er zusammenzuckte.
„Ich habe Ihnen also doch weh getan“, bemerkte Isabelle und legte seinen Arm über ihre Schultern. „Es geht bestimmt gleich wieder.“ „Da vorn gibt es eine Sitzmöglichkeit“, blieb die Sekretärin hartnäckig. „Machen Sie sich keine Umstände.“ „Es war meine Unachtsamkeit, also kümmere ich mich auch um Sie, das ist doch selbstverständlich.“ „Sie saßen doch auch im Zug, stimmts?“ „Sie haben mich bemerkt?“ „Eine Frau wie Sie übersieht man nicht.“ „Flirten Sie gerade mit mir?“ „Ich bitte Sie, erst fahren wir im gleichen Zug und nun kaufen wir beide im gleichen Geschäft ein. Das nenne ich Schicksal und dagegen sind wir beide ohnehin machtlos.“
Es war lange her, dass sich ein so charmanter Mann für Sie interessierte. Isabelle genoss es und spielte gleichzeitig nervös an ihrem Ehering herum. „Ich habe den Ring längst bemerkt, aber es ist, wie es ist. Wir werden uns sowieso irgendwann, irgendwo wiedersehen. Wie gesagt, das Schicksal hat sicher etwas Besonderes mit uns vor.“ „Wie ich sehe, geht es Ihnen wieder besser. Ich würde sogar sagen. Es geht Ihnen viel zu gut und daher trennen sich jetzt unsere Wege. Dagegen ist auch das Schicksal machtlos.“ „Wir werden sehen.“
-3-
Es war eine der wenigen Abwechslungen, die es für Isabelle noch gab. Zum ersten Mal seit der Corona Pandemie veranstaltete die Straßengemeinschaft ‚Oderblick‘ wieder ein gemeinsames Fest. Isabelle hatte eigens dafür ihren beliebten Käsekuchen gebacken. Selbst Hagen freute sich darauf, doch kurz bevor die Eheleute ihr Haus verlassen wollten, erhielt der Polizeiobermeister in Bereitschaft einen dringenden Einsatzbefehl.
„Ein schlimmer Verkehrsunfall bei ‚Bornum‘. Ich muss leider los, aber ich sehe zu, dass ich so bald wie möglich nachkomme“, erklärte Hagen. Damit war klar, dass Isabelle auch an diesem Fest ohne ihren Ehemann teilnehmen würde. Auch wenn ihr die Lust, allein auf das Fest zu gehen, eigentlich schon vergangen war, raffte sie sich auf.
Obwohl sie bereits mehrere Jahre in Börßum lebte, fühlte sie sich unter all den Leuten auf ihrer Straße fremd. Hagen war nicht gerade der gesellige Typ und so waren sie, abgesehen von den direkten Nachbarn, mit niemandem in Kontakt gekommen. Sie stellte den Kuchen zum Büfett, ließ sich ein Glas Mineralwasser geben, sah sich um und setzte sich schließlich an einen der noch freien Tische.
„Na, wenn das mal kein Schicksal ist“, vernahm sie plötzlich eine fremde und doch bekannte Stimme. Als sie sich umsah, erkannte sie den Mann aus dem Zug. „Ich habe doch gesagt, dass uns die Vorsehung irgendwann wieder zusammenführt.“ „Jetzt sagen Sie nur noch, Sie wohnen hier?“, entgegnete Isabelle überrascht. „Ich nicht, aber meine Tante.“ „Er deutete auf eine ältere Dame, die Isabelle schon mehrfach mit ihrem Hund gesehen hatte. Ihre anfängliche Skepsis schien also unbegründet.
„Besuchen Sie Ihre Tante öfter?“, hakte sie nach. „So oft, wie es die Zeit zulässt. Nachdem mein Onkel kürzlich verstarb, helfe ich ihr gelegentlich im Garten oder bei kleineren Reparaturen im Haus.“ „Das ist sehr lieb von Ihnen.“ „Ich bin übrigens Eddi.“ „Isabelle.“ „Wie kommt es, dass Sie allein hier sind?“ „Mein Mann hat kurzfristig einen Notfall hereinbekommen“, erklärte sie. Eddis Stirn krauste sich. „Ist Ihr Mann Notarzt oder bei der Feuerwehr?“ „Fast, er ist Polizeibeamter.“
Eddi zuckte kaum merklich zusammen. Seine Erfahrungen mit der Ordnungsmacht waren sanft formuliert nicht die Besten. Ein Umstand, der ihn allerdings nicht davon abhielt, Isabelle weiterhin zu umgarnen. War es zunächst ihr Äußeres, was ihn auf sie aufmerksam werden ließ, waren es nun auch ihre Art, das freundliche Wesen und die Ruhe, die von ihr ausging.
„Ich habe Kohldampf wie ein Elefant. Wir sollten an das Büffet gehen, ehe nichts mehr da ist“, forderte er Isabelle auf. „Der Käsekuchen ist von mir“, ließ sie ihn wissen und ärgerte sich im selben Moment über ihre Worte. Weshalb war sie nur so nervös? Ebensogut hätte sie von der berühmten Wassermelone sprechen können. „Vielleicht habe ich ja Glück und es ist ein Stück übriggeblieben.“
Zu Isabelles Überraschung lag tatsächlich nur noch ein einziges Stück auf der Platte. „Ihr Kuchen scheint sehr gut anzukommen“, stellte Eddi fest. Während er nach einem Teller griff, schnappte ihm jemand anderer ausgerechnet dieses Stück auch noch weg. „Entschuldigung, aber den Käsekuchen würde ich nicht nehmen. Da musste sich gerade jemand heftig übergeben, der sechs Stücke davon gegessen hat.“ „Oh, vielen Dank für die Warnung.“ Isabelle schüttelte amüsiert den Kopf. „Wenn ich einen halben Kuchen essen würde, müsste ich mich auch übergeben.“ „Pst, er hat´s nicht bemerkt.“
Der Kuchen schmeckte und die Stunden verflogen, weil Eddi es verstand, sie immer wieder mit seinen Geschichten zu fesseln und mit seiner fröhlichen Art auf charmante Weise zu unterhalten. Zum ersten Mal seit langer Zeit stand sie im Mittelpunkt. Sie genoss sein Interesse, an ihrer Person und es war ein fantastisches Gefühl.
„Wollen wir noch woanders hin?“, fragte er nach einer Weile. Isabelle hatte diese Frage kommen sehen und doch hatte sie keine Antwort parat. Es war die Frage, die alles verändern konnte, ihr jetziges Leben auf den Kopf stellen würde und doch war da dieser Reiz, der von dem Gedanken getragen wurde, etwas Unanständiges zu tun. Letztlich war es das schlechte Gewissen, was sie abhielt von der verbotenen Frucht zu naschen.
„Ich finde es hier eigentlich sehr nett und ganz abgesehen davon wird mein Mann sicher bald nachkommen.“ „Das ist wirklich sehr schade, aber wahrscheinlich hat das Schicksal einen anderen Weg für uns vorhergesehen.“ Isabelle lächelte ihm ungläubig zu. „Dann sollten wir das Schicksal besser nicht herausfordern.“ Eddi erhob sich, reichte ihr vielsagend die Hand und verabschiedete sich. „Wir sehen uns.“ Isabelle beobachtete, wie er sich von seiner Tante verabschiedete. Sie sah, wie er ihr ein letztes Mal zuwinkte und wie er schließlich das Fest verließ.
Sie musste sich eingestehen, wie knapp sie an einer Dummheit vorbeigeschrammt war und sie schämte sich für die Gedanken, die sie dabeihatte. Erst als Hagen einige Minuten später die Bildfläche betrat, atmete sie auf. Auch wenn sie sich selbst ihrer Gefühle zu ihm nicht mehr sicher war, verband sie ihre Ehe mit dem Wohl ihrer Kinder. Sie sollten nicht durch das tränenreiche Tal einer Scheidung gehen. Eine Erfahrung, die ihr selbst nicht erspart geblieben war.
Keiner der folgenden Tage verging, ohne dass sie mit ihren Gedanken bei Eddi gewesen wäre. So sehr sie sich auch dagegen wehrte, so sehr wuchs das Verlangen ihn wiederzusehen. Während sie nach der Arbeit mit dem Zug nach Hause fuhr, suchten ihre Augen jedes Abteil nach ihm ab. Sie ertappte sich dabei, wie die Enttäuschung darüber jedes Mal größer wurde. Inzwischen waren drei Wochen vergangen und fast hatte sie die Hoffnung aufgegeben, ihn jemals wiederzusehen, als sie ihn auf genau dem Platz entdeckte, auf dem er ihr zum ersten Mal aufgefallen war.
Es war wie ein starker Magnet, der sie anzog, nicht mehr aus seiner Intensität entlassen wollte. Sie sah nur noch ihn, nichts von dem, was sonst um sie herum geschah. Die Welt schien in diesem Moment stillzustehen. Er saß einfach nur da und sie ging auf ihn zu und küsste ihn, einfach so, als wären ihre Herzen schon seit ewigen Zeiten füreinander bestimmt. In diesem Augenblick wusste sie, dass es das Schicksal war, in dessen Hände sie sich mit diesem Kuss begeben hatte.
-4-
Das Leben ist ein Karussell, egal, wo wir es besteigen, irgendwann kommen wir wieder am Ausgangspunkt an. Die Kunst ist es, während der Fahrt nicht abzustürzen, denn ab und an suchen wir das Risiko. Wir reißen beide Hände in die Höhe, genießen den Fahrtwind, die Freiheit und das Glück des Lebens. Wer es übertreibt und den Zeitpunkt verpasst, in dem er zur Gewissheit zurückkehren sollte, weil sich das Karussell immer schneller dreht, wird dafür bezahlen.
Isabelle hatte bereits mehrere Runden auf dem Karussell hinter sich. Sie genoss das neue Glück und sie genoss die Aufmerksamkeit, die ihr Eddi entgegenbrachte. Endlich gab es jemanden, der ihr zuhörte, ihre Gefühle, aber auch ihre Sorgen und Nöte ernst nahm. War sie anfangs lediglich bereit nur eine Hand von den Haltegriffen zu lösen, war es Eddi, der sie dazu brachte, freihändig zu fahren. Sie hatte die Umklammerung ihrer Familie hinter sich gelassen und wartete nun darauf, einen weiteren Schritt an Eddis Seite zu gehen. Doch dazu musste sie aufstehen.
Sie lagen nebeneinander und schmusten, wie sie es bei jeder sich bietender Gelegenheit taten. Es ist ein Gesetz der Liebe, dass der, der sie erfährt, immer mehr davon haben will, weil sie ihm guttut. Die Sehnsucht nach diesem Glücksgefühl verzerrt uns, wenn wir es nicht ausleben können.
„Wo bist du heute mit deinen Gedanken?“, spürte Eddi ihre Abwesenheit. „Ich möchte an jedem verdammten Morgen neben dir aufwachen, wann immer ich es will, mit dir zusammen sein und mich nicht länger vor der Welt da draußen verstecken müssen.“ „Das möchte ich auch, aber du selbst bist es, die bislang Bedenken wegen der Kinder hatte.“ „Ich weiß, mein Schatz“, seufzte sie.
„Ich glaube, Hagen hat etwas bemerkt“, wechselte sie abrupt das Thema. „Wie kommst du darauf?“ „Auch wenn er sich für mich nicht sonderlich interessiert, bekam er natürlich mit, dass ich mich in den vergangenen Monaten verändert habe. Erst kürzlich sprach er mich darauf an.“ Eddis Stirn krauste sich. „Glaubst du, er ahnt etwas?“ „Gut möglich, aber im Grunde ist es mir auch egal. Soll er doch, dann ist dieses Versteckspiel endlich zu Ende.“
Eddi stieß einen tiefen Seufzer aus. „Versteh mich richtig, ich möchte auch jede Minute mit dir zusammen sein, aber wie du weißt, bin ich auch verheiratet. Ich kann Kerstin nicht im Stich lassen. Du weißt, wie hilflos sie ohne mich wäre.“ „Du hast recht, ich bin egoistisch. Genießen wir die wenige Zeit, die wir miteinander haben.“ Im selben Moment warf sie sich auf ihn, küsste und streichelte ihn, bis beide in sich verschlungen ihre Liebe in vollen Zügen auskosteten.
-5-
„He, fahr mal etwas langsamer“, forderte Rüdiger den Mann am Steuer auf. Der Polizeiobermeister war sich im Hinblick auf seine Beobachtung nicht sicher. „Ist das nicht Hagens Frau?“ „Wo?“ „Na da am Hoteleingang“, deutete Rüdiger auf ein Pärchen. „Oh Mist, ich glaube ja.“ „Arbeitet die nicht hier in Braunschweig?“ „Keine Ahnung, aber nach Arbeit sieht das nicht aus“, schmunzelte sein jüngerer Kollege süffisant. „Willst du es ihm sagen?“ Rüdiger Ziese verzog nachdenklich das Gesicht. „Wir können unseren Kollegen nicht ins offene Messer laufen lassen.“
Bereits am Abend desselben Tages ergab sich die Möglichkeit zu einem vertraulichen Gespräch mit Hagen Schade. „Wie du weißt, waren Ralf und ich heute Nachmittag bei der Staatsanwaltschaft in Braunschweig, um Beweismittel abzugeben.“ „Ja und?“, reagierte Hagen ungeduldig. „Vor dem Hotel Interconti sahen wir deine Frau“, fuhr Rüdiger fort. „Ja und? Isabelle arbeitet dort in der Nähe.“ „Sie war nicht allein, Hagen. Ein Mann war bei ihr und glaub mir, die Situation war eindeutig.“
Hagen schüttelte den Kopf. „Blödsinn, du musst dich verguckt haben. Wahrscheinlich sah die Frau Isabelle nur ähnlich und so gut kennst du sie ja auch gar nicht.“ „Jetzt, wo du es sagst“, lenkte der Polizeiobermeister ein. „Sicherlich irre ich mich. Ich habe deine Frau ja auch nur einmal gesehen.“ „Isabelle würde mich nie betrügen. Abgesehen davon wäre sie gar nicht dazu im Stande und wo hätte sie auch einen anderen Kerl kennenlernen sollen?“ „Also dann nichts für ungut, Hagen.“ Die Männer schlugen freundschaftlich ihre Hände ineinander. „Ich danke dir trotzdem für den gut gemeinten Hinweis.“
Natürlich hatte sich der Obermeister vor seinem Dienststellenleiter nicht die Blöße geben wollen. Aufgeschreckt hatte ihn Rüdiger auf jeden Fall, auch wenn er sich sicher war, dass ihn Isabelle nie betrügen würde. Noch bevor sein Dienst beendet war, traf er die Entscheidung, ihr nichts von der Beobachtung zu erzählen. Er war Polizist und als solcher verfügte er über eine ganze Reihe von Möglichkeiten, seine Frau zu überwachen. Noch am gleichen Abend nutzte er eine günstige Gelegenheit, um ihr heimlich ein Schlafmittel in ihren Rotwein zu mischen.
„Wie war dein Tag?“, erkundigte er sich, während er ihr das Glas reichte. „Na ja, so wie die anderen Tage halt, entgegnete Isabelle achselzuckend. Innerlich fragte sie sich, weshalb er sich erkundigte. „Gibt es einen besonderen Grund für deine Frage?“, fühlte sie sich kontrolliert. „Nö, eigentlich nicht. Wir sehen uns nur sehr wenig in letzter Zeit, da ist es doch legitim, wenn ich mal nachfrage, oder?“
„Ja klar, ich bin dein Interesse halt nicht gewohnt. Also, nach der Arbeit bin ich noch ein wenig durch die Schlossarkaden gebummelt und einen Zug später als normalerweise nach Hause gefahren. Als ich ankam, habe ich die Hausarbeit erledigt und das Abendessen zubereitet. Nebenbei habe ich Martin bei den Schulaufgaben geholfen. Habe ich deine Frage damit ausreichend beantwortet?“
„Du weißt ganz genau, wie meine Frage gemeint war“, stellte er klar. „Es gibt keinen Grund für dich, eingeschnappt zu sein. Da zeigt man mal Interesse und dann ist es auch wieder nicht recht. Weshalb beschwerst du dich dann?“ Isabelle leerte ihr Glas und schüttelte den Kopf. „Okay, wenn du es so gemeint hast, ist es ja gut, aber ehe das hier in einem Streit endet, gehe ich lieber ins Bett. Ich bin sowieso plötzlich ziemlich müde.“
„Schade, dass du mich falsch verstanden hast und der Abend auf eine so blöde Weise enden muss, aber wenn du so down bist, dann leg dich halt hin. Ich bleibe noch ein bisschen im Garten sitzen und lese noch etwas.“ „Mach das und sei mir nicht böse.“ „Schlaf gut.“
Hagen wartete eine halbe Stunde, ehe er ihr ins Schlafzimmer folgte. Zuvor hatte er ihr Handy aus ihrer Handtasche genommen. Als er sicher war, dass sie fest schlief, hielt er ihren Zeigefinger auf den Abdruckscanner, um das Gerät zu entsperren. Was er daraufhin in ihren WhatsApp Nachrichten las, verschlug ihm den Atem. Trotz allem blieb er ruhig und besonnen, während er sich die Selfies ansah, die seine Frau und ihren Liebhaber in offensichtlich glücklichen Posen zeigten.
Mit jedem Foto und mit jeder Liebesbekundung wuchs in ihm jedoch die Wut. Er überlegte, wie er sich ihr gegenüber verhalten sollte und ob es sich überhaupt noch lohnte, an ihrer Ehe festzuhalten. Letztlich kam er zu der Entscheidung, sich nicht kampflos wegnehmen zu lassen, was ihm gehörte. Also beschloss er, Isabelle besser zu kontrollieren. Zu allererst installierte er kurzerhand eine gute Spionagesoftware auf ihrem Handy. So war es ihm möglich, jeden ihrer Schritte zu überwachen, problemlos jede Korrespondenz zu lesen und sie sogar über ihr Handy abzuhören. Sein weiteres Vorgehen musste sich aus den Entwicklungen der nächsten Wochen ergeben.
-6-
Zurück in der Gegenwart:
„Das darf doch wohl nicht wahr sein!“, regte ich mich über einen Strafzettel auf, den ich meiner Meinung nach völlig zu Unrecht für falsches Parken unter dem Scheibenwischer meines Wagens vorfand. Ich hatte ihn gegenüber der Hauptkirche auf einer Parkfläche abgestellt, von der ich annahm, dass sie genau wie der angrenzende Parkplatz zum Parken freigegeben war. Natürlich hatte ich einen Parkschein gelöst und unter die Windschutzscheibe gelegt. Bei meiner Rückkehr innerhalb der erlaubten Zeit fand ich jedoch den Strafzettel vor.
Als ich daraufhin genauer nachsah, entdeckte ich ein Hinweisschild, welches alle Parkplätze auf der rechten Seite, also neben meinem Wagen, als Parkzone auswies. Genau genommen hätte ich also noch nicht einmal einen Parkschein lösen müssen, denn für meinen Parkplatz galt der Hinweis nicht und ebenso wenig existierte ein Halte- oder Parkverbotsschild. 25 Euro für nichts. Mein Widerspruch war gewiss.
Als ich Miriam am Abend davon erzählte, regte ich mich immer noch darüber auf. „Weshalb musst du deinen Wagen auch unbedingt dort abstellen?“ „Na du hast ja deinen Dauerparkplatz im Parkhaus am ‚Rosenwall‘, aber find mal am Mittwochvormittag in der Wolfenbütteler Innenstadt ein Plätzchen, wo du deinen Wagen abstellen kannst.“ „Sei froh, dass er nicht abgeschleppt wurde“, tröstete mich mein Schatz auf ihre spezielle Art. Ich schluckte meine Antwort hinunter. Hier war offenbar Hopfen und Malz verloren.
„Gibt es eigentlich schon einen Termin für die Verhandlung gegen die KO-Tropfen-Bande?“, wechselte ich das Thema. „Wie du ja weißt, waren schon deshalb sehr komplexe Ermittlungen nötig, weil sich die Straftaten über drei Landkreise erstreckten. Natürlich wird Oberstaatsanwalt van der Waldt die Anklage vertreten.“ „Der Fall hat einigen Wirbel verursacht“, bekundete ich. „So ist es und ohne deine Ermittlungen wäre die Bande heute noch aktiv.“ „Tja, Jogi und ich sind eben immer noch ein gutes Team.“
„Hast du derzeit eigentlich eine größere Sache in der Mache?“, erkundigte sich meine liebe Frau Staatsanwältin. „Wäre ich jeden Abend pünktlich zum Essen da? Könnte ich Ramona vor dem zu Bett gehen Gutenachtgeschichten vorlesen oder mit dir zusammen die lauen Spätsommerabende im Garten genießen, wenn ich in einem besonderen Fall zu recherchieren hätte?“, reagierte ich seufzend. Mein Schatz legte mir tröstend die Hand auf die Schulter. „Es tut dir ganz gut, wieder mal etwas kürzer zu treten.“ „Meinem Geldbeutel aber leider nicht“, erwiderte ich betrübt. „Nun steck mal den Kopf nicht in den Sand, irgendwie geht es immer weiter.“
„Ja genau, mit diesem dämlichen Ticket zum Beispiel!“ Womit wir wieder am Ausgangspunkt unserer Unterhaltung angelangt waren. „Da werde ich zumindest nicht wieder parken.“ Miriam verdrehte die Augen und ging in die Küche, aus der sie mit dem nächsten Wimpernschlag mit einem Stück Mohn-Marzipan-Torte zurückkehrte. „Das ist Nervennahrung aus dem kleinsten Café der Welt in ‚Mönchevahlberg‘.“ „Das hast du extra für mich mitgebracht?“ „Natürlich“, log meine Liebste so offensichtlich, dass wir beide darüber lachen mussten.
Wie auch immer, die Torte war lecker und sie bewirkte das, was sich Miriam von ihr erhofft hatte. Meine Laune wurde wieder gut und unser Abend noch besser. Manchmal sind es eben Kleinigkeiten im Leben, die großes bewirken können.
Schon am nächsten Morgen klopfte das Schicksal an meine Tür. Um genau zu sein, es war mehr ein Läuten und es war auch nicht die Tür zu meiner Detektei, sondern das Telefon, an dem sich das Schicksal mit dem Namen meines Freundes meldete. „Hallo Christoph, was kann ich für dich tun?“ „Es gibt Arbeit“, erklärte er verheißungsvoll. „Wenn du wieder einen Ehebruch für mich hast, kannst du nicht auf meine Mitarbeit zählen.“
Die letzten drei Fälle ehelicher Untreue hatten mich derart frustriert, dass ich schon Zweifel an meiner eigenen Ehe bekam. „Nein, nein, ich kann dich beruhigen. Hast du schon von dem Messerangriff im Regionalzug bei Dorstadt gehört?“ „Wann soll das denn gewesen sein?“, entgegnete ich perplex. „Gestern, am späten Nachmittag“, informierte mich der Rechtsanwalt. „Ein mutmaßlicher Täter wurde bereits festgenommen. Hauptkommissar Sinner empfahl mich als Rechtsbeistand.“ „Hast du schon mit dem Tatverdächtigen gesprochen?“ „Um fünf Uhr heute Morgen“, stöhnte Christoph. „Und, wie ist dein erster Eindruck?“ „Er beteuert seine Unschuld.“ „Wer tut das nicht?“, reagierte ich kritisch. „Der Unterschied ist, dass ich ihm glaube“, überraschte mich mein Freund.
„Hat er ein Alibi, oder weshalb sonst bist du dir so sicher?“, forschte ich nach. „Im Gegenteil, er wurde nach der Tat sogar fotografiert.“ Mein Gesicht war ein einziges Fragezeichen. „Sorry, aber wie kannst du dann von seiner Unschuld überzeugt sein?“ „Am besten kommst du in die Kanzlei und siehst dir die Fotos selber an. Dann kannst du sie am besten mit dem vergleichen, was ich bei seiner Befragung in der Polizeidienststelle von ihm machte.“ „Du scheinst dir ja sicher zu sein. Also dann bis gleich, aber bei Anne und nicht in der Kanzlei. Auf diese Weise komme ich wenigstens noch in den Genuss meines Cappuccinos.“
Kurz darauf war ich wieder einmal auf der Suche nach einem Parkplatz. Zumindest hatte ich diesmal mehr Glück. Bevor ich mich auf den Weg zum Parkautomaten machte, sah ich genau hin, ob ich nicht irgendwo ein Verbotsschild übersehen hatte. Der Parkschein war schnell gezogen und so freute ich mich auf den obligatorischen Cappuccino im Café Klatsch. Als ich jedoch durch die Bärengasse gehen wollte, musste ich feststellen, dass die gesperrt war. „Verdammte Baustelle!“, fluchte ich so laut, dass sich ein alter Herr mit Rollator zu mir umdrehte. „Nehmen Sie sich ein Beispiel an mir, junger Mann, ich schimpfe nicht, obwohl es mit meiner Gehhilfe wahrlich kein Vergnügen ist.“
Am liebsten wäre ich aus Scham in der Baustelle versunken. Es ist schrecklich, wie empfindlich und verwöhnt wir geworden sind, wenn mal etwas nicht so läuft, wie wir es gewohnt sind. Gut, dass es Menschen gibt, die sich nicht scheuen, uns den Spiegel vorzuhalten.
Auf dem Weg vorbei am Ratskeller versetzte ich mich angesichts der Unebenheiten in den älteren Herrn und dachte daran, wie es einmal sein würde, wenn ich nicht mehr so gut zu Fuß bin und dann war da dieses Bild, welches zwei schottische Fußballfans zeigte, die einem Mann mit Rollator über die Straße halfen. Ein Bild, was um die Welt ging und hoffentlich viele Nachahmer finden wird.
„Ich dachte wirklich schon du kommst nicht mehr“, begrüßte mich Christoph Börner. „Du kennst doch das ewige Glücksspiel mit der Parkplatzsuche.“ „Hoffentlich ist dein Cappuccino noch warm genug?“ „Wenn du ihn zahlst, trinke ich ihn auch kalt“, zwinkerte ich meinem Freund zu. „Aber nun zu dem Grund unseres Treffens“, drückte ich ein wenig aufs Tempo. „Ich habe die besagten Fotos mitgebracht.“ Der Onkel meiner Azubine reichte mir zunächst die Bilder, die von einem der Zeugen aufgenommen wurden. Leider waren sie aus der Bewegung heraus entstanden und somit verwackelt oder verschwommen. Andere Aufnahmen zeigten den Täter lediglich im Profil oder sogar nur von hinten als er mit einem E-Roller in Richtung Bornum davonfuhr.“
Nach und nach legte ich ein Foto nach dem anderen neben meinem Cappuccino ab und nahm einen ordentlichen Schluck. „Und?“ „Man kann ihn noch trinken.“ Schließlich schüttelte ich nachdenklich den Kopf. „Wieso hat der Zeuge kein Video gemacht und nicht einfach nur draufgehalten?“ „Du weißt, wie irrational Menschen unter Stress handeln. Die Polizei ist froh, dass der Zeuge überhaupt daran dachte, Fotos zu machen.“ „Na ja, da hast du sicherlich recht.“ „Das am gestrigen Abend mit Hilfe der Zeugen erstellte Phantombild deckt sich übrigens weitestgehend mit dem, was die Fotos hergeben.“ „Ich würde sagen, da kommt eine Menge Arbeit auf dich zu.“
Als nächstes reichte mir Christoph ein Foto, dass er während des Gesprächs von seinem Mandanten gemacht hatte. Ich schaute mir alle Aufnahmen in Ruhe an, verglich sie miteinander und sah zu meinem Freund hinüber. „Also, ganz ehrlich, wenn du mich fragst, dann hätte ich deinen Mandanten auch verhaftet. Wie kam es überhaupt zu der schnellen Festnahme?“ „Es gab einen Treffer im Fahndungsportal. Mein Mandant ist leider kein Unbekannter. Er hat eine Vorstrafe wegen zivilen Ungehorsams.“ „Nun sag nur noch der Mann ist ein Klimakleber“, horchte ich auf. „Nein, nein, die Sache liegt schon länger zurück.“
„Na ja, spielt ja auch keine Rolle“, relativierte ich. „Bei der Vernehmung durch die Kripo räumte er eine außereheliche Beziehung mit dem Opfer ein.“ „Wieso sollte er sie dann töten?“, überlegte ich. „Siehst du, genau das habe ich mich auch gefragt.“ „Es sei denn, es gibt einen Grund“, fügte ich an. „Genau das ist die Frage, die mir bei seiner Verteidigung vor Gericht auf die Füße fallen könnte. Falls es zwischen den beiden etwas gab, was als Motiv für diese Tat gewertet werden kann, wird er verurteilt.“ „Das Opfer ist übrigens die Ehefrau eines Polizeibeamten aus Börßum.“
Christoph bestellte eine zweite Runde Cappuccino bei Gregor und sah mich herausfordernd an. „Ich muss wissen, ob der Ehemann etwas von der Affäre seiner Frau wusste.“ „Womit er ebenfalls ein Motiv hätte“, resümierte ich. Mein Freund nickte mir zu. „Diese Möglichkeit käme allerdings nur in Betracht, wenn er so aussieht wie dein Mandant“, gab ich zu bedenken. „Da hast du leider recht.“ „Ich sehe mir den Herrn mal etwas genauer an, wer weiß, vielleicht handelt es sich ja um Zwillinge, die bei der Geburt getrennt wurden“, witzelte ich. „Du siehst zu viele Seifenopern im Fernsehen.“
„Jetzt zum wichtigsten Teil unseres Gesprächs. An wen schicke ich meine Rechnung?“ „Wieso musst du in einer solchen Situation immer an den schnöden Mammon denken?“ „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein und deine Nichte hat einen besonders großen Appetit.“ „Ernsthaft Leopold, Eddi Maurer hat eine Erbschaft gemacht. Er ist also imstande, dein horrendes Honorar zu bezahlen.“ „Na dann, auf in den Kampf! Du hast mir noch gar nicht gesagt, wer den Fall bearbeitet.“ Bevor mir Christoph antworten konnte, servierte uns Gregor die bestellten Cappuccinos. „Du wirst es mit Hauptkommissar Sinner zu tun bekommen.“ „Na ja, es gibt Schlimmeres. In letzter Zeit kamen wir ganz gut miteinander zurecht.“ „Vorsichtig, es geht diesmal um die Frau eines Kollegen, da sind die Herren schon mal etwas dünnhäutiger“, warnte mich mein Freund. „Du vergisst, dass ich selber dem Verein angehörte. Gerade in so einem Fall ist Objektivität das Wichtigste.“ „Viel Glück.“
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„So Mädels, lasst alles stehen und liegen und folgt mir in mein Büro.“ Ein Aufatmen ging durch den Raum, als Trude und Leonie ihre Schreibtische sich selbst überließen. „Wir haben endlich mal wieder einen interessanten Fall“, heizte ich die Spannung an, während ich die Pads für die Ermittlungswand aus der untersten Schublade meines Schreibtischs hervorkramte.
Da mir Christoph die ausgedruckte Kopie der Ermittlungsakte überlassen hatte, konnte ich ohne Verzögerung mit der Darstellung der Ereignisse und der Benennung aller bislang beteiligter Personen beginnen. „Unserem Klienten wird zur Last gelegt, gestern am späten Nachmittag um exakt 17:12 Uhr im Regionalzug der Erixx-Bahn die sechsunddreißigjährige Isabell Schade durch mehrere Messerstiche tödlich verletzt zu haben.“
Zunächst klebte ich Fotos des Tatverdächtigen und der Toten an die Wand „In der Vernehmung räumte Eddi Maurer eine Beziehung mit dem Opfer ein, stritt aber jegliche Tatbeteiligung ab. „Das hätte ich an seiner Stelle auch getan“, bekundete Leonie. „Eine Behauptung, die nur äußerst schwierig aufrechtzuerhalten sein dürfte, da unser Klient von mehreren Zeugen bei der Tat und unmittelbar danach gesehen wurde“, konfrontierte ich meine Mitarbeiterinnen mit der Realität.
„Ja, aber dann ist die Sache doch so klar wie Kloßbrühe“, resümierte Trude grüblerisch. „Sollte man zumindest annehmen“, pflichtete ich ihr bei, „…die Frage ist nur, weshalb er die Tat dennoch leugnet. „Dem Mann muss doch klar sein, dass ihm niemand glauben wird“, schüttelte Leonie den Kopf. „Unser Klient verfügt über kein belegbares Alibi und trotzdem beharrt er darauf, seiner Affäre kein Haar gekrümmt zu haben.“
Ich pappte das nächste Foto an die Wand. Es zeigte den Ehemann des Opfers. Zur Überraschung der Mädels stellte ich mittels rotem Wollfaden eine Verbindung zwischen den beiden her. „Dies ist der Ehemann der Toten, Polizeiobermeister Schade. Er arbeitet in der Dienststelle in Börßum. Die Ermordete und ihr Ehmann haben zwei Kinder“, führte ich aus. „Auch das noch“, seufzte Trude mitfühlend.
„Unser Auftraggeber und das Opfer unterhielten also laut seiner Aussage eine Romanze“, fuhr ich fort. „Genau da setzen wir an. Sie, Trude, finden alles zum Umfeld unseres Klienten heraus. Soziale Kontakte, Arbeitsplatz und seine Vergangenheit. Das volle Programm. Du, Leonie, nimmst dir das Milieu des Opfers vor.“ Ich werde inzwischen sehen, wie es um die Alibis der Herren bestellt ist. Womit ich aufmunternd in die Hände schlug. „Auf geht’s, ich will so schnell wie möglich Ergebnisse.“
Wie bei anderen Fällen auch, setzte ich mich zuallererst mit dem Wolfenbütteler Kommissariat in der Dienststelle an der ‚Lindener Straße‘ in Verbindung. Da ich von Christoph bereits wusste, dass Hauptkommissar Sinner den Fall bearbeitete, wählte ich direkt seine Dienstnummer.
„Schön, dass ich dich gleich erreiche, Tim. Hier ist Leopold. Es ist mir klar, wie viel du eben zu tun hast, deswegen rufe ich auch an. Es geht um die gestrige Messerattacke im Regio. Wie du ja weißt, vertritt Rechtsanwalt Börner den Tatverdächtigen.“ „Ich habe direkt schon auf deinen Anruf gewartet“, entgegnete der Hauptkommissar. Es war nicht weiter verwunderlich, dass sich unsere Wege immer wieder kreuzten. In einem relativ kleinen Kommissariat wie dem Wolfenbütteler gab es nur eine Handvoll Ermittler.
„Wen wunderts, dass Börner gerade bei einem derart verzwickten Fall auf das beste Personal setzt, was er kriegen kann, nicht wahr?“, überzog ich genüsslich. „Ich habe wirklich nicht viel Zeit, also, was kann ich für dich tun, Leopold?“ „Aus der Ermittlungsakte geht nicht hervor, wie lange die Affäre zwischen dem Opfer und meinem Klienten bereits andauerte.“ „Die angebliche Beziehung“, verbesserte mich Tim. „Also?“ „Etwa ein halbes Jahr.“ „Wusste ihr Ehemann davon?“, hakte ich nach. „Er sagt nein.“ „Und, glaubst du ihm?“
Es dauerte einige Atemzüge, ehe der Mann am anderen Ende der Leitung antwortete. „Bis jetzt gibt es keinen Grund dafür, an seiner Aussage zu zweifeln.“ „Du weißt, worauf ich hinauswill“, nagelte ich den Hauptkommissar fest. „Falls er es wusste, hat er ein starkes Motiv.“ „Das ist mir schon klar“, pflichtete mir Tim bei. „Allerdings verfügt er auch über ein starkes Alibi. Er war zur Tatzeit mit einem Kollegen auf Dienstfahrt.“ „Was ist mit dem Tatverdächtigen, kann er für die Zeit ebenfalls einen Nachweis erbringen?“, fragte ich der Ordnung halber nach. „Angeblich bekam er von Isabelle Schade eine Nachricht, in der sie ihn zu einem ihrer Treffpunkte bestellte. Er gibt an, dort eine Zeitlang vergebens auf sie gewartet zu haben. Als sie nicht kam, habe er versucht sie zu erreichen, doch ihr Handy wäre angeblich aus gewesen.“
„Okay, da gibt es ja Mittel und Wege, um die Geräte zu überprüfen.“ „Leider nur sein Handy, denn ihres wurde vom Täter mitgenommen.“ „Falls es eine solche Nachricht gibt, würde sie ihn entlasten“, gab ich zu bedenken. „Falls…“ „Es wäre sehr nett, wenn du mich über das Ergebnis der Handy-Auswertung auf dem Laufenden hältst.“ „Dich nicht, aber Rechtsanwalt Börner ganz sicher. Du kennst doch die Rechtslage.“ „Im Gegenzug gebe ich dir Bescheid, wenn sich bei meinen Recherchen etwas ergeben sollte“, versprach ich.
Ich fragte mich, weshalb mir Christoph nichts von der besagten Nachricht erzählt hatte und sah in die Ermittlungsakte. Die Notiz befand sich an einer Stelle, an der ich sie genauso übersehen hätte. Ein Hoffnungsschimmer, nicht mehr, aber immerhin ein Indiz, welches Eddi Maurer entlasten konnte. Beim Studium der Ermittlungsakte fiel mir vor allem die Kaltschnäuzigkeit auf, mit der sich der Täter im Zug bewegt hatte. Es war ihm offenbar vollkommen egal, ob die Zeugen sein Gesicht sahen oder nicht. Der mitgeführte Elektroroller deutete darauf hin, dass die Tat von langer Hand geplant war. Ich musste herausfinden, was für ein Mensch mein Klient war und ich musste ihn persönlich treffen, um mir ein Urteil über ihn bilden zu können.
Es klopfte an meiner Bürotür. „Herein!“ Ich hatte mit allem Möglichen gerechnet, aber ganz gewiss nicht damit, dass Leonie daraufhin hereinkam. „Was ist denn mit dir los? Das war das erste Mal seit Beginn deiner Ausbildung vor zwei Jahren, dass du anklopfst, bevor du in mein Büro stürmst.“ „Keine Ahnung, was Sie hier drinnen so treiben, nachher werde ich die Bilder nicht mehr los.“ Das Entsetzen stand mir ins Gesicht geschrieben. „Was denkst du nur von mir?“ „Nur das Beste Chef, aber weswegen sind Sie sonst so versessen darauf, dass ich erst anklopfe, bevor ich Ihr Büro betrete?“ „Okay, du hast gewonnen, kein Klopfen mehr.“
Innerlich schmunzelte ich. Dieses kleine Luder verstand es immer wieder die Dinge so zu drehen, wie es ihr am besten in den Kram passte. Natürlich hatte ich das kleine Manöver sofort durchschaut.
„Ich bringe Ihnen einen ersten Zwischenstand unserer Recherchen.“ „Na dann lass mal hören.“ „Die Familie Schade lebt seit etwa drei Jahren in Börßum ‚Oderblick‘ 2b. Trude hat Ihnen ein Foto des Einfamilienhauses ausgedruckt.“ „Sehr, sehr schön“, lobte ich. „Es gibt den zwölfjährigen Martin und die vierzehnjährige Finja. Beide sind gemeinsame Kinder der Eheleute, die seit zwölf Jahren verheiratet sind. Sie ist sechsunddreißig, er siebenunddreißig Jahre alt.“ „Dann ist die Tochter also vorehelich zur Welt gekommen“, sinnierte ich. „Sieht ganz so aus, Chef.“
„Wahrscheinlich steckte Hagen Schade bei der Geburt der Tochter noch in der Ausbildung.“ „Soll Trude da auch noch mal nachforschen?“, fragte Leonie nach. „Nein, nicht nötig.“ „Er wurde erst vor drei Jahren nach Börßum versetzt, sie arbeitet schon seit 2014 bei Mittelmayer in Braunschweig. Die letzten vier Jahre als Chefsekretärin.“ „Gibt es in den sozialen Medien Fotos von der Familie oder von Familienangehörigen?“ „Bislang wurde Trude noch nicht fündig, aber sie ist dran.“ „Gut, was hast du zu unserem Klienten herausgefunden?“ „Eddi Maurer ist achtunddreißig Jahre und arbeitet als Verwaltungsfachangestellter bei Alba.“
„Laut Ermittlungsakte hat er mehrere Vorstrafen“, informierte ich meine Azubine. „Okay, aber dazu fand ich jetzt nichts“, räumte Leonie verblüfft ein. „Schon klar, war nur eine Info.“ „Er ist verheiratet mit Elke…“ „Moment!“, unterbrach ich sie. „Eddi Maurer ist ebenfalls in festen Händen?“ „Seit sechs Jahren. Auf dem Weg in die Flitterwochen hatten er und seine Frau einen schweren Verkehrsunfall, bei dem sie so schwer verletzt wurde, dass sie seither im Rollstuhl sitzt.“ „Wenn das nicht tragisch ist, dann weiß ich auch nicht“, seufzte ich. „Das ist trotzdem kein Grund, seine Frau zu bescheißen!“, ließ Leonie kein Verständnis aufkommen.
Prinzipien sind sicherlich etwas Gutes. Sie lassen auf den Charakter schließen und sorgen für eine gewisse Ordnung, aber sie werden vor allem dann schnell bemüht, wenn sie von Menschen aufgestellt werden, die nie in eine Situation gerieten, in der man Grundsätze verletzen musste. Prinzipienreiter und Krümelkacker gibt es leider wie Sand am Meer, Menschen mit einem Sinn für Verständnis immer weniger.
„Komm du erst einmal selber in eine vergleichbare Situation, bevor du dir ein Urteil anmaßt“, hielt ich dagegen. „Ich finde, es spricht eher für unseren Klienten, dass er seine Frau nicht im Stich ließ.“ „Na, das wäre ja noch schöner“, ließ sich Leonie nicht beirren. „In guten, wie in schlechten Zeiten.“
„Ist Eddi Maurer auf Facebook, Instagram und Co unterwegs?“, wechselte ich das Thema. „Leider konnte ich seinen Account auf Facebook nicht knacken, aber ich fand einige Fotos die er viral stellte. Die meisten davon wurden in ‚Melverode‘ am ‚Südsee‘ aufgenommen.“ Leonie legte mir die Ausdrucke der Bilder vor. Sie waren alle von dem gleichen Standort aus aufgenommen. Ich raffte die Aufnahmen vom See und die Fotos zusammen, die wir von unserem Klienten und von Isabelle Schade hatten. „Genau da fahren wir jetzt hin. Vielleicht wurden sie dort gesehen. Im Anschluss geht es in die ‚Görlitzstraße‘ nach ‚Melverode‘.“ „Sie wollen seine Frau aufsuchen, Chef?“, fragte Leonie verwundert. Ich wog nachdenklich den Kopf. „Zumindest sollten wir uns erkundigen, ob sie unsere Hilfe braucht.“ „Ja natürlich“, stimmte sie mir zu.
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„Du solltest dir ein paar Tage freinehmen, Hagen“, riet ihm Rüdiger Ziese. Sein Vorgesetzter, Kollege und Dienststellenleiter in Börßum wollte in der Wache kein Gerede aufkommen lassen. Immerhin hatten er und ein weiterer Kollege die Frau von Hagen Schade vor einem Hotel in Braunschweig mit einem anderen Mann gesehen. „Nee, lass mal, daheim fällt mir nur die Decke auf den Kopf“, entgegnete der Polizeiobermeister. „Deine Kinder brauchen dich jetzt“, wurde Ziese eindringlicher. „Meine Mutter kümmert sich, Rüdiger,“ schien Hagen immer noch nicht zu verstehen. „Das war kein Vorschlag“, wurde der Dienststellenleiter nun direkt. „Ich halte es auf Grund der laufenden Ermittlungen für geboten, dich bis auf Weiteres zu beurlauben. Strenggenommen könnte man dir ein Motiv unterstellen.“
Hagen schüttelte verständnislos den Kopf. „Das ist ja wohl nicht dein Ernst!“ „Glaub mir, diese Maßnahme bereitet mir alles andere als Freude, aber die Bezirksdirektion in Salzgitter hält sie angesichts der Umstände für unumgänglich.“ „Ich verstehe, genauso wie all die Überstunden, für die ich gut genug war und meinen Kopf, den ich immer wieder hinhalten durfte, wenn die Kacke am Dampfen war. Ich habe verstanden!“
Hagen entlud seine Waffe und legte sie zusammen mit seinem Dienstausweis auf den Schreibtisch des Dienststellenleiters. „Den Ausweis brauchst du nicht abgeben.“ „So? Ich weiß noch gar nicht, ob ich ihn überhaupt wiederhaben will.“ „Mensch Hagen, mach keinen Mist“, versuchte ihn Rüdiger zu beschwichtigen. „Es ist doch nur solange, bis der Tatverdächtige überführt wurde.“ „Und wann soll das sein? In der Zwischenzeit zeigen unsere Nachbarn und Freunde mit dem Finger auf uns und in der Schule zerreißen sich die Mitschüler meiner Kinder das Maul! Du weißt doch ganz genau, wie das läuft.“ „Sorry, ich kann es nicht ändern.“
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„Wie kamst du eigentlich auf den Segelclub?“, fragte ich Leonie. „Ich habe schon mal auf der Terrasse des Cafés gesessen und konnte mich an den Blick über den ‚Südsee‘ erinnern. Ich bin mir sicher, dass es sich um dieselbe Perspektive wie auf dem Foto handelt.“ Ich pfiff anerkennend. „Das erhöht die Chance, dass die beiden vom Personal des Cafés wiedererkannt werden“, mutmaßte ich.
„Ein schönes Fleckchen Erde, was sich die beiden Turteltauben da ausgesucht haben“, befand ich, während mein Blick die Anlage sondierte. „Ich frage mich nur, wo sie von hier aus nach dem Kaffeetrinken hingegangen sind“, sprach Leonie meine Gedanken aus. „Klären wir doch zunächst, ob sich jemand an sie erinnern kann“, offenbarte ich meiner Azubine die Reihenfolge unserer Ermittlungen.
Als ich ihr vorschlug, dass sie sich das Café Relax vornimmt und ich den Segelclub, geschah dies nicht ohne Hintergedanken. Ich hatte da eine Idee. „Sie sind der Chef.“ „Das stimmt.“ Wir trennten uns also. Auch wenn es noch einige Vorbehalte gegen den Stil gab, den Leonie bei der Befragung möglicher Zeugen zutage legte, war es an der Zeit, ihr das Vertrauen zu schenken. Irgendwie bekam sie letztlich ja doch meistens Auskunft.
„Hallo, mein Name ist Lessing“, stellte ich mich im Büro des Segelclubs vor. Als nächstes rief ich das Foto meines Auftraggebers auf dem Display meines Handys auf. „Haben Sie den Herrn hier schon einmal gesehen?“ „Wir geben prinzipiell keine Auskünfte zu unseren Mitgliedern heraus“, erwiderte der Herr hinter dem Schreibtisch. Ich horchte auf. Sollte ich mit meiner Idee richtigliegen? Mein Klient war also Mitglied in diesem Segelclub. „Ich recherchiere für den Rechtsanwalt von Herrn Maurer. Es wäre in seinem Interesse, wenn Sie sich an ihn erinnern“, erklärte ich die Situation. Gleichzeitig schob ich einen Schein unter mein Handy und zeigte ihm ein weiteres Mal das Foto meines Auftraggebers.
„Also, wenn es im Interesse unseres Mitglieds liegt, kann ich bestimmt eine Ausnahme machen.“ Er zog den Zwanziger unter dem Handy hervor und tütete ihn ein. „Der Herr ist seit zwei Monaten Pächter der ‚Isodora‘. Der Eigentümer ist für ein Jahr im Ausland und hat das Nutzungsrecht für das Boot während dieser Zeit auf Herrn Maurer übertragen.“ „Ich wusste gar nicht, dass so etwas üblich ist“, entgegnete ich verblüfft. „Oh doch, das ist gar nicht so selten.“ Ich horchte auf. „Vielleicht wäre das auch eine Option für mich“, überlegte ich. „Nur zu, wir freuen uns über jedes neue Mitglied“, lächelte er ein weiteres Mal. Ich fragte mich, ob er wegen des Trinkgelds so freundlich zu mir war.
„Kehren wir zum eigentlichen Grund meines Besuchs zurück“, besann ich mich, während ich das Foto von Isabelle Schade aufrief. „Haben Sie diese Frau in der Begleitung mit Herrn Maurer gesehen?“ Er zog die Brauen hoch, so dass sich seine Stirn krauste. „Die beiden kommen jede Woche, gehen zusammen auf das Boot, fahren ein Stück weit hinaus und kehren nach etwa zwei Stunden wieder zum Anleger zurück.“ Der Mann hinter dem Schreibtisch lächelte süffisant. „Das Segeltuch ist bei der Rückkehr genauso verzurrt wie es bei der Ausfahrt ist. Also, wenn Sie mich fragen, fahren die Zwei ganz sicher nicht zum Segeln auf den See hinaus.“
„Können Sie mir die ‚Isodora‘ zeigen?“ „Die liegt am linken Steg. Etwa in der Mitte.“ „Ist es Ihnen recht, wenn ich mich ein wenig auf dem Boot umsehe?“ Er sah mich nachdenklich an. „Sie können mir ja viel erzählen, woher soll ich wissen, dass Sie wirklich im Interesse unseres Mitgliedes handeln?“ „Die Frau wurde ermordet!“, schockte ich ihn. „Herr Maurer steht unter Verdacht und ich arbeite für seinen Rechtsanwalt.“ „Er war das letzte Mal vergangene Woche Freitag mit der Frau hier“, erinnerte er sich. „So verliebt, wie die beiden waren, hätte er ihr im Leben nichts antun können“, bekundete mein Gegenüber. „Niemals!“
„Was ist nun mit dem Boot?“ Er öffnete einen Schlüsselschrank, der sich hinter ihm an der Wand befand und reichte mir seufzend den Schlüssel für die ‚Isodora‘. „Für Notfälle haben wir für jedes Boot einen Schlüssel hier“, erklärte er. „Wenn das kein Notfall ist, dann weiß ich auch nicht.“ Ich bedankte mich und versprach, den Schlüssel so bald wie möglich wieder zurückzubringen.
Auf dem Weg zum linken Bootssteg entdeckte ich meine Azubine. Sie beugte sich mit dem Rücken zu mir nach vorn über die Brüstung der Caféterrasse und sah über den See. „Warst du erfolgreich?“, riss ich sie aus ihren Gedanken. „Unser Klient war jede Woche mindestens einmal hier. An Frau Schade konnte sich die Bedienung leider nicht erinnern, aber ich bin mir sicher, dass sie lügt.“ „Woran machst du deine Einschätzung fest?“, erkundigte ich mich neugierig. „Als ich ihr das Foto zeigte und sie nach der Toten fragte, ging die Pupille ihres linken Auges bei ihrer Antwort nach links oben.“
Ihre Beobachtungsgabe war beeindruckend. Es gab nur wenige Ermittler, die mit der modernen Verhörtechnik vertraut waren und schon gar nicht so junge. „Du hast recht, sie belog dich“, bestätigte ich ihre Einschätzung. Als sie mich daraufhin verwundert ansah, ließ ich den Bootsschlüssel an meinem Finger lausbübisch baumeln. „Der gehört zu der ‚Isodora‘. Die zwei waren nicht nur jede Woche hier, sie fuhren auch mit dem Segelboot für etwa zwei Stunden auf den See hinaus.“
Ich deutete auf den links gelegenen Bootssteg. „Da vorn liegt sie. Wir dürfen uns darauf umsehen.“ „Dann sollten wir uns besser sputen, bevor Sinner auf die gleiche Idee kommt“, mahnte Leonie zur Eile. Wir gingen etwa einhundert Meter über einen geteerten Weg und bogen dann nach rechts ab, um gleichdarauf auf einen Holzsteg zu gelangen. Der Mann im Büro wusste, wovon er sprach, als er die ‚Isodora‘ in der Mitte des Stegs wähnte.
„Segeln ist nichts für mich“, erzählte die junge Frau an meiner Seite. „Ich bin mal mit meinem Vater mitgefahren. Ist lange her“, seufzte sie. „Ich weiß nur noch, dass ich ihm nichts recht machen konnte und dass er hinterher total sauer auf mich war, weil ich irgendwas kaputtgemacht habe.“ „Wie alt warst du da?“, hakte ich nach. „Keine Ahnung, aber nicht älter als zehn.“ „Ah ja“, entgegnete ich mir meine Antwort denkend.
Leonie sprach nur sehr selten über ihre Eltern. Meistens waren diese Erzählungen von eher negativen Erinnerungen geprägt. Christoph hatte mir bei der Bitte, seine Nichte in meiner Detektei unterzubringen, lediglich von ihrem schlechten Verhältnis zu ihren Eltern berichtet. Die Tatsache, dass sie mehrere Ausbildungen geschmissen hatte, interessierte mich damals nur unwesentlich. Ich mache mir gern mein eigenes Bild und das wird eher von Charakter geprägt als von der Norm.
„Da ist sie!“, deutete Leonie auf die ‚Isodora‘. „Das ist ein Jollenkreuzer“, erklärte ich. Leonie sah mich verwundert an. „Diese Bootsvariante wurde bis etwa 1980 gebaut. Er eignet sich vor allem für Binnengewässer.“ „Woher wissen Sie das, Chef?“ „Ein Traum, der wahrscheinlich nie in Erfüllung geht“, entgegnete ich schwermütig. „Sehn wir zu, dass wir an Bord kommen.“
„Ich hatte ganz vergessen, wie wackelig es auf so einem Boot ist“, bemühte sich Leonie das Gleichgewicht zu halten. „Pass bloß auf, dass du nicht über Bord gehst“, mahnte ich, während ich in den vorderen Bereich der Jolle wechselte. Am Einstieg angelangt, schob ich die Abdeckung nach hinten und kraxelte die Stufen hinunter. Die Kajüte war verschlossen. Ohne den Schlüssel wäre hier Schluss gewesen. Bevor ich irgendetwas berührte, zog ich mir Einmalhandschuhe an.
„Achte auf deinen Kopf, wenn du mir nachkommst und zieh die Handschuhe an. Wir wollen keine vorhandenen Spuren kontaminieren.“ Obwohl das Boot schon einige Jahre auf dem Buckel hatte, befand sich die Einrichtung der Kajüte in einem tadellosen Zustand. „Wow, ich hätte gar nicht gedacht, dass hier unten so viel Platz ist“, staunte meine Azubine. „Ein kuscheliges Liebesnest.“ „Sie glauben, unser Klient und das Opfer trafen sich hier zu unbeschwerter Zweisamkeit?“ „Wozu sonst?“
Wir begannen die Kajüte nach einem Beweis für die Besuche des Opfers abzusuchen. Während sich Leonie den Boden vornahm, kümmerte ich mich um die Kissen und Polster, als plötzlich etwas zu Boden fiel. „Ach, da schau her“, entdeckte ich ein kleines Goldkettchen, wie es am Handgelenk oder am Fuß einer Frau getragen wurde. „Hübsch“, befand sie. „Sicherlich kein Herrenschmuck. Es sei denn, unser Klient hat derart zarte Fesseln.“ Ich machte einige Aufnahmen vom Fußkettchen, legte es an die Stelle zurück, an der ich es gefunden hatte und schoss einige Fotos vom Fundort und letztlich vom Liebesnest.
„Woher haben Sie denn jetzt die Folie?“, fragte Leonie überrascht, als sie mitbekam, wie ich den Haltegriff neben der Treppe damit abklebte. „Ein guter Detektiv ist stets vorbereitet“, entgegnete ich altklug. „Ja schon, aber weshalb haben Sie dann die Folie dabei?“ Luder, dachte ich ohne eine passende Antwort parat zu haben. Das Holzgeländer war glatt genug, um darauf eine Fülle von Fingerprints sicherstellen zu können. Die Frage war nur, ob sich auch die Abdrücke von Isabelle Schade darauf finden ließen.
„Dürfen wir das denn eigentlich?“, fragte Leonie nach, während ich die Folie vorsichtig wieder abzog und auf einem Träger sicherte. „Nun ja, ich nehme sie ja nur vom unteren Bereich des Geländers ab. Dieselben Prints, die wir unten sicherstellen, dürften sich auch im oberen Bereich befinden. Ich entferne also nichts, was nicht noch mehrfach an diesem Ort vorhanden wäre.“ „Hauptsache die Polizei sieht das ebenso“, unkte meine sonst so unbekümmerte Azubine.
„Um gar nicht erst in eine mögliche Erklärungsnot zu geraten, sollten wir diesen Ort der Freude jetzt besser verlassen“, griff ich ihre Bedenken letztlich auf, um möglichen Vorwürfen der Kripo aus dem Weg zu gehen. Keine Minute zu früh, wie uns nach der Rückgabe des Kajüten-Schlüssels bewusst wurde.
„Was machen Sie denn hier, Herr Lessing?“, trafen wir auf dem Weg zu meinem Wagen ausgerechnet auf Kommissar Schubert. „Ach hallo, das ist aber eine wirklich nette Überraschung“, entgegnete ich freundlich. „Allein unterwegs?“ „Na ja, Sie wissen ja selbst, wie das ist, gerade zu Beginn einer Mordermittlung gibt es eine Fülle von Hinweisen, denen wir nachgehen müssen.“ „Da haben wir es glücklicherweise etwas besser“, log ich. „Meine Mitarbeiterin und ich haben uns einfach mal eine kleine Auszeit an diesem wunderbaren Fleckchen Erde gegönnt. Abgesehen davon spiele ich schon lange mit dem Gedanken, mir auch irgendwann ein Segelboot zuzulegen.“ Schubert sah mich irritiert an. „Ich muss zugeben, Herr Lessing, das hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut.“
Nicht mal Schubert glaubte mir diesen Blödsinn. „Es sei Ihnen vergönnt, Hauptsache Sie stören uns nicht bei unseren Ermittlungen.“ „Sie kennen mich doch.“ „Deswegen gebe ich Ihnen ja den Rat sich rauszuhalten, Herr Lessing.“ „Na dann, bis bald.“ „Ui, das war knapp“, schnappte Leonie nach Luft. „Warum? Wir haben nichts Ungesetzliches getan“, flunkerte ich ein weiteres Mal. „Na ja, Sie wissen schon, dass der Diebstahl von Beweismaterial eine Straftat ist“, wandte meine Azubine ihr erlerntes Wissen an. „Bislang handelt es sich lediglich um Spuren, die wir gesichert haben, nicht mehr, nicht weniger.“
Detektei Lessing
Band 51
Keine Soko für Remlingen
1
Es war einer dieser diesigen Morgen, als Manfred Junge zusammen mit zwei Freunden unweit einer Erkundungsbohrungen des Forschungsbergwerks Asse im angrenzenden Waldgebiet Bäume fällte. Er tat dies bereits seit vielen Jahren, obwohl er in seinem Job als Bergmann eigentlich genug gefordert war. Der Groß Vahlberger arbeitete gern im Wald, weil ihm die Natur einen Ausgleich bot und weil sie ihn über ein düsteres Kapitel seines Lebens hinweghalf.
„Baum fällt!“, rief einer seiner Freunde und im nächsten Augenblick kippte der mächtige Baum zur Seite. Auf seinem Weg durch die neben ihm stehenden Buchen zerriss er den feuchten Nebel, der sich hartnäckig in ihren Baumwipfeln hielt. Krachend schlug er auf dem Waldboden auf. Äste brachen wie Streichhölzer, knackten wie dünne Schaschlikspieße. Trockenes Laub und Erdreich wirbelte auf und allerlei Vögel flatterten von Panik getrieben durch die Luft. Es dauerte, ehe der Wald wieder zur Ruhe kam.
Doch die einsetzende Stille wurde jäh durch das laute Knattern einer Kettensäge erneut zerstört. Manfred klappte das Visier seines Helms herunter und setzte die Säge an, um den Stamm von seinen Ästen zu befreien. Er hatte das Schwert gerade angesetzt, als er in dem aufgewühlten Erdreich unter dem Stamm etwas merkwürdiges entdeckte. Er zögerte, schaltete die Kettensäge wieder aus und rief einen seiner Freunde.
„Micha, trägst du deine Taschenlampe am Mann?“ „Hast du eine goldene Gans gefunden?“, witzelte sein Feuerwehrkamerad. „Wer weiß“, entgegnete Manfred vage. Nachdem Micha den Lichtkegel seiner Taschenlampe unter den Stamm richtete, erschraken die Männer und wichen zurück. „Ach du Scheiße, ein Toter“, stellte Micha entsetzt fest. „Wer weiß, wie lange der hier schon liegt?“, fasste sich Manfred als erster.
„Hast du dein Handy einstecken?“, fragte er Micha. „Was? Nee, ich glaub nicht.“ „Was steht ihr zwei da herum und haltet Maulaffenpfeil?“, rief ihnen Ralf Kortegast im selben Moment zu. „Hast du dein Handy einstecken?“, wiederholte Manfred seine Frage. „Ja, wieso? Hat sich jemand verletzt?“ „Ruf die Polizei“, entgegnete Micha eindringlich, „...hier unter dem Stamm liegt ein Toter.“ Ralf Kortegast glaubte seinen Freunden nicht und überzeugte sich persönlich. Als er den blanken Schädel sah, reagierte er entsetzt. „Um Himmels Willen.“ Er wandte sich ab, zückte sein Telefon und informierte die Polizei.
Polizeioberkommissarin Kim Haufe und ihr Kollege, Kommissar Arnold Seidel, waren die ersten am Fundort. Die Leiterin der Polizeistation Schöppenstedt war beim Anblick des Schädels nicht weniger schockiert als die Holzfäller. „Wann können wir den Baum weiterbearbeiten?“, fragte Ralf Kortegast. „Solange die Kriminalpolizei und die Spurensicherung den Fundort nicht gesichert haben, bleibt alles, wie es ist“, entgegnete die Oberkommissarin unmissverständlich.
Eine gute Stunde später wimmelte es im Wald von Kriminaltechnikern, Ermittlern des Kommissariats Wolfenbüttel und Mitarbeitern der Rechtsmedizin. Das Gelände um den Fundort war weiträumig mit Trassierband abgesperrt und das THW war für die Bergung des Baumstamms angefordert.
Manfred Junge und seine Freunde beobachteten das Treiben aus einiger Entfernung. „Was für ein Blödsinn“, schüttelte Micha den Kopf. „Anstatt uns den Stamm abtransportieren zu lassen, lassen die extra das THW anrücken.“ „Weshalb einfach, wenn es auch umständlich geht?“, entgegnete der Bergmann. „Was glaubt ihr, wie lange der Schädel da schon liegt?“, stellte Ralf die Frage, die seine Freunde ebenso beschäftigte.
Der frisch gebackene Hauptkommissar Sinner von der Dienststelle in Wolfenbüttel hörte aufmerksam zu, als ihm der Pathologe einen ersten Eindruck von dem gefundenen Schädel gab. „Diese Stelle ist nicht das eigentliche Grab. Tiere müssen den Schädel ausgegraben und hierher verschleppt haben. Es gibt eindeutige Hinweise auf Wildfraß.“ Womit Doktor Schnippler auf die besagten Spuren am Schädel deutete.
„Auch das noch“, griff sich Schubert grüblerisch an den Kopf. „Das bedeutet ja, dass sich das Grab ein ganzes Stück weit entfernt befinden kann.“ „Nicht nur das, die Knochenteile könnten über das gesamte Gelände verstreut sein“, sorgte der Pathologe für einen weiteren Schockmoment bei den Ermittlern. „Können Sie denn schon sagen, wie lange der Schädel hier lag?“, hakte Sinner nach. „Sorry, aber ich habe meine Glaskugel nicht dabei“, erwiderte Doktor Schnippler teils beißend, teils ironisch. „Solange ich nicht zumindest den überwiegenden Teil des Skeletts untersuchen kann, ist dies reine Spekulation.“
Kurz darauf suchten alle vor Ort befindlichen Einsatzkräfte mit Suchlanzen und Stöcken den Waldboden nach weiteren Knochenteilen ab. Zur Unterstützung wurden Leichenspürhunde aus dem Harz und aus Hannover angefordert. Eventuell vorhandene Täterspuren gingen bei der Suche verloren. Ein Manko, welches leider in Kauf genommen werden musste, um einen möglichst kompletten Leichnam beerdigen zu können.
„Fund!“, rief einer der Einsatzkräfte, als sein Hund anschlug. Als sich daraufhin eine Lanze ohne großen Widerstand einen halben Meter tief ins Erdreich stechen ließ, war dies ein weiteres Indiz dafür, dass man das eigentliche Grab gefunden hatte. Der Rechtsmediziner und die Mitarbeiter der Spurensicherung legten daraufhin die Knochen frei, die in dem Erdloch verblieben waren. Anschließend entnahmen sie diese und legten sie auf einen Tisch, der sich in einem Zelt befand, welches vom THW aufgestellt wurde.
„Gibt es, abgesehen vom Leichnam, irgendwelche Gegenstände, die auf die Identität der Person hindeuten könnten?“, erkundigte sich Kommissar Schubert bei Ruprecht Ramsauer. Der Leiter der Spurensicherung reichte ihm zwei Tüten, in denen sich ein Schlüsselbund und ein Damenschuh befanden. „Kein Handy?“ „Sonst noch Wünsche?“ „Wie wäre es mit einem Ausweisdokument?“ „Es gibt noch einige Stoffreste. Mal sehen, ob sich daraus etwas rekonstruieren lässt.“ „Wie lange die Leiche hier ungefähr lag, können Sie wohl noch nicht sagen?“, hakte Hauptkommissar Sinner nach. „Vielleicht drei Jahre, vielleicht aber auch zehn“, zuckte Ramsauer mit den Achseln. „Zumindest dürfte es sich um eine Frau handeln.“
„Das kann ich bestätigen“, gesellte sich Doktor Schnippler dazu. „Das Becken unseres Skeletts ist eindeutig weiblich. Nicht älter als zwanzig Jahre, würde ich zum jetzigen Zeitpunkt einschätzen. Genaueres wie immer erst nach der Obduktion.“ „Natürlich“, nickten ihm die Ermittler zu. Da die Kommissare an dieser Stelle nichts mehr tun konnten, kehrten sie mit den Fundstücken ins Kommissariat zurück, um alle Vermisstenfälle der letzten Jahre zu einer ersten Bestandsaufnahme unter die Lupe zu nehmen.
Nach und nach wurde klar, welche Knochenteile fehlten. Somit ging die Suche weiter. Immer wieder gellte der gleiche Ruf durch den Wald. „Fund!“ Immer wieder begaben sich die Leute der Spurensicherung an den Fundort, sicherten und dokumentierten mit Fotos, trugen das Gebein in eine Übersichtskarte des Waldstücks ein und brachten es zu Doktor Schnippler ins Zelt. Somit komplettierte sich das Skelett bis zum Abend fast vollständig.
Als das Tageslicht mehr und mehr der Dunkelheit der Nacht weichen musste, wurde die Suche bis auf Weiteres eingestellt und der Leichnam in das Rechtsmedizinische Institut nach Braunschweig gebracht. Doktor Schnippler wandte die neuesten Verfahren zur Bestimmung des Alters und zur Ermittlung der Verweildauer des Körpers und somit zur Bestimmung des wahrscheinlichen Todeszeitpunkts und der Ursache an. Letztlich bestätigten sich seine ersten Aussagen zum Geschlecht und zum Alter. Da der Unterkiefer immer noch fehlte, konnte nicht das komplette Gebiss fotografiert werden. Dies erschwerte die Identifizierung der Toten zusätzlich.
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„Hast du eine Ahnung, wie viele Frauen in den letzten zehn Jahre in Niedersachsen als vermisst gemeldet wurden?“, stöhnte Kommissar Schubert. „Hundert?“, schätzte Sinner nachdenklich. Sein Kollege schüttelte den Kopf. „Da kannst du noch eine Null dranhängen.“ „Oh je, dann solltest du wohl besser einige Filter in die Suche eingeben. Ich denke auch, dass du dich erst einmal auf die Landkreise Wolfenbüttel, Helmstedt und Salzgitter beschränken solltest. Laut Rechtsmedizin war die Frau etwa zwanzig.“ „Gut, dass wird die Anzahl sicherlich schon verkleinern. Vielleicht könnte ich zusätzlich noch einige Details eingeben. Die Spusi fand mehrere blonde Haare und den Metallknopf einer Jeans, der nur von einem Markenhersteller verwendet wird.“ „Probier´s aus, vielleicht bringt´s was“, ermutigte ihn sein Kollege.
„Ich sehe mir inzwischen die Auswertung des Schlüsselbunds genauer an“, bemerkte Sinner. Die KTU hatte keinerlei Fingerabdrücke oder DNS-Material daran sicherstellen können. Feuchtigkeit im Erdreich und die Zeit hatten ganze Arbeit geleistet. Der zum Bund gehörende Bartschlüssel wurde einem einfachen Schloss ohne Zylinder zugeordnet, wie sie überwiegend für Zimmertüren verwendet wird. Der ebenfalls daran befindliche Sicherheitsschlüssel passte laut Bericht zu einer Wohnungs- oder Haustür. Ein weiterer kleiner Schlüssel wurde offenbar für ein Fahrradschloss oder ähnlichen verwendet. Die größte Aussicht auf Erfolg versprach allerdings ein kleiner Buddah-Anhänger aus Messing.
„Oh, die Filter haben es gebracht“, atmete der Kommissar auf. „Jetzt sind es nur noch drei Fälle, die in Frage kämen. Eine Vermisstenanzeige wurde von einer Frau aus Remlingen gestellt“, las Schubert vom Monitor seines Computers ab. „Das klingt ja schon mal recht vielversprechend. „Wie heißt die Frau?“ „Regina Schneider, ‚Siehenweg‘ Nummer 6“, ergänzte er. „Dann würde ich sagen, dass wir bei Frau Schneider anfangen“, schlug Sinner vor. „Vielleicht solltest du uns telefonisch ankündigen. Nicht das wir am Ende vor der Tür stehen und Frau Schneider wohnt gar nicht mehr dort.“
Eine halbe Stunde später saßen die Kommissare im Wohnzimmer der Reinigungskraft. „Haben Sie inzwischen etwas von Ihrer Tochter gehört?“, erkundigte sich der Hauptkommissar. „Weder von Marina noch von der Polizei“, reagierte sie vorwurfsvoll. „Nicht mal ein halbes Jahr, nachdem sie verschwunden war, wurde der Fall doch schon zu den Akten gelegt. Ein Kollege von Ihnen war hier und sagte, Marina hätte sicherlich einen Grund gehabt, weshalb sie von zuhause abhaute.“ „Das hätte er nicht sagen dürfen“, schüttelte Sinner mit dem Kopf. „Wer weiß, vielleicht hatte er ja Recht?“
Regina Schneider liefen die Tränen über das Gesicht. „Aber Sie kommen doch nicht einfach nur, um sich nach meiner Tochter zu erkundigen. Sie haben Marina gefunden“, schlussfolgerte sie. „Sie ist tot, stimmts?“ „Wir haben tatsächlich eine Leiche gefunden, aber wir können noch nicht sagen, ob es sich um Ihre Tochter handelt“, seufzte Schubert, während er ihr gleichzeitig ein kleines Tütchen mit dem Schlüsselbund reichte. Frau Schneider sah auf den Beutel und presste ihn sich auf die Brust. „Ich habe es von Anfang an geahnt. Weshalb hätte sie weglaufen sollen? Sie hatte es doch gut bei mir.“
„In der Vermisstenanzeige gaben Sie an, dass Ihre Tochter bei ihrem Verschwinden eine Jeans trug. Können Sie sich noch an die Marke erinnern?“ „Natürlich“, nickte sie schniefend. „Miss Sixty. Sie hatte wochenlang auf die Hose gespart. Ich konnte ihr keine so teure Jeans kaufen, deshalb haben wir zusammengeschmissen. Marina war ja noch in der Ausbildung zur Altenpflegerin. Damals wurde noch nicht so gut gezahlt.“
„Es tut uns sehr leid, Frau Schneider, aber Ihre Tochter muss bereits kurze Zeit nach ihrem Verschwinden ums Leben gekommen sein“, blieb der Hauptkommissar vage. „Kann ich sie sehen? Wie ist sie gestorben? Wurde sie umgebracht?“ „Die Obduktion ist noch nicht abgeschlossen und der körperliche Zustand Ihrer Tochter lässt es leider nicht zu, dass Sie in der üblichen Weise von ihr Abschied nehmen, aber wie kommen Sie darauf, dass Marina einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen sein könnte?“
Die relativ gefasst wirkende Frau erhob sich und verließ für einen Moment den Raum, um kurz darauf mit einem gerahmten Foto ihrer Tochter zurückzukehren. „Sie war so hübsch. Die Kerle standen Schlange bei ihr“, erklärte sie nicht ohne Stolz. „So etwas weckt Begehrlichkeiten. Können Sie sagen, ob sie...“ Sie stockte. „Nein, das lässt sich leider nicht mehr feststellen“, erkannte Sinner, worauf die Mutter des Opfers hinauswollte.
„Ich muss Marinas Vater informieren“, fiel ihr ein. „Wir waren damals bereits drei Jahre geschieden.“ „Ich verstehe. Während Sie ihren Mädchennamen wieder annahmen, behielt Marina den Namen ihres Vaters?“, fragte Schubert. „Nein, mein Ex heißt Junge.“ Die Kommissare sahen sich grüblerisch an. „Manfred Junge?“, hakte Sinner nach. „Ja genau“, stimmte frau Schneider zu. „Wir lasen den Namen ihres geschiedenen Mannes bereits auf der Anzeige“, erklärte der Hauptkommissar. „Kann es sein, dass er inzwischen in Groß Vahlberg lebt?“ Die Stirn von Regina Schneider legte sich in Falten. „Ja, er zog damals zu seiner Affäre. Wieso fragen Sie das alles?“
„Wir möchten Sie bitten, sich vorerst nicht mit Herrn Junge in Verbindung zu setzen“, vermied es Sinner, eine direkte Antwort auf ihre Frage zu geben. „Wir möchten zunächst selber mit Ihrem Exmann sprechen.“ „Also gut, wenn es Ihnen wichtig ist“, zuckte Regina Schneider mit den Schultern. „Wir würden morgen gern noch einmal bei Ihnen vorbeikommen. Es gibt viele weitere Fragen und bis dahin sicherlich auch Antworten für Sie“, stellte Sinner in Aussicht. „Ab Mittag bin ich daheim“, entgegnete die Reinigungskraft.
„Sie kommen allein zurecht?“, erkundigte sich der Kommissar. „Wie gesagt, ich habe Marinas Tod schon seit Jahren erahnt. Dennoch war da eine Hoffnung, die mich fast um den Verstand brachte. Nun habe ich die Gewissheit und komme endlich zur Ruhe, weil ich abschließen kann. Wenn ich Marina nun beerdigen kann, habe ich wenigstens einen Ort, wo ich um sie trauern kann.“ „Ich denke, ich weiß, was Sie meinen“, pflichtete ihr Schubert bei. Er zog seine Visitenkarte aus der Jacketttasche und reichte sie ihr. „Nur für den Fall, dass Sie Fragen haben...“ Die tapfere Frau nickte den Ermittlern zu und brachte sie zur Wohnungstür. „Dann bis morgen.“
„Ich weiß gar nicht, wie wir dem Mann beibringen sollen, dass er den Schädel seiner eigenen Tochter gefunden hat“, rieb sich Sinner nachdenklich den Nacken. „Ich bin da raus“, bemerkte Schubert unmissverständlich. „Das kriege ich nicht hin.“ „Hatte die Kollegin Haufe aus Schöppenstedt die Telefonnummer von Herrn Junge aufgenommen?“ „Ich habe sie schon gegoogelt. Soll ich gleich...?“ „Ja mach“, schien Sinner froh, dass ihm der Anruf erspart blieb.
„Seine Frau war am Apparat“, berichtete Schubert. „Er ist auf Arbeit.“ „Gut, dann fahren wir eben dorthin.“ Der Kommissar sah seinen Chef überrascht an. „Du willst es ihm bei der Arbeit sagen?“ „Wir sollten nicht solange warten, bis er es von anderer Seite hört.“ „Wer außer seiner Ex sollte es ihm sagen?“ „Eben. Weißt du, ob sie ihm letztlich nicht doch die Schuld am Verschwinden der gemeinsamen Tochter gibt?“
3
„Die Kommissare Schubert und Sinner von der Wolfenbütteler Kriminalpolizei“, stellte der Ermittler sich und seinen Kollegen vor. Die junge Frau hinter der Glasscheibe bat um die Ausweise der Besucher. „Wie ich im Computer sehe, sind Sie nicht für heute angemeldet.“ „Unser Besuch ist einem aktuellen Fall geschuldet. Wir müssen Herrn Manfred Junge in diesem Zusammenhang dringend sprechen.“ „Gut, ich will sehen, was sich machen lässt. Da Herr Junge unter Tage arbeitet, wird es allerdings eine Weile dauern, ehe er mit Ihnen sprechen kann. In der Zwischenzeit werden meine Kollegen eine Leibesvisitation bei Ihnen durchführen.“
Auch wenn dieses Prozedere für die Kommissare eher ungewöhnlich war, ließen sie die Kontrolle über sich ergehen. Zumindest waren sie zuvor weitsichtig genug, ihre Dienstwaffe im Wagen zu lassen. „Der Betriebsleiter wird Sie empfangen“, erklärte einer der Sicherheitsmitarbeiter. Mit demselben Atemzug meldete sich die junge Frau hinter dem Sicherheitsglas mit der Rückgabe ihrer Ausweise und einer Besucherkarte. „Heften Sie sich die Legimitationen bitte gut sichtbar an Ihre Garderobe.“
„Um Ihren Eingang auf das Gelände in unser System zu dokumentieren, halten Sie die Karten bitte kurz an den Scanner neben der Tür“, bat der Mitarbeiter der Security, während er den beiden Ermittlern die Pforte aufhielt. Der Betriebsleiter erwartete die Kommissare oberhalb einer Treppe, die in ein Backsteingebäude führte. Die Männer begrüßten sich auf dem Flur des Gebäudes. „Sie wollen also mit Manfred Junge sprechen“, begann der Betriebsleiter das Gespräch, kaum dass er die Tür zu seinem Büro hinter sich geschlossen hatte. „Er wird gleich hier sein. Wenn Sie solange Platz nehmen wollen?“
„Sie betreiben einen hohen Sicherheitsstandart“, bemerkte der Hauptkommissar. „Ist denn ein solcher Aufwand nötig?“ „Wie Ihnen sicherlich bekannt ist, handelt es sich bei diesem Bergwerk um eine atomrechtliche Anlage und als solche unterliegen wir sicherheitstechnischen Vorgaben.“ „Stimmt, da war ja was“, entgegnete Schubert. „Darf ich fragen, in welcher Angelegenheit Sie Herrn Junge sprechen möchten?“ „Da sollten Sie ihren Mitarbeiter selber fragen“, hielt sich Sinner bedeckt. „Aber ich kann Sie insofern beruhigen, dass gegen Herrn Junge nichts vorliegt.“
„Hat es mit dem Leichenfund in der Nähe unseres Bohrplatzes zu tun?“ „Sie wissen also bereits davon“, zeigte sich Sinner überrascht. „Was wäre ich für ein Betriebsleiter, wenn ich nicht wüsste, was in meiner Nachbarschaft passiert?“ „Dann ist Ihnen bestimmt nicht entgangen, dass Herr Junge den Leichnam bei Baumfällarbeiten entdeckte“, suggerierte der Hauptkommissar. „Schrecklich so ein Anblick. Ich bekäme sicherlich nächtelang kein Auge zu“, schauerte es den kräftigen Mann mit dem grauen Haar.
Zeitgleich klopfte es an der Tür. „Herein!“ Die Männer erhoben sich, um den Bergmann zu begrüßen. „Guten Tag, Herr Junge. Es tut mir leid, Sie hier überfallen zu müssen, aber es haben sich einige Neuigkeiten ergeben, die dieses Gespräch nötig machen“, erklärte Sinner. „Dann werde ich Ihnen jetzt so lange mein Büro überlassen.“ „Das wird nicht nötig sein“, widersprach der Bergmann. „Es gibt nichts, was mein Chef nicht hören dürfte.“ „Es könnte sehr persönlich werden“, gab Schubert zu bedenken.
„Ich habe ohnehin noch etwas wichtiges zu erledigen“, ließ sich der Betriebsleiter nicht mehr aufhalten. „Meine Sekretärin bringt Ihnen einen Kaffee.“ Im nächsten Moment verließ er sein Büro. „Setzen wir uns“, schlug Sinner vor und nahm wieder in der kleinen Sitzecke Platz. „Wieso persönlich?“, erinnerte sich Junge an die Worte des Hauptkommissars. „Wir können inzwischen zweifelsfrei davon ausgehen, dass es sich bei dem gefundenen Leichnam um Ihre vor fünf Jahren verschwundene Tochter handelt“, erklärte Sinner.
Die Ermittler ließen Manfred Junge die Zeit, die nötig war, um das Gehörte zu verarbeiten. „Ich muss meine geschiedene Frau anrufen“, reagierte er fahrig, während er sein Handy hervorholte. „Wir waren zunächst bei Ihrer Frau, weil sie damals die Vermisstenanzeige erstattete“, hielt ihn Sinner zurück. „Sie weiß also Bescheid“, bemühte sich der Vater der Toten seinen Emotionen eine Struktur zu geben. „Sie hatte also von Anfang an Recht“, stöhnte er aufgeregt die Hände vor sein Gesicht haltend.
„Woher wissen Sie, dass es Marina ist? Das kann doch jeder sein“, suchte er nach einem Ausweg, die schreckliche Wahrheit nicht akzeptieren zu müssen. „Ihre Frau konnte das im Grab gefundene Schlüsselbund eindeutig identifizieren“, sorgte Schubert für Klarheit, während er ihm die Tüte mit dem besagten Bund reichte. „Ja, das sind ihre Schlüssel“, räumte er letztlich ein. „Den Buddha-Anhänger bekam sie mal von mir zu Ostern.“ Er versuchte sich zusammenzunehmen, holte tief Luft, um sie immer wieder geräuschvoll aus den Wangen zu pressen.
Die Sekretärin trug das Tablett mit dem Kaffee im richtigen Moment herein. Als sie Manfred Junge ins Gesicht sah, bemerkte sie, wie aufgewühlt er war. Sie legte ihre Hand tröstend auf seine Schulter. „Kann ich etwas für dich tun? Soll ich Carmen anrufen?“ „Nee lass mal“, ich komme klar.“ „Haben Sie vielen Dank, wir bedienen uns selbst“, komplimentierte Sinner die Sekretärin hinaus.
„Ich hätte sie damals zu mir nehmen müssen“, seufzte der Bergmann. „Regina war mit ihr völlig überfordert. Marina machte ja nur noch, was sie wollte.“ „Ihre Tochter war volljährig“, gab Sinner zu bedenken. „Junge Leute lassen sich dann nur ungern etwas sagen.“ „Es gab zwei Diebstähle, für die sie Sozialstunden bekam und dann war da ja noch die Sache mit dem Kiffen“, erzählte er den Beamten. „Das Jugendamt hat damals eine Akte über Marina angelegt. Sie hätte sich nur noch eine Kleinigkeit leisten müssen und sie wäre ins Heim gekommen.“ „Wie alt war sie da?“, hakte Schubert nach. „Es begann mit der Scheidung, also sechzehn und hörte erst mit dem Beginn der Lehre zur Altenpflegerin auf. Ich weiß bis heute nicht, weshalb sie sich ausgerechnet für diesen Beruf entschied, aber wir waren ja froh, dass sie sich gefangen hatte.“
„Kennen Sie die damaligen Freunde Ihrer Tochter? Wissen Sie, mit wem sie Kontakt hatte?“ „Wieso fragen Sie das alles? War es denn kein Unfall?“, merkte Manfred Junge auf. „Bislang liegt uns noch kein Obduktionsergebnis vor. Wir wollen lediglich herausfinden, was am Abend ihres Verschwindens geschah.“ „Nach dem, was mir meine Ex erzählte, bekam Marina einen Anruf, bevor sie die Wohnung in Remlingen verließ.“ „Sie wissen nicht, wer der Anrufer war?“, setzte Schubert nach. „Leider nicht, aber wir haben damals all ihre Freundinnen abtelefoniert. Da wusste keine was, oder die stellten sich nur unwissend.“
„Die Namen dieser Freundinnen sind Ihnen wohl nicht mehr geläufig?“, erkundigte sich Schubert. „Da muss ich leider passen, aber meine Ex kann Ihnen da sicher weiterhelfen. Sie ließ Marinas Zimmer genauso, wie sie es am Tag ihres Verschwindens zurückgelassen hat.“ „Falls uns bis morgen das Obduktionsergebnis vorliegt und sich daraus der Anlass für weitere Ermittlungen ergeben sollte, werden wir Frau Schneider noch einmal aufsuchen“, erklärte der Hauptkommissar. „Wir werden uns aber in jedem Fall bei Ihnen melden.“
Die Männer erhoben sich. „Ich frage mich die ganze Zeit, weshalb sich Marina an dieser Stelle aufgehalten haben soll. Wenn es tatsächlich ein Unfall war, muss doch jemand bei ihr gewesen sein, der sie dort einfach so zurückließ. Wer auch immer sie dort liegen ließ, trägt die Verantwortung für den Tod meiner Tochter.“ „Wir werden die Wahrheit ans Licht bringen“, versprach Sinner. „Ich danke Ihnen“, nickte Manfred Junge.
4
„Wie Sie hier deutlich sehen können, gibt es etwas seitlich zum Hinterkopf diese feine Bruchlinie.“ Doktor Schnippler deutete auf eine schwarze Linie, die auf dem beleuchteten Röntgenbild gut zu sehen war. „Es dürfte sich um die Folge eines Sturzes oder heftigen Schlages handeln.“ „Gibt es weitere Spuren von Gewaltanwendung?“, fragte Schubert nach. „Bis jetzt nicht, aber es wurden ja auch noch nicht alle Knochen gefunden, um dies ausschließen zu können.“ „Was ist mit den Kleidungsresten, die im Grab lagen?“, erinnerte sich der Ermittler. „Ließ sich darauf etwas finden?“ „Nach so langer Zeit im Erdreich war da nichts mehr zu machen, aber dafür fand ich in der Schädelwunde einen Holzsplitter.“
Hauptkommissar Sinner sah den Rechtsmediziner irritiert an. „Wieso ist der nicht verrottet?“ „Weil er aus Lärche ist. Genauer gesagt, aus sibirischer Lärche. Die hat einen besonders hohen Harzgehalt und ist darum sehr witterungsbeständig.“ „Dann hilft uns das auch nicht sonderlich weiter“, räumte Schubert enttäuscht ein. „Den Splitter kann sie sich ja dann quasi überall in der Asse eingefangen haben.“ „Eben nicht“, widersprach der Pathologe. „Die sibirische Lärche wächst nicht in der Asse. Man verwendet dieses Holz gern für Bauten in der Natur.“ „Also für Grillplätze, Hochsitze oder Waldhütten“, überlegte Sinner. „Genau.“
„Vielleicht hat die junge Frau ja mit Freunden irgendwo im Wald gefeiert“, mutmaßte Doktor Schnippler. „Dann suchen wir jetzt nach einer Hütte oder irgendetwas in der Art?“, folgerte der Kommissar. „Moment mal“, griff sich Sinner an den Kopf. „War da auf der Straße zwischen dem Asseschacht und Groß Vahlberg nicht links vor der Kurve ein Zauntor?“ Schuberts Unterlippe wölbte sich nach vorn. „Also mir viel da nichts Besonderes auf, aber wir sind ja nachher sowieso in Remlingen. Da können wir ja mal genauer hinsehen.“
„Solange ich die restlichen Knochen nicht habe und auswerten kann, können Sie sich die Frage nach einem gewaltsamen Tod sparen, meine Herren“, kam der Rechtsmediziner den Ermittlern zuvor. „Woher...?“ „Herr Sinner, ich bitte Sie“, reagierte der Mediziner gedehnt. „Wie lange kennen wir uns jetzt?“ „Zumindest haben wir wahrscheinlich ein Tod durch Unterlassen“, resümierte Schubert. „Ob das der Staatsanwältin ausreicht, um in dem Fall weiter zu ermitteln, ist fraglich.“ „Noch besteht die Hoffnung, dass die Spurensicherung die fehlenden Knochen findet“, machte Doktor Schnippler den Kommissaren Mut.
Auf dem Weg vom rechtsmedizinischen Institut nach Remlingen durchquerten die Ermittler die Asse. „Geh vom Gas, hier irgendwo muss es gewesen sein“, bat Sinner seinen Kollegen. Gleich hinter einer Rechtskurve, führte ein Waldweg in einem spitzen Winkel einige Meter bergab. „Da ist es!“, rief der Hauptkommissar enthusiastisch. „Na sag ich doch.“ „Hoffentlich kommen wir da nachher auch wieder rauf“, unkte sein Kollege. „Jetzt fahr erst mal runter“, forderte ihn Sinner auf. „Wir können den Wagen ja wohl schlecht an dieser Stelle auf der Straße parken.“
Kurz darauf entdeckten sie eine Hütte und gleich daneben einen kleinen Tümpel, der von der Straße aus nicht zu sehen war. Schubert rüttelte an dem Schloss, mit dem beide Enden einer Stahlkette zusammengehalten wurden. „Was nun?“, fragte er, als er bemerkte, dass sich der Bügel nicht öffnen ließ. „Während du zum Wagen zurückgehst und in der Zentrale nachfragst, wem das Grundstück gehört, sehe ich mich mal nach einem weiteren Eingang um“, trug Sinner seinem Kollegen auf.
Eigentlich wollte er den zuweilen etwas zu regelkonformen Kommissar nur für einen Moment loswerden. Sinner war sich sicher, irgendwo eine Schwachstelle im Zaun zu finden. Er brauchte nur wenige Schritte in Richtung Weiher gehen, bis er auf eine passende Stelle stieß. „Na also, das Loch ist doch wie für mich gemacht“, flüsterte er sich selber zu und schlüpfte durch die Drahtmaschen auf das fremde Grundstück.
Der Hauptkommissar ging am Ufer entlang der kleinen Holzhütte entgegen. Wie friedlich es hier ist, dachte er beim Blick über das Wasser. „Tim!“, zerriss die grelle Stimme seines Kollegen plötzlich die Idylle. „Hier!“, antwortete er. „Ich will nur kurz einen Blick in die Hütte werfen.“ „Das Grundstück gehört einem Max Bredtklopfer. Ich habe bereits mit seiner Tochter in Salzgitter telefoniert. Ihr Vater ist schon seit einigen Jahren tot. Seitdem werden der Teich und die Hütte von ein paar Anglern genutzt, die in dem Teich Forellen züchten.“
Die Kommissare standen sich inzwischen an der Einfahrt zum Grundstück gegenüber. Nur getrennt durch den Maschendrahtzaun und ihre Ideologie. „Ich nehme an, du hast deine Taschenlampe dabei?“, erkundigte sich Sinner. Die Leuchte wechselte auf die andere Seite des Tores. „Ich bin gleich wieder da“, beruhigte er Schubert und ging.
Der Lichtkegel der kleinen Handlampe suchte sich seinen Weg durch die verdreckten Fensterscheiben in das Innere der Hütte. Der Hauptkommissar sah in der Mitte des einzigen Raumes einen Tisch, um den vier Stühle gruppiert waren. Seitlich entdeckte er eine Couch und auf der gegenüberliegenden Seite eine alte Kommode. Über allem lag eine dicke Staubschicht, die darauf schließen ließ, dass die Hütte schon seit längerem nicht mehr genutzt wurde.
Da der Ermittler keine Ahnung hatte, welche Maserung das Holz der sibirischen Lärche aufwies und welche Farbe es hatte, machte er einige Fotos. Als er die Hütte umrundete stieß er auf eine Fensterklappe, die seiner Auffassung nach aus demselben Holz gefertigt war. Er konfiszierte sie kurzer Hand und nahm sie mit.
„Was hast du denn da?“, erkundigte sich Schubert, als ihm der Hauptkommissar das Konstrukt über den Zaun reichte. „Ich hoffe, sibirische Lärche.“ „Das sieht eher nach Buche aus“, überraschte ihn Schubert. „Woher willst du denn das wissen?“ „Mein Vater ist Tischler, da bekommt man so etwas quasi mit in die Wiege gelegt.“ Sinner schüttelte den Kopf. „Wieso sehe ich mir dann die Hütte an?“ „Weil du schon immer diesen gewissen Bewegungsdrang in dir hattest.“ „So, so, ist das so?
Um auf dem schmalen und stark ansteigenden Waldweg nicht stecken zu bleiben, begab sich Schubert an die Stelle, wo der Weg in die Straße mündete. Unterdessen quetschte sich Sinner durch das schmale Loch im Zaun und stieg in den Dienstwagen. Als ihm der Kollege eine freie Straße signalisierte, legte er den Rückwärtsgang ein und gab Gas. An der geteerten Kante der Straßendecke knirschte es kurz, als das Endrohr des Auspuffs dagegen schlug. Sinner riss das Lenkrad herum und ging in die Bremse. Das Horn eines LKWs, der aus Richtung Groß Vahlberg um die Kurve donnerte, dröhnte bedrohlich durch den Wald. Der Ermittler warf den Gang ein und ergriff mit quietschenden Reifen die Flucht.
Mindestens einhundert Meter weiter, kurz hinter der Bergkuppe, dort, wo auf der linken Seite ein Weg zum Bohrplatz hinaufführte, gab es eine Möglichkeit, den Wagen anzuhalten. „Wie war das doch gleich mit dem Bewegungsdrang“, lachte Sinner, als sich sein Kollege schnaufend auf dem Beifahrersitz niederließ. „Ich glaube, ich fahre jetzt wieder häufiger selbst“, setzte er feixend noch einen drauf.
„Die Fensterklappe hast du doch vorhin in den Kofferraum gelegt, oder?“ Schubert stöhnte. „Ich fürchte, die lehnt noch am Tor.“ Sinner sah seinen Kollegen durchdringend an. „Kann es sein, dass du mich gerade veräppelst?“ Schubert verzog das Gesicht. „Ich fürchte, du hast mich erwischt.“ „Ganz ehrlich, deine Witze waren auch schon mal besser, aber wo wir gerade hier sind, könnten wir die Klappe gleich bei der Spusi abgeben. Die sind noch immer oben am Fundort damit beschäftigt, nach den fehlenden Knochen und dem eigentlichen Tat- oder Unfallort zu suchen.“
„Sollte sich herausstellen, dass die Fensterklappe tatsächlich aus sibirischer Lärche gefertigt wurde, haben wir den Kollegen viel Arbeit erspart“, gab sich Schubert zuversichtlich. „Was zunächst zu beweisen wäre“, zeigte sich der Hauptkommissar bedeckt. „Abgesehen davon wird es bestimmt noch eine Weile dauern, bis sie all die Knochen beisammenhaben, die von den Tieren verschleppt wurden.“ „Der Fall ist komplexer, als ich dachte. Das schaffen wir zwei doch gar nicht“, stöhnte Schubert. „Die Staatsanwaltschaft sollte eine Soko ins Leben rufen.“ „Dazu ist es noch zu früh, aber deine Idee hat was.“
Sinner steuerte den Dienstwagen über den kurvenreichen Schotterweg bis zum Bohrplatz, an dem eine Erkundungsbohrung klären sollte, ob es an dieser Stelle möglich war, einen Schacht in die Tiefe zu bauen. Über diesem Weg sollten die in den achtziger Jahren im Bergwerk eingelagerten Atommüllfässer wieder zurückzuholen werden. Er fuhr an dem langen Zaun vorbei, der den Platz sichern sollte, weiter über den immer schlechter werdenden Waldweg, bis zu der Stelle, an der Manfred Junge den Leichnam seiner Tochter fand.
Spurensicherung und Hundeführer mit speziell ausgebildeten Leichenspürhunden durchkämmten das Waldgebiet. Unterdessen sichtete und ordnete der Leiter des Spusi die Fundstücke. Die Ermittler trafen im Zelt des Technischen Hilfswerks auf ihn.
„Hallo Herr Ramsauer, kommen Sie voran?“ „Ach, die Herrn Kommissare. Wie schön, dass Sie uns zur Hand gehen wollen“, feixte er. „Ganz im Gegenteil, wir bringen Ihnen noch Arbeit dazu.“ Schubert hielt ihm die Fensterklappe entgegen. „Das gute Stück stammt von einer Hütte, ganz hier in der Nähe. Vielleicht der Tatort“, bekräftigte er. „Sie wollen wissen, ob ihr Muster aus dem Holz der sibirischen Eiche ist?“, zählte Ruprecht Ramsauer eins und eins zusammen. Sinner nickte ihm zu. „Ich bin zwar kein Forstwirt, aber ich glaube eher nicht“, entgegnete er. „Ich werde das Holz trotzdem analysieren. Stellen Sie das Teil bitte da an die Seite.“
„Auf Grund des vorläufigen Obduktionsbefundes lässt sich laut Doktor Schnippler keine sichere Aussage zu den Umständen tätigen, die zum Tod der jungen Frau führten“, gab der Ermittler die Worte des Rechtsmediziners weiter. „Wie auch immer“, seufzte Ruprecht Ramsauer. „Fakt ist, dass sich die Tote nicht selbst beerdigte. So lange man uns lässt, werden wir hier weitersuchen.“ „Selbst wenn es ein Unfall war, muss es einen triftigen Grund geben, weshalb man das Opfer hier verscharrte und nicht die Polizei rief“, stellte der Hauptkommissar abschließend klar.
5
Der Herbst war in die Lessingstadt eingezogen. In seinem Gepäck hatte er alle negativen Fassetten des Wetters mitgebracht. Auch wenn sich der Wind einmal mehr stürmisch in den historischen Straßen der Fußgängerzone austobte, ließ ich mir den obligatorischen Cappuccino im Café Klatsch nicht nehmen. Die Baustelle war wieder ein Stück weitergewandert, befand sich inzwischen nahe der Seeliger Bank. Laut war es trotzdem, wenn die Presslufthammer den Untergrund aufbrachen und Baggerschaufeln ihren Inhalt donnernd auf die Ladeflächen des LKWs entleerten.
Ob der gewaltige Aufwand tatsächlich dazu beitragen konnte, die sterbende Fußgängerzone am Leben zu erhalten? In Zeiten, in denen das Geld im Portemonnaie immer knapper wird, wird auch der Geiz immer geiler. Wo sich Arbeit nicht mehr lohnt, verhält es sich mit der Bequemlichkeit nicht anders.
Die Wolfenbütteler Zeitung war jedenfalls voll mit Meldungen, die meine Meinung bestätigten. Meine volle Aufmerksamkeit zog jedoch ein Bericht auf sich, der von dem Leichenfund in der Asse berichtete. Man liest immer von Ereignissen, die an Orten geschehen, die sich weit weg von uns ereignen und reagieren daher oft achselzuckend, doch wenn sie vor der eigenen Haustür passieren, sind wir umso erschrockener. Mir geht es da nicht anders, aber aufgrund meiner jahrzehntelangen Erfahrung mit dem Verbrechen weiß ich, dass es überall zuschlagen kann.
Leid taten mir vor allem die Eltern der jungen Frau, deren Leben vor fünf Jahren auf bislang ungeklärte Weise endete. Sie waren all die Jahre im Unklaren, hofften und bangten, dass ihr Kind noch am Leben sei. Auch wenn sie jetzt Gewissheit hatten, mussten sie damit nun zurechtkommen. Der Gedanke, das eigene Kind, aus welchem Grund auch immer, zu verlieren, ließ mir einen Schauer über den Rücken laufen.
Ein zweiter Cappuccino vertrieb die düsteren Gedanken und lud meine Akkus für den Tag. „Ich habe deine Kleine schon längere Zeit nicht mehr gesehen“, vernahm ich Annes Stimme. Mein Blick löste sich von der Zeitung. „Setz dich doch.“ „Na gut, einen Moment habe ich.“ „Ramona geht seit einigen Monaten auch nachmittags in den Hort.“ „Hattet ihr nicht ein Kindermädchen für sie?“, erinnerte sich Anne. „Tanja ist mit dem Studium fertig und mit der jungen Frau, die wir danach hatten, kam Ramona nicht klar.“ „Ja, die Chemie muss schon stimmen.“ „Du sagst es. Ramona selbst machte uns dann den Vorschlag, länger im Kindergarten zu bleiben.“ „Ein Zeichen, dass es ihr dort gut gefällt“, schlussfolgerte Anne.
Eine Bestellung an einem der Nebentische beendete unser Gespräch. Ich reichte ihr einen Zehner und bedeutete ihr, dass es so stimmte. Ein Blick zur Uhr trieb mich schließlich dazu, den Rest meines Cappuccinos auszutrinken und mich auf den Weg zu machen. Ein letzter Gruß an einige Stammgäste und die Caféhausmutti und der Teil des Tages begann, mit dem ich meine Brötchen verdiente.
An diesem Morgen führte mich die Arbeit in die Kanzlei Börner. Ich hatte einen Termin mit dem Onkel meiner Azubine. Christoph und ich hatten uns über die Jahre angefreundet. Jahre, in denen ich immer wieder kniffelige Fälle für seine Mandanten bearbeitete. Diesmal ging es um einen Fall von Missbrauch, für den das Opfer so gut wie keine Beweise hatte. Mehr wussten wir nicht und deshalb sollte ich bei dem Mandantengespräch dabei sein.
„Guten Tag, Frau Reuter. Ich hatte Ihnen ja von Herrn Lessing erzählt“, empfing der Rechtsanwalt die junge Frau in seinem Büro. „Ist es für Sie in Ordnung, wenn er bei unserem Gespräch dabei ist, um sich ein Bild zu machen?“ Die Mandantin nickte angeschlagen. „Hat sich die Polizei noch mal bei Ihnen gemeldet?“ „Die Polizei nicht, aber die Staatsanwaltschaft. Ich bekam ein Schreiben, in dem mir die Einstellung weiterer Ermittlungen mitgeteilt wurde.“ Sie reichte ihm das Schreiben.
„Tja, ich hatte Ihnen die Einstellung ja bereits vorhergesagt“, faltete Börner das Schreiben wieder zusammen, nachdem er den Inhalt kurz überflogen hatte und reichte ihn an mich weiter. „Die dürfen damit doch nicht einfach so davonkommen“, reagierte die junge Frau wütend. „Nach unserem ersten Gespräch habe ich mich umgehend mit der Staatsanwaltschaft in Verbindung gesetzt und die Ermittlungsakte angefordert. Wie besprochen, habe ich Herrn Lessing daraufhin eine Kopie zukommen lassen. Da Sie sich erst einige Tage nach dem Missbrauch zu einer Anzeige entschließen konnten, gab es leider keine Möglichkeit mehr, die Vergewaltigung durch eine ärztliche Untersuchung nachzuweisen.“
„Liquid Ecstasy ist nur bis zu vierundzwanzig Stunden im Körper nachweisbar“, erklärte ich. „Nach allem, was Sie bei der Polizei angaben, gehe ich davon aus, dass Ihnen das Zeug während Ihres Besuchs im Magni-Treff heimlich ins Glas getan wurden.“ „Das glaube ich auch“, stimmte sie mir kopfnickend zu. „Von dem Zeitpunkt an kann ich mich nämlich an nichts mehr erinnern. Als ich wieder zu mir kam, befand ich mich hier in Wolfenbüttel, ganz in der Nähe meiner Wohnung auf einem Kinderspielplatz, hinter der Kirche. Ich hatte unsägliche Schmerzen und fühlte mich leer und ausgebrannt. Als ich Blut in meinem Slip sah, ahnte ich was geschehen war.
„Das ist allerdings ungewöhnlich“, sinnierte ich. „Normalerweise bringen Vergewaltiger ihre Opfer nicht nach Hause.“ „Das haben die bei der Polizei auch gesagt“, stutzte sie. „Glauben Sie mir etwa auch nicht?“ „Nun mal langsam mit den Pferden“, bremste ich sie. „Wenn Sie ehrlich sind, könnte es einige Erklärungen für die geschilderte Situation geben. Die wahrscheinlichste wäre ein Absturz im Bierhaus, weil Sie zu tief ins Glas geschaut haben. Sie könnten mit einem Taxi nach Hause gefahren und auf dem Spielplatz gestrandet sein.“ „Ich war noch nie so betrunken, dass ich mich nicht mehr an alles erinnern konnte“, wehrte sich die Klientin.
„Schlafwandeln Sie gelegentlich?“, stellte gottlob Christoph meine nächste Frage. „Sie könnten ebenso gut fragen, ob ich noch alle Tassen im Schrank habe“, reagierte die junge Frau wie von mir erwartet. Mein Freund sah unsere Mandantin durchdringend an. „Natürlich nicht! Ich dachte, Sie wären auf meiner Seite.“ „Das sind wir auch, aber bevor wir zusammen einen Weg beschreiten, der alles andere als einfach wird, müssen wir wissen, mit wem wir es zu tun haben.“ Ihr Gesicht entspannte sich. „Ja, ist ja schon gut. Seitdem mir das passierte, sind meine Nerven nicht mehr die besten. Sie können sich nicht vorstellen, wie es ist, wenn man etwas Schreckliches erlebt hat und niemand einem glauben will.“
„Ich glaube Ihnen“, bekannte ich mich zu Ihrer Geschichte. „Falls bei Ihnen der Eindruck entstand, dass wir Ihnen nicht vertrauen, tut es mir leid, aber um erfolgreich für Sie arbeiten zu können, sind all diese Fragen unabdingbar“, wiederholte sich Christoph. „Ihrer Schilderung der Ereignisse zu folge waren Sie allein im Magni-Treff. Ist das nicht etwas ungewöhnlich für eine junge Frau?“, erkundigte ich mich. „Ich bin nicht allein dort hingefahren“, überraschte sie mich ebenso wie den Rechtsanwalt. „Wir waren eigentlich zu dritt, doch Bella und Franzi verschwanden nach einer Weile mit zwei Typen. Da wollte ich natürlich nicht als fünftes Rad stören.“ „Das erklärt natürlich einiges“, resümierte ich.
„Also gut, wenn ich für Sie arbeite, bekomme ich fünfhundert Euro pro Tag zuzüglich Spesen.“ Nele Reuter schluckte einmal kurz trocken und stimmte mir dann kopfnickend zu. „Dann darf ich Sie bitten, für zwei Tage in Vorkasse zu treten. Das ist in meiner Branche allgemein üblich.“ „Wann fangen Sie mit Ihren Recherchen an?“ „Sobald Sie das Geld überwiesen haben“, erklärte ich, während ich ihr meine Visitenkarte reichte. „Meine Sekretärin teilt Ihnen die Bankverbindung mit.“ „Dann hoffe ich, dass Sie Ihr Geld wert sind.“ „Ich kann Ihnen keine Garantie geben, aber ich werde mein Möglichstes tun.“
6
„Mein geschiedener Mann hat mich angerufen“, erzählte Regina Schneider den Kommissaren. „Zum ersten Mal seit Marinas Verschwinden haben wir vernünftig miteinander gesprochen“, freute sie sich. „Ist es nicht verrückt, dass erst etwas Schlimmes geschehen muss, damit man wieder normal wird?“ „Was Sie ertragen mussten, sollte Eltern einfach nicht widerfahren“, zeigte der Hauptkommissar Mitgefühl. „Es deutet derzeit alles darauf hin, dass Ihre Tochter durch einen tragischen Unfall ums Leben kam“, erklärte er. „Um die Umstände, die dazu führten, aufklären zu können, würden wir uns jetzt gern mit Ihrer Erlaubnis Marinas Zimmer ansehen.“
„Ich habe alles so gelassen, wie es am Tag ihres Verschwindens war“, sagte sie den Beamten. Als sie ihnen die Tür öffnete, sahen sich die Ermittler ergriffen an. Auf dem Bett des toten Mädchens lagen etliche Schachteln, die in Geschenkpapier eingewickelt waren. Kleine Glückwunschkärtchen wiesen auf den jeweiligen Anlass hin. Die Männer hatten einen dicken Kloß im Hals, als sie die persönlichen Dinge der jungen Frau durchsahen. Während sich Schubert den Laptop vornahm, sah der Hauptkommissar in den Unterlagen nach, die sie für die Berufsschule gebraucht hatte.
„Kein Passwort“, stellte Schubert erleichtert fest. „Vielleicht findest du in den Mails die Namen Ihrer Freundinnen“, hoffte Sinner. „Sie war auf Facebook unterwegs.“ „Stimmt, damals waren Tiktok und Instagram noch nicht so populär“, erinnerte sich der Hauptkommissar.
„Zu Tessa Walther und Melissa Voigt hatte sie die meisten Kontakte“, analysierte Schubert. „Es gibt zahlreiche Kurzmitteilungen über den Messenger, in dem sich die Mädels hauptsächlich über irgendwelche Kerle austauschen. Bis wir dass alles ausgewertet haben, werden Tage vergehen.“ „So lange es keinen Hinweis auf ein Verbrechen gibt, wird die Staatsanwaltschaft der Gründung einer Soko nicht zustimmen“, mutmaßte Sinner. „Ich finde, so etwas dürfte keine Frage des Geldes sein“, befand Schubert. „Ist es aber leider.“
„Sie hatten uns Marinas Schwierigkeiten mit dem Jugendamt verschwiegen“, konfrontierte Sinner die Mutter des Opfers, nachdem sie mit Marinas Zimmer fertig waren. „Seit sie in der Ausbildung war, hatte sie sich gefangen. Sie nahm keine Drogen und auch sonst gab es keine Probleme mehr.“ „Sind Ihnen die Namen Tessa Walther und Melissa Voigt bekannt?“ „Ja leider. Mit denen hatte sie sich vor ihrer Lehre oft herumgetrieben. Durch diese beiden kam sie auf Abwege. Gottlob brach sie dann den Kontakt vollständig ab.“
Die Kommissare ließen sie in dem Glauben, um es ihr nicht noch schwerer zu machen. „Wann kann ich mein Kind beerdigen?“ „Wir geben Ihnen so bald wie möglich Bescheid“, versprach Sinner. „Den Laptop Ihrer Tochter würden wir uns gern genauer ansehen. Sie bekommen ihn natürlich so schnell wie möglich zurück.“ „Das ist kein Problem, ich habe ihn all die Jahre nicht anrühren können. Bis ich mich dazu durchringen kann, wird es sicher noch eine Weile dauern.“
„Ich habe vorhin mit dem Vater von Melissa Voigt telefoniert“, informierte Schubert seinen Chef. „Ein merkwürdiger Typ. Nachdem er mir zunächst keine Auskunft zu seiner Tochter geben wollte, verriet er mir schließlich doch, dass sie in Halchter am TÜV als Bedienung in einem Bowlingcenter arbeitet.“ „Wieso hast du mir das nicht gleich erzählt?“, fühlte sich Sinner übergangen. „Ich dachte, du hättest mitbekommen, wie ich mit Frau Walther, der Mutter von Tessa Peters sprach.“ „Wie, mit der hast du auch schon telefoniert?“ Schubert sah seinen Kollegen verwundert an. „Kann es sein, dass du mit deinen Gedanken vorhin woanders warst?“
Der Hauptkommissar stieß einen tiefen Seufzer aus. „Meine Melanie wäre heute ungefähr in Marinas Alter.“ Schubert wusste, dass die Tochter seines Dienstpartners ertrunken war. Es war also kein Wunder, wenn er bei einem solchen Fall daran denken musste. „Klar, dass dich die Sache aufwühlt“, reagierte er mit Verständnis. „Tessa Walther heißt inzwischen Peters und arbeitet in Wolfenbüttel in der Apotheke am Schloss.“ „Dann sollten wir dort zuerst hinfahren“, schlug Sinner vor. „So dachte ich auch. Das Bowlingcenter macht sicherlich erst später auf.“
Nachdem die Kommissare eine ganze Weile vergeblich nach einem Parkplatz gesucht hatten, wurden sie schließlich in der ‚Sophienstraße‘ fündig, direkt vor dem ehemaligen Finanzamt. Kaum zu glauben, dass darin all das schneller erledigt wurde, wozu heute ein erheblich größeres Gebäude kaum ausreicht. Die Ambitionen, eine Steuererklärung so unkompliziert zu machen, dass sie auf einen Bierdeckel passt, war auch nur ein politisches Märchen.
„Guten Tag“, begrüßte der Hauptkommissar den Mann hinter dem Tresen. Zeitgleich hielt er dem Apotheker seinen Dienstausweis entgegen. „Wir würden gern mit Frau Peters sprechen.“ Eine Kundin beobachtete die Szene neugierig. „Einen Moment bitte, ich sage Frau Peters Bescheid.“ Der Mann verschwand in einem Hinterzimmer. „Warst du schon mal hier?“, nutzte Schubert die Zeit zum Smalltalk. „In der Apotheke nicht, aber oben beim Urologen.“ Die Kundin bekam lange Ohren.
„Sie wollten mich sprechen?“, erkundigte sich die Apothekenhelferin verwundert bei den Ermittlern. „Frau Peters?“, ließ sich Sinner bestätigen. „Ja, was kann ich für Sie tun?“ „Vielleicht sollten wir uns besser woanders unterhalten“, schlug Sinner vor. „Okay“, entgegnete sie gedehnt. „Nebenan ist das Foyer des Ärztehauses.“ Sie deutete auf eine Tür, die einen zweiten Zugang offenbarte. „Ja, da sind wir doch etwas ungestörter“, deutete der Hauptkommissar auf die immer noch interessiert zuhörende Kundin.
Nachdem sie in das Foyer gewechselt waren, folgte ihnen die wissensdurstige Dame und blieb nur wenige Meter von ihnen entfernt an einem Werbeaufsteller der Apotheke stehen. Schubert platzte der Kragen. Er ging zu ihr und zückte seinen Dienstausweis. „Dies ist eine Polizeiliche Befragung. Bitte gehen Sie weiter.“ „Nicht mal etwas Abwechslung wird einem hier gegönnt“, beschwerte sie sich, während sie extrem langsam davonschlich.
„So, nun werden wir hoffentlich nicht mehr gestört“, schüttelte Sinner den Kopf. „Vielleicht haben Sie ja schon davon gehört, dass vor einigen Tagen in der Asse der Leichnam einer Frau gefunden wurde“, eruierte der Hauptkommissar. „Nein.“ „Nun, es handelt sich um ihre Freundin Marina Schneider, geborene Junge.“ „Dann ist sie also doch nicht abgehauen“, schlussfolgerte Tessa Walther. „Wir dachten damals alle, sie sei mit einem Typen durchgebrannt.“
Sinner wurde hellhörig. „Sie hatte also einen Freund“, hakte er nach. „Na ja, Freund würde ich jetzt nicht unbedingt sagen. Marina nahm es da nicht so streng. Sie war mehr für Abwechslung.“ „Dann können Sie uns sicherlich einige Namen nennen.“ Schubert zückte sein Notizheft. „Das ist fünf Jahre her“, versuchte sich die junge Frau aus der Affäre zu ziehen. „Sie leiden doch wohl noch nicht an Hildesheimer, oder?“, ließ sich Schubert nicht für dumm verkaufen.
„Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass einer von ihnen Physiotherapeut in Braunschweig war. Aber dazu kann Ihnen Melissa sowieso mehr sagen. Die war Marinas beste Freundin.“ „Melissa Voigt?“ „Ja genau“, bestätigte Tessa. „Die waren ziemlich dicke.“ „Sie wurden damals ja bereits von unseren Kollegen zum Verschwinden ihrer Freundin befragt“, forderte der Hauptkommissar erneut das Erinnerungsvermögen der Befragten heraus. „Dabei gaben Sie an, an diesem Abend mit jemand anderem verabredet gewesen zu sein. Sie wissen sicherlich noch, mit wem“, suggerierte er. „Wollen Sie mein Alibi überprüfen?“ Schubert tippte lächelnd mit dem Stift auf sein Notizheft. „Ich war mit meinem jetzigen Mann, Gunther Peters, Melissa Voigt und dessen Freund im Kino verabredet.“ „Wie praktisch“, konnte sich der Ermittler eine gewisse Ironie nicht verkneifen.
„Sie werden das alles noch auf dem Kommissariat zu Protokoll geben müssen“, erklärte Schubert. „Am besten, Sie kommen an einem der nächsten Tage vorbei.“ „Ich darf Sie bitten, Melissa Voigt vorerst nichts von diesem Gespräch zu erzählen“, forderte sie Sinner auf. „Weshalb sollte ich? Ich habe nichts mehr mit ihr zu tun.“
„Ich fürchte die Überprüfung ihres Alibis können wir uns schenken“, sinnierte Sinner auf dem Weg zurück zum Dienstwagen. „Ihr Ehemann wird ihre Angaben sicherlich auch dann bestätigen, wenn sie damals nicht mit ihm verabredet war.“ „Kann schon sein. Dann also auf ins Bowlingcenter“, seufzte Schubert. „Du fährst!“, kehrte Sinner zur Tradition zurück. „Auf dem Beifahrersitz kann man ja auch viel besser nachdenken, nicht wahr?“
Nachdem das Bowlingcenter vom Kino an der ‚Halchtersche Straße‘ zum TÜV umgezogen war, war keiner der Kommissare dort gewesen. Daher mussten sie sich zunächst orientieren.
„Wenn ich daran denke, wie oft wir uns früher mit den Kollegen zum Bowling verabredeten, frage ich mich, weshalb das in den letzten Jahren so einschlief“, fragte sich Schubert. „Ich glaube die Pandemie hat vieles kaputt gemacht“, entgegnete sein Chef. „Erst wurden alle sozialen Kontakte einschränkt und danach hatten sich die Leute daran gewöhnt.“ „Abgesehen davon ist es aber auch sündhaft teuer geworden“, nannte Schubert einen weiteren Grund. „Stimmt“, pflichtete ihm Sinner bei.
„Hier ist ja noch gar nichts los“, staunte Schubert, als sie das Center betraten. Einzig die Bedienung hinter dem Tresen füllte den großen Raum mit ihrer Anwesenheit. „Hallo!“, rief ihnen die bis zum Hals tätowierte Servicekraft entgegen. „Sind Sie Melissa Voigt?“ Sie sah die Männer schief an. „Wer will´n das wissen?“, entgegnete sie lauernd. Die Kommissare hielten ihr ihre Dienstausweise entgegen.“ „Kenn ich nich!“ „Da frage ich mich natürlich, wie sie auf ein Foto mit Marina Schneider kommen“, bluffte Sinner.
„Ist Marina wieder aufgetaucht?“, ließ sie das Glas in ihren Händen sinken. „Wenn Sie nicht Melissa Voigt sind, geht Sie das ja nichts an, oder?“ „Okay Mann, Sie haben gewonnen. Ich bin Melissa.“ „Ja, sie ist wieder aufgetaucht“, griff der Ermittler ihre Worte auf. „So könnte man es zumindest ausdrücken. Ihre Freundin wurde im Assewald gefunden.“ „Wie jetzt? Die Tote ist Marina?“, wiederholte sie entsetzt. „Sie haben also von dem Leichenfund gehört.“ „Ja klar, ich wohne in Wittmar, da gibt es quasi kein anderes Thema.“
„Wie war das damals“, erkundigte sich Schubert. „Weshalb begleitete Sie Marina nicht ins Kino?“ „Sie hatte keinen Bock auf den Film und einen Typen hatte sie zu der Zeit auch nicht am Start. Tessa und ich waren mit unseren Freunden dort. Da wollte sie wahrscheinlich nicht stören.“ „Wir sprachen bereits mit Frau Peters“, erklärte Sinner. „Dann wissen Sie ja schon, dass sie inzwischen mit genau dem Mann verheiratet ist.“ „Wissen wir“, entgegnete der Hauptkommissar. „...und wie hieß Ihr damaliger Freund?“
Melissa dachte angespannt nach. „Ich war nicht wirklich mit ihm zusammen, müssen Sie wissen.“ „Er war also nur der Typ, der die Kinokarten bezahlte“, brachte es Schubert auf den Punkt. „So, wie Sie das jetzt sagen, war es auch nicht“, fühlte sich die junge Frau vorgeführt. „Er heißt Timo und sein Nachname lautet Pfeffer.“ Schubert machte sich Notizen. „So wie der Pfeffer?“ „Genau.“ „Weshalb wollten Sie uns den Namen Ihres Begleiters nicht gleich sagen?“, gab sich der Hauptkommissar nicht zufrieden. „Weil ich ihm keine unnützen Scherereien machen wollte.“ „Ich verstehe, in Ihren Augen sind unsere Ermittlungen also die Mühe nicht wert.“
„Habt Ihr auf der Bullenschule gelernt, wie ihr den Leuten die Worte im Mund herumdreht?“, kehrte sie zu der aggressiven Art zurück, die sie bereits zu Beginn des Gesprächs zu Tage legte. „Außerdem brauchen Sie doch nur in den alten Akten nachlesen. Ihre Kollegen haben uns doch damals auch schon dazu befragt.“ „Die Unterlagen sind leider nicht mehr vollständig“, räumte Sinner ein. „Dann würde ich mal darüber nachdenken, was in Ihrem Verein falsch läuft und nun habe ich zu tun.“
„Ich darf Sie bitten, alles im Kommissariat an der ‚Lindener Straße‘ zu Protokoll zu geben“, forderte Schubert sie auf. „Am besten gleich morgen früh.“ „Da schlafe ich!“, reagierte Melissa zunehmend aggressiver. „Dann wird Ihnen wohl nichts anderes übrigbleiben, als ihren Schönheitsschlaf etwas zu verkürzen“, lächelte der Kommissar süffisant.
7
„Ehrlich gesagt, weiß ich gar nicht, wo ich mit meinen Ermittlungen ansetzen soll“, gab ich unumwunden zu, als Nele Reuter die Kanzlei meines Freundes verlassen hatte. „Abgesehen von diesen beiden Freundinnen, die sie im Bierhaus allein zurückließen und den ungefähren Zeitpunkt, in dem ihr jemand die Tropfen in das Getränk tat, gibt es nichts.“ „Ich habe dir doch mit der Akte auch ein Foto von ihr zugesandt“, erinnerte mich Christoph. „Meinst du dieses?“, hielt ich ihm mein Smartphone entgegen. „Wie ich sehe, konntest du meiner Idee folgen.“ Ich stutzte. „Willst du mir jetzt meinen Job erklären?“ „Ich äh, sei doch nicht gleich so empfindlich.“ „Alles gut“, winkte ich ab, um aus dem Ganzen nicht mehr zu machen, als es eigentlich war.
„Wahrscheinlich habe ich momentan nur eine zu kurze Zündschnur, weil Trude immer häufiger über ihr Leben als Rentnerin spricht. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie ich sie ersetzen soll.“ „Tja mein Freund, du wirst wohl einsehen müssen, dass sich deine Trude nicht ersetzen lässt. Andererseits kann ich mir eine zur Untätigkeit verurteilte Trude nicht vorstellen. Du solltest ihr ein Teilzeitangebot machen und einen Teil ihrer Aufgaben an Leonie übertragen.“ Ich rieb mir nachdenklich den Nacken. „Ein Versuch wäre es wert.“
Die Worte meines Freundes gingen mir noch durch den Kopf, als ich die Detektei erreicht hatte. Es gibt Gespräche, die man immer wieder aufschiebt, weil man nicht so recht weiß, wie man sie führen soll. Leider gehöre ich auch zu den Menschen, die sich damit schwertun. Da halfen die Worte meines Freundes eher weniger. „Guten Morgen, mein lieber Chef“, begrüßte mich meine Putzsekretärin. „Wie war der Cappuccino?“ „So lecker wie immer“, entgegnete ich mich skeptisch fragend, was da schon wieder im Busche war. „Ich komme gerade von Rechtsanwalt Börner mit einem neuen Fall im Gepäck.“ „Das ist gut, ich hatte schon die Befürchtung, Kurzarbeit beantragen zu müssen.“
Ich stutzte, ahnte sie etwas oder hatte Christoph in der Zwischenzeit bei ihr angerufen? „Wenn Sie irgendwann etwas kürzertreten wollen, können wir gern darüber reden“, versuchte ich eine Brücke zu bauen. „Bis jetzt komme ich noch klar, oder haben Sie Grund zur Klage?“, entgegnete sie pikiert. „Nein, nein, natürlich nicht“, ruderte ich zurück. „Alles tippi toppi.“ Trudes Blicke trafen mich wie die Halogenscheinwerfer eines herannahenden Güterzugs. „Die Klientin wird sich sicherlich noch heute wegen der Bankverbindung bei Ihnen melden.“
Mit diesen Worten verzog ich mich in mein Büro. Vor 20 Uhr brauchte ich im Magni-Treff gar nicht erst aufschlagen, da es bis dahin geschlossen war. Ich kannte den Inhaber noch aus meiner Zeit als Hauptkommissar der Braunschweiger Kripo und war daher gespannt, ob er sich an mich erinnern würde. Ausgerechnet als ich mit meinen Gedanken in den guten alten Zeiten schwelgte, riss Leonie die Bürotür auf.
„Wir haben einen neuen Fall?“ „Wann wirst du das mit dem Anklopfen endlich kapieren?“ „Sorry Chef, aber Trude sagt, es geht um Vergewaltigung. Stimmt das?“ Ich fragte mich, woher sie das schon wieder wusste. Hatte Christoph sie am Ende doch angerufen oder war ich inzwischen schon so senil, dass ich mich nicht mal mehr an meine eigenen Worte erinnern konnte? „Ja, unsere Klientin wurde allem Anschein nach Opfer eines Missbrauchs unter dem Einfluss von Liquid Ecstasy“, bestätigte ich. „Leider gibt es keinerlei Beweise für die Straftat, weshalb die Polizei erst gar keine Ermittlungen aufgenommen hat.“
Leonie reagierte empört. „Die können doch nicht einfach so tun, als habe sich die Frau das nur ausgedacht!“ „Alles, was wir haben, ist ein Foto unserer Klientin und die Namen der Freundinnen, mit denen sie im Magni-Treff war“, klärte ich sie über die mageren Ansatzpunkte auf. „Was ist mit diesen Freundinnen?“, hakte sie nach. „Die sind mit zwei Typen abgezogen.“ „...und haben unsere Klientin dort allein sitzen lassen?“, konnte sie es kaum glauben. „Genau so sieht es aus“, bestätigte ich.
„Ich werde heute Abend zum Magni-Treff fahren, um mich dort umzuhören.“ „Ich bin dabei“, bot sie sich spontan an. „Ich kenne da ein paar Leute.“ „Gut, aber dann machst du jetzt erst einmal Pause, um dich für heute Abend schick zu machen“, meinte ich es gut. „So weit kommt es noch. So Aufgehübscht würden die mich gar nicht erkennen. Außerdem bin ich beruflich dort.“ Mit meiner Azubine hatte ich neben Trude einen weiteren Volltreffer gelandet. Sie passte in meine Detektei wie ein Dackel in einen Fuchsbau.
Als ich Leonie gegen 20:30 Uhr zuhause abholte, hatten Trude und ich uns bereits über unsere Klientin und ihre vermeintlichen Freundinnen in den sozialen Medien informiert. Wahrscheinlich bin ich für heutige Verhältnisse eher prüde, aber was heutzutage im Kopf von so manchem jungen Menschen vor sich geht, ist mir schleierhaft. Das Internet verzeiht nie. Fotos fröhlich Feiernder in peinlichsten Szenen verfolgen einen das ganze Leben lang. Für den, der danach sucht, können sie aufschlussreich sein und mehr verraten, als das, was zum Beispiel ein Bewerber auf eine Stellung offenbaren möchte. So geben diese Fotos tiefe Einblicke über den Umgang mit dem Liebesleben und dem sozialen Miteinander.
Bei den drei Mädels war es nicht anders. Das Erschreckende daran war jedoch, was sie frei in den Netzwerken gepostet hatten und somit für jedermann sichtbar war. Jeder, der diese Fotos sah, musste in dem Glauben sein, dass unsere Klientin für jeden zu haben war. Natürlich änderte das alles nichts daran, dass man sich nicht nehmen kann, was man will und schon gar nicht mittels Drogen oder Gewalt, aber es senkt die Hemmschwelle der Täter. Ich fragte mich, wie ich reagieren würde, wenn Ramona in das Alter kam.
Der Magni-Treff befand sich in einem historischen Backsteingebäude am ‚Magnitor‘. Ich verband einen bunten Blumenstrauß voller Erinnerungen mit der Kneipe. Eine schöne Zeit, die ich nicht missen möchte. Damals noch unverheiratet und ein Hans Dampf in allen Gassen. Also so ziemlich das Gegenteil von dem, was Miriam heute an mir schätzt. Jede Zeit hat halt ihre Höhen und Tiefen. Wo ich früher durchfeierte, war es obligatorisch, dass ich Miriam Bescheid sagte, wenn es abends später wurde.
Es war noch nicht mal halb zehn, was bedeutete, dass der Laden noch nicht voll war. Zumindest war aber schon das erste Obergeschoss geöffnet. Viel hatte sich in all den Jahren nicht geändert, aber dort, wo früher offenes Kerzenlicht flackerte, war das Flackern heute elektrisch. Eigentlich ein Wunder, dass das von Holz durchzogene Gebäude nie brannte.
Wir setzten uns an die Bar und ließen unsere Blicke wandern. „Hallo ihr zwei“, begrüßte uns einer der Barkeeper. „Was darf ich euch bringen?“ „Wir fangen mit einem Radler an“, entgegnete ich, ohne Leonie zu fragen. Als Arbeitgeber hat man ja schließlich Verantwortung und außerdem war das Getränk nicht so teuer wie die anderen. „Geht das hier nicht auf Spesen?“, schien meine Azubine desillusioniert. „Ja schon, aber wir sind ja nicht zum Feiern hier.“ „Aber man muss ja auch nicht immer so kniepig sein“, sagte sie, was sie dachte.
Als die Bedienung mit unserer Bestellung zurückkehrte, hielt ich ihm mein Handy mit dem Foto unserer Klientin entgegen. „Die muss vor exakt einem Monat hier gewesen sein. Zunächst mit diesen beiden Mädels.“ Ich rief die Fotos von Bella Blanke und Franzi Sturm auf. „Wissen Sie, was hier abends los ist?“ Ich sah mich betont nach allen Seiten um, dann legte ich einen Zwanziger unter das Handy und zeigte ihm die Fotos erneut. Vielleicht können Sie sich ja jetzt erinnern.“ „Ja, kann vielleicht sein“, zeigte er sich auch jetzt noch reichlich wortkarg. Also schob ich noch einen Zwanziger nach.
„Hören Sie, ich will keinen Ärger haben.“ „Der jungen Frau wurde übel mitgespielt“, schaltete sich Leonie in das Gespräch ein. „Sie leidet sehr unter den Folgen. Es würde ihr helfen, wenn sie wüsste, wer ihr das angetan hat“, setzte sie den Barkeeper emotional unter Druck. Der verdrehte die Augen, nahm das Geld und ließ es in seiner Hosentasche verschwinden. „Die drei waren hier, hatten echt Spaß und waren nicht abgeneigt, als sich zwei Typen zu ihnen setzten.“ Er stockte. „Es war wirklich voll an diesem Abend. Ich kann Ihnen bei bestem Willen nicht mehr sagen, wann die beiden anderen Mädchen bei meinem Kollegen bezahlten und mit den zwei Typen verschwanden.“ Womit er sich von uns abwandte und zunächst andere Gäste bediente.
„Okay, das ist jetzt auch nicht so wichtig“, setzte ich nach, als er zu uns zurückkehrte. „Aber was können Sie uns zu der verbliebenen Frau sagen?“, „Irgendwann saß ein Typ bei ihr, den ich hier bislang noch nie gesehen habe.“ „Können Sie ihn beschreiben?“ „Recht schlank, groß und Glatze“, erinnerte er sich. „Alter?“ „Beim Schätzen bin ich nicht so gut, aber ich würde sagen, so Ende zwanzig bis Anfang dreißig.“ „Fiel Ihnen etwas Besonderes an ihm auf“, setzte Leonie nach. „Vielleicht ein Ohrring, ein Tattoo oder eine Narbe?“
Der Mann hinter dem Tresen dachte angespannt nach. „Jetzt, wo du es sagst, fällt mir ein, dass der Typ auf dem rechten Unterarm mehrere Dreiecke in unterschiedlicher Größe gestochen hatte. Ich fand es interessant, weil sie durch einen Pfeil miteinander verbunden waren.“ Er schob die Hemdsärmel hoch und zeigte uns seine Tattoos. „Da ist noch Platz“, deutete er auf eine freie Stelle. „Deshalb habe ich mich im Internet danach umgesehen.“ Er zückte sein Smartphone und zeigte uns ein Bild von dem Tattoo.
„Sieht echt stark aus“, begeisterte sich Leonie. „Bei dem Typ zeigten die Spitzen der Dreiecke nach oben.“ „Ist das von Bedeutung?“, fragte ich nach. Meine Azubine sah mich an, als käme ich von einem anderen Stern. „Sorry, Tattoos sind nicht so meins.“ „Da gibt es feine Unterschiede“, verriet der Barkeeper. „Aber was genau kann ich euch auch nicht sagen.“ „Kannst du mir das Bild von dem Tattoo auf mein Handy schicken?“ Die beiden tauschten ihre Telefonnummern aus, was sicherlich nicht ausschließlich wegen des Bildes geschah.
„Was ist mit dem Gesicht von dem Mann?“, hakte ich nach. „Also er hatte zumindest keinen Bart und trug auch keine Brille. Mehr kann ich leider nicht dazu sagen. Gesichter kann ich mir gar nicht merken.“ „Glaubst du, du würdest den Mann auf einem Foto wiedererkennen?“, nahm mir Leonie die Worte aus dem Mund. Er zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Kommt aufn Versuch an.“ „Ich nehme dich beim Wort, Zlatko“, zwinkerte Leonie ihm zu. Die beiden Zwanziger waren offenbar gut angelegt. Ich fragte mich nur, woher sie seinen Namen wusste.
Detektei Lessing
Band 50
Leo in Angst
1
Was war das nur wieder für ein Tag? Ein Montag, ja, aber warum verhalten sich ausgerechnet an diesem Tag die Leute immer so merkwürdig? Sie achten beim Autofahren nicht auf den Verkehr, sind aggressiv und ungeduldig. Oder kam es mir nur so vor? Eigentlich müssten sich doch alle am Wochenende entspannt und ausgeruht haben. Das Gegenteil schien der Fall. Während ich in meinen Gedanken das Problem aufzuarbeiten versuchte, schreckte ich auf. Als ich den großen Kasten vor der Schule ‚Am Teichgarten‘ entdeckte, war es schon zu spät. Ich ärgerte mich über mich selbst. Anstatt dreißig Stundenkilometer war ich mit mindestens vierzig geblitzt worden. Ich wusste es, es war ein gebrauchter Tag, an dem ich besser im Bett geblieben wäre. Was bleibt einem also übrig, als den ganzen Frust hinunterzuschlucken und weiterzufahren?
Auf dem ‚Juliusmarkt‘ bog ich links ab und fuhr über die Oker, die ‚Wallstraße‘ hinunter. Auch so ein Blödsinn, den man hier verzapft hatte, schimpfte ich wütend, als mir in der engen Straße auch noch zwei Radfahrer entgegenkamen. Ob sich der ehemalige Verkehrsminister jemals selber in einer vergleichbaren Situation befunden hatte? Ich musste unweigerlich an die Mautaffäre denken und wurde noch wütender, während ich in Richtung ‚Ziegenmarkt‘ abbog. Beim Anblick der alten Gefängnismauern wünschte ich mir, dass man auch Politiker für ihre kostspieligen Dummheiten härter bestrafen sollte.
Ich folgte dem geschwungenen Verlauf der Straße und sah mich bereits gedanklich im Café Klatsch an einem Cappuccino nippen, als unmittelbar vor mir aus einer Parklücke ein Mercedes schoss. Da mir ausgerechnet jetzt ein Wagen entgegenkam, blieb mir nur eine Vollbremsung. Leider brachte ich meinen Skoda nicht mehr rechtzeitig zum Stehen und kollidierte mit der Nobelkarosse. Das also auch noch. Was für ein Montag, seufzte ich erneut.
Nachdem ich ausgestiegen war, entdeckte ich eine Lady mittleren Alters hinter dem Steuer. Offenbar stand sie unter Schock. Da ich gegen die Fahrertür gefahren war und meinen Wagen noch nicht zurückgesetzt hatte, öffnete ich die Tür auf der Beifahrerseite. Die Frau zitterte am ganzen Körper. Zumindest konnte ich auf den ersten Blick keinerlei äußere Verletzungen feststellen. Selbst als ich bereits neben ihr auf dem Beifahrersitz saß, starrte sie noch regungslos aus dem Fenster.
„Hallo“, sprach ich sie behutsam an. „Mein Name ist Lessing. Haben Sie sich verletzt? Haben Sie Schmerzen?“ Erst jetzt drehte sie langsam ihren Kopf in meine Richtung und begann zu weinen. „Nein, ich glaube nicht.“ „Dann ist es nur ein Blechschaden“, versuchte ich sie zu beruhigen. „Also, kein Grund zu weinen.“ „Was wissen Sie denn! Das Auto ist mir doch ganz egal!“ „Na ja, so ganz egal sollte es Ihnen auch nicht sein“, entgegnete ich, während ich auf meinen Wagen deutete. Woraufhin sie ihr Gesicht in den Händen vergrub und erst recht zu schluchzen begann. Angesichts ihrer übermäßigen Reaktion fragte ich mich, ob die Frau unter Drogen stand oder Medikamente eingenommen hatte.
„Wenn es Ihnen lieber ist, müssen wir nicht die Polizei rufen. Wir machen ein paar Fotos, tauschen einfach unsere Namen und die Adressen aus und ich schicke ihnen dann die Werkstattrechnung.“ Allmählich schien sich die Ärmste etwas zu beruhigen. Ich reichte ihr meine Visitenkarte und erwartete im Gegenzug ihren Führerschein oder den Ausweis. „Sie sind Privatermittler?“, sah sie mich wie elektrisiert an. „Ja…“, entgegnete ich gedehnt. „Sie schickt der Himmel!“
Ihre Stimmungslage veränderte sich abrupt. Ich fragte mich erneut, ob nicht doch eventuell Drogen im Spiel waren. „Ich glaube, mein Mann betrügt mich“, überraschte sie mich. „Ich bin ihm bis zur Bank gefolgt und habe dann hier auf ihn gewartet. Bis er wieder aus der Ausfahrt kam.“ „Ich verstehe. Als Sie den Wagen Ihres Mannes sahen, wollten Sie ihn weiterverfolgen und haben dabei nicht auf den Verkehr geachtet“, reimte ich mir zusammen. „Genau“, bestätigte sie. „Jetzt ist er natürlich weg.“
Ein nachdrückliches Hupen riss uns aus dem Gespräch und machte auf den kleinen Stau aufmerksam, der sich in der Zwischenzeit in Richtung Gefängnis gebildet hatte. „Oh, ich glaube, wir sollten unser Gespräch besser an anderer Stelle fortsetzen.“ Ich verließ den Wagen, zückte mein Handy und machte einige Fotos von der Unfallstelle. Da ich bereits einige schlechte Erfahrungen gesammelt hatte, achtete ich darauf, dass ich dabei auch das Kennzeichen ihres Wagens mit aufnahm.
Kurze Zeit später saßen wir uns im Büro meiner Detektei gegenüber und Gerda Stolzenberg, wie ich inzwischen wusste, schilderte mir, wieso sie davon überzeugt war, von ihrem Mann mit einer anderen Frau betrogen zu werden.
„Hartwig leitet mein Unternehmen, seit ich es von meinen Eltern hinterlassen bekam“, erklärte sie. „Also ungefähr fünf Jahre. Während der Pandemie standen wir mit dem Rücken zur Wand. Um eine Insolvenz anzuwenden, mussten wir unseren Fuhrpark ausdünnen.“ „Da haben Sie sicherlich einige schlaflose Nächte hinter sich“, bekundete ich einfühlsam. „Das kann ich Ihnen sagen. Seit letztem Jahr geht es langsam wieder bergauf. Hartwig ist während dieser Zeit oft selber hinter dem Steuer gesessen und obwohl es längst nicht mehr notwendig ist, behielt er es bis heute bei.“
Mein erster Gedanke war sicherlich mit ihrem identisch. Irgendwo auf einer dieser Touren hatte er eine Frau kennengelernt. Was zunächst eine Affäre war, wuchs möglicherweise zu einer Beziehung, die ihr Mann nicht mehr aufgeben möchte. Aber war es wirklich so? „Wohin gehen diese Reisen denn im Allgemeinen?“, hakte ich nach. „In der ersten Zeit fuhr er in die Schweiz und nach Österreich. Soviel ich weiß, fährt er seit einigen Monaten nur noch in die Schweiz“, berichtete sie. „Sie gehen also davon aus, dass ihr Mann in der Schweiz oder auf dem Weg dorthin eine Beziehung zu einer anderen Frau unterhält“, schlussfolgerte ich.
Gerda Stolzenberg zuckte mit den Schultern. „Was würden Sie denken?“ „Das gleiche wie Sie, aber wenn Sie herausfinden wollen, was wirklich dahintersteckt, sollten Sie ihren Mann entweder zur Rede stellen oder beobachten.“ „Na ja, das mit dem Beobachten hat ja nicht so gut geklappt.“ Ich sah sie mild lächelnd an. „Wenn Sie wollen übernehme ich das für Sie, aber so ganz billig wird die Sache nicht.“ „Was würde es mich denn kosten, wenn Sie ihn eine Woche lang auf Schritt und Tritt verfolgen?“ „Mein Tagessatz beläuft sich auf 500€, wobei darin noch keine Spesen enthalten sind.“ „Also etwa 5000€ für eine Woche“, überschlug sie. „Nicht gerade günstig, aber ich hoffe, Sie sind es wert.“ „Bislang hat sich niemand beklagt.“
Nachdem mir meine Klientin alles Wesentliche über ihren Mann erzählt hatte, konnte ich sie im Hinblick auf die zu erwartenden Kosten beruhigen. „Ich werde Herrn Stolzenberg zunächst zwei Tage lang beschatten. Sollte er sich in dieser Zeit mit keiner anderen Frau treffen, können wir tatsächlich davon ausgehen, dass er seine Affäre während der Touren in die Schweiz trifft. In diesem Fall werde ich erst wieder aktiv, wenn eine solche Tour ansteht. Es wäre also von Vorteil, wenn Sie mir den Terminplan Ihres Mannes zur Verfügung stellen könnten.“ Meine Klientin überlegte einen Moment. „Das sollte eigentlich kein Problem sein.“ „Am besten fotografieren Sie ihn ab und senden ihn mir via Mail zu“, schlug ich vor. „Meine Sekretärin wird Ihnen die Adresse und die Bankdaten geben. Ich darf Sie bitten, für die ersten drei Tage in Vorleistung zu treten. Darüber hinaus wird Ihnen Frau Berlitz den Auftrag vorlegen, den Sie bitte unterschreiben.“
Wir erhoben uns und reichten einander die Hände. „Wenn Sie noch etwas Bedenkzeit benötigen…?“ „Danke, Herr Lessing, aber ich habe mir diesen Schritt gut überlegt. Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.“ Eine taffe Frau, dachte ich mir, während ich hinter ihr meine Bürotür schloss und hinter meinen Schreibtisch zurückkehrte. Nun hieß es erst einmal einen Werkstatttermin für die Reparatur meines Wagens zu machen. Auch wenn der Schaden eher gering war, wollte ich nicht ewig damit herumfahren.
Nach einigen desillusionierenden Telefonaten hatte ich endlich einen Wellnessurlaub für mein Auto eingebucht. Da es sich laut Versicherung um einen sogenannten Bagatellschaden handelte, wurde mir für den Zeitraum der Reparatur auch keinen Ersatzwagen gestellt. Anstatt mit meinem Freund, dem Rechtsanwalt Christoph Börner zu drohen, lenkte ich seufzend ein. Es muss ja nicht immer der Konfrontationskurs sein. Da Axel gerade sein Bein in Gips hatte, würde er mir für diesen Tag sicherlich seinen Wagen ausleihen.
„Hast du schon gesehen, dass dir jemand auf den Skoda aufgefahren ist?“, stürmte Miriam in mein Büro. „Ich bin jemandem aufgefahren“, stellte ich klar. Meine Liebste sah mich prüfend an. „Scheint ja noch alles dran zu sein.“ „Du kannst beruhigt sein, die Versicherung des Unfallverursachers wird für den Schaden aufkommen. Die Dame war gerade noch hier. Sie hat mich als Detektiv engagiert.“ „Das ist jetzt nicht dein Ernst“, schüttelte Miriam den Kopf. „Du lässt aber auch keine Gelegenheit aus.“ „Was ist falsch daran, das Schicksal auf den richtigen Weg zu bringen.“
2
Da Leonie ihrem Jahresurlaub genommen hatte und Axel mit einem gebrochenen Bein ausfiel, blieb die Observation des untreuen Ehemannes an mir allein hängen. Da kommen schnell mal 16 Stunden am Tag zusammen. So gesehen war mein Honorar ganz sicher nicht zu üppig bemessen. Während ich Hartwig Stolzenberg auf Schritt und Tritt folgte, versuchte Trude im Internet mehr über die Firma Burgreisen herauszufinden.
„Mitte 21 muss die Firma tatsächlich kurz vor der Pleite gestanden haben“, informierte sie mich über das Handy. „Damals kam Hartwig Stolzenberg nicht drumherum, die Hälfte seines Fahrzeugparks zu verkaufen.“ „Offensichtlich hat der Erlös aus diesen Verkäufen der Firma den Gang in die Insolvenz erspart“, schlussfolgerte ich. „Es deutet einiges darauf hin, dass dem nicht so war“, widersprach meine Computerfee. „Anfang 22 fand ich wieder mehrere Annoncen, in denen er weitere Busse zum Verkauf anbot.“
Ich stutzte. „Wie viele Fahrzeuge blieben ihm denn dann letztendlich?“ „Ich sprach mit einer Freundin in der Zulassungsstelle. Demnach blieb es bei dem Bestand.“ „Bleibt die Frage, was die Firma letztlich rettete“, überlegte ich. „Offenbar läuft es derzeit so gut, dass er mittlerweile zwei Busse zurückkaufen konnte“, fügte Trude an. „Man müsste Einblick in die Buchungslisten haben“, sinnierte ich, „…dann könnte man nachvollziehen ob alles mit rechten Dingen zuging.“
„Was meinen Sie, Chef?“ „Die Wende kam genau zum richtigen Zeitpunkt. Bei solchen Zufällen werde ich schon von Haus aus immer hellhörig. Noch dazu, wenn die Buchungen zu einer Zeit in die Höhe gingen, wo der Rest der Branche immer noch unter der Coronaflaute litt.“ „Stimmt, meine Freundinnen trauten sich auch erst Mitte 22 wieder auf Bustour zu gehen.“ „Genau das meine ich, aber das lässt sich natürlich nur durch die Auslastung der Busse nachvollziehen“, resümierte ich. „Über das Internet komme ich da nicht dran. Es sei denn…“
„Wir werden uns zu keinerlei ungesetzlichen Handlungen hinreißen lassen, Trude“, untersagte ich ihr, den Computer der Firma zu hacken. „Es würde bestimmt niemand mitbekommen. Die verfügen sicherlich über keine ausgeklügelte Firewall.“ „Ich werde unsere Klientin darum bitten, dann ist es völlig legal und kostet mich keine schlaflosen Nächte.“ „Seit wann sind Sie so bange, Chef?“ Ich suchte nach der passenden Antwort. „Na ja, Sie werden halt auch älter.“
Da saß ich nun in meinem Wagen, das Gespräch mit Trude war beendet, und ich sah nachdenklich zum Eingang einer Steuerberatungsgesellschaft. Hartwig Stolzenberg war vor einer Weile darin verschwunden. Die Worte meiner Putzsekretärin hatten mich kalt erwischt. Auch wenn sie nichts anderes als die Realität beschrieben, führten sie mir eine unabdingbare Tatsache vor Augen, die ich bislang erfolgreich verdrängt hatte. Ich wurde älter! Eine Form von Panik keimte in mir auf. War dies der Eintritt in die Midlifecrisis?
Die Zielperson verließ das Gebäude mit einer Aktentasche und zwei weiteren Ordnern, die sie sich unter den Arm geklemmt hatte. Sie sah gestresst aus, nicht anders als ich, wenn ich vom Steuerberater kam und dennoch hatte ich das Gefühl, es ginge Hartwig Stolzenberg nicht gut. In einer solchen Situation holt man sich gerne Trost bei einem vertrauten Menschen. Vielleicht würde er mich nun zu seiner Geliebten führen. Er legte die Akten auf die Rücksitzbank und sah sich um, bevor er in seinen Wagen stieg und losfuhr. Bevor er mich sehen konnte, tauchte ich auf den Beifahrersitz ab. Hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden?
Es gibt Menschen, die sich permanent beobachtet fühlen, es gibt Menschen, die ein schlechtes Gewissen haben und es gibt Menschen, die einen siebten Sinn entwickelt haben, wenn es tatsächlich so ist. Zu welcher dieser Fraktionen Hartwig Stolzenberg gehörte, war noch nicht klar. Fakt war, dass ich akribisch darauf achten musste, nicht von ihm bemerkt zu werden. Folglich folgte ich ihm mit einem gerade noch vertretbaren Abstand.
Zu meiner Ernüchterung war bereits einige Straßen weiter klar, wohin die Fahrt ging. Die Firma Burg-Reisen hatte ihren Sitz in der ‚Timmerlahstraße‘ in ‚Broitzem‘ und genau dorthin ging offensichtlich unsere Fahrt. Abgesehen von dem Busunternehmen waren hier eine Reihe weiterer Firmen angesiedelt. Metallbau, Fensterbau, Fruchthandel und andere. Ich parkte meinen Wagen so, dass ich von meinem Standort einen großen Teil des Betriebshofes sowie den Eingang zum Verwaltungsgebäude überblicken konnte. Auf dem Parkplatz der Mitarbeiter zählte ich acht Fahrzeuge. Sicherlich hatte die Firma während der Pandemie auch einiges an Personal entlassen müssen. Ein Schicksal, welches die Firma mit vielen anderen gemein hatte.
Gegen 16 Uhr verließen mehrere Mitarbeiter das Gebäude. Ich fotografierte sie mit dem Tele-Objektiv meiner Rollei-Kamera. Mit dieser ließen sich sogar über größere Distanzen Nahaufnahmen machen, die wiederum dabei halfen, die einzelnen Personen zuzuordnen. Falls ich später Infos zu Betriebsinterner benötigte, wusste ich so, an wen ich mich wenden konnte.
Letztlich blieben vier Fahrzeuge übrig. Da es sich mehr und mehr bewölkte und somit dunkler wurde, konnte ich hinter drei Fenstern im Obergeschoss Licht sehen. Etwa um 17:30 Uhr fuhr ein leerer Reisebus auf das Gelände. Er parkte an einem für die Busse des Unternehmens ausgewiesenen Plätze. Der Fahrer stieg aus und begab sich in eine Garage, aus der er mehrere Reinigungsgeräte holte. Anschließend beobachtete ich, wie er den Bus säuberte und gegen 18:15 Uhr mit einem PKW das Gelände wieder verließ. Ich bemerkte, wie sich hinter den beleuchteten Fenstern einige Lamellen bewegten. Allem Anschein nach wurde die Abfahrt des Fahrers von dort aus kontrolliert.
Ein langer Tag, dachte ich mir, während ich mir einen Becher Kaffee aus meiner Thermosflasche eingoss. Sicher kein Traumberuf, wenn man an den stetig zunehmenden Verkehr und die damit verbundene Hektik dachte. Kurz darauf fuhr der Wagen meiner Klientin an mir vorbei und bog auf den Betriebshof. Sie hielt direkt vor der Tür des Verwaltungsgebäudes, stieg aus und sah zu den beleuchteten Fenstern im Obergeschoss hinauf. Diesmal bewegte sich keine der Lamellen.
Nach kurzem Innehalten betrat Gerda Stolzenberg das Gebäude. Ich fragte mich, ob sie sich von ihrem Besuch eventuell etwas Bestimmtes versprach. Nein, das war etwas zu viel Klischee für meinen Geschmack. Zumindest war ich auf das, was folgen würde, mehr als gespannt.
Gegen 19 Uhr erlosch das Licht im Obergeschoss und kurz darauf sah ich, wie beide gemeinsam aus dem Eingang kamen. Während sich meine Klientin in ihren Wagen setzte, verschloss ihr Mann die Tür, gab seiner Frau ein kurzes Handzeichen und stieg in seinen Wagen. Woraufhin beide Fahrzeuge das Betriebsgelände verließen. Ich fragte mich, ob es mit ihrer Ehe schon so schlecht bestellt war, dass sie in getrennten Autos fuhren, denn wenig später erreichten sie ihre Villa auf dem ‚Neuer Weg‘ in Wolfenbüttel.
Ebenso wie das Busunternehmen hatte meine Auftraggeberin das herrschaftliche Haus mit dem großen Grundstück von ihren Eltern geerbt. Gerda Stolzenberg war also das, was man allgemeinhin als eine gute Partie bezeichnet. Da sie erst seit sieben Jahren mit Hartwig Stolzenberg verheiratet war, fragte ich mich, ob sie bereits eine Ehe hinter sich hatte, oder ob es vorher keinen geeigneten Kandidaten gab. Nun, über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten, aber auch mit über fünfzig Jahren machte sie keine schlechte Figur.
3
Bevor Trude Feierabend machte, rief sie mich auf meinem Standposten an und setzte mich über das Ergebnis ihrer Recherchen ins Bild. Demnach musste die Burg-Busreisen GmbH mittlerweile wieder schwarze Zahlen schreiben, denn die Firma suchte händeringend Personal. Damit erklärte sich auf den ersten Blick, weshalb Hartwig Stolzenberg immer noch selber hinter dem Lenkrad saß. War der Verdacht seiner Ehefrau also unbegründet? Nach ihren Worten wich er auf ihre Fragen aus, tat ihre Verdächtigungen einfach nur als Hirngespinste und Fantastereien ab.
Erst auf den zweiten Blick erhärtete sich ihr Verdacht, wie sie mir in unserem Gespräch am Tag unseres Kennenlernens erzählt hatte. So brachte er von den Fahrten in die Schweiz ein Hemd mit, was sie nie zuvor sah und welches einen Duft an sich hatte, den sie nicht benutzte. Dafür fehlte andere Kleidung, die erst nach einer weiteren Tour in die Alpenrepublik wieder auftauchte. Als sie Hartwig danach fragte, zuckte er nur lapidar mit den Schultern. Ein Verhalten, was sie bis dahin nicht von ihm kannte.
Es war bereits dunkel, als ich die Observation der Villa abbrach und ziemlich müde nach Hause fuhr. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Zielperson noch einmal das Haus verlassen würde, war eher gering. Da mich weder Leonie noch Axel ablösen konnten, musste ich mir meine Kräfte einteilen. Gerade wenn nichts passiert, ist eine Observation besonders anstrengend. Abgesehen davon habe ich noch ein Privatleben.
„Unsere Tochter schläft schon“, empfing mich Miriam mit vorwurfsvollem Blick. „Die Kleine wollte einfach nicht schlafen gehen, weil sie dich unbedingt noch sehen wollte. Sie hat lange gegen ihre Müdigkeit angekämpft, ehe sie einschlief.“ Ich öffnete leise die Tür zu ihrem Zimmer, um mich davon zu vergewissern, dass es ihr gut ging. Natürlich ging es ihr gut, aber mir nicht, weil ich ein schlechtes Gewissen hatte.
Ramona mochte es schon als Baby nicht, wenn wir das Licht in ihrem Zimmer über Nacht anließen. Dementsprechend weit musste ich die Tür öffnen, damit vom Flur etwas Licht auf ihr Bett fiel. Vorsichtig schlich ich zu ihr und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Es stimmt, an den Kindern sieht man, wie die Zeit vergeht. Jedes Mal, wenn ich so vor ihr stehe, nehme ich mir vor, mehr Zeit mit ihr zu verbringen und jedes Mal bleibt es bei dem Wunsch danach. Daran ändert auch der Gedanke an meine eigene Kindheit nichts. Natürlich wollte ich es einmal besser machen als meine Eltern, doch dann waren da all diese scheinbar wichtigen Gründe, die dem eigenen Anspruch entgegenstanden.
Miriam und ich waren in unseren jeweiligen Berufen erfolgreich, weil wir Spaß daran hatten und weil wir viel Zeit investierten. Auch wenn wir mit Tanja ein sehr liebevolles Kindermädchen für Ramona engagiert hatten, konnte sie uns natürlich nicht ersetzen. So versuchten wir beide, die wenige Zeit, die wir mit unserer Tochter hatten, so intensiv wie möglich zu nutzen.
„Ich weiß, dass du es dir nicht immer so einrichten kannst, wie du gern möchtest“, flüsterte Miriam, während sie mir über den Rücken strich, „…aber es wird immer deutlicher, wie sehr du ihr fehlst.“ Ich stieß einen tiefen Seufzer aus und schloss leise die Tür zum Kinderzimmer.
„Vielleicht kann ich es einrichten, am Samstag wieder mit euch in die Therme nach Bad Harzburg zu fahren“, schlug ich vor. „Dann kannst du auch bei dem Juwelier nach dem Armband schauen.“ „Ach Leopold, es geht doch nicht darum, dass wir mal was gemeinsam unternehmen“, entgegnete Miriam mit einem Blick, der mich umso mehr ins Grübeln brachte. „Selbstverständlich sind solche gemeinsamen Unternehmungen auch wichtig, aber was ihr wirklich fehlt sind feste Strukturen.“ In meinem Gesicht stand ein Fragezeichen. „Bis vor einem Jahr haben wir zumindest drei oder viermal die Woche gemeinsam Mittag gegessen und am Abend hast du regelmäßig mit ihr gespielt und sie anschließend ins Bett gebracht. Leider geschieht dies mittlerweile nur noch sehr selten.“
Ich wusste, dass Miriam Recht hatte, aber wie sollte ich es ändern? „Dein Job frisst dich mehr und mehr auf“, nannte sie das Problem beim Namen. „Du weißt, wie wichtig es mir ist, erfolgreich zu sein und damit die Hälfte zum Familienunterhalt beizutragen“, erklärte ich. Mein Schatz schüttelte den Kopf. „Das ist doch nichts anderes als so ein Männerding. Wir leben nicht mehr im letzten Jahrhundert. Was wäre so schlimm daran, weniger Geld als ich nach Hause zu bringen?“ Die Mimik in meinem Gesicht schien wie ein offenes Buch zu sein. „Ich dachte, die Sache mit deinem Ego liegt weit hinter uns.“
War ich bislang bemüht, zumindest nach einem Ansatz für eine Lösung des Problems zu suchen, hatte mich Miriam mit ihren Worten nun auf dem falschen Fuß erwischt. „Bei der Justiz im Gericht wird eine Stelle frei. Das wäre doch was für dich.“ Ich sah Miriam entsetzt an. „Das ist jetzt nicht dein Ernst.“ „Wieso? Du hättest geregelte Arbeitszeit und ein festes Gehalt“, versuchte sie mir den Job tatsächlich schmackhaft zu machen. Ich musste mich sehr zusammenreißen, um nichts Falsches zu sagen. Ein altes Rezept, vorher einige Male tief durchzuatmen half.
„Also, was das mit meinem Ego angeht, bin ich anderer Ansicht. Ich denke nicht, dass es etwas damit zu tun hat, sondern eher mit meiner Überzeugung. Wenn ich lediglich etwas weniger zum Unterhalt der Familie beisteuern würde, hätte ich ganz gewiss kein Problem damit, aber hier geht es nicht ums Geld, sondern um die Dinge, die mir im Leben, abgesehen von meiner Familie, wichtig sind. Genau wie deine Arbeit für dich eine Berufung ist, ist es für mich nichts anders.“ Miriam verzog das Gesicht. „Das kannst du doch nun wirklich nicht miteinander vergleichen.“
Ich war schockiert. „So wenig hältst du von meiner Arbeit? Seit wann ist das so? Habe ich etwas falsch gemacht?“ „Im Grunde liegt es an mir“, rückte sie allmählich mit dem eigentlichen Problem heraus. „Immer dann, wenn du einen dieser heiklen Fälle bearbeitest, halte ich es vor Angst um dich kaum aus. Weiß ich, ob ich dich heile wiedersehe?“ Ich nahm Miriam in den Arm und drückte sie an mich. „Kannst du die gefährlichen Fälle nicht ablehnen?“ „Wenn ich einen Auftrag übernehme, weiß ich nie, wohin die Reise geht. Selbst die harmloseste Sache kann übel enden“, erklärte ich. „Das ist es ja“, seufzte sie. „Wir haben ein Kind, was dich ebenso braucht wie mich. Ich will nicht eines Tages als alleinerziehende Witwe enden.“ „Das wirst du nicht, eine Frau wie du bleibt nicht allein“, versuchte ich sie aufzumuntern.
„Wenn du glaubst, dass das ein Trost wäre, schätzt du mich falsch ein.“ „Das war ein Scherz.“ „Aha.“ Ich rieb mir nachdenklich das Kinn. „Es wäre nicht fair, wenn ich dir verspräche, noch besser auf mich aufzupassen, weil ich schon immer zuerst an die Eigensicherung dachte und erst dann mein weiteres Vorgehen davon abhängig mache. Man kann nie jede Eventualität ausschließen, aber das kannst du ebenso wenig. Ich möchte dich nur an deine Entführung aus dem Gerichtssaal erinnern.[1] Weder du noch ich können das Schicksal beeinflussen.“ „Ich weiß, aber man kann das Risiko minimieren.“ „Dazu müssten wir in die Zukunft sehen können. Nur dann hättest du damals gewusst, wie der Mann auf das Urteil reagiert.“ „Du hast recht“, stimmte mir Miriam nachdenklich zu.
„Glaub mir, du willst keinen mürrischen Mann an deiner Seite haben, der mit sich und seinem Leben unzufriedenen ist. „Nee, das will ich wirklich nicht. Der alte Griesgram, der abends neben mir laut auf dem Sofa schnarcht reicht mir allemal.“ „Wie ich? Das kann gar nicht sein, weil ich im Gegensatz zu dir nicht vor dem Fernsehapparat einschlafe. Und überhaupt, wenn hier einer schnarcht, bist du das“, lachte ich. Woraufhin mir mein Schatz das Sofakissen auf die Rübe zog und das Weite suchte. „Na warte, das kriegst du wieder!“
4
Auch wenn sich meine Klientin im Großen und Ganzen aus den geschäftlichen Dingen in ihrer Firma heraushielt, konnte sie mir bei einem Anruf immerhin die Namen des Disponenten sowie der Buchhalterin und der Sekretärin ihres Mannes sagen. Trude fand im Internet sehr schnell heraus, welche Gesichter zu ihnen passten, wo sie wohnten und wie sie ihre Freizeit verbrachten.
„Na, wenn diese Dame nicht das Klischee einer gutaussehenden Chefsekretärin bedient, weiß ich auch nicht.“ Das Foto, was mir Trude daraufhin entgegenhielt, zeigte eine attraktive Frau Mitte dreißig. „So wie die aussieht, hat die es doch gar nicht nötig zu arbeiten“, lächelte sie süffisant. Ich hatte die Frau fotografiert, während ich Hartwig Stolzenberg vor dem Betriebshof observierte. Ebenso wie eine ältere Frau, die recht sportlich auf mich wirkte. Dabei handelte es sich der Recherche meiner Putzsekretärin nach um die Buchhalterin des Unternehmens.
Mein erster Eindruck hatte mich nicht getäuscht. Dennoch war ich recht erstaunt, als mir Trude die Sportart verriet, in der sie bereits einige Erfolge für sich verbuchen konnte. „Sie läuft Marathon und gehört auf Facebook einer Laufgruppe an.“ Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. „Können Sie herausfinden, wo die gute Frau trainiert?“ „Ist bereits geschehen, aber wenn Sie davon ausgehen, dass Frau Lampe innerhalb eines Vereins gedrillt wird, muss ich Sie enttäuschen. Soviel ich über die Facebook-Gruppe herausfand, läuft sie abends ab 19Uhr von Volkmarode nach Schandelah und wieder zurück.“
„Wow! Das wäre ganz sicher nichts für mich“, gestand ich. „Obwohl es dem Ansatz über Ihrem Hosenbund sicherlich ganz guttäte.“ „Was für ein Ansatz?“, entgegnete ich an mir heruntersehend. „Ich habe Ihnen bereits eine Laufkarte ausgedruckt. Nur für den Fall, dass Sie mit der Frau ins Gespräch kommen wollen.“ „Das war sehr weitsichtig von Ihnen, Trude, aber ich glaube eher nicht.“
Bereits am nächsten Tag stand ich in Jogger und Laufschuhen am Ende der ‚Alte Dorfstraße‘ in Schandelah. Da Frau Lampe mir zuliebe nicht von ihren täglichen Trainingsplan abrücken wollte, hatten wir uns am Ausgangspunkt ihrer Laufstrecke verabredet. Bis zu diesem Zeitpunkt war ich der Auffassung, auch als untrainierter Mann mit ihr mithalten zu können.
„Wie ich sehe, haben Sie sich einigermaßen gut vorbereitet“, lobte sie meine Aufmachung. Sie müssen verstehen, dass ich mein Training für den Berlin-Marathon nicht unterbrechen kann.“ Ich holte tief Luft. Allein ihre Absichtsbekundung verschlug mir den Atem. „Da laufen Sie mit? Alle Achtung“, zollte ich ihr Respekt.
Während sich Frau Lampe mit unterschiedlichen Dehnübungen locker machte, versuchte ich ihrem Vorbild zu folgen. „Wie ich Ihnen schon am Telefon sagte, arbeite ich für Frau Stolzenberg. Meine Klientin sagte mir, dass Sie bereits seit fünfzehn Jahren als Buchhalterin für ‚Burg-Reisen‘ tätig sind.“ „Das stimmt. Können wir?“, trippelte sie ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. „Ja klar, wir können uns ja während des Laufens weiter unterhalten“, lächelte ich ihr hoffnungsfroh zu. Bereits nach fünfzig Metern lag ich bereits so weit hinter ihr zurück, dass eine Unterhaltung nur noch mit Megaphon möglich gewesen wäre.
„Laufen Sie schon mal vor!“, rief ich ihr zu. „Ich hole Sie schon wieder ein.“ Ihre Antwort begrenzte sich in einem kurzen Handzeichen. Wieder zurück an meinem Wagen, lud ich das Klappfahrrad aus, welches mir der Nachbar zur Verfügung gestellt hatte, montierte es und schwang mich auf den Sattel. Dass man diesen ebenfalls durch eine Stellschraube fixieren musste, hatte mir vorher niemand gesagt. Dass man sich auf dem Ding einen Wolf strampelt, auch nicht.
Wie auch immer, zehn Minuten später hatte ich Frau Lampe eingeholt. „Sie schummeln ja, Herr Lessing“, lachte sie, als ich neben ihr auftauchte. Völlig außer Atem brauchte ich einige Minuten für meine Antwort. „Zumindest sind Sie kreativ. Also, stellen Sie ihre Fragen.“
Auch wenn ich Trude nur ungern Recht gab, war klar, dass ich in Zukunft etwas für meine Kondition tun musste. „Tja also, da haben Sie ja schon einige Jahre für den Vater meiner Klientin gearbeitet. Ich nehme an, Herr Stolzenberg hat den Betrieb im Sinne seines Schwiegervaters weitergeführt?“ „Sie wissen doch, wie das so ist“, entgegnete sie vage. „Natürlich hatte Herr Stolzenberg seine eigenen Vorstellungen. Er wollte expandieren und war im Grunde auf einem guten Weg, aber dann kam Corona und der Kauf der neuen Busse fiel ihm auf die Füße.“ „Er musste den Fahrzeugpark also wieder ausdünnen“, schlussfolgerte ich.
Bevor die Marathonläuferin auf meine Frage antworte, bog sich der Weg plötzlich in einer Kurve nach links. Als ich den Lenker einschlug und mich nach links legte, drehte sich der Sattel entgegen jeglicher physikalischer Gesetze nach rechts. Trotz Erdanziehungskraft schaffte ich es gerade noch, einen Sturz zu vermeiden. Zum Stehen kam ich allerdings erst auf einem Feld zwischen lauter Zuckerrüben.
Frau Lampe konnte vor Lachen nicht weiterlaufen. Auch wenn mir im ersten Moment nicht danach war, steckte sie mich letztlich doch an. „Tut mir leid, wenn Sie Ihr Training nun doch meinetwegen unterbrochen haben.“ „Falls Sie ihren Job nicht mehr machen können, sollten Sie eine zweite Karriere als Comedians anstreben.“
Nachdem ich das Klapprad des Nachbarn geborgen und den Sattel fixiert hatte, setzte die Buchhalterin ihr Training und ich ihre Befragung fort.
„Wir sprachen über den Fahrzeugpark“, erinnerte ich die Buchhalterin. „Er musste mehrere Busse mit hohen Verlusten verkaufen und einige Fahrer entlassen“, seufzte sie. „Aber dann ging es ja ziemlich schnell wieder bergauf“, hielt ich mit meiner Skepsis nicht hinter dem Berg. „Die Busse müssen quasi über Nacht wieder voll ausgelastet gewesen sein.“ „Hören Sie, Herr Lessing, ich bin jenseits der Fünfzig. Wenn ich jetzt meinen Job verliere, bekomme ich wahrscheinlich keinen neuen mehr.“ Anhand ihrer Reaktion wurde klar, dass ich auf dem richtigen Weg war.
„Wenn das Finanzamt spitzbekommt, dass die Zahlen nicht stimmen und Sie als Buchhalterin die illegalen Machenschaften Ihres Chefs decken, brauchen Sie ganz gewiss keinen Job mehr, weil Sie dann nämlich in der Knastwäscherei arbeiten.“ „Wenn Sie mir drohen, ist unser Gespräch an dieser Stelle beendet“, empörte sie sich. „Drohen? Ich will Ihnen den Hintern retten!“, machte ich ihr ihre Situation bewusst. „Wann bekamen Sie zum ersten Mal Zweifel?“ „Es waren die Busse, die meistens nur zur Hälfte mit Fahrgästen gefüllt den Hof verließen. In den Abrechnungen aber immer bis auf den letzten Platz ausgebucht waren.“ Die Zahlen wurden also geschönt.
„Konnte es nicht sein, dass an weiteren Haltestellen Leute zustiegen?“, hakte ich nach. „Das sagte ich mir zunächst auch, aber nachdem ich die Fahrer darauf angesprochen hatte, wurde klar, dass die Busse im besten Fall zu zwei Dritteln ausgelastet waren.“ „Aber auf diese Weise musste er doch doch viel mehr Steuern abführen“, überlegte ich. „Das ist richtig, aber so wird schmutziges Geld sauber und dem Unternehmen geht es besser.“ „Fragt sich nur, woher das Schwarzgeld stammt?“, eruierte ich. „Das dürfte dann wohl Ihr Job sein“, bekundete Frau Lampe.
Nachdem wir uns einige Atemzüge wortlos nebeneinander herbewegt hatten, weil jeder für sich die neue Situation überdachte, brachen wir gleichzeitig unser Schweigen. „Wie geht…“ „Haben Sie…“ „Fragen Sie zuerst“, ließ ich der Buchhalterin den Vortritt. „Wie geht es denn nun weiter?“ „Solange ich nicht herausgefunden habe, was hinter alledem steckt, bleibt alles beim Alten. Wenn Sie ihn jetzt anzeigen, gibt es keine Beweise und er wird versuchen, Ihnen alles in die Schuhe zu schieben.“ „Aber ich habe mit alledem doch nichts zu tun!“ „Was sicher nicht einfach zu beweisen wäre. Haben Sie denn wirklich keine Ahnung, woher das Geld kommen könnte?“ Frau Lampe stoppte abrupt ab. „Nein, das nicht, aber da waren so merkwürdige Typen im Betrieb. Ich begegnete ihnen auf dem Flur vor dem Büro des Chefs.“
Ich bremste ebenfalls und hielt neben ihr. „Was waren das für Männer?“ Ihre Stirn krauste sich. „Ganz merkwürdige Typen, denen ich nachts nicht begegnen möchte. Südländer, wenn ich mich recht erinnere.“ „Können Sie die Begegnung zeitlich eingrenzen?“, hakte ich interessiert nach. „Ich würde sagen, so Anfang 22, vielleicht März oder April.“ „Würde das ungefähr in die Zeit fallen, als Ihnen die Differenz bei der Auslastung der Busse zum ersten Mal auffiel?“
Wir saßen inzwischen auf einem Baumstamm, der mit weiteren Stämmen am Wegrand lag. Frau Lampe dachte angespannt nach. „Das mit den Bussen fiel mir erst zwei, drei Monate später auf.“ Das konnte passen. Was auch immer diese Männer anzubieten hatten, es würde sicherlich einige Zeit in Anspruch nehmen, ehe sich dieses Geschäft für Stolzenberg auszahlte.
„Ich lege Ihnen nahe, sich vorerst ruhig zu verhalten. Erledigen Sie die Arbeit weiterhin wie gewohnt. Lassen Sie sich nichts anmerken und sprechen Sie vor allem mit niemandem darüber. Ich weihe inzwischen Frau Stolzenberg ein und dann überlegen wir unser weiteres Vorgehen. Auf jeden Fall werde ich Sie zeitnah informieren. Bis dahin nehmen Sie bitte allenfalls mit mir Kontakt auf. Sie finden die Telefonnummer der Detektei im Internet und im Telefonbuch.“ „Haben Sie keine Karte?“ „Damit sie jemand bei Ihnen findet?“ Sie nickte.
5
„Guten Tag, Frau Stolzenberg“, begrüßte ich meine Auftraggeberin in meiner Detektei. „Nehmen Sie bitte Platz. Darf ich Ihnen einen Kaffee oder etwas anderes anbieten?“ „Bitte ein Mineralwasser, wenn möglich Medium.“ Ich drückte die Ruf-Taste meiner Gegensprechanlage und bestellte das gewünschte Getränk. „Es klang am Telefon so, als konnten Sie schon etwas herausfinden“, ließ meine Klientin ihrer Neugier freien Lauf. „Nicht das, was Sie erwarteten, aber allemal brisant genug, um Sie zu einem Gespräch zu bitten.“
Die Sorgenfalten in ihrem Gesicht gruben sich noch tiefer ein. „Sie erzählten mir bei unserem Vorabgespräch von der drohenden Insolvenz der Burg-Reisen GmbH und davon, dass es ihrem Mann nur durch die Veräußerung mehrerer Busse und der Entlassung einiger Fahrer gelungen war, dass Unternehmen vor der Pleite zu bewahren.“ „Genau so war es“, bestätigte Frau Stolzenberg. „So zumindest sieht es auf den ersten Blick aus. Leider ergaben die Recherchen ein anderes Bild.“
Ihre Buchhalterin, Frau Lampe, erzählte mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit, dass die Zahlen für die Sitzplatzbuchungen in den Bussen massiv geschönt wurden.“ Meine Klientin stutzte. „Aber das macht doch gar keinen Sinn, weil das höhere Einnahmen suggerieren würde, für die dann auch höhere Steuern gezahlt werden müssten.“ „Es sei denn, Ihr Mann würde mit einer Nebentätigkeit Geld verdienen, welches er auf unauffällige Weise dem Unternehmen zu Gute kommen lässt.“
Frau Stolzenberg erschrak. „Ja aber, woher soll er das Geld denn haben?“ „Vielleicht ist genau dies der Grund für die Fahrten in die Schweiz und nicht eine Affäre, wie Sie bislang annahmen?“, brachte ich sie zum Nachdenken. Nach einer Weile verzog sie ihr Gesicht und schüttelte den Kopf. „Ich bin mir sicher, dass eine Frau ihre Finger im Spiel hat. Ich kenne meinen Mann. Er ist so verändert, geht mir aus dem Weg und reagiert ertappt, wenn ich unvermittelt ins Zimmer komme. Vielleicht lebt die Affäre meines Mannes in der Schweiz und wer weiß, vielleicht hat diese Frau auch etwas mit den Manipulationen zu tun? Sie müssen herausfinden, was dahintersteckt, Herr Lessing.“
Meine Stirn legte sich in Falten. „Dazu müsste ich eine Busreise nach Zürich buchen“, überlegte ich. „Und weil es sicherlich auffällt, wenn ich eine solche Reise allein unternehme, wäre es sinnvoll, wenn meine Assistentin mit mir verreist. Tante und Neffe fallen sicher weniger auf“, schlug ich vor. „Sie haben Recht, Herr Lessing.“ „Allerdings müsste ich die Reisekosten in dem Fall auf die Spesenrechnung setzen“, gab ich zu bedenken. „Sie können online buchen. Je eher desto besser. Ich glaube, er fährt in zwei Tagen die nächste Tour.“
Während ich meine Auftraggeberin zum Ausgang begleitete, zwinkerte ich meiner Putzsekretärin lächelnd zu. „Falls Ihr Mann die Tour doch nicht selber fahren sollte, wäre es gut, wenn Sie mich rechtzeitig informieren“, bat ich Frau Stolzenberg. „Sie können sich auf mich verlassen“, entgegnete sie und verließ die Detektei.
„Wollen Sie was von mir, Chef?“, stutzte Trude irritiert. „Was halten Sie von einer Dienstreise in die Schweiz?“ „Wie, Sie und ich?“ „Warum nicht?“ „Weil wir noch nie zusammen verreist sind.“ „Dann wird’s aber höchste Zeit, meinen Sie nicht auch?“ Aber nur wenn jeder von uns sein eigenes Zimmer bekommt“, machte Trude zwinkernd zur Bedingung. „So sollte es sein, wenn Tante und Neffe eine Reise tun“, scherzte ich.
„Sie wollen mich doch verkackeiern, Chef“, hielt die gute Seele mein Angebot noch immer für einen Posse. „Nein, bestimmt nicht. Ich habe die Reise gerade mit unserer Auftraggeberin besprochen. Ihr Mann fährt übermorgen wieder nach Zürich. Frau Stolzenberg vermutet, dass er dort eine Affäre hat. Es liegt also nahe, ihn dort zu observieren. Was liegt also näher, als mit meiner Tante mitzufahren?“ „Schon übermorgen! Ach herrjemine, wie soll ich das nur Axel klarmachen? Gerade jetzt, wo er das Bein gebrochen hat.“ „Na ja, solange er nicht beide Arme in Gips hat…“ Trude schüttelte den Kopf. „Sie sind unmöglich, Chef.“
„Wo willst du hin?“, hakte Miriam ungläubig nach. „Ich muss im Auftrag meiner Klientin in die Schweiz, wo ich ihren Ehemann observieren soll“, erklärte ich. Mein Schatz sah mich verwundert an. „Trude wird mich auf dieser Reise unterstützen“, schob ich nach. „Moment, nur noch mal zu meinem besseren Verständnis. Du und Frau Berlitz fliegen für…, wie lange sagtest du?“ Ich runzelte die Stirn. „Zum einen fliegen wir nicht, sondern reisen mit dem Bus und zum anderen sagte ich noch nicht, wie lange die Tour dauern wird.“
„Also ehrlich, du kannst doch nicht einfach einen Auftrag annehmen bei dem du über mehrere Tage unterwegs bist“, zeigte sich Miriam nicht gerade erfreut. „Gerade jetzt, nachdem wir uns gerade darauf geeinigt haben, dass du kürzertrittst, um mehr Zeit für die Familie zu haben.“ Ich sah ihr ungläubig in die Augen. „Sorry, aber da musst du wohl etwas falsch verstanden haben. Natürlich will ich so viel Zeit wie möglich mit Ramona und dir verbringen, aber wir hatten uns ebenso darauf verständigt, dass mir meine Arbeit sehr wichtig ist. Ich verlange doch auch nicht, dass du auf deine Seminare verzichtest.“
Mir fiel auf, wie oft wir uns in letzter Zeit in dieser Hinsicht uneins waren, aber wenn ich mich jedes Mal zurücknahm, um keinen Streit zu riskieren, tat ich mir auf lange Sicht keinen Gefallen damit. „Als wir uns kennen und lieben lernten, wusste jeder von uns, auf was er sich einließ“, versuchte ich Miriam meinen Standpunkt klarzumachen. „Unsere Arbeit ist ein wichtiger Bestandteil unseres Lebens. Ohne sie würden wir beide nicht mehr das sein, was uns ausmacht.“ Nichts anderes versuchte ich ihr kurz zuvor in einem ähnlichen Gespräch schon einmal zu erklären.
„Du hast Recht, Leopold“, lenkte mein Schatz ein. „Ich denke, drei, vier Tage bekommen Ramona und ich es auch ohne dich hin, aber du musst mir versprechen, nach diesem Fall mindestens für eine Woche keine neuen Fälle anzunehmen.“ Meine Nackenhaare sträubten sich. „Ich verspreche dir, keine neuen Fälle zu bearbeiten“, präzisierte ich.“ Miriam sah mich durchdringend an. „Also schön, dann eben so.“
Wenn dies der Kompromiss war, nachdem wir gesucht hatten, sollte es mir recht sein. Wenn er sich auf ähnliche Situationen anwenden ließ, die ohne Frage noch vor uns lagen, um so besser. Fakt war, dass diese Diskussionen zwar leidig waren, es allerdings keine Patentlösung gab, wenn wir trotz Familie an unserer Berufung festhalten wollten. Ich war gespannt, ob Trude mit Axel weniger Probleme haben würde.
Der folgende Tag war mit allerlei Vorbereitungen gespickt. Es liegt auf der Hand, dass eine Detektei nicht ohne Weiteres für ein paar Tage geschlossen werden kann. Immerhin gab es Ermittlungen in anderen Fällen, die zwar bereits abgeschlossen waren, aber vor der Erstellung einer Rechnung zunächst gerichtsfest ausgewertet werden mussten. Versicherungsgesellschaften gehören in dieser Hinsicht zu den eher schwierigen Auftraggebern. Wenigstens zahlten sie gut.
Zwei Tage später war es dann so weit. Miriam fuhr uns nach Broitzem zum Busterminal. „Hast du auch alles eingepackt?“, nervte Miriam und begann alles, was sie für wichtig hielt, aufzuzählen. „Du brauchst für jeden Tag einen Schlüpfer und frische Strümpfe.“ Ich verdrehte die Augen. Wie peinlich war das denn? „Vielleicht sprichst du etwas lauter, ich glaube die alte Frau hinter mir hat dich nicht verstanden.“ Miriam schüttelte fürsorglich den Kopf. „Nun sei doch nicht gleich wieder beleidigt. Ich mache mir eben Gedanken.“
Nachdem wir uns endlich verabschiedet hatten, weil Miriam einen unaufschiebbaren Termin am Gericht hatte, waren Trude und ich die Letzten, die einstiegen. Außer uns nahmen etwa zwei Dutzend Reisende an der Tour teil. Der Bus war also nur zur Hälfte besetzt. Beim Anblick der Mitreisenden bestätigte sich meine Vorahnung. Offensichtlich war ich der Benjamin in der Rentnergang. Wie gut, dass ich Trude an meiner Seite hatte. Als Erklärung für die Begleitung meiner geliebten Tante musste ihr schlechter Gesundheitszustand herhalten.
[1] Detektei Lessing Band 30 „Der süße Durst nach Rache“
Detektei Lessing
Band 49
Kunstraub in Vorsfelde
1
Der Sommertag neigte sich dem Ende entgegen, die Sonne ging hinter den dunklen Wolken unter und all diejenigen, die im Schutz der Dunkelheit ihr Unwesen treiben, gingen wieder ihren kriminellen Machenschaften nach. Eine dieser Gestalten hatte ihren Wagen in der ‚Meinstraße‘, in der Nähe des Heimatmuseums abgestellt. Das wenige, was sie für ihr Vorhaben benötigte, passte in eine Tasche, die sie lässig über ihre Schulter trug.
Kurz zuvor war ein Regenschauer niedergegangen, hatte die staubtrockene Straße an einigen Stellen in eine schlierige Rutschbahn verwandelt. Hier und da standen kleine Pfützen auf dem Gehsteig, in denen das Licht der Straßenlaternen zerfloss. Die Gestalt hatte sich den Kragen ihrer Lederjacke in den Nacken geschlagen und das Cap bis tief in das Gesicht gezogen. Außer ihr war in dieser Gegend keine Menschenseele unterwegs und doch achtete sie sehr darauf, nicht erkannt zu werden.
Irgendwann bog die Gestalt nach links ab in die Straße ‚Am Ehrenfriedhof‘ und als sich diese in einer Kurve nach rechts bog, wandte sie sich nach links auf einen Parkplatz, der sich bis zu einem Firmengebäude zog, in dessen Untergeschoss mehrere Garagen untergebracht waren. Erst auf den zweiten Blick wurde deutlich, dass im oberen Bereich auch das Heimatmuseum untergebracht war.
Zielstrebig näherte sich die unbekannte Person dem Objekt und begab sich an der linken Seite einer kleinen Rampe zur westlichen Seite des Gebäudekomplexes, wo sie mit Hilfe einer dort abgestellten Mülltonne auf ein kleines Flachdach kletterte. Die Gestalt schien mit den baulichen Gegebenheiten bestens vertraut, denn von hier aus gelangte sie über eine Tür, deren Schloss kaum Widerstand bot, in ein kleines Treppenhaus, über welches sie auf eine Terrasse gelangte.
Durch eine weitere Tür, die in einen verwinkelten Anbau führte, gelangte sie schließlich auf das Dach des Museums. In den alten Fachwerkhäusern, die an der ‚Meinstarße‘ gelegen waren, sah sie eine Handvoll erleuchteter Fenster. Trotzdem brauchte sie sich keine Gedanken darüber machen, von dort aus beim Einstieg in die in Richtung ‚Meinstraße‘ gelegenen Fenster auf dem Flachdach gesehen zu werden. Die Dachkante bot ihr genug Deckung.
Der durch Wind und Wetter marode gewordene Riegel eines der Fenster hatte dem professionellen Werkzeug des Eindringlings nicht sonderlich viel entgegenzusetzen. Es dauerte weniger als dreißig Sekunden, bis sich die Glasscheibe zur Seite klappen lies und der Einbrecher die Haken der mitgebrachten Strickleiter an der Fensterkante eingehängt hatte. Ebenso schnell war er im Inneren des Gebäudes verschwunden.
Das eigentliche Ziel jener ominösen Gestalt befand sich in einem Ausstellungsraum des Museums. Es ging ihr um ein Gemälde, welches über einer Sofaecke aus den frühen fünfziger Jahren hing. Ein Merian-Stich, auf dem einige Bäume und Berge zu sehen waren. Der Eindringling wusste aus sicherer Quelle, dass es sich bei dem Bild um ein verschollenes Kunstwerk handelte, welches dem Museum nur durch einen unglücklichen Umstand gespendet worden war.
Im Lichtkegel seiner Taschenlampe wurde endlich der Raum sichtbar, der auch im Internet abgebildet war. Alles war so, wie es die Gestalt dort gesehen und ausgekundschaftet hatte. Sie rückte die beiden Sessel und den Tisch sowie das Sofa zur Seite, um den schweren Rahmen ohne Mühe abzuhängen. Danach verstaute sie das Bild in einem großen Beutel und schob das Mobiliar wieder zurück in die ursprüngliche Position. Schließlich nahm sie die Beute an sich und machte sich auf den Rückweg. Abgesehen von dem fehlenden Bild und dem kaputten Fensterriegel deutete nichts daraufhin, dass es in jener Nacht im Museum einen unangemeldeten Besucher gab, oder doch?
2
Norbert Blüm war außer sich, als er seinen Freund und Vorsitzenden des Heimatvereins anrief. „Nun geh endlich ran“, rief er ungeduldig ins Telefon. „Roland Polter“, meldete sich am anderen Ende der Leitung eine verschlafene Stimme. „Bei uns wurde eingebrochen!“, dröhnte Norbert Blüm. „Was um Himmels Willen schreist du denn so?“, brachte der Vorsitzende das Handy reflexartig auf Abstand. „Ja hörst du denn nicht, was ich sage?“ „Wie denn, wenn du so blökst?“ Norbert verdrehte die Augen. „Nochmal für dich zum Mitschreiben. Als ich vorhin auf mein Smartphone sah, bekam ich die Nachricht, dass die Kamera angeschlagen hat.“
Nun war auch der Vorsitzende hellwach. „Hast du schon die Polizei angerufen?“ „Das ist nicht so einfach“, druckste Norbert herum. „Wieso? 110!“ „Wir kennen den Einbrecher“, erklärte er sein Zögern. „Es handelt sich um Gesa Schwarz.“ „Bist du dir sicher?“, zweifelte Roland. „Ich schicke dir die Aufnahme.“ Nachdem Roland Polter sah, was nicht sein sollte, beschloss er, sich mit seinem Stellvertreter im Museum zu treffen.
„Nur gut, dass du so schnell herkommen konntest“, empfing Norbert seinen Freund. Er hatte sich inzwischen zumindest so weit beruhigt, dass sich seine Stimme nicht mehr überschlug. „Warst du schon drinnen?“, erkundigte sich Roland. „Ich hielt es für richtiger auf dich zu warten“, entgegnete er unsicher. „Dann sollten wir erst einmal nachsehen, was Gesa hier überhaupt wollte“, schlug der erste Vorsitzende vor. „Die Vereinskasse, was denn sonst“, erwiderte Norbert. „Woher hätte sie denn wissen sollen, dass wir ausgerechnet gestern die Kassette hier zurückließen?“ Roland schüttelte nachdenklich den Kopf. „Mal sehen, ob überhaupt was geklaut wurde.“
Nachdem die beiden Männer sämtliche Türen verschlossen und unversehrt vorfanden, fragten sie sich, wie die junge Frau in das Gebäude eindringen konnte. Schließlich entdeckten sie an einem der Oberlichter einen abgebrochenen Querriegel. „Da ist sie also rein, aber wie kam sie aufs Dach?“, wunderte sich Roland Polter. „Das ist doch die Arbeit eines Profis“, resümierte er. „Wenn ich mir die Aufnahme nicht immer wieder angesehen hätte und mir daher nicht sicher wäre, würde ich nicht glauben können, dass es sich tatsächlich um die kleine Gesa handelt“, räumte Norbert fassungslos ein. „Vielleicht hat sie ja eine Doppelgängerin“, suchte er nach einer Antwort.
Während sich die Freunde über die junge Frau unterhielten, suchten sie das Museum systematisch ab. Im Wohnzimmer der frühen Fünfziger wurden sie letztlich fündig. „Das große Gemälde ist weg“, bemerkte Roland. „Weshalb sollte sie ausgerechnet den alten Schinken stehlen?“, überlegte Norbert verblüfft. „Das Bild hat doch keinen Wert, oder?“, fragte Roland seinen Freund. „Ich verstehe jetzt gar nichts mehr“, blies der Mann, den alle nur Blümchen nannten, geräuschvoll die Luft aus seinen Wangentaschen.
„Übrigens verstehe ich nicht, weshalb du erst heute Morgen die Alarmmeldung von der Kamera auf dein Handy bekommen hast.“ Norbert verzog das Gesicht. „Na ja, weil ich das Ding auf lautlos gestellt habe.“ „Macht Sinn, wenn man bei einem Einbruch alarmiert werden will.“ „Meine Güte, ich habe halt nicht dran gedacht. So etwas kann dir ja nicht passieren, wie?“ „Nö.“ „Was machen wir denn nun?“, wechselte Blümchen das Thema. „Wir können die Gesa doch jetzt nicht bei der Polizei anschwärzen.“ „Also wenn sie nicht auch noch die Kasse mitgehen ließ, schlage ich vor, sie erst einmal zur Rede zu stellen“, schlug Roland vor.
„Die Kassette ist unangetastet“, stellte Norbert kurz darauf erleichtert fest. „Die Beichte bei Karin bleibt uns somit erspart“, atmeten die Männer im Gleichklang auf. „Die hätte uns mit Sicherheit die Hammelbeine langgezogen, weil wir die Kasse hier vergessen haben.“ „Weil du die Kasse hier vergessen hast“, verbesserte ihn Roland. „Ich schätze, das wäre ihr egal gewesen“, grinste der VWler.
„Dann lassen wir die Polizei zunächst außen vor?“ „Du bist der Vorsitzende, deine Entscheidung“, entzog sich Blümchen der Verantwortung. „Man könnte meinen, du seist Waldorf“, bemerkte Roland. „Aber nur, wenn du Statler bist. Die Figur passt sowieso.“ „Lass den Quatsch, wir haben eine schwierige Mission vor uns.“
Wenig später presste Norbert seinen Daumen auf den Klingeldrücker der Familie Schwarz. „Hallo Toni, ist deine Mama da?“, erkundigte sich Roland, als ihnen Gesas vierjährigen Sohn die Haustür öffnete. Das Kind legte den Zeigefinger über seine Lippen. „Pst, der Papi schläft noch.“ „Da hat er wohl die Nacht gearbeitet“, schlussfolgerte Norbert. „Nein!“, kam Gesa dazu. „Der hat sich gestern Abend mal wieder abgeschossen.“
Die Männer sahen sich peinlich berührt an. „Wir wollten zu dir“, fing sich Roland als Erster. „Zu mir?“ „Können wir irgendwo ungestört reden?“ „Ja klar, am besten gehen wir in die Küche.“ „Pst“, erinnerte Toni die Männer, während sie Gesa durch den Flur folgten.
„Was gibt es denn so Wichtiges, dass ihr euch extra herbemüht?“, erkundigte sich die junge Frau nun doch ungeduldig. „Ich weiß gar nicht, wie ich es sagen soll“, druckste Roland herum. Norbert verdrehte die Augen und rief das Video auf seinem Handy auf. Während Gesa interessiert schaute, ließ er die Katze aus dem Sack. „Wenn du das Bild zurückgibst, verzichten wir auf eine Anzeige.“ „Natürlich musst du auch für den Schaden am Fenster aufkommen“, fügte Norbert hinzu.
Gesa reagierte völlig anders als von den Männern erwartet. „Das auf dem Video bin ich nicht!“ Das Entsetzen in ihren Augen war derart echt, dass sie die beiden Vorsitzenden auf Anhieb überzeugte. „Aber wenn du das nicht bist, wer denn dann?“, brachte es Roland auf den Punkt. „Also das würde ich auch gern wissen“, zuckte die junge Frau mit den Achseln. „Ihr könnt gerne das ganze Haus nach dem Bild auf den Kopf stellen.“
„Das wüsste ich aber!“, mischte sich Frank Jobst, der Lebensgefährte von Gesa unvermittelt ein. „Hier stöbert niemand herum!“ „Das wollen wir auch gar nicht, aber immerhin geht es um einen Diebstahl“, rechtfertigte Roland ihren Besuch. „Sehen Sie selbst“, hielt Norbert dem noch immer angetrunkenen Hausherrn sein Handy entgegen. „Alles Fake! Wenn Gesa sagt, dass sie das nicht ist, dann ist es so! Und nun macht euch fort!“
„Tja, wir hatten gehofft, die Angelegenheit ohne die Polizei klären zu können, aber offensichtlich ist Ihnen ja nicht daran gelegen“, unternahm Roland einen letzten Versuch, die Sache zu einem guten Ende zu bringen.“ „Unbescholtene Bürger über den Tisch ziehen, aber nicht mit mir!“, wetterte Franjo auch noch, als sie bereits im Freien waren. „Weißt du denn, ob Gesa die Nacht über zuhause war?“, ließ sich Norbert nicht so leicht abwimmeln. „Das geht euch zwar eigentlich einen Scheißdreck an, aber wenn ihr dann endlich zufrieden seid… Ja, wir haben die ganze Nacht über gefeiert.“
„Himmel, was war das denn?“, atmete Roland erst einmal durch, als sie im Auto saßen. „Ich wusste ja, dass der Typ nicht so ganz rund läuft“, resümierte Norbert, „…aber bei dem ist sicher nicht nur eine Zündkerze locker.“ „Ich fand ihn total aggressiv“, schüttelte Roland bestürzt den Kopf. „Die arme Gesa hat bestimmt nicht viel zu lachen.“ „Kann schon sein“, pflichtete ihm Norbert bei. „Aber was machen wir denn jetzt?“ „Na was schon? Jetzt geht alles seinen normalen Gang. Schließlich handelt es sich um einen Einbruch. Die Versicherung tritt nur dann für den Schaden ein, wenn die Sache durch die Polizei aufgenommen wurde.“ Norbert stieß einen tiefen Seufzer aus. „Zumindest haben wir uns für das, was nun mit Gesa passieren wird, nichts vorzuwerfen.“ „Stimmt“, nahm der Vorsitzende die Worte seines Stellvertreters dankbar auf.
3
„Ich bitte Sie, Frau Schwarz, es steht doch wohl außer Frage, dass Sie die Person im Video sind“, ließ der Kommissar keinen Zweifel an seiner Einschätzung. „Es mag ja sein, dass die Frau eine gewisse Ähnlichkeit mit mir hat“, blieb Gesa bei ihrer Aussage. „Ich bin es ganz sicher nicht, denn ich war zuhause, was mein Verlobter ja auch noch bestätigen wird.“ „Wie auch immer“, ignorierte der Beamte ihre Behauptung. „Bei uns werden Sie zunächst als Tatverdächtige geführt. Ihre Aussage habe ich protokolliert.“ Er druckte ein Formular aus und legte es ihr vor. „Wenn Sie Ihre Aussage bitte noch einmal durchlesen und abschließend unterschreiben würden…“
Damit erhob er sich und wechselte das Büro. „So Herr Jobst, nun zu Ihnen. Wie Sie wissen, geht es um einen Einbruch in das Museum des Vorsfelder Heimatverein am Morgen des 17.07.23 in der Zeit zwischen 02:15 Uhr und 04:30 Uhr, der Ihrer Verlobten Frau Gesa Schwarz zur Last gelegt wird. Können Sie die Aussage von Frau Schwarz dahin gehend bestätigen, dass sie sich zur fraglichen Zeit in Ihrer gemeinsamen Wohnung im ‚Engelhop‘ 22c aufgehalten hat?“ „Nein, das kann ich leider nicht, weil ich betrunken war und schlief.“ „Nun sagt Frau Schwarz allerdings aus, mit Ihnen gefeiert zu haben.“ „Davon weiß ich nichts.“
Kommissar Duplo rieb sich nachdenklich den Nacken. „Ihnen ist schon klar, dass Ihre Verlobte damit ihr Alibi verliert?“ „Aber Herr Kommissar, ich muss hier doch die Wahrheit aussagen, oder?“ „Selbstverständlich, ich wollte nur, dass Sie noch einmal in sich gehen und genau nachdenken, ob sie Frau Schwarz nicht doch zur fraglichen Zeit in der gemeinsamen Wohnung sahen.“ „Sorry, aber wenn ich betrunken bin, schlafe ich wie ein Stein.“
„Ja wenn das so ist, werden wir gegen Ihre Verlobte ein Ermittlungsverfahren einleiten müssen“, klärte ihn der Beamte auf. „Ist Ihre finanzielle Situation denn derzeit so angespannt?“ „Gesa konnte noch nie mit Geld umgehen. So schnell wie sie es zum Fenster rauswirft, kann ich es gar nicht verdienen“, behauptete Frank Jobst, den alle Franjo nannten. „Darf ich fragen, wo Sie zurzeit beschäftigt sind?“ „Bei der Arge“, lachte er. „Ich bin doch nicht blöd. Wenn der Staat die ganzen Asylanten durchfüttert, kann er doch auch was für mich tun, oder?“
„Ich glaube, wir sind hier fertig. Unterschreiben Sie bitte noch ihre Aussage und dann können Sie auch schon gehen.“ Der Lebenskünstler verzichtete darauf, seine Aussage durchzulesen, unterschrieb und verließ das Büro und das Kommissariat in der ‚Petristraße‘, ohne auf seine Verlobte zu warten. Selbst Kommissar Duplo schüttelte verständnislos den Kopf, als er ihm nachsah.
„Tja, Herr Jobst konnte Ihr Alibi leider nicht bestätigen.“ „Wie jetzt?“, starrte Gesa den Beamten ungläubig an. „Ihrem Verlobten zu Folge, hat er fest geschlafen, weil er betrunken war und kann sich deshalb in der fraglichen Zeit nicht an Ihre Anwesenheit erinnern.“ „Spinnt der jetzt völlig?“, konnte die Beschuldigte nicht glauben, was ihr der Kommissar gerade erzählte. „Ja aber was passiert denn jetzt?“ „Es sieht leider nicht besonders gut für Sie aus. Ich empfehle Ihnen einen Rechtsanwalt zu konsultieren.“
„Verfluchter Mist, ich war das nicht und so dicke habe ich es auch nicht, um von den paar Kröten auch noch einen Anwalt zu bezahlen.“ „Wenn Sie den Einbruch tatsächlich nicht begangen haben, wird Ihnen nichts anderes übrigbleiben“, riet ihr Kommissar Duplo. „Ansonsten geben Sie die Tat jetzt zu und legen ein umfängliches Geständnis ab, dann kommen Sie sicherlich mit einem blauen Auge davon.“ „Aber ich kann doch nichts zugeben, was ich nicht getan habe“, konterte Gesa von ihrer Unschuld überzeugt. „Tja dann…“
„Kann ich denn jetzt einfach gehen?“ „Aber ja“, lächelte der Kommissar. „Es sei denn, Sie wollen lieber hierbleiben.“ Wobei er auf ihren Verlobten anspielte. „Ehrlich gesagt, wäre es mir fast lieber, aber ich muss mich um meinen Sohn kümmern.“ „Sie bekommen Post von der Staatsanwaltschaft.“
4
„Hast du deinen letzten Verstand nun auch noch versoffen?“, schrie Gesa ihren Lebensgefährten an, kaum dass sie ihre gemeinsame Wohnung betreten hatte. In ihrer Wut waren ihr zwei wichtige Begebenheiten entgangen. Zum einen befand sich Toni im Zimmer und zum anderen hatte Frank seinen Alkoholpegel nachgefüllt. Die Reaktion ihres Lebensgefährten ließ nicht lange auf sich warten. Er holte aus und schlug ihr mitten ins Gesicht. Gesa taumelte nach hinten und ging zu Boden, wo sie benommen liegen blieb.
„Mama, Mama, was ist mit dir?“, lief Toni zu seiner Mutter um ihr aufzuhelfen. Die kräftige Hand des Stiefvaters packte ihn jedoch am Kragen seines Poloshirts und riss ihn zurück. Das Kind schleuderte durch den Raum und fiel mit einem Aufschrei gegen das Sofa. Wie elektrisiert riss die junge Mutter die Augen auf, griff nach einer der leeren Schnapsflaschen, die überall herumlagen, und schlug sie dem Betrunkenen über den Kopf. Der ließ umgehend von ihr ab und taumelte rücklings, bis er letztlich in den Glastisch vor der Couch stürzte.
Er verfehlte Toni um Haaresbreite und doch bekam der Junge einige der Splitter an Arm und Beine. Als Gesa sah, dass ihr Sohn aus mehreren Wunden blutete, nahm sie ihn hoch, ohne sich dabei um Frank zu kümmern. Sie presste ihn an sich und eilte mit ihm in die Küche, wo sie unter Schock stehend einige der Splitter entfernte und das Blut abwusch. Nachdem sie die Wunden eilig mit Handtüchern abgedeckt hatte, verließ sie mit dem Vierjährigen das Haus, um mit dem Wagen ins Krankenhaus zu fahren. In diesem Moment war ihr egal, ob Franjo noch lebte oder nicht. Erst im Krankenhaus erzählte sie einer Ärztin, was geschehen war.
Während sich die Ärztin um den Jungen und um Gesa kümmerte, trafen Notarzt und Polizei am Haus im ‚Engelhop‘ 22c ein. Sie fanden die Haustür offenstehend vor und gingen rufend hinein. Das bizarre Bild, welches sich ihnen im Wohnzimmer bot, dürfte keiner der Einsatzkräfte so schnell vergessen. Frank Jobst lag inmitten von Scherben rücklings in einem Tischgestell. Zu beiden Seiten seines Körpers sickerte Blut in einen unter ihm befindlichen Wollteppich, der sich mehr und mehr verfärbte.
„Er hat noch Puls“, stellte der Notarzt überrascht fest. „Wir müssen den Bewusstlosen zunächst aus dieser Lage befreien“, machte er den übrigen Rettungskräften klar. „Vier Mann vier Ecken!“, kommandierte er, ohne dabei auf eine mögliche Diskriminierung der anwesenden Polizeibeamtin Rücksicht zu nehmen. Die Betroffene fühlte sich allerdings auch nicht angegriffen.
Bei der sogenannten Crashrettung kam der Verletzte wieder zu sich. Dank seines erstaunlich stabilen Blutdrucks konnte er auf die Seite gelegt werden, um mit der Wundversorgung des Rückens zu beginnen. Die Alkoholfahne, die den Rettern dabei entgegenschlug, konnte eine wichtige Rolle bei der späteren Aufklärung und Rekonstruktion eines vermeintlichen Tathergangs spielen.
Da Kommissar Duplo vom Polizeikommissariat Vorsfelde bereits wegen des Einbruchs in das Heimatmuseum gegen die Tatverdächtige Gesa Schwarz ermittelte, lag es nahe, dass er auch diese Sache übertragen bekam. „Glauben Sie an einen Unfall?“, fragte sein Kollege beim Anblick des zerborstenen Glastisches. „Das mit dem Glauben überlasse ich lieber anderen“, erwiderte Duplo grüblerisch. „Halten Sie es für denkbar, dass sich Gesa Schwarz für die Aussage ihres Verlobten gerächt hat?“, ließ der Kommissar Anwärter nicht locker. Duplo stöhnte genervt und verdrehte die Augen. Ausgerechnet jetzt hatte man ihm auch noch diesen Grünling aufs Auge gedrückt.
„Denkbar ist grundsätzlich alles“, entgegnete er gedehnt. „Zu Beginn unserer Ermittlungen sollten wir keine Möglichkeit außer Acht lassen.“ „Die Kollegin Petersen sagte, der Mann sei betrunken gewesen“, brachte Giovanni Sarotti eine weitere Variante ins Spiel. „Da könnte es natürlich auch ein Unfall gewesen sein.“ „Vorsicht mit solchen Schlussfolgerungen, bevor es dazu einen ärztlichen Befund gibt“, warnte Duplo. „Zunächst werden wir den vermeintlichen Tatort versiegeln, damit die Spurensicherung den Hergang rekonstruieren kann. Danach sprechen wir mit Gesa Schwarz und zuletzt mit dem Verletzten.“ „Der Mann hatte offenbar großes Glück“, lächelte Sarotti. „Man sagt, das Glück ist mit Kindern und Betrunkenen.“ Duplo schüttelte den Kopf. „Was lernt ihr da heutzutage nur auf der Polizeischule?“
Wenig später betraten Kommissar Duplo und sein Kollege Giovanni Sarotti die Kinderstation des Klinikum Wolfsburg. Dort trafen sie auf die Ärztin Ponderenko, der sich die Ermittler zunächst vorstellten. „Ist es richtig, dass Sie den Notarzt zum Haus von Frau Schwarz schickten?“, forschte Duplo nach. Die Ärztin nickte. „Hat Sie Ihnen gegenüber Aussagen zum Tathergang gemacht?“, hakte der Kommissar nach. „Hören Sie meine Herren, die Frau stand völlig unter Schock und sie hat sich auch bis jetzt noch nicht von den Vorkommnissen erholt. Sie wurde von ihrem Verlobten offensichtlich geschlagen und sah, wie der Kerl dann auch noch betrunken auf ihren Sohn zustürzte. Ich weiß nicht, was dort tatsächlich vorfiel, aber ich weiß, dass diese Frau Schlimmes durchgemacht hat.“
„Wir würden gern mit Frau Schwarz sprechen.“ „Wie gesagt, Frau Schwarz steht auch jetzt noch unter Schock. Ich kann eine Befragung zum derzeitigen Zeitpunkt nicht befürworten.“ Duplos Stirn legte sich in Falten. „Sind Sie auch die behandelnde Ärztin von Frau Schwarz?“, machte sich Sarotti zur Überraschung des Kommissars kundig. „Nein, das bin ich nicht, aber...“ „Dann bedarf es nicht Ihrer Befürwortung.“
„Ihr lernt ja doch was da in Hannover“, feixte Duplo auf dem Weg zu Frank Jobst. „Weshalb sprechen wir denn dann doch nicht mit der Frau?“ „Weil es nichts bringen würde und das, was sie uns jetzt sagen würde, ohnehin nicht vor Gericht verwendet werden könnte. Abgesehen davon hat uns die Ärztin ja bereits einen ersten Abriss des Tathergangs gegeben. Etwas anderes würde uns Gesa Schwarz zu diesem Zeitpunkt auch nicht sagen.“ „Na wenn Sie meinen.“
„Wie ich höre, geht es Ihnen schon wieder besser“, bemerkte Kommissar Duplo, nachdem er ihm seinen Kollegen vorgestellt hatte. „Was können Sie uns denn zu Ihrem Unfall sagen?“ „Unfall? Das Miststück wollte mich umbringen!“ „Wollen Sie damit sagen, Sie seien von Ihrer Verlobten mit Absicht in den Glastisch geschubst worden?“, schlussfolgerte Duplo. „Die hat mir eine Flasche über die Rübe gezogen.“ „Weshalb sollte sie das getan haben?“, hakte der Kommissar nach. „Na weil ich bei den Bullen...äh ich meine bei der Polizei nicht für sie gelogen habe.“ Sarotti machte sich eifrig Notizen. „Mir ist noch nicht so ganz klar, weshalb das Kind dabei verletzt wurde“, fragte Duplo nach. „Na weil die Alte komplett ausgetickt ist. Die wusste doch gar nicht mehr, was sie tat!“ „Dann wurde das Kind durch Ihre Verlobte verletzt?“, wollte es der Kommissar ganz genau wissen. „Na sag ich doch!“
„Der Kerl lügt wie gedruckt“, resümierte Duplo, nachdem die Ermittler das Krankenhaus verlassen und sich nun auf dem Weg in die ‚Petristraße‘ gemacht hatten. „Wie kommen Sie darauf?“ „Eine Mutter würde niemals ihr eigenes Kind in Gefahr bringen. Ich gehe davon aus, dass sie sich gegen den Kerl gewehrt hat.“ „Notwehr also?“ „Wir müssen abwarten, was die Spusi sagt.“
Einige Tage später war die Rekonstruktion des Tathergangs abgeschlossen. Sie deckte sich mit den Aussagen und dem Verletzungsbild von Gesa Schwarz. Sie und ihr Sohn hatten das Klinikum verlassen und hielten sich seither bei ihrer Mutter in Wolfenbüttel auf. Um nichts in der Welt wollte sie in das Haus zu Frank Jobst zurückkehren. Letztlich hatte sie auf den Rat ihrer Mutter gehört und sich in die Hände eines dortigen Rechtsanwalts begeben.
5
„Nach allem, was Sie mir da geschildert haben, werden wir einige Zeit brauchen, um all diese Baustellen abzuarbeiten“, seufzte Rechtsanwalt Börner. „Das alles ist zu viel für mich“, schluckte Gesa den Tränen nahe. „Wenn Sie sich tatsächlich keiner Schuld bewusst sind und nichts mit dem Einbruch zu tun haben, dann müssen Sie sich auch keine Sorgen machen. Es sei denn, Sie müssen mir doch noch etwas beichten, aber auch dann werde ich sie mit all meinem Wissen verteidigen.“ „Ich habe wirklich nichts getan, ich schwöre es.“ „Es reicht, wenn Sie es mir sagen“, entgegnete der Verteidiger lächelnd.
„Zunächst werde ich mir umgehend eine Kopie der Videoaufnahme und der Ermittlungsakten kommen lassen. Zu dem Tatvorwurf der gefährlichen Körperverletzung zum Nachteil Ihres bisherigen Lebensgefährten kann ich nach Ihrer Schilderung von einer Notwehrsituation ausgehen. Der zweite Vorwurf bezüglich der unterlassenen Hilfeleistung wird sich nicht aufrechterhalten lassen, weil sie beim Anblick Ihres verletzten Kindes unter Schock standen.“
Gesa und ihre Mutter atmeten erleichtert auf. „Die Frau in dem Video sieht mir tatsächlich mehr als ähnlich“, warnte sie Christoph Börner vor. „Als mir der Kommissar das Video vorspielte, hätte ich selbst fast geglaubt, ich sei es, aber ich weiß ja, dass ich es nicht war.“ „Sie machen mich neugierig“, gestand der Advokat. „Ich denke bis morgen Nachmittag werde ich die digitale Ermittlungsakte gesichtet haben. Um nicht unnötig Zeit zu verlieren, wäre es gut, wenn wir unser Gespräch morgen Abend fortsetzen könnten.“ „Notfalls passt morgen meine Mutter auf Toni auf.“, reagierte Gesa erleichtert. „Na klar“, bestätigte Ronja Schwarz. „Gut, dann lassen Sie sich bitte von meiner Angestellten einen Termin geben.“
„Du hattest Recht, es war richtig, einen Anwalt zu nehmen. Vielleicht kann er sogar dafür sorgen, dass Toni und ich weiter im Haus wohnen können“, sagte Gesa, während sie durch die Fußgängerzone in Richtung Seeliger Bank gingen. „Weißt du was, wir sollten uns einen Moment Zeit nehmen und uns hierhersetzen, um in aller Ruhe einen Cappuccino zu genießen.“ „Du machst Witze“, stutzte Gesa. „Wo willst du denn hier, inmitten der Baustelle in Ruhe sitzen?“ „Na ja, das mit der Ruhe war mehr im übertragenen Sinne gemeint. Dafür ist der Cappuccino bei Anne der beste in der Stadt und hier um die Ecke lässt es sich auch ganz gut sitzen.“
Als Gesa die lauschigen Plätze unter den Bäumen sah, willigte sie schließlich ein. Die Frauen hatten sich kaum niedergelassen, als die Bauarbeiten in der Fußgängerzone beendet wurden und tatsächlich Ruhe einkehrte. „Ist doch gut, dass die Stadt Geld in die Hand nimmt, um hier alles auf Vordermann zu bringen. Wir Wolfenbütteler lieben unsere ‚Lange‘ musst du wissen.“ „Na ja. Die alten Häuser sind ja auch ganz hübsch anzuschauen“, bestätigte Gesa.
„Nachdem dein Vater und ich aus Vorsfelde hierher umzogen, hat sich in unserem Leben einiges zum Guten verändert.“ „Seid froh, dass ihr den ganzen Stress hinter euch habt. Nachdem Frank arbeitslos wurde, ging es bei uns nur noch bergab. Ohne eure Hilfe wäre das Haus längst unter dem Hammer.“ Ronja sah ihre Tochter durchdringend an. „Du weißt, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, wo du einen Schlussstrich ziehen musst, oder?“ „Was glaubst du wohl, weswegen Toni und ich zu euch gekommen sind.“ „Dein Vater und ich sind für euch da.“
„Hallo, was darf ich Ihnen bringen?“, erkundigte sich die Bedienung. „Ist Anne heute gar nicht da?“ „Doch, drinnen. Heute serviere ich hier draußen“, entgegnete die junge Frau. „Dann hätten wir gern zwei italienische Cappuccino.“ „Kommt sofort“, trällerte sie und verschwand. „Sind die hier immer so nett?“, stutzte Gesa. „Die Herzlichkeit ist ein Grund dafür, dass wir uns in dieser Stadt so wohlfühlen.“ „In Vorsfelde ist es auch schön“, erwiderte ihre Tochter. „Natürlich.“
„Du darfst der Mama aber nicht verraten, dass wir schon wieder ein Eis essen waren“, bearbeitete ich Ramona. „Sonst schimpft sie wieder mit mir.“ Mein kleiner Schatz nickte mir eifrig zu. Ich saß einmal mehr zwischen allen Stühlen, so konnte ich ihr einfach keinen Wusch abschlagen, obwohl ich dafür Sorge tragen sollte, ihr jeden übermäßigen Zuckergenuss zu verbieten. Da half es auch nichts, wenn ich mich hinter der Tageszeitung versteckte und so tat, als hätte ich gar nichts mit dem Eis zu tun.
Während ich die nächste Seite der Wolfenbütteler aufschlug, fiel mein Blick auf eine junge Frau am Nebentisch. Sie hatte zwei Verletzungen im Gesicht, die professionell versorgt worden waren. Mit geschulten Augen schlussfolgerte ich, dass sie geschlagen worden war. Die Folgen häuslicher Gewalt waren mir nicht nur aus meiner Zeit bei der Polizei, sondern auch als Privatermittler allzu bekannt. Es geschieht beinahe monatlich, dass sich eine dieser geschundenen Frauen hilfesuchend an meine Detektei wendet.
Am schlimmsten ist es immer dann, wenn Kinder beteiligt sind. Scham und die Angst davor, plötzlich allein dazustehen, halten sie oftmals über Jahre davon ab, diese Schläger zu verlassen. Dabei sind es nicht nur Ehemänner, sondern auch Stalker, die diesen Frauen übel mitspielen.
„Habe ich es mir doch gedacht!“, vernahm ich unvermittelt eine vertraute Stimme. Am liebsten wäre ich in die Zeitung gekrochen. „Hat dich der Papa wieder zum Eis essen verführt?“ „Das war eigentlich gar nicht nötig“, entgegnete ich in der Gewissheit meiner Verfehlung. „Wir hatten noch gar nicht mit dir gerechnet“, schob ich kleinlaut nach. „Das sehe ich.“ „Setz dich doch auch noch auf ein Eis“, schlug ich vor. Miriam rang mit sich. „Also gut, auf einen Latte Macchiato.“
„Und, konnte die Frau Staatsanwältin heute wieder einen ihre speziellen Freunde verknacken?“, feixte ich es besserwissend. „Wir nehmen noch einen Latte und einen Cappu!“, rief ich Claudia zu, die gerade am Nachbartisch servierte. „Es läuft gerade eine größere Aktion gegen einen international agierenden Menschenhändlerring, der schon seit vielen Jahren in unserer Region agieren soll“, flüsterte mir Miriam zu. „Aber pst, das ist topsecret.“ „Na dann wirst du ja in der nächsten Zeit ziemlich viel zu tun haben“, schlussfolgerte ich. Mein Schatz winkte ab. „Nee, da kümmert sich van der Waldt persönlich drum.“ Hinter meiner Stirn legten sich einige Schalter um und meine Synapsen entwickelten einen alten Stromlaufplan zu neuem Leben. „Wenn das so ist, hast du ja genug Zeit, um mit uns in die Therme nach Bad Harzburg zu fahren.“ „Hast du denn derzeit keine akuten Fälle?“ Miriam suchte nach einem Ausweg. „Nö.“
„Dann gibt es wohl diesmal keine Ausrede für mich“, stellte die Frau Staatsanwältin fest. „Nö.“ „Au fein, wir fahren alle zusammen Baden“, freute sich Ramona. Miriam zauberte ein Lächeln in ihr Gesicht. „Was hältst du von Sonnabend?“, sah sie auf den Terminplaner in ihrem Handy. „Das passt prima“, stimmte ich zu. Unserer Tochter war der Wochentag ohnehin egal, Hauptsache die Familie unternahm endlich mal wieder etwas gemeinsam.
6
„Guten Abend, Frau Schwarz. Schön, dass es so zeitnah geklappt hat“, begrüßte sie Rechtsanwalt Börner. „Bitte nehmen Sie Platz. Wie ich sehe, haben Sie sich heute männliche Unterstützung mitgebracht.“ „Kasper Schwarz“, stellte sich der Mann an Gesas Seite vor. „Börner“, erwiderte der Advokat.
„Ich konnte inzwischen einen ersten Blick in die Ermittlungsakte werfen und natürlich auch das Video vom Einbruch in das Heimatmuseum sichten. Sie haben Recht, Ihre Ähnlichkeit mit der Täterin ist frappierend. Kein Wunder, dass Sie sofort in den Focus der Ermittlungen gerieten.“ „Wenn meine Tochter sagt, dass sie nichts mit dem Einbruch zu tun hat, dann glaube ich ihr.“ „Nun, das steht auch für mich außer Frage, dennoch wird es schwer, die Polizei in Vorsfelde vom Gegenteil zu überzeugen.“
„Aber die müssen doch auch in andere Richtungen ermitteln“, wandte Gesa ein. „Was die müssen und was die am Ende tun sind zwei Paar Schuhe, mein Schatz“, brachte es Herr Schwarz auf den Punkt. „Ich muss Ihrem Vater da leider Recht geben“, pflichtete Christoph Börner dem Mann vor seinem Schreibtisch bei. „Selbstverständlich werde ich mit Argusaugen darüber wachen, dass jeder Spur nachgegangen wird, aber wenn sich der Kommissar erst einmal festgelegt hat, bedarf es schon triftiger Gründe, um ihn auf einen anderen Weg zu bringen.“
„Ja aber das geht doch nicht! Es gilt doch die Unschuldsvermutung.“ Börner stieß einen tiefen Seufzer aus. „Ich fürchte, allein darauf sollten wir uns lieber nicht verlassen. Aufgrund des Videos und Ihres fehlenden Alibis wird das Gericht dem Antrag der Staatsanwaltschaft folgen.“ „Was schlagen Sie also vor, Herr Doktor Börner?“, ließ der Pensionär nicht den geringsten Zweifel an seiner Entschlossenheit. „Sie sollten einen guten Detektiv engagieren, der parallel ermittelt.“ Gesa sah ihren Vater fragend an.
„Ich war nie ein Freund davon, die Dinge auf mich zukommen zu lassen“, entgegnete Herr Schwarz. „Ich habe mein Leben stets in die eigenen Hände genommen und deswegen werden wir es auch jetzt so halten.“ „Ich arbeite in solchen Fällen immer gern mit der Detektei Lessing zusammen“, eruierte der Rechtsanwalt. „Nicht ganz billig und zuweilen etwas eigensinnig, aber der Beste“, pries mich mein Freund wie warme Semmeln an. „Holen Sie den Mann an Bord, ich komme für die Kosten auf.“
„Hinsichtlich des Vorwurfs der Körperverletzung sollten Sie ebenfalls eine Anzeige gegen Ihren Ex…, Sie sind doch von Herrn Jobst inzwischen getrennt?“ Vater und Tochter sahen sich einen Moment lang an, ehe seine Mandantin antwortete. „Bisher habe ich ihm nur eine SMS geschickt, in der ich mit ihm Schluss machte.“ „Das reicht. Wie gesagt, es wäre hilfreich, wenn Sie ihn ebenfalls wegen Körperverletzung anzeigen würden“, riet Börner. „Gut, dann mache ich das“, stimmte Gesa zu.
Börner legte ihr ein Schriftstück vor, welches sie nur noch unterschreiben brauchte. „Die Anzeige erfolgt schriftlich“, erklärte mein Freund. „Sie müssen sich um nichts mehr kümmern. „Wie ich sehe, sind Sie bestens vorbereitet“, lobte Herr Schwarz. „Ich gehe davon aus, dass Ihre Tochter momentan bei Ihnen wohnt?“ „Das ist richtig.“ „Herr Lessing wird sich möglicherweise bereits morgen Vormittag mit Ihnen in Verbindung setzen“, kündigte er mich an. „Haben Sie vollstes Vertrauen zu ihm und sein Sie offen. Je mehr Herr Lessing weiß, um so besser kann er Ihnen helfen.“
Ich las Ramona gerade eine Gutenachtgeschichte vor, als uns Miriam störte. „Christoph ist am Telefon. Ich glaube, es ist wichtig.“ Ich übergab das Buch und wechselte die Location. „Hallo mein bester Freund, wo brennts?“ „Das sagst du doch zu jedem“, entgegnete Christoph feixend. „Nur zum Onkel meiner Azubine. Ehrlich.“ „Na wenn das so ist, habe ich einen lukrativen Auftrag für dich.“ „Ich bin ganz Ohr.“
Bereits am Vormittag des nächsten Tages saß ich im Wohnzimmer der Familie Schwarz und ließ mir in allen Einzelheiten den Tatvorwurf aus der Sicht der Klientin schildern. Es lag auf der Hand, dass sich diese ganz wesentlich von den Anschuldigungen unterschied, die gegen sie erhoben wurden.
„Herr Doktor Börner hat Ihnen im Grunde zu der einzig praktikablen Möglichkeit geraten, die Ihnen aus meiner Sicht bleibt. Ich muss die wahre Täterin ermitteln, um Sie vollständig zu entlasten“, machte ich der Familie klar. „Dazu muss ich alles wissen, was mir bei meinen Recherchen von Nutzen sein könnte. Dabei kann es sich um Kleinigkeiten handeln, die Ihnen unwichtig erscheinen mögen. Zentral dabei ist Ihre Ähnlichkeit mit der Täterin. Wurde Ihnen in diesem Zusammenhang jemals von einer Doppelgängerin berichtet? Bekannte, die Sie zu einer bestimmten Zeit an einem Ort gesehen haben wollen, an dem Sie jedoch nie waren?“
Gesa lehnte sich nachdenklich zurück. „Jetzt, so aus dem Stegreif fällt mir da nichts ein.“ „Kasper, wir müssen es ihr endlich sagen“, ließ mich die Andeutung ihrer Mutter aufhorchen. „Jetzt, hier?“, starrte Herr Schwarz seine Frau irritiert an. „Sie wird es verstehen“, machte sie ihrem Mann Mut. Es war nur allzu deutlich, wie schwer sich die Eheleute mit der folgenden Offenbarung taten.
„Es tut mir unendlich leid, Gesa, aber du bist nicht unser leibliches Kind.“ Die Bombe schlug mit voller Wucht ein und doch hatte ich das Gefühl, dass den vermeintlichen Eltern eine tonnenschwere Last von den Schultern fiel. Wir wünschten uns so sehr ein Kind, doch nachdem wir uns untersuchen lassen hatten, war klar, dass Ronja nie ein eigenes zur Welt bringen konnte. Wir versuchten alles, um ein Baby zu adoptieren, doch die Wartelisten waren lang und wir nicht mehr die Jüngsten.“
„Irgendwann hörten wir von der Möglichkeit, ein armes Kind aus dem damaligen Rumänien zu bekommen“, fuhr Ronja Schwarz fort. „Wir beruhigten unsere Gewissen, indem wir uns sagten, dem Kind eine bessere Zukunft zu geben.“ „Aber ihr konntet doch nicht einfach…“, reagierte Gesa entsetzt. „Glaub mir, Schatz, wir lieben dich so, wie Eltern ihr Kind lieben.“ „Aber wer bin ich denn nun wirklich?“, stellte die junge Frau die Frage, die auch ich gestellt hätte.
Gesa brauchte einige Atemzüge, ehe sie sich etwas gefangen hatte. „Aber wer sind denn jetzt meine biologischen Eltern?“ „Wir wissen es nicht“, gab Kasper Schwarz zu. „Man sagte uns damals, es sei besser, wenn wir nichts wüssten. Sie haben dich uns auf einem Autobahnparkplatz übergeben. Das Ganze lief nicht gerade feierlich ab. Sämtliche Papiere, die erforderlich waren wie deine Geburtsurkunde und sogar der Mutterpass wurden uns mit übergeben. Man versicherte uns damals ihre Echtheit und sie wurde niemals in Zweifel gezogen.“
Mir fiel spontan der Menschenhändlerring ein, von dem mir Miriam erzählt hatte und der dieser Tage in unserer Region zerschlagen werden sollte. „Sie müssen unbedingt mit Rechtsanwalt Börner über die Sache sprechen. Wahrscheinlich ist das Ganze längst verjährt, aber wenn die Polizei davon erfährt, könnte dies Ihre Tochter entlasten.“ „Sie hören doch, ich bin nicht die Tochter meiner Eltern“, reagierte Gesa zerstörerisch. Ronja Schwarz vergrub ihr Gesicht in den Handflächen und begann zu weinen. Kasper nahm sie in den Arm und tröstete sie. „Wie kannst du so etwas sagen, Gesa? Waren wir nicht immer für dich da?“
„Dann können Sie auch nicht mit Bestimmtheit ausschließen, dass es einen Zwilling gibt“, versuchte ich die Situation auf das Wesentliche zu konzentrieren. „Nein und das ist auch der Grund, weshalb wir nun reinen Tisch gemacht haben“, räumte Kasper Schwarz ein. „Wenn das alles nicht geschehen wäre, hättet ihr mir wahrscheinlich niemals die Wahrheit gesagt“, schlussfolgerte Gesa schockiert. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll“, versuchte sich Ronja zu erklären. In ihrem von Kummer und Tränen entstellten Gesicht stand pure Angst. Es war die Furcht davor, ihre Tochter für immer zu verlieren.
„Können Sie sich daran erinnern, wie Sie von der Möglichkeit erfuhren, auf diese Weise an ein Kind zu kommen? Wie nahmen Sie damals Kontakt auf? Gibt es einen Beleg über die geleistete Zahlung?“, drängte ich auf Antworten. „Es existiert nichts Schriftliches darüber, aber ich kann mich an den Namen des Vereins erinnern“, bekundete Kasper Schwarz. „Die nannten sich ‚Humanité‘. Kurz darauf kam das Internet und natürlich suchte ich danach“, berichtete er von seinem Interesse, mehr über den sogenannten Verein zu erfahren. „Ich fand damals nichts und auch Jahre später, als ich es wieder versuchte.“
„Trotzdem“, sinnierte ich. „Es ist ein Ansatzpunkt für meine Ermittlungen. Meine Mitarbeiterinnen sind diesbezüglich sehr einfallsreich.“ „Glauben Sie, es gibt eine reelle Chance herauszufinden, ob ich einen Zwilling habe?“, zeigte Gesa so etwas wie Zuversicht. „Ich will Ihnen nicht zu große Hoffnung machen, aber ich glaube schon, dass es eine Aussicht auf Erfolg gibt. Abgesehen davon muss es sich bei der Einbrecherin nicht zwingend um Ihre Zwillingsschwester handeln. Ebenso gut könnte es jemand sein, der Ihnen einfach nur sehr ähnlichsieht und gar nichts mit Ihrer Vergangenheit zu tun hat.“
„Ich möchte, dass Sie alles tun, was in Ihren Kräften steht, um die wahre Täterin zu finden“, beschwor mich Kasper Schwarz. „Dabei ist es völlig egal, ob meine Frau und ich uns am Ende wegen einer Straftat verantworten müssen oder nicht. Wenn sie letztlich herausfinden, ob Gesa eine Schwester hat und wer ihre leiblichen Eltern sind, umso besser.“ „Mein Honorar beträgt fünfhundert Euro pro Tag zuzüglich Mitarbeiter und Spesen“, erklärte ich. „Es ist uns egal, was es kostet. Im Erfolgsfall lege ich noch eine Prämie obendrauf. Hauptsache Gesa muss nicht Gefängnis.“
„Gut, dann werde ich mein ganzes Team mit voller Kraft auf den Fall ansetzen“, versprach ich. „Bitte vergessen Sie nicht mit Rechtsanwalt Börner über die Herkunft Ihrer Tochter zu sprechen. Die Polizei sollte schon wegen ihrer Ermittlungen davon Kenntnis erlangen. „Vielleicht können im Museum noch DNA-Spuren von der Täterin sichergestellt werden. Bisher bestand keine Notwendigkeit.“
Detektei Lessing
Band 48
Finden Sie meinen Mörder
-1-
Es war der frühe Morgen eines verregneten Frühlingstages, als eine Frau Mitte fünfzig die Anmeldung meiner Detektei betrat. Sie wirkte gehetzt und verängstigt. „Guten Tag, ist Herr Lessing zu sprechen?“ „Meine Güte, Sie sind ja völlig durchnässt“, entgegnete Trude besorgt. „Ja, der Chef ist da, aber im Augenblick befindet er sich gerade in einer Besprechung mit einem Klienten. So pitschnass wie Sie sind, sollten wir die Zwischenzeit nutzen und Sie erst einmal trockenlegen, Am Ende holen Sie sich sonst noch den Tod“, meinte sie es gut. So fertig wie die Frau in diesem Moment war, begann sie jedoch wegen Trudes Äußerung zu weinen. „Ich hole ein Handtuch“, erklärte meine Azubine, während sie sich von ihrem Schreibtisch erhob.
„Am besten, Sie setzen sich erst einmal und holen Luft“, bot ihr Trude inzwischen einen Platz im Wartebereich an. „Aber dann mache ich alles nass“, zierte sich die Frau. „Das lassen Sie mal meine Sorge sein“, wiegelte Trude mit einer lapidaren Handbewegung ab. Die nach wie vor zittrig wirkende Frau folgte den Worten meiner Putzsekretärin und ließ sich auf einen der Stühle nieder. „So, hier ist das Handtuch“, kehrte Leonie aus der Küche zurück. „Ich habe gar nicht mitbekommen, dass es so heftig regnet“, bemerkte sie. „Auf die Wetter-App kann man sich nicht verlassen.“
„Sie müssen bedenken, dass solche Fotos lediglich eine geringe Beweiskraft vor Gericht haben“, erklärte ich meinem Klienten, während wir mein Büro verließen. „Besser Sie suchen das Gespräch mit Ihrem Nachbarn“, riet ich ihm. „Niemals! Mit diesem Kretin kann man kein normales Gespräch führen“, entgegnete der streitsüchtige Mann leider unbelehrbar. „Nein, nein, es bleibt wie besprochen.“ „Wie Sie meinen“, zuckte ich mit den Achseln. „Schließlich zahle ich Ihnen eine ganze Stange Geld dafür“, erinnerte mich mein Auftraggeber. Mir war es letztlich recht. Auch wenn ich zugeben muss, dass mir sein Nachbar eigentlich leidtat.
Nachdem ich Herrn Ringer verabschiedet hatte, widmete ich mich der Dame im Wartebereich. Es war mir nicht entgangen, wie fahrig die Frau vor sich hinstarrte. „Können Sie Frau Rettig zwischenschieben, Chef?“, signalisierte mir Trude in vertrauter Weise, dass die Angelegenheit der Dame keinen Aufschub duldete. Da ohnehin nicht allzu viel zu tun war, wie eigentlich meistens und mich der Anblick der Frau neugierig machte, bat ich sie in mein Büro.
„Was führt Sie zu mir, Frau Rettig?“ Sie hielt sich die Hand vor den Mund und sah mich aus verweinten Augen an. Ihr von Panik getriebener Blick spiegelte ihre Angst wider. „Bitte, finden Sie meinen Mörder.“ Meine Stirn krauste sich. Ich war mir nicht sicher, ob ich die Frau vor meinem Schreibtisch richtig verstanden hatte. „Ich fürchte, dass müssen Sie mir genauer erklären.“ Renate Rettig holte einige Male tief Luft, ehe sie Worte fand. „Es geht nun schon seit einigen Wochen. Am Anfang maß ich dem Ganzen keine Bedeutung bei, doch inzwischen bin ich mir sicher, dass mich jemand töten will.“
„Wie kommen Sie darauf?“, fragte ich verwundert. Die Frau öffnete ihre Handtasche und entnahm dieser einige Zettel, die sie vor mir auf den Schreibtisch legte. „Damit fing es an.“ Ich sah mir ein Blatt nach dem anderen an. Auch wenn die Botschaften nicht mit einem Datum versehen waren, konnte ich ihre vermutliche Reihenfolge an der zunehmenden Aggressivität erkennen, die der Verfasser in seinen Formulierungen verwendete. „Offenbar erlaubt sich da jemand einen bösen Scherz.“ „Ich bin nun wirklich nicht so leicht zu beeindrucken, Herr Lessing, aber als immer neue und gemeinere Beschimpfungen hinzukamen, begann ich mir Sorgen zu machen.“ „Das kann ich gut verstehen, dennoch bin ich noch nicht von der Ernsthaftigkeit der Drohungen überzeugt.“
Renate Rettig sah mich lächelnd an. Ich stutzte. Ihre Mimik verriet Enttäuschung, aber auch ein Stück weit Verständnis für meine Reaktion. „Das gleiche hat mir der Kommissar bei der Polizei auch gesagt.“ Ich fühlte mich bestätigt. „Ich gehöre schon wegen meines Berufs nicht zu den Menschen, die übertrieben ängstlich sind, aber als mich vor etwa zwei Wochen jemand beim Warten an einem Fußgängerüberweg auf die Straße schubste, als sich ein Bus näherte, wusste ich, dass die Drohungen ernst gemeint sind.“ „Und Sie sind sich sicher, dass Sie jemand absichtlich schubste?“, hakte ich nach. „Waren Sie mal bei der Polizei?“, beantwortete sie meine Frage mit einer Gegenfrage. „Sie stellen die gleichen Fragen wie der Kommissar.“ „Bei der Kriminalpolizei“, entgegnete ich. „Natürlich sind es stets ähnliche Fragen, die ein Ermittler stellt, aber auch wenn ich Ihrem Problem kritisch gegenüberstehe, heißt das nicht, dass ich Ihnen nicht glaube.“
„Das war längst noch nicht das Ende“, fuhr sie fort. „Als ich am nächsten Tag von der Arbeit nach Hause kam, fand ich die Türklinke meiner Haustür mit Blut verschmiert vor.“ „Haben Sie ein Foto davon gemacht?“ Sie verzog frustriert das Gesicht. „In diesem Augenblick habe ich an alles Mögliche gedacht, aber leider nicht daran.“ „Gab es weitere Vorkommnisse?“, wurde ich nun doch neugierig. „Und ob“, bestätigte sie. „Es ging mit einem toten Vogel in meinem Briefkasten weiter.“ Sie griff zu ihrem Handy. „Von diesem Zeitpunkt an habe ich alles fotografiert. Sehen Sie selbst.“
Meine potentielle Klientin reichte mir ihr Handy. Auf dem Foto war ein Spatz zu sehen, dem jemand den Kopf herumgedreht hatte. Das nächste Foto zeigte einen Karton, in dem ein Beutel mit Fäkalien zu sehen war. In einem weiteren Paket waren es irgendwelche blutverschmierte Innereien. „Kamen die Pakete mit der Post?“, fragte ich nach. „Ich kann es Ihnen nicht sagen. Als ich morgens das Haus verließ, oder von der Arbeit kam, standen sie vor der Haustür.“ „Wer auch immer Sie da auf dem Kieker hat, ist nicht dumm. Er hinterlässt keine offensichtlichen Spuren.“ „Bevor Sie danach fragen, ich habe die Inhalte der Pakete leider weggeworfen. Der Kommissar fragte auch danach, aber es war so ekelig.“ „Das ist nachvollziehbar“, zeigte ich Verständnis.
„Die Fotos müssten eigentlich ausreichen, damit die Polizei aktiv wird“, mutmaßte ich. „Aktiv ist nicht so ganz das richtige Wort für die Bemühungen, die der Kommissar in den nächsten zwei Wochen an den Tag legte. Außer dass meine Nachbarn nach ihren Beobachtungen befragt wurden, tat sich eigentlich nichts. Dafür bin ich inzwischen zum Gespött der Siedlung geworden“, seufzte sie. „Nach zwei Wochen erhielt ich Post von der Staatsanwaltschaft. Die Ermittlungen waren eingestellt. Offenbar muss man erst den Kopf unter dem Arm tragen, damit unsere Polizei die Sache ernst nimmt.“
„Ich kann Ihren Frust verstehen, aber auch wenn sich die Kollegen da nicht gerade mit Ruhm bekleckert haben, ist gerade die Dienststelle in Wolfenbüttel derzeit chronisch unterbesetzt“, versuchte ich eine Brücke für den Kommissar zu brechen. „Wissen Sie noch den Namen des Beamten?“ „Schubert“, entgegnete sie merklich enttäuscht. Der Kollege von Oberkommissar Sinner war mir gut bekannt. Im Grunde kein schlechter Mann, wenn auch gelegentlich etwas zu oberflächlich. „Gab es weitere Vorkommnisse?“ „Wenn Sie das Gefühl meinen, was ich habe, weil ich ständig von jemand verfolgt werde, oder die täglichen Telefonanrufe, bei denen sich nie jemand meldet, dann muss ich Ihre Frage mit ja beantworten.“
„Dass Sie mit den Nerven runter sind, kann ich verstehen. Leider deuten diese Beweise nicht auf ein bevorstehendes Tötungsdelikt, sondern lediglich auf eine geschmacklose Nachstellung“, seufzte ich. „Wenn es sich bei dem Schubser am Fußgängerüberweg tatsächlich um eine vorsätzliche Tat handelt, bereitet mir dies wirklich Sorge.“ „Sie glauben mir also?“ „Wurden die Kartons, die Sie vor Ihrer Haustür fanden, von der Polizei auf Spuren untersucht?“, wich ich ihrer Frage aus. „Sie haben die Kartons doch noch?“ „Ja, ich habe sie aufgehoben und nein, die Polizei hat sich nicht dafür interessiert.“
„Also gut, ich glaube Ihnen. Wenn Sie wollen, dass ich den Fall übernehme, müssen Sie mir zunächst die Ermächtigung unterschreiben, dass ich in Ihrem Namen tätig werden darf. Hinsichtlich meines Honorars darf ich Sie bitten, für drei Tagessätze in Vorkasse zu treten. Die erforderlichen Modalitäten besprechen Sie bitte anschließend mit meiner Sekretärin.“ „Ich danke Ihnen dafür, dass Sie mich ernst nehmen.“
„Sie hätten mich sicher nicht aufgesucht, wenn Sie sich nicht in Gefahr wähnten.“ Renate Rettig nickte mir dankbar zu. „Zunächst sollten wir alles sichern, was Ihnen als Beweismaterial bei einer möglichen Gerichtsverhandlung dienen kann. Dazu werde ich anschließend mit Ihnen nach Hause fahren und die Pakete an mich nehmen. Nun würde ich gern die Fotos von Ihrem Handy auf meinem Computer sichern.“ Während ich ihr Smartphone mit einem Kabel versah, erkundigte ich mich nach dem Ort, an dem der Anschlag auf sie geschah. Mit etwas Glück gab es in der Nähe des Tatorts eine Überwachungskamera.
„Ich stand an der Ecke ‚Breite Herzogstrasse‘ und wollte diese in Richtung Fußgängerzone überqueren“, erklärte sie. „Sie kamen also von der Volksbankseite“, rekapitulierte ich. „Genau“, bestätigte sie meine Schlussfolgerung. „Da gibt es natürlich oft Gedränge“, sprach ich aus Erfahrung. „Leider zeichnet die Kamera der Volksbank den Fußgängerüberweg nicht auf“, überlegte ich. „Gibt es einen Zeugen?“ Meine Klientin dachte angespannt nach. „Vielleicht der Busfahrer?“, erwog sie nachdenklich. „Der musste heftig in die Eisen gehen, um mich nicht zu überfahren.“ „Haben Sie den Namen?“ Frau Rettig schüttelte den Kopf. „Es war ja nichts weiter passiert und der Busfahrer musste ja auch weiter.“ „Aber Sie wissen noch den genauen Zeitpunkt des Vorfalls?“ „Dafür müsste ich in meinem Terminplaner nachsehen“, stutzte sie. „Aber ja, ich bin mir sicher, mir den Termin bei der Physiotherapie notiert zu haben.“ „Dann bekomme ich den Namen auch so raus. Der Fahrer könnte ein wichtiger Zeuge sein.“
Ihre Stirn krauste sich. „Von den anderen Passanten, die neben und hinter mir standen, müsste bestimmt noch jemand die Person gesehen haben, die mich stieß“, mutmaßte sie. „Möglich wäre es, aber machen Sie sich bitte keine großen Hoffnungen. Die Anonymität in der Masse wirkt wie eine Wand, hinter der man sich prima verstecken kann. Selbst wenn einer der Passanten etwas gesehen hat, wird er sich nicht melden, weil er davon ausgeht, dass der, der neben ihm stand, sich sicherlich melden wird.“ „Ja, die Menschen sind gegenüber anderen gleichgültig geworden. Jeder kocht seine eigene Suppe.“ „Da sagen Sie was“, seufzte ich.
„Kommen wir zu der Frage, wer Ihnen etwas Böses will. Sie werden sich dies sicherlich bereits selber gefragt haben“, suggerierte ich. „Mehr als einmal“, bestätigte die Frau vor meinem Schreibtisch. „Sind sie möglicherweise jemandem auf die Füße getreten?“ Frau Rettig sah mich ächzend an. „Hunderten, Herr Lessing. Das bringt mein Beruf so mit sich.“ „Was um Himmels Willen arbeiten Sie denn?“, hakte ich reichlich verwundert nach. „Ich bin Gerichtsvollzieherin.“ Es trieb mir einen kalten Schauer über den Rücken. „Damit rangieren Sie in der Skala der beliebtesten Wolfenbütteler sicherlich eher im unteren Bereich“, stellte ich fest. „Leider bedeutet dies auch, dass damit auch eine ganze Menge Arbeit auf uns zukommt.“
Renate Rettig sah mich irritiert an. „Auf uns?“ „So ist es. Nur Sie können wissen, mit welchem ihrer Klienten es mehr als den üblichen Ärger gab.“ „Sie sprechen von Anfeindungen und Drohungen?“ Ich nickte. „Nach dreißig Berufsjahren wird diese Liste sicher mehr als zehn Meter lang.“ Meine schlimmste Befürchtung war weit übertroffen. „Es würde eine Ewigkeit dauern, bis ich die Personen darauf überprüft hätte. Nein, ich denke der Zeitraum der letzten zwei Jahre ist ausreichend. Meiner Erfahrung nach würde ein Racheplan während dieser Zeitspanne umgesetzt oder aber er hat sich für die betreffende Person erledigt.“ „So einfach?“ Ich zuckte mit den Achseln. Irgendwo müssen wir eine Grenze ziehen.“
„Wie geht es jetzt weiter, Herr Lessing?“ „Während Sie mit meiner Sekretärin die Modalitäten besprechen, werde ich mit Herrn Schubert telefonieren. Danach würde ich Sie gern nach Hause fahren, um mit Hilfe Ihres Terminplaners den Zeitpunkt des Attentats herauszufinden und um die Kartons abzuholen. Wir hatten vorhin darüber gesprochen. Die Liste Ihrer potentiellen Widersacher brauche ich dann bis morgen Vormittag.“ Meine Auftraggeberin nickte zufrieden. „Es ist wirklich ein gutes Gefühl, wenn man ernst genommen wird und sich endlich etwas tut.“ „Dafür bin ich da.“
Während Trude wie abgesprochen alle notwendigen Daten aufnahm, kontaktierte ich Kommissar Schubert. „Hallo Tim, hier Leo, ist dein Kollege Schubert zu sprechen?“ „Weshalb rufst du mich an, wenn du den Kollegen sprechen willst?“, zeigte sich der Oberkommissar verwundert. „Wahrscheinlich habe ich seine Telefonnummer nicht griffbereit.“ „Du hast Pech, mein Freund, Schubert ist im Außeneinsatz.“ „Okay, vielleicht kannst du mir ja auch weiterhelfen.“ „Schieß los.“ „Es geht um Renate Rettig. Sagt dir der Name etwas?“ „Aber ja, das ist doch diese Gerichtsvollzieherin, die sich bedroht fühlt.“ „Ja genau“, bestätigte ich. „Da ist nichts dran. Schubert ist der Sache nachgegangen. Er geht davon aus, dass sich einer ihrer ehemaligen Schützlinge verbal rächen will. Er hat ihr geraten, die Sache nicht so ernst zu nehmen und dass sie sich nicht ins Bockshorn jagen lassen soll.“
Ich schüttelte innerlich den Kopf. „Macht ihr es euch da nicht etwas zu leicht?“, bekundete ich mein Unverständnis. „Mich musst du aus der Nummer rauslassen, da hat allein Schubert ermittelt. Aber mal ehrlich, wenn der Typ merkt, dass er keinen Erfolg hat, wird er seine Bemühungen sicherlich sehr schnell einstellen.“ „Hat er nicht. Die arme Frau saß mir gerade ziemlich angeschlagen gegenüber. Sie fühlt sich von der Polizei im Stich gelassen.“ „Du weißt ebenso gut wie ich, dass wir uns nicht um jede Lappalie kümmern können. Sei doch froh, so klingelt es wenigstens in deiner Kasse.“ „So siehst du das?“, fragte ich angekratzt. „Na ja, sei mir bitte nicht böse, aber ich muss los. Melde dich, wenn du in der Sache etwas Konkretes hast.“
Ich beendete irritiert das Gespräch. „Ganz sicher nicht!“, bekundete ich stinksauer, während ich das Handy einsteckte und mein Büro verließ. Meine Enttäuschung über den Oberkommissar stand mir ins Gesicht geschrieben. Frau Rettig wartete bereits auf mich. „Wie ich sehe, sind Sie mit dem Schriftkram bereits fertig“, versuchte ich mir den Ärger nicht anmerken zu lassen. Die Furchen zwischen meinen Augenbrauen sprachen jedoch eine eindeutige Sprache. So reagierte Leonie ungewöhnlich folgsam, als ich sie aufforderte, uns zu begleiten.
Während unserer Fahrt nach Linden erinnerte ich mich an meinen allerersten Fall als Detektiv. Er führte mich damals ebenfalls in das ‚Lindenfeld‘. Es ging um eine blutige Erbschaftsauseinandersetzung. Kein einfacher Fall, aber letztlich zumindest mit einem guten Ende für die Gerechtigkeit.
-2-
Das Haus von Renate Rettig befand sich so ziemlich am Ende eines Bogens, der die Straße aus nördlicher in östliche Richtung verbog. Zwischen ihrem Haus und der Straße, die nach Neindorf führt, sah ich einen Acker in dreieckiger Form. In westlicher Richtung gab es seit kurzem einen Kreisel, der das Neubaugebiet oberhalb der Okertalsiedlung erschließt. Seit damals hatte sich hier einiges verändert. Dann dachte ich an meine Jugendzeit zurück und an die Abende, die ich zusammen mit einem Freund in dessen VW Käfer auf dem ‚Mäuseberg‘ verbrachte. CB-Funk war das Medium der Zeit. Erpel 22 lautete mein Skip. Ich weiß es wie heute, denn es war eine unbeschwerte Zeit.
Ich stoppte meinen Wagen hinter dem meiner Klientin am rechten Fahrbahnrand vor ihrem Grundstück. Ein kleines, aber feines Häuschen stand darauf. Hier und da gab es das eine oder andere zu reparieren, auf- oder wegzuräumen, aber im Großen und Ganzen machte ihr Domizil einen gepflegten Eindruck. Allerdings war das Haus sicherlich auch noch nicht älter als zwanzig Jahre.
„Bewohnen Sie das Haus allein?“, erkundigte ich mich, während meine Auftraggeberin die Haustür aufschloss. „Nachdem mein Mann vor zehn Jahren an Krebs verstarb, wollte ich mich nicht wieder binden. Hans war die Liebe meines Lebens“, erzählte sie quasi zwischen Tür und Angel. „Gehen Sie doch schon mal ins Wohnzimmer. Ich hole inzwischen die Kartons aus dem Keller.“ Leonie und ich sahen uns gerade die gerahmten Fotos auf den Kommoden und an den Wänden an, als uns ein spitzer Schrei alarmierte. Renate Rettig hielt sich an einem der Garderobenhaken fest, die neben der geöffneten Tür zur Kellertreppe angebracht waren.
Während sich Leonie um unsere Auftraggeberin kümmerte, ging ich der Ursache ihres Schreiens nach. Ein Blick nach unten reichte völlig. Etwa auf halber Höhe baumelte eine tote Ratte an einer Drahtschlinge. Auf der sich darunter befindenden Stufe hatte sich eine kleine Blutlache gebildet. Eine Szene, die an Geschmacklosigkeit nur schwer zu überbieten war.
Wer auch immer für diese abscheuliche Posse verantwortlich war, musste die Abwesenheit von Frau Rettig genutzt haben, um in ihr Haus einzubrechen. Dabei kam ihm sicherlich die Nähe zur hinter dem Haus gelegenen Wiese sehr gelegen. Das angrenzende Buschwerk bot ausreichend Deckung, um sich auch am Tage ungesehen anzuschleichen. Ich wies Leonie an, sich um unsere Klientin zu kümmern und ging auf die Suche nach der Einbruchstelle. Irgendwo musste ihr Widersacher ja ins Haus gelangt sein.
Da sich auch nach mehr als einer Stunde intensiver Suche, trotz meiner Erfahrung aus über dreißig Berufsjahren nicht die kleinste Spur eines gewaltsamen Aufbruchs gefunden hatte, blieb die Schlussfolgerung, dass sich der Eindringling mittels eines Nachschlüssels Zutritt verschafft haben musste.
„Sie meinen, der Kerl besitzt einen Schlüssel zu meinem Haus?“, fragte mich Renate Rettig entsetzt. „Ich kann keine Einbruchsspuren entdecken. Es wäre also die einzig plausible Erklärung. Sie werden nicht drum herumkommen und die Zylinder der Haustür und der Kellertür auszuwechseln.“ Die Klientin war schockiert. „Aber da kommt doch heute kein Handwerker mehr“, reagierte sie besorgt. „Das ist allerdings ein Problem“, gab ich ihr recht. „Können Sie die Schlösser nicht einbauen?“, flehte sie mich an. „Normalerweise machen wir so etwas nicht, aber in Anbetracht der Situation mache ich mal eine Ausnahme.“ Meine Auftraggeberin bedankte sich überschwänglich.
Ich baute die Zylinder aus und fuhr in den Baumarkt. Leonie blieb solange als Personenschutz zurück. Bei dem Gedanken an ihre Qualitäten als Judokämpferin musste ich mir keine Sorgen um die Klientin machen. Nach weniger als zwei Stunden waren die neuen Zylinder eingebaut und zwischen der Buchse ihres Festnetzanschlusses und dem Telefon war ein Aufzeichnungsgerät mit Nummernspeicher geschaltet. Falls der Stalker oder was immer die Person auch war erneut anrief, würde seine Nummer und das Gespräch gespeichert. Beides gab unserer Auftraggeberin genügend Sicherheit, um sich in ihrem Haus allein aufhalten zu können. Letztlich machten wir uns mit dem Datum des Anschlags und den sichergestellten Kartons auf den Weg in die Detektei.
„Ist schon eine ziemliche Sauerei, eine alte Frau auf diese Weise anzugehen“, schimpfte meine Azubine. „Ich frage mich die ganze Zeit, wie die Person an den Schlüssel kam, um ihn nachmachen zu lassen“, weihte ich Leonie in meine Gedanken ein. „Vielleicht ist Frau Rettig in einem Verein oder bei einem Fitnessclub angemeldet?“, überlegte sie. „Gute Idee“, lobte ich. „Sagte sie nicht, sie sei am Tag des Anschlags auf dem Weg zu ihrem Physiotherapeuten gewesen?“, ergänzte ich die Liste der Möglichkeiten. „Wir müssen sie unbedingt fragen, ob es sich dabei um den ersten Termin handelte“, überlegte Leonie. „Ich werde sie nachher noch anrufen“, versprach ich.
Frau Rettig hatte sich mächtig ins Zeug gelegt. Bereits am späten Nachmittag desselben Tages hatte sie uns die Liste gemailt, in die sie alle Namen von Personen eintragen sollte, die sie während der letzten zwei Jahre im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit bedroht hatten. Da der Fall eilig war, machten sich Trude und Leonie sofort an deren Überprüfung. Was war aus den Personen geworden? Hatten sie Hab und Gut verloren? Hatte sich der Partner von ihnen getrennt? Waren Sie womöglich aufgrund ihrer Schulden mit einer Haftstrafe belegt worden? Alles Gründe, die so manchem ausreichen, um den in ihren Augen Schuldigen zu betrafen.
Nachdem mir meine Auftraggeberin von ihren Hobbys und Freizeitaktivitäten berichtet hatte, sammelte ich die Namen all der Personen, mit denen sie bei der Gelegenheit zusammengekommen war. Dazu gehörte der Masseur ebenso wie die Sprechstundenhilfe bei ihrem Hausarzt oder der Hausmeister im Gericht. Nach etlichen Stunden intensiver Fleißarbeit hatten wir nicht einen einzigen Treffer. Keiner der Namen fand sich auf der Liste wieder. Entweder hatte sich Frau Rettig ihren Feind nicht im Beruf gemacht, oder wir hatten irgendetwas übersehen.
„Feierabend für heute!“, rief ich gegen 21 Uhr in die Runde. „Heute Abend kommen wir ohnehin nicht weiter. Ich schlage vor, dass wir morgen erst um 10 Uhr anfangen. Bis dahin habe ich noch einmal mit Frau Rettig über weitere Personen gesprochen, mit denen sie im Laufe der letzten Jahre zusammentraf.“ „Einer von ihnen muss ja am Ende den Schlüssel nachgemacht haben“, resümierte Trude. „Vielen Dank für eure Zeit. Eine gute Nacht und dann bis morgen.“
„Na, lässt du dich auch mal sehen?“, erkundigte sich Miriam, nachdem ich das Wohnzimmer betrat. „Ich dachte schon, ihr würdet die ganze Nacht durcharbeiten.“ „Danke für dein Verständnis. Anders als Kommissar Schubert bin ich davon überzeugt, dass sich meine Klientin in ernster Gefahr befindet.“ Mein Schatz sah mich fragend an und so erzählte ich ihr mit wenigen Worten, um was es ging.
„Es ist natürlich nicht leicht, in einem solchen Fall, in dem sich ein Polizist lediglich aus der Aussage eines vermeintlich betroffenen Opfers eine Meinung bilden muss, richtig zu entscheiden. Gerade in einer knapp besetzten Dienststelle wie der in Wolfenbüttel musste Schubert seine Entscheidung sicherlich auch von der Dringlichkeit des Falles anhängig machen.“ „Kein Mensch macht Schubert einen Vorwurf, aber wenn die Bedrängnis, der sich Frau Rettig ausgesetzt fühlt, ein Maßstab für eine Strafverfolgung sein muss, dann läuft etwas in unserem Polizeiapparat falsch.“
Miriam verstand meine Unzufriedenheit, musste die Situation aber auch aus der Sicht der Staatsanwaltschaft sehen. Was bedeutete, dass jeder Polizeieinsatz natürlich auch einen Unkostenfaktor darstellt, für den sich am Ende jemand rechtfertigen muss. „Es ist gut, dass du dich der Sache angenommen hast“, lenkte Miriam ein. „Falls doch mehr dahintersteckt, weißt du ja, dass ich stets ein offenes Ohr für dich habe.“ Ich drückte ein Auge zu und sah meinen Schatz aus dem anderen skeptisch an. „Falls ich also deine Unterstützung brauche, kann ich auf dich zählen?“ „So war es gedacht“, hauchte sie, während sie mein Glas mit Rotwein füllte. Es schien doch noch ein schöner Abend zu werden.
-3-
Es war schon dunkel, als Renate Rettig gegen 22 Uhr zu ihrem allabendlichen Spaziergang aufbrach. Eine ihrer liebgewordenen Gewohnheiten, um die sie sich auch durch einen wildgewordenen Irren nicht bringen lassen wollte. Ein Ritual, bei dem sie ihre angegriffene Lunge vor dem Zubettgehen noch einmal durchlüften lies. Natürlich hatte sie Angst, dass ihr der Wahnsinnige irgendwo auflauern würde, aber was auch immer in ihrem Leben geschehen war, sie hatte sich nie versteckt und schon gar nicht unterkriegen lassen.
Sie trat auf den Gehweg vor ihrem Grundstück und schloss hinter sich die Gartenpforte. Von hier aus wandte sie sich nach rechts und schlenderte gemütlich den Bürgersteig entlang. Ab und zu wurde die Stille von einem der Fahrzeuge unterbrochen, die vom Kreisel herkommend in Richtung Neindorf fuhren. Für einen kurzen Moment, wurde die Dunkelheit dabei durch das grelle Licht ihrer Scheinwerfer zerrissen. Nachdem sie einige Meter gegangen war, wunderte sie sich über einen laut aufheulenden Motor. Sie drehte sich herum, konnte jedoch keinen Wagen sehen, der das laute Brummen verursachte. Sie tat es als jugendliches Imponiergehabe ab und ging weiter. Im nächsten Moment hörte sie, wie das Fahrzeug mit quietschenden Reifen anfuhr und schnell näherkam.
Als sie sich schließlich erneut umdrehte, war der Wagen weniger als einhundert Meter von ihr entfernt. Der Fahrer schaltete das Fernlicht an. Weil sie durch das grelle Licht geblendet war, konnte sie kaum noch etwas erkennen. Sie hielt sich schützend die Hand vor die Augen. Erst im letzten Moment begriff sie, dass die Lichter direkt auf sie zukamen. Der Wagen jagte den Bordstein des Bürgersteigs hinauf. Es schien für eine Sekunde so, als würde der Fahrer die Gewalt über das Fahrzeug verlieren. Die Lichter schlingerten weiter auf sie zu. Die Distanz zu ihnen verkleinerte sich rasant. Die Gerichtsvollzieherin stand wie angewurzelt da, kaum zu einer einzigen Regung fähig und doch in dem Bewusstsein, dass sie reagieren musste, wenn sie am Leben bleiben wollte.
Nur durch einen beherzten Sprung in letzter Sekunde rettete sie sich über den niedrigen Zaun ihres Nachbarn. Funken sprühten, als der Kotflügel des Fahrzeugs auf der Mauer des Zaunes entlang schliff. Nachdem sich Renate Rettig wieder aufgerappelt hatte, sah sie nur noch, wie die Rücklichter des Wagens an der nächsten Kurve verschwanden. An den gegenüberliegenden Häusern gingen die Haustüren auf. Einige Nachbarn traten heraus und hielten neugierig nach der Quelle des Getöses Ausschau. Andere rissen die Fenster auf und schimpften, ohne überhaupt zu wissen, was der Grund für den Lärm war.
Frau Rettig stand nach wie vor schockiert im Garten ihres Nachbarn. Eigentlich hatte sie noch nicht begriffen, dass sie gerade um Haaresbreite einem Mordanschlag entkommen war. Offensichtlich war niemand zu Hause, denn weder ging das Licht an noch kam jemand zu ihr in den Garten. Wie sollte sie Herrn Schüttauf nur erklären, wie die Kratzer in die Mauer seines Zauns gelangten? Da sie von keinem der Anlieger bemerkt wurde und nach und nach auch der letzte Nachbar wieder in seinen vier Wänden verschwunden war, beendete Frau Rettig ihren Spaziergang und kehrte zurück nach Hause.
Als erstes setzte sie sich in ihre Küche und schenkte sich auf den Schreck ein Weizenkorn ein. Gleich darauf noch einen zweiten und etwas später einen Dritten. Nachdem sie nicht mehr am ganzen Körper zitterte und sich wieder beruhigt hatte, überlegte sie, ob sie so spät noch in der Detektei anrufen konnte. Nach einem Blick zur Uhr entschied sie sich dagegen, nahm eine Beruhigungstablette und ging ins Bett. Es dauerte eine ganze Weile, ehe sie in den Schlaf fand. Einzig der nüchterne Gedanke, dass es ihr Mörder in dieser Nacht kein zweites Mal versuchen würde, wirkte beruhigend auf sie.
Der Wagen der Schüttaufs stand auch am nächsten Morgen nicht wie gewohnt im Carport. Frau Rettig schlussfolgerte, dass sich die Familie im Urlaub befand. Sie atmete erleichtert auf, so konnte sie sich über das weitere Vorgehen zunächst mit dem Detektiv besprechen. Auf keinen Fall wollte sie, dass der Mann, der es auf sie abgesehen hatte, durch seine Anschläge Einfluss über ihr Leben erlangte. Vor allem gehörte ihre Arbeit zu diesem Leben und dorthin wollte sie nun fahren, um ihm ein Zeichen ihrer Stärke zu senden. Als sie die Fahrertür zu ihrem Dacia öffnete, sah sie auf die Rücksitzbank. Dort lauerte niemand auf sie. Schließlich waren Kriminalfilme ihre große Leidenschaft. Wie immer parkte sie ihren Wagen auf einem der Dauerparkplätze im Parkhaus Rosenwall. Da kein Hausbesuch anstand, verbrachte sie den Vormittag mit einigen liegengebliebenen Büroarbeiten. Gegen Mittag machte sie sich dann auf den Weg in die Detektei.
„Das ist jetzt nicht Ihr Ernst, Frau Rettig!“, konnte ich die Worte meiner Klientin kaum glauben. „Ist Ihnen denn nicht klar, dass sie beinahe das Opfer eines Mordanschlags wurden?“ „Ja doch, sicherlich, aber es hat doch wieder niemand gesehen. Meine Nachbarn steckten ihre Köpfe doch allesamt erst heraus, als alle Messen längst gesungen waren.“ „Wenn schon nicht die Polizei, dann hätten Sie wenigstens mich anrufen müssen“, warf ich ihr vor. „Es war doch schon so spät“, rechtfertigte sie sich. „Sie können mich zu jeder Tages- und Nachtzeit anrufen, Frau Rettig“, versprach ich. „Das ist schließlich mein Job.“ Meine Klientin wusste, dass sie sich falsch verhalten hatte, aber sie wollte sich halt nicht ihr Leben von einem Verbrecher diktieren lassen. „Beim nächsten Mal weiß ich Bescheid.“ Ich schüttelte seufzend den Kopf.
„Die Liste, die Sie uns zur Verfügung stellten, hat uns leider nicht weitergebracht“, brachte ich meine Auftraggeberin auf den neusten Stand der Ermittlungen. „Entweder wir weiten die Zeitspanne für die Personen um ein weiteres Jahr aus, oder es fallen Ihnen weitere Personen ein, mit denen Sie in Ihrer Freizeit zu tun haben. Wie auch immer, ich fürchte, Sie müssen da noch einmal intensiv in sich gehen.“ „Mal ehrlich, Herr Lessing, das kommt doch der Suche nach der berühmten Nadel im Heuhaufen gleich. Nachdem ich einem Pfändungsauftrag nachgekommen bin, weiß ich in den allermeisten Fällen doch gar nicht, was aus den Betroffenen wird. Wenn es keine andere Möglichkeit gibt, Schulden zu tilgen, geschieht es nicht selten, dass die Leute im Gefängnis landen.“ „Wo sie natürlich einen gewissen Hass gegen die Gesellschaft und sicher auch gegen Sie entwickeln“, schlussfolgerte ich. Meine Klientin stimmte mir nickend zu.
„Vielleicht sollten wir weniger auf die Zeitspanne achten, sondern mehr Augenmerk darauf richten, was Ihrer Kundschaft nach der Pfändung widerfuhr“, resümierte ich. „Das könnte Sinn machen“, pflichtete mir Frau Rettig bei. „Was machen wir denn nun mit Ihnen?“, überlegte ich laut. „Personenschutz wäre durchaus angebracht. Vielleicht sollte ich noch einmal mit Herrn Schubert sprechen.“ „Das können Sie vergessen“, widersprach Frau Rettig energisch. „Eher lege ich mich abends mit der Flinte meines Vaters ins Bett.“ „Ich lasse Sie auf keinen Fall ohne Schutz!“, bestand ich auf eine andere Lösung. „Könnten Sie nicht...?“ „...und wer ermittelt Ihren Widersacher?“ Meine Klientin seufzte. „Vielleicht gibt es ja eine andere Möglichkeit?“, sinnierte ich. „Einen Augenblick bitte, ich bin gleich wieder da.“ Da ich um die Qualitäten meiner Auszubildenden in der Kunst der Selbstverteidigung wusste, wollte ich sie zumindest fragen, ob sie sich eine solche Aufgabe zutrauen würde.
„Es wäre nur für die nächsten Nächte. Ich glaube nicht, dass es der Attentäter noch einmal am Tage versuchen wird.“ „Ich werde den Mistkerl schon gebührend empfangen“, entgegnete Leonie nicht anders als von mir erwartet. „Du musst dir darüber im Klaren sein, dass der nächste Anschlag auch für dich gefährlich werden kann“, mahnte Trude. „Das bin ich“, ballte Leonie ihre Fäuste. „Ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache, Chef“, brachte Trude ihr Bedenken zum Ausdruck. „Vielleicht haben Sie Recht, Trude,“ bekam ich ebenfalls Zweifel an meiner Idee. „Was soll schon passieren?“, versuchte Leonie unsere Skepsis zu zerstreuen. „Sie haben die Zylinder ausgewechselt und alles andere überprüft.“
Ich biss angespannt die Lippen zusammen. „Es bleibt ein unkalkulierbares Restrisiko.“ „Unser Beruf birgt Tag für Tag ein Restrisiko. Wenn ich mir dessen nicht bewusst wäre, hätte ich Zahnarzthelferin gelernt.“ Ich stieß einen tiefen Seufzer aus. „Wenn der Kerl ins Haus will, muss er Lärm machen. Genug Zeit, um Sie anzurufen und mich auf den Typen vorzubereiten.“ „Übrigens ist es keineswegs sicher, dass es sich bei dem Täter um einen Mann handelt“, gab ich beiläufig zu Bedenken.
„Soll ich nun auf unsere Klientin aufpassen oder nicht?“, fieberte Leonie meiner Entscheidung entgegen. „Du wirst Reizgas mitnehmen und ständig den Akku deines Handys im Blick behalten,“ „Sie können sich darauf verlassen, Chef.“ „Also gut, dann werde ich meinen Vorschlag jetzt Frau Rettig unterbreiten. Wenn unsere Auftraggeberin einverstanden ist, werden wir es versuchen.“ Womit ich mich Trude zuwandte. „Frau Rettig wird uns eine weitere Liste mit Namen zukommen lassen. Diesmal wird es sich um Gepfändete handeln, die ihren Tilgungsraten nicht nachkommen konnten. Sie überprüfen diese Namen bitte darauf, ob die Betreffenden im Gefängnis ihre Schulden absitzen mussten und ob sie durch die Pfändung in eine Notsituation gerieten.“ „Geht klar, Chef“, nickte Trude und verschwand hinter dem Monitor ihres Computers. Ich wusste nur zu gut, dass sie mit meiner Entscheidung nicht einverstanden war, aber im Grunde hatte ich keine andere Wahl.
Ich signalisierte Leonie, dass sie mich in mein Büro begleiten sollte. „Sie kennen Frau Fischer ja bereits.“ Frau Rettig lächelte Leonie zu. „Wenn es Ihnen recht ist, wird Frau Fischer während der kommenden Nächte ein Auge auf Sie haben.“ Eine gewisse Skepsis in den Augen meiner Klientin blieb mir nicht verborgen. „Frau Fischer ist eine ausgebildete Kampfsportlerin“, erklärte ich. „Sie wird Sie im Ernstfall schützen.“ „Na wenn das so ist, werden wir zwei Hübschen es uns schon gemütlich machen, nicht wahr?“, wirkte Frau Rettig erleichtert. „Das machen wir“, lächelte Leonie aufmunternd.
„Ich müsste dann jetzt auch los“, drängte unsere Klientin unvermittelt. „Ich habe in einer halben Stunde einen Räumungstermin“, erklärte sie. „Eigentlich ging ich davon aus, Sie würden mir noch die Mauer zeigen, an der das Fahrzeug entlang schleifte.“ „Sorry, aber Job ist Job, nicht wahr?“ „Nun gut, dann werde ich die Stelle sicherlich auch allein finden.“ „Drei Häuser weiter links neben meinem Haus. Es handelt sich um einen roten Ziegelsteinzaun mit Querstangen“, beschrieb sie. „Ich werde die Stelle schon finden.“
Fünfzehn Minuten später standen Leonie und ich vor dem vermeintlichen Tatort. Die Aufnahme und Sicherung von Spuren ist ein ganz wesentlicher Bestandteil einer guten Ausbildung. Es versteht sich also von selbst, dass Leonie dabei war, als ich die Lackreste des Wagens an der Mauer sicherstelle. Es gab genügend Anhaftungen, um ihr Gelegenheit zu geben, das gerade Gelernte selber praktisch umzusetzen. Die Lackzusammensetzung lässt sich in den allermeisten Fällen im Labor so genau bestimmen, dass sich daraus auf den Typ des Fahrzeugs schließen lässt. Schwieriger ist es da, diese Analyse auf Staatskosten bestimmen zu lassen. Eines war allerdings sofort klar. Es handelte sich augenscheinlich um einen blauen Wagen.
Während Leonie und ich die Spuren der nächtlichen Attacke sicherten, weckten wir die Neugier eines Nachbarn. „Sind Sie von der Polizei?“, erkundigte er sich. Ehe ich ihm meine Zulassung zum Privatermittler präsentieren konnte, erzählte er vom Lärm, der ihn am späten Abend aus dem Schlaf vor dem Fernsehgerät aufgeschreckt hatte. „Ich wohne dort drüben“, deutete er auf ein nobles Einfamilienhaus. „Da ist wohl ein Auto gegen gefahren?“ Ich nickte. „Als ich vom Garten aus nachsah, war nichts mehr zu sehen.“ „Wie spät war es da?“, hakte ich nach. „Das muss um kurz nach zehn gewesen sein. Die Nachrichten auf dem Zweiten liefen noch. Ich dachte erst, der Lärm käme aus dem Fernseher.“
„Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen?“, fragte ich obwohl ich seine Antwort bereits erahnte. „Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, ich habe hier im Garten jemanden gesehen.“ Es lag auf der Hand, dass er von Renate Rettig sprach. „Haben Sie die Person erkannt?“ Er ging nicht auf meine Frage ein. „Irgendwie war das alles unheimlich. Ich bin dann auch wieder ins Haus gegangen, weil meine Frau nach mir rief.“ „Ich habe schon geklingelt, aber es macht niemand auf“, erklärte ich. „Die Schüttaufs sind im Urlaub. Vor nächster Woche kommen die auch nicht wieder, aber ich habe für den Notfall eine Telefonnummer“, entgegnete der Nachbar. „Na ja, allzu viel ist ja auch nicht passiert. Gönnen wir der Familie ihren Urlaub“, schlug ich vor, um einem Anruf des alten Herrn vorzubeugen. „Wenn die Leute nach ihrer Rückkehr davon erfahren, ist es noch früh genug.“ Der alte Herr stimmte mir kopfnickend zu, drehte sich wortlos um und ging.
„Zum ersten Mal hat der Täter hier ein höheres Risiko in Kauf genommen“, sinnierte ich, während ich die Straße in die Richtung hinabsah, aus der das Fahrzeug gekommen war. „Er riskierte es bei seinem Anschlag, von Zeugen beobachtet zu werden. Selbst die Gefahr, dabei selber verletzt zu werden, schreckte ihn nicht ab. Ganz offensichtlich sinkt seine Hemmschwelle.“ „Die Abstände zwischen den Taten werden ebenfalls kürzer“, fiel Leonie auf. „Ich fürchte, wir haben nicht mehr viel Zeit, bis er erneut zuschlägt“, pflichtete ich ihr bei.
Detektei Lessing
Band 47
Mord im Spiegel
1
Es war der Morgen eines ganz normalen Tages, irgendwo in einer Gymnasialklasse, wie es sie zu hunderten in unserem Land gibt. Nach und nach fanden sich die Schüler ein, begrüßten sich und erzählten von allerlei interessanten und auch langweiligen Begebenheiten. Die Lehrkraft verspätete sich wieder einmal, also, wie gesagt, alles ganz normal, oder doch nicht? So, wie das Gymnasium, waren auch die Klasse und die Schüler, die ihr Abi an diesem Ort nachmachen wollten, eben nicht so ganz normal. Die Schule, in der wir uns befinden, ist das Kolleg an der Wolfenbütteler Straße in Braunschweig.
Während mehrere Schüler in kleineren Gruppen zusammenstanden und miteinander schwatzten, saß Marina allein, abseits von ihnen. Sie versuchte nicht aufzufallen, sich unsichtbar zu machen. Sie spürte die unverhohlenen Blicke dreier Mädchen, die sich wie immer über sie lustig machten. Schließlich betrat Paul den Raum. Marina zitterte am gesamten Körper. Kalter Schweiß trat ihr auf die Stirn, als sie sah, wie ihm Kathi einen Umschlag reichte und er die darin enthaltenen Fotos wortlos betrachtete. Marina wurde schlecht, Tränen traten ihr in die Augen, suchten sich ihren Weg über das ungeschminkte Gesicht.
Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Kathi auch die restlichen Fotos aus dem Kuvert nahm und durch die Klasse reichte. Sie kannte die Aufnahmen und schämte sich dafür, trotzdem ertrug sie die darauffolgenden Reaktionen der Kollegiaten mit scheinbar stoischer Gelassenheit. Viel schwerer wog die Enttäuschung über Paul, der ihr Vertrauen so sehr missbraucht hatte. Als sie sah, wie er mit den anderen lachte, explodierten ihre Gefühle, ließen sich nicht länger kontrollieren, suchten nach einem Ventil, um dem ungeheuren Druck weiter standzuhalten. Vergeblich!
Sie sprang unvermittelt von ihrem Stuhl auf, lief auf eines der Fenster zu, öffnete es und stieg auf das geteerte Flachdach, welches sich davor befand. Sie spürte die Blicke, die ihr auf diesem Weg folgten. Sie hörte das Lachen ihrer Mitschüler und sie vernahm ihre herablassenden Worte, doch all dies drang nicht mehr zu ihr durch. Dieses Leben war es nicht mehr wert, weiter gelebt zu werden. So lange sie denken konnte, war sie nur für andere die Witzfigur. Verspottet und erniedrigt. Marina konnte nicht mehr und sie wollte nicht mehr.
Ihre Schritte in Richtung Dachkante wurden schneller. Sie drehte sich nicht mehr um, wollte einfach nur noch alles hinter sich lassen, diesem ungeliebten Leben und allem, was damit einherging entfliehen. So bemerkte sie nicht, wie ihr der Lateinlehrer auf das Dach folgte. Seine Zurufe verhalten von ihr ungehört. Unter ihr musste sich gerade Hitlers Kaminzimmer befinden. Welch merkwürdige Gedanken in diesem Moment Besitz von ihr ergriffen. Sie musste laufen und weit genug über die Dachkante springen, um nicht am Führerbalkon hängenzubleiben.
Ihre Schritte beschleunigten sich mehr und mehr. Keine zehn Meter mehr bis in die Freiheit. Sie rannte! Nur noch fünf Meter! Der Wind trocknete ihre Tränen. Ein wohliges Gefühl durchströmte ihren Körper. Vier! Sie sah auf die Baumkronen, die sich ein Stück weit vor ihr auftaten. Auf einmal erschien ihr alles so friedlich. Drei! Keiner der Kollegiaten an den Fenstern lachte, niemand grölte ihr nach, machte sich lustig über sie. In diesem Moment hatte sie ihre volle Aufmerksamkeit und vielleicht mischte sich unter ihr Entsetzen sogar so etwas wie Respekt.
Ein Meter! Wer auch immer erwartet oder gehofft hatte, dass Marina ihr Vorhaben abbrechen würde, wusste, dass es dafür zu spät war. Es war der Moment, in dem man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Die Kollegiaten sahen, wie Martin Bänder den Abstand zu Marina bis auf wenige Meter verkürzt hatte und doch war ihnen bewusst, dass er zu spät kommen würde. Es war der Moment, in dem sie alle den Atem anhielten. Der Moment, in dem es kein Zurück mehr geben würde.
Für Marina war es der Moment, in dem sie in die Freiheit sprang. Sie schien leicht wie ein Vogel, ohne jegliche Last, befreit von allen Zwängen, einfach nur sie selbst. Ihr letzter Gedanke gehörte ihrer Mutter, die immer für sie dagewesen war. Schon seit langem hatte sie ihr nichts mehr von ihren Problemen erzählt, weil sie wollte, dass sich Sara ein neues Glück suchte. Viel zu lange hatte die Heilpraktikerin ihr eigenes Leben für sie zurückgestellt. Sie würde über ihren Tod hinwegkommen und einen Mann finden, mit dem sie glücklich werden konnte. Der letzte Gedanke riss ab, ergoss sich in einem Meer der Ruhe. Kein Schmerz, nur die friedliche Stille des Todes.
2
Nur wenige Minuten nach dem schrecklichen Ereignis traf der erste Streifenwagen und kurz darauf ein Rettungswagen am Ort des Geschehens ein. Während Polizeimeister Gimpel und Polizeiobermeisterin Sprengel das Gelände vor dem Führerbalkon weiträumig absperrten, stellte der Notarzt den Tod der jungen Frau fest. Jenseits des gespannten Trassierbands standen dutzende fassungsloser Schüler, die nach einer Erklärung für den Suizid suchten. Lateinlehrer Martin Bänder stand unter Schock. Er saß auf der angrenzenden Wiese und lehnte mit dem Rücken an einem der Bäume. Auch die beiden jungen Männer, denen Marina quasi vor die Füße gestürzt war, hatten einen schweren Schock erlitten und mussten im Rettungswagen behandelt werden.
„Mordkommission, mein Name ist Wurzer“, stellte sich der Beamte mit gezücktem Dienstausweis vor. „Die junge Frau neben mir ist Kommissarin Hoffmeister.“ Die Stirn der Schulleiterin krauste sich. „Mordkommission?“ „Wir waren ganz in der Nähe“, erklärte Gesine Hoffmeister. „Gibt es Zeugen?“, erkundigte sich Wurzer. Thea Strempel seufzte. „Leider mehr als genug.“ Sie deutete auf eine Traube von jungen Leuten, die sich in der Nähe des Lateinlehrers aufhielten. „Soviel ich inzwischen weiß, kletterte sie unmittelbar vor Unterrichtsbeginn aus dem Fenster des Klassenraumes auf das Dach“, erklärte die Schulleiterin und deutete nach oben. „Wurden die Angehörigen schon informiert?“, erkundigte sich Gesine Hoffmeister. „Ich dachte, das machen Sie“, wirkte Thea Strempel verunsichert. „So bald uns die näheren Umstände bekannt sind, kümmern wir uns darum“, bestätigte die Ermittlerin.
„Ist Ihnen der Grund für den vermeintlichen Selbstmord bekannt?“, hakte der Kommissar nach. Thea Strempel schüttelte wortlos den Kopf. „Gibt es hier einen Raum, in dem wir die Zeugen in Ruhe befragen können?“ „Jetzt gleich?“ „Je eher desto besser.“
Kurz darauf saß den Ermittlern der Lateinlehrer gegenüber. „Fühlen Sie sich in der Lage, uns einige Fragen zu beantworten?“ erkundigte sich der Leiter der Ermittlungen kurz darauf im Büro der Direktorin. Martin Bänder nickte, immer noch ganz unter dem Einfluss der Ereignisse stehend. „Sie waren mit Frau Maurer allein auf dem Dach?“ „Ja, ich kam erst in den Klassenraum, als Marina schon auf dem Dach war“, erklärte der Lehrer. „Die Kollegiaten standen an den Fenstern und sahen zu ihr hinaus.“ „Weshalb unternahmen die Schüler nichts, um ihre Mitschülerin von ihrem Vorhaben abzubringen?“, erkundigte sich die Kommissarin. „Das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen“, entgegnete Bänder wider besseres Wissen.
„Sie sind der Schülerin also auf das Dach gefolgt“, nahm der Hauptkommissar den Faden wieder auf. „Das bin ich. Marina reagierte allerdings nicht auf meine Zurufe. Es war, als stünde sie unter Drogen.“ Jürgen Wurzer stutzte. „Gibt es einen Anhaltspunkt dafür, dass es so gewesen sein könnte?“ „Wie? Ach so, nein, um Himmels Willen, das war nur ein Vergleich. Ich hätte ebenso gut sagen können, dass sie taub gewesen war.“ „Ich verstehe. Aber wo Sie das Thema schon mal ins Spiel gebracht haben, gibt es hier am Kolleg ein Drogenproblem?“ Martin Bänder reagierte verunsichert. „Nicht dass ich wüsste.“
„Sie folgten Frau Maurer also auf das Dach und liefen ihr nach“, bemühte sich die Kommissarin um die Rekonstruktion der letzten Sekunden im Leben des Opfers. „Ja sicher, ich versuchte sie einzuholen, aber der Abstand zu Marina war bereits zu groß. Wenige Meter vor der Kante beschleunigte sie noch einmal.“ Der Lateinlehrer schüttelte den Kopf und stieß einen tiefen Seufzer aus. „Das Mädel wollte sterben, so viel steht fest.“ „Machen Sie sich bitte keine Vorwürfe“, tröstete ihn Gesine Hoffmeister. „Sie konnten es nicht verhindern.“
„Was können Sie uns sonst zu der jungen Frau sagen?“, lenkte Hauptkommissar Wurzer die Befragung auf die Persönlichkeit des Opfers. „Tja, was soll ich sagen? Marina gehörte nicht zu den beliebtesten Kollegiaten. Sie war eher distanziert und in sich gekehrt. Sie hatte meines Wissens keine Freunde in der Klasse. Eine Einzelgängerin halt.“ „Wie waren ihre schulischen Leistungen?“, hakte der Ermittler nach. „Nicht herausragend, aber gut. Sie hatte, soviel mir bekannt ist, in keinem ihrer Belegfächer Probleme.“
„Ist Ihnen etwas zum häuslichen Umfeld der Toten bekannt?“, wollte Kommissarin Hoffmeister von dem Befragten wissen. „Nein, da kann ich Ihnen nun wirklich nichts zu sagen. Was mir auffiel, war höchstens Marinas einfache, aber stets saubere Garderobe.“ „Sie trug also, anders als andere, keine Markenklamotten“, fasste der Hauptkommissar zusammen. „Bänder nickte zustimmend. „Kann schon sein, dass sie von den Mitkollegiaten auch deswegen geschnitten wurde.“ Gesine Hoffmeister schüttelte verständnislos den Kopf. „Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst?“
Im Gesicht des Pädagogen zeichnete sich so etwas wie Resignation ab. „Ich ergriff diesen Beruf einmal, um junge Menschen auf das Leben vorzubereiten, inzwischen geht es nur noch darum, ihnen möglichst viel Wissen zu vermitteln. Was das Sozialverhalten angeht, habe ich nicht selten das Gefühl, dass es sich bei einem großen Teil der Kollegiaten um Grundschüler handelt und nicht um Personen, die volljährige Erwachsene sind.“ „Ein hartes Urteil“, entgegnete Gesine Hoffmeister. „Glauben Sie mir, es wird von Jahr zu Jahr schlimmer.“
Die Stimme des Lateinlehrers klang wie die eines erschütterten Mannes, der kurz davor war, alles hinzuschmeißen. Der Tod seiner Schülerin hatte Martin Bänder hart getroffen. Inwieweit seine Worte dem Schock zuzuschreiben waren, unter dem er ganz sicher noch stand, lässt sich nur erahnen. Der Hauptkommissar fragte sich, ob der Suizid der jungen Frau allein in ihrem schlechten Verhältnis zu ihren Mitkollegiaten begründet war, oder ob viel mehr dahintersteckte.
„Das wäre es dann fürs Erste, Herr Bänder“, brach Hauptkommissar Wurzer die Befragung an dieser Stelle ab. „Seien Sie doch bitte so nett und schicken sie uns Frau Blank herein.“ „Ehrlich gesagt verstehe ich das Ganze hier nicht. Der Suizid ist doch unstrittig, oder nicht?“ „Im Prinzip ja“, stimmte ihm die Kommissarin zu. „Es gibt allerdings einige Begleitumstände, die wir gern aufklären möchten.“ Der Lateinlehrer zuckte mit den Achseln. „Ich schicke Ihnen Frau Blank rein.“
„Ein merkwürdiger Typ“, fasste Jogi zusammen. „Einerseits geht ihm der Tod seiner Schülerin sehr nahe, andererseits ist er nicht gerade gesprächig, wenn es um die Ursachenforschung geht.“ „Er will seine Schüler offensichtlich in kein schlechtes Licht rücken“, versuchte ihn Gesine zu verstehen. „So tragisch der Tod der jungen Frau auch sein mag“, seufzte der Hauptkommissar, „...letztlich ist sie für ihren Suizid allein verantwortlich.“ „Dann könnten wir uns weitere Befragungen sparen.“
„Sie unterrichten in der Klasse Französisch und Naturwissenschaft“, las die Kommissarin von ihrem Notizblock ab. Die schlanke Frau mit den hochgesteckten Haaren nickte ihr eifrig zu. „Haben Sie eine Erklärung für den Suizid von Frau Mauer?“, brachte es der Ermittler auf den Punkt. „Wieso ich?“, entgegnete Frau Blank verschreckt. „Was ist daran so abwegig? Die Tote war eine Ihrer Schülerinnen“, unterstrich der Hauptkommissar seine Frage. „Dazu kann ich nichts sagen“, reagierte sie hektisch. „Marina ließ eigentlich niemanden an sich heran.“ „Was meinen Sie mit eigentlich?“, hakte Wurzer nach. „Nichts! Kann ich jetzt gehen?“
Sie sprang auf, ohne die Antwort der Kommissare abzuwarten. „Ich kann Ihnen nicht weiterhelfen.“ „Marina soll in der Klasse nicht sonderlich beliebt gewesen sein“, ignorierte Gesine Hoffmeister die Hektik, unter der die Lehrerin offensichtlich stand. „Das bin ich auch nicht“, entgegnete sie zynisch. „Bringe ich mich deswegen gleich um? Na ist doch so, oder?“ Die Ermittler sahen sich vielsagend an. „Bitte schicken Sie uns Frau Küster herein.“ „Soviel ich weiß, ist die schon wieder im Unterricht“, erklärte Frau Blank. „Das darf doch wohl nicht wahr sein“, reagierte Hauptkommissar Wurzer gereizt, als er auf den Gang hinaustrat und dort keine weiteren Zeugen mehr vorfand.
„Was sollten wir machen? Nachdem wir die Personalien festgestellt hatten, wollten alle nur noch weg“, rechtfertigte sich Polizeiobermeisterin Sprengel. „Wir konnten die Leute ja nicht gegen ihren Willen hier festhalten.“ „Jeder einzelne von denen bekommt eine Vorladung ins Präsidium“, wetterte der Hauptkommissar. „Das wollen wir doch mal sehen.“
„Zumindest haben wir jetzt genug Zeit, um die Familie von Marina Maurer zu informieren“, erinnerte die Kommissarin ihren Dienstpartner. „Ich hätte nichts dagegen, wenn du das allein machen würdest, Gesine. Du weißt ja, wie schwer ich mich mit so etwas immer tue.“ „Sorry Chef, im Normalfall übernehme ich das ja schon mal, aber hier geht es um Selbstmord.“ „Also gut, dann sollten wir diesen Gang hinter uns bringen.“
Eine knappe halbe Stunde später drückte Gesine Hoffmeister ihren Daumen auf den Klingelknopf unter dem Namen von Sara Maurer, die in ihrem Haus eine Praxis betrieb. Ein Summton forderte die Ermittler auf das Grundstück zu betreten. Es dauerte einige Minuten, ehe sich die Haustür vor ihnen öffnete. „Zur Praxis geht es hinten herum“, erklärte die Heilpraktikerin und schloss die Tür.
Die Ermittler sahen sich verblüfft an, ehe Wurzer erneut klingelte. „Wir wollen nicht zur Praxis“, stellte er klar, nachdem sie die Haustür ein weiteres Mal öffnete. „Hauptkommissar Wurzer, meine Kollegin Hoffmeister. Wir würden gern mit Ihnen sprechen.“ „Polizei? Habe ich was ausgefressen?“, lächelte Sara Maurer, während sie die Ermittler in ihr Haus bat. „Ich wünschte, es wäre so“, seufzte der Hauptkommissar. „Das hört sich aber dramatisch an“, verstand sie noch nicht den Ernst der Lage. „Nehmen Sie doch bitte Platz. Kann ich Ihnen etwas anbieten?“ „Danke, aber Sie sollten sich besser zu uns setzen.“
Ihre Gesichtsfarbe änderte sich in dem Moment, in dem sie begriff, dass etwas Schlimmes geschehen war. „Ist meiner Tochter etwas zugestoßen? Hatte Marina einen Unfall?“ „Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass ihre Tochter heute Vormittag im Kolleg verstarb.“ „Das kann doch nicht sein. Sie müssen sich irren!“ „Leider nicht“, entgegnete die Kommissarin. „Die Identität Ihrer Tochter wurde zweifelsfrei festgestellt.“
„Wie? Wie ist das passiert?“ „Es tut uns sehr leid, Frau Maurer, Ihre Tochter setzte ihrem Leben leider selbst ein Ende“, entgegnete Jürgen Wurzer mit einem dicken Kloß im Hals. Die Mutter der Toten schüttelte entsetzt den Kopf. „Das kann doch alles nicht wahr sein. Weshalb sollte sie sich das Leben nehmen?“ „Offensichtlich haben Sie keine Erklärung dafür“, schlussfolgerte Hauptkommissar Wurzer aus ihrer Reaktion. „Ich verstehe nicht, weshalb sie mir nichts von ihren Problemen sagte. Wir sprachen doch sonst über alles.“
Dicke Tränen kullerten über das Gesicht der Heilpraktikerin. „Wir haben doch sonst immer alles gemeinsam gemeistert.“ Nach und nach realisierte sie das Unfassbare. „Wo ist sie jetzt?“ „Bei der Rechtsmedizin“, entgegnete der Hauptkommissar. „Aber ich will nicht, dass Marina aufgeschnitten wird“, überschlug sich die Stimme der Mutter. „Da Ihre Tochter keines natürlichen Todes starb, sieht das Gesetz zwingend eine Obduktion vor“, erklärte Gesine Hoffmeister. „Wir informieren Sie, sobald der Leichnam Ihrer Tochter für die Beerdigung freigegeben wurde.“ „Musste sie leiden?“ „Nach allem, was uns bislang bekannt ist, war sie sofort tot.“ Sara Maurer versuchte stark zu sein. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und holte tief Luft. „Wie hat sie sich...?“ „Sie sprang vom Dach ihrer Schule.“
„Gibt es jemanden, der sich um Sie kümmern würde?“, erkundigte sich die Kommissarin, „Nein, aber ich komme schon klar.“ „Wir können einen Seelsorger oder jemanden vom psychologischen Dienst für Sie anrufen.“ „Ich glaube, ich wäre jetzt einfach nur gern allein.“ Hauptkommissar Wurzer legte seine Visitenkarte auf den Tisch. „Zögern Sie nicht, falls Sie Hilfe brauchen.“ Sara Maurer nickte ihm dankbar zu. „Vielen Dank.“ Als die Ermittler das Haus verließen, hatten sie Bedenken, da weitere Hilfe von der Frau jedoch abgelehnt wurde, waren sie machtlos.
3
Auch Tage nach dem schrecklichen Suizid der jungen Frau waren Gesine Hoffmeister und ihr Dienstpartner mit dem Fall beschäftigt. Da sich bei der Obduktion keinerlei Anhaltspunkte für einen unnatürlichen Tod durch Drogenkonsum oder einen Medikamentenmissbrauch ergab, war der Fall zwar rechtlich gesehen abgeschlossen, doch was die moralische Schuld ihrer Mitschüler betraf, wollten die Ermittler den Fall nicht einfach zu den Akten legen.
An diesem herrlichen Sommermorgen hatten sie sich auf den Weg zum Hauptfriedhof, unweit der Wolfenbütteler Polizeidienststelle an der ‚Lindener Straße‘ gemacht. Es war ihnen ein persönliches Bedürfnis, Sara Maurer durch ihre Teilnahme ihr Mitgefühl auszudrücken. Während der Andacht und bei der abschließenden Beisetzung hielten sie sich im Hintergrund. Sie sahen, wie sich Lehrer und Kollegiaten von ihr verabschiedeten.
Sara Maurer trat tapfer an das Grab ihrer Tochter, ließ eine weiße Rose auf den Sarg fallen und schloss für einen Moment die Augen. Sie bewegte ihre Lippen, als würde sie nur für Marina ein Gebet sprechen. Als sie ihre Augen öffnete, waren sie von hunderten Tränen gerötet. Sie nahm allein Abschied, weil sie den Vater ihrer Tochter nicht erreichen konnte und es auch sonst niemanden gab, der ihr Trost hätte spenden können. All die anderen, mit denen Marina ihr kurzes Leben teilte und die nun möglicherweise so wie sie vor ihrem Grab standen, waren nicht mehr als Statisten.
Keiner unter ihnen stand ihr nahe, keiner von ihnen liebte Marina auch nur ansatzweise so sehr wie sie. Niemals hatte sich ihre Tochter beklagt, ihr von dem Leid erzählt, welches ihr offenbar zugefügt worden war. Und doch muss es unter diesen Statisten jemanden gegeben haben, der ihr das Leben zur Hölle gemacht hatte.
Sie sah jedem, der vor das Grab ihrer Tochter trat, ins Gesicht und tief in die Augen. Nur wenige hielten diesem Blick stand. Sie waren nach Saras Verständnis ohne Seele, aber waren sie auch für den Tod ihrer Tochter verantwortlich? Immer wieder wurde sie von diesen Gesichtern aus dem Schlaf gerissen. Immer wieder erschienen ihr die Augen ihres Kindes und sie sah die Verzweiflung darin. Zunächst nur während der Nacht und in ihren Träumen, Wochen später auch am Tag, wann immer sie in einen Spiegel sah.
„Wir kommen beide nicht zur Ruhe“, resümierte sie irgendwann. „Und ich weiß, was der Grund dafür ist, aber wirst du wirklich loslassen können, wenn die Schuld getilgt ist?“ Sara hoffte auf eine Antwort ihrer Tochter, doch es blieb bei dem stummen Spiegelbild, welches sie in dem ihren zu sehen glaubte. „Sie standen vor deinem Sarg und sahen dir nach. In ihren Augen war weder Reue noch Scham und doch weiß ich nicht, ob sie der Grund für deinen Entschluss waren.“
Sara atmete schwer. Sie spürte die Kraft, mit der Marina sie beeinflussen wollte. „Hättest du doch wenigstens einmal mit mir gesprochen, mir von deinen Peinigern erzählt, dann könnte ich sie heute zumindest zur Rechenschaft ziehen.“ Sara hatte kaum ausgesprochen, als die Klingel zu ihrer Praxis ertönte. Nachdem sie die Tür geöffnet hatte, sah sie in das schmerzverzerrte Gesicht eines gutaussehenden Mannes.
„Entschuldigen Sie bitte meinen Überfall. Ich habe leider keinen Termin und ich war auch noch nie in Ihrer Praxis, aber seit einiger Zeit leide ich immer wieder unter einem heftigen Hexenschuss.“ „Sie können ja kaum stehen, guter Mann. Kommen Sie doch erst mal herein.“ Ich bedankte mich und kam ihrer Aufforderung dankbar nach. „Nach der Spritze von meinem Hausarzt geht es mir zwar jedes Mal besser, aber nach ein paar Wochen geht’s wieder von vorne los“, jammerte ich. „Ich brauche eine Lösung für das Problem. In meinem Beruf kann ich mir so was nicht leisten.“
Die Heilpraktikerin sah mich fragend an. „Ich bin Detektiv. Mein Name ist Lessing.“ Meine Antwort löste eine gewisse Zustimmung in ihr aus. Ich bemerkte eine rege Aktivität hinter ihrer Stirn. „Das trifft sich gut, ich hätte da einen Job für Sie.“ „Wie gesagt, dazu müsste ich erst wieder fit sein.“ „Keine Angst, Sie sind beileibe nicht der oder die Erste, den ich von seiner Lumbago erlöst habe“, versprach sie, während sie den Schlüssel im Schloss ihres Medikamentenschranks drehte.
„Na dann lassen Sie mal die Hose fallen“, bat sie mit einer Spritze in der Hand. „Damit hat es mein Hausarzt auch schon probiert“, entgegnete ich enttäuscht. „Wobei Ihr Hausarzt sicherlich einen anderen Wirkstoff verwendete“, ließ sie sich nicht vom Erfolg ihrer Behandlung abbringen. „Was ist da drinnen?“, erkundigte ich mich, während sich die Nadel in mein Muskelgewebe bohrte. „Eine Spezialmischung von mir“, erklärte sie. „Der Hauptbestandteil besteht aus Schlangengift.“
„Ich überlege gerade, ob es nicht besser ist, wenn ich wieder zu meinem Hausarzt gehe.“ „Zu spät, die Spritze ist leer“, entgegnete sie emotionslos. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass der Wirkstoff hilft. Leider konnte es mir bislang kein Patient bestätigen.“ Meine kleinen grauen Zellen ratterten munter durcheinander. „Wieso nicht?“ „Bis jetzt kam keiner von ihnen wieder.“ „Weil sie am Gift gestorben waren?“ Die Heilpraktikerin zuckte mit den Achseln. „...oder weil sie nie wieder von der Hexe geschossen wurden?“
Es sind Momente wie dieser, in denen ich anderen immer wieder auf den Leim gehe. Wahrscheinlich fehlt mir dieser besondere schwarze Humor. Fakt ist, dass es mir schon nach kurzer Zeit erheblich besser ging.
„Vielleicht können wir die Kosten für meine Behandlung mit den Kosten für Ihre Recherchen verrechnen?“, schlug sie vor. „Dazu müsste ich zunächst wissen, um was es eigentlich geht.“ „Ich weiß gar nicht so recht, wo ich anfangen soll“, seufzte sie. „Meine Tochter verstarb vor etwa drei Wochen.“ „Das tut mir sehr leid.“ „Marina sprang vom Dach ihrer Schule.“ Ich horchte auf. „Geht es um das Kolleg in Braunschweig?“ Jogi hatte mir bei unserem letzten Treffen davon erzählt. „Woher wissen Sie das?“ „In meinem Beruf sollte man stets gut informiert sein.“
„Ich will wissen, warum sie sich das Leben nahm. Wer oder was trieb sie dazu? Ich will verstehen, weshalb sie es tat.“ Nur wer sich selbst in einer vergleichbaren Situation befunden hatte, kann nachempfinden, was in einer Mutter vor sich geht, die auf eine solch schreckliche Weise ihr Kind verlor. Mir war klar, dass sich diese Frau für den Rest ihres Lebens die Schuld an dieser Tragödie geben würde. Auch meinem besten Freund und ehemaligen Dienstpartner bei der Braunschweiger Kripo hatte der Suizid der jungen Frau gehörig zugesetzt.
„Übernehmen Sie den Fall, Herr Lessing?“ „Mir bleibt ja gar keine andere Wahl, wenn ich wissen will, ob die anderen Patienten den Giftcocktail überlebt haben.“ „Sehr schön“, freute sich Frau Maurer. „Wann können Sie loslegen?“ „Sobald ich wieder fit bin und wir uns über die Modalitäten und mein Honorar geeinigt haben.“ „Das sollte kein Hindernis sein.“
Kurz darauf erzählte mir meine Klientin von ihrer Tochter. „Marina war ein tolles Mädchen. Sie versuchte mir niemals Kummer zu machen und all ihre Probleme selber zu lösen. Sie war noch sehr klein, als uns ihr Vater verließ. Von dem Tag an waren wir auf uns allein gestellt. Sie beklagte sich niemals. Auch dann nicht, wenn ich sie wegen der vielen Arbeit vernachlässigen musste oder wenn das Geld so knapp war, dass sie nicht mit auf Klassenfahrt gehen konnte.“
„Sie hatten offensichtlich eine sehr intensive Verbindung zueinander“, sinnierte ich. „Glauben Sie mir, Herr Lessing, eine Mutter könnte sich keine bessere Tochter wünschen.“ „Was genau versprechen Sie sich von meinen Ermittlungen?“ „Auch wenn Marina nichts sagte, spürte ich seit einiger Zeit, dass es da etwas gab, was sie negativ aufwühlte. Als ich sie darauf ansprach, reagierte sie mit Ausflüchten. Das tat sie, wenn sie davon überzeugt war, die Dinge allein ins rechte Licht rücken zu können.“ „Ich nehme an, Sie haben keine Idee, um was es sich dabei gehandelt haben könnte“, hakte ich nach. „Leider nein.“
„Haben Sie schon mit den Freunden Ihrer Tochter gesprochen?“ Meine Auftraggeberin sah mich betroffen an. „Marina hatte keine Freunde.“ Ich reagierte irritiert. „Oder Bekannte.“ „Da gab es niemanden. Sie war eine absolute Einzelgängerin. Während ihrer Zeit in der Realschule gab es einige Menschen, die ihr sehr weh getan haben. Ich glaube, meine Tochter hatte einfach Angst vor weiteren Enttäuschungen.“ „Das ist sehr traurig“, seufzte ich.
„Ich möchte wissen, ob es da wieder jemanden gab, der auf Marinas Kosten seinen Spaß suchte.“ „Sie denken an Mobbing“, schlussfolgerte ich. Die Heilpraktikerin nickte mir zu. „Ich muss einfach wissen, ob man meinem Kind übel mitspielte oder ob ich als Mutter versagt habe.“ Ich versuchte mich in ihre Lage zu versetzen und stellte mir vor, dass es jemanden gab, der Ramona etwas Böses wollte. Der Gedanke daran, dass man mein Kind zu einer solchen Verzweiflungstat getrieben würde, war mir unerträglich.
„Ich werde alles tun, was erforderlich ist, um Ihnen die nötige Klarheit zu verschaffen“, versprach ich entschlossen. „Es wird sicherlich nicht einfach werden“, bekundete meine Klientin. „Ich sprach deswegen schon mit dem Kommissar, der wegen Marinas Tod ermittelte. Lehrer und Schüler halten sich sehr bedeckt.“ „Ich habe da schon eine Idee, wie ich an die entsprechenden Informationen komme“, versprühte ich Hoffnung.
„Wenn es Ihnen recht ist, komme ich heute im Laufe des Nachmittags noch einmal mit einer Mitarbeiterin vorbei, um mir das Zimmer Ihrer Tochter genauer anzusehen. Marina hat doch noch in Ihrem Hause gelebt, oder?“ „Ja natürlich.“ „Es ist oftmals so, dass es im privaten Umfeld erste Hinweise auf mögliche Ursachen gibt. Da meine Mitarbeiterin etwa im selben Alter wie Ihre Tochter ist, hat sie noch mal einen anderen Blick auf eventuell vorhandene Hinweise Ihrer Tochter.“
„Das leuchtet ein“, nickte sie mir anerkennend zu. „Ich denke, Sie sind Ihr Geld wert.“ „Das hoffe ich doch“, entgegnete ich mit einem milden Lächeln. „Was ist denn eigentlich mit Ihrem Hexenschuss?“ „Jetzt, wo Sie es sagen...“ Ich bewegte vorsichtig meinen Rücken. „Im Moment spüre ich keinen Schmerz.“ „Dann scheint mein Giftcocktail ja schon etwas zu bewirken“, lächelte sie zufrieden zurück.
4
„Es gibt gute Neuigkeiten, mein Schatz“, trat Sara vor den Spiegel, in dem sie zuvor ihre Tochter zu sehen glaubte. „Ich habe einen Detektiv engagiert. Er wird herausfinden, wer dir das angetan hat.“ Doch entgegen ihrer Hoffnung blieb, abgesehen von ihrem eigenen Abbild, der Spiegel leer. „Ich verspreche dir dafür zu sorgen, dass dein Tod nicht ungesühnt bleibt, aber bitte gib mir etwas Zeit.“ Doch auch jetzt zeigte sich ihre Tochter nicht, was Sara fast verzweifeln ließ.
Sie legte ihre flachen Hände flehentlich auf das Glas und rutschte daran in die Knie und auf den Boden. „Ich weiß, dass ich nicht für dich da war, als du mich am meisten brauchtest und ich schäme mich so sehr dafür, dass ich es nicht in Worte fassen kann, aber gib mir nun wenigstens die Chance herauszufinden, was eigentlich geschah.“ „Gib dir keine Schuld, Mutter“, vernahm sie plötzlich Marinas Stimme. Als sie aufblickte und in den Spiegel sah, erkannte sie darin das Antlitz ihrer Tochter. „Du kannst nichts für das, was sie mir antaten und du hättest eben so wenig etwas daran ändern können,“ hörte Sara ihre tröstenden Worte.
Sie trocknete ihre Tränen während sie sich wieder aufrichtete und sanft über das Trugbild ihrer Tochter strich. „Du gibst mir keine Schuld?“ „Wie könnte ich?“ Damit verblasste ihr Antlitz und Saras Spiegelbild wurde wieder sichtbar.
5
„Wir haben einen neuen Fall, Mädels“, verblüffte ich meine Mitarbeiterinnen nach der Rückkehr in meine Detektei. „Ich dachte, Sie wollten sich wegen Ihrer Rückenschmerzen behandeln lassen“, fragte Trude erstaunt. „Genau das habe ich auch. Wir ermitteln für die Heilpraktikerin“, erklärte ich schmunzelnd. „Sie sind unverbesserlich, Chef.“ „Das weiß ich, Trude.“
„Hauptsache Sie haben unsere anderen Fälle nicht vergessen“, mahnte sie. Ich winkte ab. „Das schaffen Sie und Axel auch ohne mich. Letztlich geht es ja nur noch darum, den Angestellten unseres Klienten beim Abtransport des Diebesguts zu überwachen und im richtigen Moment die Polizei hinzuzuziehen.“ „Wenn Sie das sagen, hört es sich so einfach an“, seufzte die gute Seele meiner Detektei. „Ich könnte Axel doch dabei unterstützen“, bot sich Leonie an. „Daraus wird leider nichts, weil ich dich für unseren neuen Fall brauche.“
Über das Gesicht meiner Azubine legte sich ein Hauch von Verwunderung. „Ab morgen früh bist du im Undercover Einsatz.“ Aus dem Erstaunen wurde eine handfeste Überraschung, als ich ihr eröffnete, wo sie für einige Tage ihr Abitur nachmachen sollte. „Ach du Schei...benkleister.“ „Es geht um einen Suizid, den vor kurzem eine junge Frau in deinem Alter im Kolleg an der Wolfenbütteler Straße begann. Wir sollen herausfinden, was der Grund dafür war.“
Leonies Stirn krauste sich. „Aber wie soll das gehen? Ich kann ja nicht einfach in die Schule spazieren und ‚hallo hier bin ich‘ sagen.“ „Wozu habe ich zwei so gute IT-Spezialistinnen? Am besten schreibst du dir eine Legende, in der du aus wichtigen privaten Gründen von Kassel nach Braunschweig umgezogen bist und nun im Kolleg bla...bla...bla“, schlug ich vor. „Trude wird sicher eine Möglichkeit finden, wie sich die Anmeldung im Computer des Kollegs unterbringen lässt.“ Die Züge im Gesicht meiner Azubine entspannten sich. „Ich gehe davon aus, dass Sie mir die Einzelheiten noch mitteilen werden.“ „Die werden wir heute Nachmittag erst noch sammeln müssen. Um 14 Uhr ist Abfahrt. Sieh zu, dass du bis dahin fertig bist.“
Da die Damen nun erst einmal beschäftigt waren, konnte ich meinen Freund Jürgen Wurzer anrufen. „Du wirst es nicht glauben,“ überfiel ich ihn. „Wenn ich deine Stimme höre, gibt es nichts, was ich mir nicht vorstellen könnte“, erwiderte er ironisch. „Du hast mir doch kürzlich von der jungen Frau erzählt, die sich vom Dach des Kollegs in den Tod stürzte.“ „Ja und?“ „Ich soll für die Mutter herausfinden, ob und wenn von wem ihre Tochter gemobbt wurde.“ „Also ganz ehrlich, um diesen Fall beneide ich dich nicht.“
„Ich habe gehofft, dass du mir etwas mehr zum Suizid der jungen Frau sagen kannst.“ „Und ich hatte gehofft, dass du mich nicht dazu fragen würdest“, entgegnete der Hauptkommissar. „Viel kann ich dir ohnehin nicht dazu sagen. Weder die Lehrer noch die befragten Kollegiaten wollten so richtig raus mit der Sprache.“ „Hattet ihr denn das Gefühl, euch würde etwas verschwiegen?“, hakte ich nach. „Ehrlich gesagt, lag da schon noch irgendetwas im Dunkeln, aber das es so krass war, um das Mädchen in den Suizid zu treiben, kann ich mir nicht vorstellen. Abgesehen davon hing mir der Staatsanwalt im Nacken.“
Ich war lange genug mit meinem Dienstpartner im Einsatz, um zu wissen, wie es läuft. Bestand keine Aussicht auf einen schnellen Ermittlungserfolg, wurden weitere Nachforschungen eingestellt, um keine finanziellen Ressourcen zu verschwenden. Dies hatte nicht selten zur Folge, dass auch schon mal vielversprechende Ansätze auf der Strecke blieben.
Nachdem ich das Gespräch mit meinem Freund beendet hatte und meine Mitarbeiterinnen nach wie vor beschäftigt waren, ging ich erst einmal zu Tisch. Zu meiner Überraschung spürte ich nach wie vor keine Schmerzen im Rücken. Sollte das Schlangenserum tatsächlich halten, was mir die Heilpraktikerin versprochen hatte? Wie auch immer, ich genoss den Moment und war gespannt, wie lange er anhalten würde.
Wann immer es möglich war, versuchten Miriam und ich das Mittagessen gemeinsam mit Ramona einzunehmen. Dabei achteten wir auf eine gesunde und abwechslungsreiche Ernährung, die Miriam nach vorheriger Absprache fertig aus der Stadt mitbrachte.
Unser Kindermädchen kam zwar prima mit Ramona klar, aber mit dem Kochen hatte sie es leider nicht so. „Wie ich sehe, habt ihr ja bereits den Tisch gedeckt“, lobte ich Tanja und meine Tochter. Während ich den beiden dabei zusah, wie sie noch schnell einige Spielsachen wegräumten, dachte ich an die Zeit, die wie im Flug vergangen war. Gestern noch lief sie mit ihren Windeln durch die Wohnung, heute erzählte sie mir von dem, was sie mit Tanja spielte und morgen würde sie in den Kindergarten kommen. An übermorgen wollte ich noch gar nicht denken, denn dann würde schon der Ernst des Lebens für sie beginnen und die unbeschwerten Jahre der Kindheit waren vorbei.
„Hast du für morgen Vormittag einen wichtigen Termin?“, erkundigte sich Miriam abwartend bei mir. „Ich habe einen neuen Fall, aber weshalb fragst du?“ „Richter Dobelin hat für morgen einen weiteren Verhandlungstag angesetzt. Eigentlich völlig überflüssig, aber du weißt ja, wie penetrant er sein kann. Auf jeden Fall hat er damit meine ganze Planung über den Haufen geworfen.“ Es war offensichtlich, dass Miriam auf etwas ganz Bestimmtes hinauswollte. Die Frage war nur, was ich wieder vergessen hatte.
Miriam sah mir meine Unsicherheit sofort an. „Du hast keine Ahnung, von was ich gerade spreche, nicht wahr?“ Ich verzog das Gesicht. „Na ja, so würde ich es nun auch nicht ausdrücken, aber im Prinzip hast du schon nicht Unrecht.“ Miriam schüttelte den Kopf. Ich war froh, dass ich ihre Gedanken nicht lesen konnte. „Morgen Vormittag haben wir mit Ramona einen U7 Termin beim Kinderarzt.“ „Mach dir keinen Kopf, mein Schatz. Ich werde mit ihr dahingehen. Tanja ist ja auch dabei.“
Unser Kindermädchen sah Miriam fragend an. „Da musst du leider allein durch“, verkündete meine Liebste. „Da ich mich morgen selber um Ramona kümmern wollte, gab ich Tanja frei.“ „Na prima“, seufzte ich Ungemach erahnend. „Ach, das macht nichts, unsere Tochter und ich werden auch allein zurechtkommen, nicht wahr, mein kleiner Schatz?“ Weshalb unser Töchterchen ausgerechnet in diesem Augenblick zu plärren begann bleibt ihr Geheimnis. „Ich weiß nicht so recht“, sah Miriam dem Unterfangen weniger euphorisch entgegen. „Mach dir keine Sorgen, wir rocken das Ding schon.“
6
Pünktlich um 14 Uhr standen Leonie und ich, wie mit meiner Auftraggeberin verabredet, vor ihrer Haustür. „Kommen Sie bitte herein“, forderte sie uns auf. Marinas Zimmer sind oben rechts“, erklärte sie. „Ich nehme an, Sie kommen alleine klar. Ich habe noch einen Patienten in meiner Praxis.“ „Kein Problem, lassen Sie sich ruhig Zeit. Meine Mitarbeiterin und ich sehen uns in der Zwischenzeit etwas um.“
„Auf was soll ich achten?“, erkundigte sich meine Azubine, als wir über die offene Marmortreppe nach oben stiegen. „Zunächst packst du ihre Bücher und all das zusammen, was du für den Unterricht brauchst“, instruierte ich sie. „Ich muss zwar noch klären, ob wir die Sachen verwenden dürfen, aber wenn ich Frau Maurer erkläre, was wir damit vorhaben, wird sie sicher nichts dagegen haben.“
Während Leonie die erforderlichen Schulsachen zusammenpackte, durchstöberte ich Schubladen, Schrankfächer und Regale nach Hinweisen auf die Vorbereitung ihres Suizids. Wenn sie sich nicht spontan dazu entschlossen hatte, konnte es irgendwo Informationen geben, die wiederum auf einen oder mehrere Gründe deuteten. Notizen oder ein Tagebuch wären ein Glücksfall. Von Jogi wusste ich, dass die Auswertung ihres Handys in dieser Hinsicht ergebnislos geblieben war. Was blieb, waren ein Laptop und ein Netbook, welche von der jungen Frau zu Studienzwecken genutzt wurde. Mein Augenmerk richtete sich folglich auch auf Datenspeicher jeglicher Art. Da sie nach allem, was wir bislang wussten, bemüht war, ihren Selbstmord, bis zu dessen Ausführung geheim zu halten, lag diese Schlussfolgerung nahe.
Nach allem, was ich auf der Polizeischule über den psychologischen Aspekt einer Selbsttötung gelernt hatte, war es für den überwiegenden Teil der Suizidenten von großer Wichtigkeit, dass ihre Hinterbliebenen den Grund für ihre Tat nach dessen Ableben erfuhren. Da sich Marina jedoch weder negativ über Mitkollegiaten noch über ihre Lehrer geäußert hatte, gab es für meinen Freund und ehemaligen Dienstpartner keinen Ansatzpunkt für weitere Ermittlungen. Wenn ich diesbezüglich nicht mehr finden würde, würde ich irgendwann vor dem gleichen Resultat stehen. Meine Idee für Leonies Undercover Einsatz, war also ein genialer Schachzug, wie ich nicht unerwähnt lassen möchte.
Aus meiner Erfahrung heraus, weiß ich, dass Bilderrahmen wie ein Magnet auf Geheimnisse wirken, die man darin verstecken möchte. In Marinas Wohnung stieß ich lediglich auf einen einzigen Rahmen, in dem ein Foto ihrer Großeltern steckte. Auf der Rückseite der Aufnahme standen die Namen Hildegard und Johannes Maurer. Ich fotografierte Vor und Rückseite des Fotos ab und suchte weiter. In einem Ordner stieß ich auf einen Handyvertrag und eine Lebensversicherung, in der sie ihre Mutter als Begünstigte angab. Natürlich fotografierte ich auch diese Unterlagen und ihren Impfpass, in dem unter anderem ihre Blutgruppe eingetragen war.
Bei genauer Ansicht der Bodenplatte ihres Kleiderschranks bemerkte ich einen losen Nagel, der wie ein Splint in der Fußleiste steckte. Als ich ihn herauszog, ließ sich die Leiste lösen und nach vorn ziehen. Die Taschenlampenfunktion meines Handys machte schließlich die darin verborgenen Geheimnisse sichtbar.
Ich fand das erhoffte Tagebuch, mehrere Fotos eines mir unbekannten Mannes und ein kleines Tütchen mit lila Pillen. Ein erster Test legte den Verdacht auf die synthetische Droge Liquid Ecstasy nahe. Bevor ich Frau Maurer damit konfrontierte, musste ich mir zunächst sicher sein. Leider rissen die Eintragungen in das Tagebuch bereits vier Jahre zuvor ab. Immerhin erfuhr ich daraus, dass es sich bei dem Mann auf dem Foto um einen gewissen Thomas Ritter handelte. Ich notierte mir den Namen, um meine Auftraggeberin danach zu fragen.
„Hast du alles zusammengepackt, was du für den Unterricht brauchst?“, erkundigte ich mich bei meiner Azubine. „Sie war eine gute Schülerin“, entgegnete Leonie anerkennend. „Nur Einser und Zweier.“ „Da nimm dir mal ein Beispiel.“ „Hat es ihr was genutzt?“ „Manchmal erschreckst du mich“, schüttelte ich den Kopf.
Im selben Moment betrat unsere Auftraggeberin das Zimmer ihrer Tochter. „So, der Patient ist jetzt weg. Der nächste kommt erst in einer halben Stunde.“ „Ihre Praxis läuft offenbar gut“, stellte ich fest. „Es brauchte einige Jahre, bis ich mir einen gewissen Ruf aufgebaut hatte.“ „Können Sie mir sagen, wer der Mann auf diesem Foto ist?“, lenkte ich unser Gespräch auf den Grund unserer Anwesenheit.
Frau Maurer verlor schlagartig sämtliche Farbe in ihrem Gesicht. „Wo haben Sie das Foto her?“ „Ihre Tochter hatte es unter ihrem Kleiderschrank versteckt“, erklärte ich. „Das verstehe ich nicht. Woher kann sie von ihrem Vater gewusst haben?“ Ihrer eigenen Aussage nach war dieser kurz nach der Geburt bei einem Unfall verstorben. „Weshalb haben Sie mir die Unwahrheit gesagt?“ „Für mich war der Mann gestorben“, reagierte sie verbittert. „Nun, offensichtlich hinderte dies Ihre Tochter nicht daran, auf eigene Faust nach ihrem Vater zu suchen“, schlussfolgerte ich.
„Sie hat nie etwas gesagt“, seufzte meine Klientin. „Wahrscheinlich hat dieser Mistkerl etwas mit Marinas Selbstmord zu tun“, machte sie den Mann sofort verantwortlich. „Wenn Sie es wünschen, beziehe ich den Herrn in meine Ermittlungen mit ein“, bot ich ihr an. „Machen Sie das, Herr Lessing. Ich bin mir sicher, dass er etwas mit dem Tod meiner Tochter zu tun hat. Wo dieser Kerl auftaucht, verursacht er Ärger und Unruhe.“
„Ich habe hier einige Schulsachen Ihrer Tochter zusammengepackt, um ab morgen am Unterricht teilzunehmen“, erklärte Leonie die große Tasche, die sie mit sich führte. „Meine Mitarbeiterin soll sich auf diese Weise unter den Kollegiaten in Marinas Klasse umhören“, fügte ich erklärend hinzu. „Wir gehen davon aus, dass die ehemaligen Mitschüler Ihrer Tochter gegenüber meiner Mitarbeiterin gesprächiger sein werden, als bei der Polizei.“ „Das ist großartig.“
„Um so viel wie möglich über das Leben Ihrer Tochter zu erfahren, muss ich die elektronischen Geräte mitnehmen“, deutete ich auf den Sekretär der Abiturientin. „Sie bekommen das Laptop und das Netbook natürlich so schnell wie möglich zurück.“ „Das ist kein Problem, aber Marina verwendete stets ein Passwort.“ „Wir verfügen über Mittel und Wege, um diese zu knacken“, entgegnete Leonie mit einem milden Lächeln.
„Wir melden uns, sowie wir etwas in Erfahrung bringen konnten“, versprach ich. „Die momentane Adresse von Thomas Ritter ist Ihnen wohl nicht zufällig bekannt?“ „Sie vermuten richtig, Herr Lessing. Ich weiß nicht mal ob der Kerl noch in Wolfenbüttel lebt.“ „Wir werden es herausfinden“, entgegnete ich zuversichtlich, während ich die Geräte zusammenpackte. „Ich werde Ihnen noch heute den vereinbarten Abschlag überweisen“, versprach die Heilpraktikerin auf dem Weg nach unten. „Denken Sie bitte an Ihr Versprechen, mich auf dem Laufenden zu halten.“ „Gewiss.“
Gerade als wir uns verabschieden wollten, ging eine Nachricht auf meinem Handy ein. „Bitte entschuldigen Sie mich einen Moment. Da muss ich kurz drangehen.“ Trude sendete mir einige Fotos von der Toten und einen Text aus dem hervorging, wo sie die Aufnahmen gefunden hatte. „Ich fürchte, keine guten Nachrichten für Sie zu haben.“ Sara Maurer sah mich aus großen Augen fragend an.
„Wir sollten uns besser setzen.“ Auf dem Weg zu der kleinen Sitzecke, die den lichtdurchfluteten Flur noch großzügiger erscheinen ließ, reichte ich Leonie mein Handy. Sie reagierte schockiert, als sie die Fotos sah. „Nun sagen Sie schon, was Sie da gerade auf Ihr Handy bekamen“, zeigte sich die Klientin unbedarft. „Meine Mitarbeiterin fand die Fotos auf Twitter “, erklärte ich. „Wir werden die sofortige Löschung der Aufnahmen durch den Betreiber verlangen.“
„Oh nein“, reagierte meine Auftraggeberin mit Entsetzen, als sie die Nacktfotos ihrer Tochter sah. „Jetzt wird mir natürlich alles klar“, brach sie in Tränen aus. „Wer tut so etwas nur?“ Ich legte tröstend meine Hand auf ihre Schulter. „Wir werden es herausfinden und den Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen“, versprach ich. „Bitte lassen Sie mich jetzt allein. Der nächste Patient wird gleich da sein. Ich möchte mich vorher noch etwas frisch machen.“ „Sind Sie sicher, dass sie allein zurechtkommen?“ „Das bin ich meiner Tochter schuldig.“
Detektei Lessing
Band 46
Die letzte Lesung
1
Unsere kleine Feier bei Anne im Café Klatsch lag hinter uns. Die Lobhudelei um den erfolgreich abgeschlossenen Fall tat gut und die Freude über die Familienzusammenführung war groß, aber nun hatte uns der Alltag wieder eingeholt. Ein neuer Fall musste her, damit ich meine Putzsekretärin und die Auszubildende bezahlen konnte. Doch wie so oft war weit und breit kein Klient zu sehen. Der Urlaub, den ich Trude und Axel spendiert hatte, kam mir erheblich teurer als erwartet. Die Behandlungskosten für meinen Hexenschuss, die ich als Privatversicherter zunächst vorstrecken musste, taten ein Übriges. Schlicht gesagt, das Wasser stand mir mal wieder bis zur Unterlippe.
„Eigentlich könnten wir doch mal wieder etwas zusammen unternehmen“, schlug Miriam vor. „Mach das“, entgegnete ich, ohne wirklich zugehört zu haben. Erst ein Blubb frischer Sahne, welcher von Ramonas Löffel abgefeuert, mitten in meinem Gesicht landete, riss mich aus den Gedanken. „Huch“, erschrak ich. „Ups“, verkniff sich meine Liebste das Lachen. „Also Ramona, wirklich“, reagierte ich ungehalten. „Das geht doch nicht.“ „Unsere Tochter weiß eben, wie sie deine Aufmerksamkeit erregt.“ „Allerdings“, seufzte ich, während ich mir mit einem Küchentuch den Joghurt von der Nase putzte.
„Dann kannst du mir ja nun eine Antwort auf meine Frage geben.“ Ich zog den Kopf zwischen die Schultern. „Was für eine Frage?“ „Sei froh, dass du deine Strafe bereits erhalten hast“, feuerte Miriam mit einem unmissverständlichen Gesichtsausdruck. „Entschuldige, ich war wohl ganz im Gedanken.“ „Das glaube ich auch.“ „Würdest du deine Frage bitte wiederholen?“ Miriam verdrehte die Augen. Ramona hingegen lachte herzlich. „Eigentlich war es gar keine Frage. Ich sagte, wir könnten mal was zusammen unternehmen. Unser Tanzkurs liegt schon ein gutes Jahr zurück und sonst hast du ja immer gerade einen dringenden Fall, der keinen Aufschub duldet.“ „Ich bin halt ein vielgefragter Mann“, entgegnete ich grinsend. „Schön, dass es so ist, mein lieber Ehemann, aber über all diese Verpflichtungen solltest du deine Familie nicht vergessen.“ Dieser Wink war unmissverständlich. Nun ging es nur noch darum, den Schaden zu begrenzen.
So bequem das Sofa in meiner Detektei auch war, für eine ganze Nacht war es nicht ausgelegt. „Hast du schon ein bestimmtes Event im Auge?“, fragte ich vorsichtig nach. Miriam lächelte verschmitzt. „Tatsächlich findet in zwei Wochen im Schmidt Terminal eine Lesung mit Musik statt.“ Mir klappte die Kinnlade herunter. „Eine Lesung?“ „Genauer gesagt eine Krimilesung von Uwe Brackmann. Er wird aus seinem neuesten Krimi vorlesen. Zwischendurch präsentiert der Songwriter Mark Beerell einige Songs.“ Offensichtlich hatte sich mein Schatz bereits gut informiert.
„Sorry, Musik ist ja ganz toll, aber eine Lesung ist doch eher langweilig.“ „Und das weißt du, weil du ja schon auf so vielen Lesungen warst“, erwiderte Miriam. Meine Synapsen signalisierten Gefahr. Das Eis, auf dem ich gerade lief, war ziemlich dünn. „Etwas Kultur würde dir auch nicht schaden“, fuhr sie schwere Geschütze auf. „Abgesehen davon handelt es sich um eine Krimilesung. Wenn du gut zuhörst, kannst du sicherlich noch etwas lernen.“ Jetzt war klar, dass ich aus der Nummer nicht mehr rauskam. „Also schön, gehen wir also auf diese Lesung“, willigte ich zähneknirschend ein. „Aber falls ich dabei einschlafe, blamierst du dich.“ „Keine Bange, das werde ich zu verhindern wissen.“
So wichtig mir das gemeinsame Frühstück mit der Familie auch ist, so froh war ich an diesem Morgen darüber, mich in meine Detektei verkrümeln zu können. Insgeheim hoffte ich, dass sie die Lesung in den folgenden Tagen vergessen würde.
„Guten Morgen, Mädels“, begrüßte ich mein Team, ohne mir etwas anmerken zu lassen. „Feiern war gestern, heute geht der Ernst des Lebens weiter.“ Meine Motivationskünste waren nicht sonderlich erfolgreich. Während Trude irgendwie abwesend wirkte, gähnte Leonie müde vor sich hin. „Was steht denn heute an?“, erkundigte ich mich, obwohl ich genau wusste, wie schlecht die Auftragslage war. „Da wäre zum einen der Nachbarschaftsstreit, bei dem Sie mit Hilfe von Überwachungskameras den Diebstahl von Obst und Gemüse aufklären sollen und zum anderen die Vandalismus Sache in der Sankt Antonius-Gemeinde“, zählte meine Putzsekretärin auf.
„Sauerei“, schimpfte Leonie. „Nicht mal vor dem Eigentum der Kirche wird heutzutage Halt gemacht. Wenn jemand etwas gegen die Kirche hat, soll er doch austreten.“ „Da hast du sicherlich Recht, Leonie“, pflichtete ihr Trude bei. „Aber wenn ich an die vielen Verfehlungen denke, die in den letzten Jahren innerhalb der Kirche aufgedeckt wurden, kann ich den Ärger einiger Leute sogar verstehen.“ „Wie auch immer, meine Damen, Sachbeschädigung ist eine Straftat und wenn die Polizei nicht die Zeit und ebenso wenig das Personal hat, sich auf die Lauer zu legen, sind wir halt gefordert“, stellte ich klar. „Abgesehen davon, sollte in diesem Land jedem, unabhängig von seinem Stand oder seiner Person, zu ihrem Recht verholfen werden.“
„Da wäre dann noch die Versicherungssache“, fuhr Trude nachdenklich fort. „Es wird sicher nicht einfach werden, dem vermeintlichen Opfer einen fingierten Unfall nachzuweisen“, seufzte Leonie. „Am besten, wenn wir den Geschädigten auf frischer Tat erwischen“, überlegte ich. Ich heftete den Stadtplan von Wolfenbüttel an die Ermittlungswand und zeichnete die in Frage kommenden Rechts vor Links Kreuzungen ein. „Wenn wir die alle im Auge behalten wollen, brauchen wir Axels Hilfe“, stellte ich fest. „Ich brauche ihn nur anrufen. Seit wir den Wagen haben, ist er jederzeit einsatzbereit“, bekundete Trude. „Ich weiß, er hat mir seine Hilfe bereits angeboten“, stimmte ich zu.
„Wir installieren zuerst die Kameras in der Okertal-Siedlung, danach sehen wir uns die betreffenden Unfallstellen an“, gab ich unsere weiteren Schritte für den Vormittag vor. „Axel postiert sich am besten vor der Wohnung des vermeintlichen Opfers“, erklärte ich Trude. „Sie rufen ihn an und instruieren ihn.“ Trude nickte. „Geben Sie ihm bitte ein Foto von der Zeugin und die Kamera mit dem Tele mit. Ich möchte wissen, ob sich die beiden besser kennen, als sie dem Gericht glaubhaft machten.“ „Bei der Öffentlichen sind inzwischen drei Schadenfälle auf den Namen Radkowitch anhängig. Mal Igor Radkowitch, dann dessen Bruder und zuletzt der Onkel. Ich wollte andere Versicherungen kontaktieren, um mich dort nach weiteren Unfallvorgängen der gleichen Art auf diesen Namen zu erkundigen.“ „Gute Idee Trude“, lobte ich meine Putzsekretärin. „Ich wette, da wird noch einiges auf uns zukommen.“
„Rechnen Sie denn mit einem groß angelegten, erwerbsmäßigen Versicherungsbetrug?“, fragte mich meine Azubine, während unserer Fahrt in die Okertalsiedlung. „Gut möglich, es wäre zumindest die Renaissance einer Betrugsart, wie es sie vor zwanzig Jahren schon einmal gab. Die Kollegen der Verkehrspolizei wurden damals bei jedem Unfall hellhörig, der auf Grund einer Rechts vor Linksregel zu Stande kam.“ „Ist es nicht so, dass sich die vermeintliche Zeugin an einer Stelle postiert, von der aus sie sieht, wenn sich ein Opferfahrzeug nähert, um gleichzeitig ihrem Komplizen das Zeichen zum Losfahren geben zu können?“ „So ist es“, bestätigte ich. „Der Zeuge muss dabei genau taxieren, wann der richtige Zeitpunkt zum Losfahren ist.“
Meine Azubine nickte grüblerisch. „Aber wenn die jedes Mal ihren eigenen Wagen dabei schrotten, bleibt doch von der Versicherungssumme unterm Strich kaum was über“, sinnierte sie nach einer Weile. „Meistens kommen teure Unfallfahrzeuge zum Einsatz, die extra zu diesem Zweck neu instandgesetzt wurden. Wenn der Schaden eher gering ist, versuchen die Täter alles ohne Polizei und Versicherung abzuwickeln. Dann ziehen sie den Opfern zwei- dreihundert Euro aus der Tasche und wenden sich ihrem nächsten Opfer zu“, erklärte ich. „Bei einem größeren Schaden scheuen die Täter dann aber auch nicht vor Polizei und Gericht zurück.“
„Ganz schön dreist“, schüttelte Leonie den Kopf. „Die nutzen den Schrecken, den die Opfer wegen des Unfalls erlitten, schamlos aus.“ „Ja, dass perfide dabei ist, dass die Opfer auch noch dankbar sind, wenn die Sache nicht an die große Glocke gehängt wird.“ „Eins ist klar Chef, wir müssen diesen Gangstern einfach das Handwerk legen“, entgegnete Leonie kämpferisch. „Na dann auf in den Kampf.“
Eine halbe Stunde später trugen wir das Equipment in den Garten des Klienten. „Wie ich sehe, haben Sie Ihre Leiter ja bereits angestellt“, lobte ich den rüstigen Rentner. „Nur hochsteigen geht nicht mehr. Da macht der Kreislauf nicht mehr mit.“ „Deswegen sind wir ja jetzt hier“, lächelte ich ihm zu. „Meine Mitarbeiterin baut die Kameras genau dorthin, wo Sie am besten aufzeichnen.“ Leonie sah mich ungläubig an. „Ich dachte Sie…?“ „Ich kanns ja schon“, entgegnete ich schmunzelnd. „Du wolltest doch was lernen.“
„So Herr Wallner…“, weckte ich den alten Herrn als ich einige Zeit später seine Terrasse betrat. „…dann werde ich Ihnen nun erklären, wie Sie die Aufzeichnungen der Kameras jederzeit ansehen können. Wie ich sehe, haben Sie ihr Laptop ja bereits aufgestellt.“ „Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“ „Ein Glas Mineralwasser wäre jetzt genau das richtige“, entgegnete ich dankbar. „Kommt Ihre Assistentin noch dazu?“ „Die muss erst noch das Werkzeug ins Auto räumen.“ „Dann wird sie froh sein, wenn sie auch etwas trinken kann“, schlussfolgerte er, während er die Gläser holte. „Sie verwöhnen uns“, rief ich ihm nach.
„Ich hoffe es wird nicht allzu kompliziert“, äußerte er seine Bedenken, kaum dass er auf die Terrasse zurückkehrte. „I wo, alles ganz einfach. Wenn ich Ihnen dann erklären darf?“ „Bitte.“ Ich klappte sein Laptop auf und gab den Link für die Cloud ein. Dann setzte ich ihm ein Lesezeichen und speicherte das Passwort. „So, sehen sie bitte. Es ist ganz einfach. Sie klicken nur auf dieses Zeichen und der Speicher öffnet sich.“ „Aha.“
„Ich habe die Kameras nach ihrem Standort beschrieben. Sowie Sie draufklicken, wird das zuvor gespeicherte Bild sichtbar.“ „Dann kann ich dem elenden Schweinepuckel endlich das Handwerk legen.“ „So ist es“, pflichtete ich ihm bei. „Am besten rufen Sie in der Detektei an, sobald die Kamera den Dieb aufgenommen hat.“ „Toll, was es heutzutage alles gibt“, freute sich der Rentner. „Was ist mit der Rechnung?“, erkundigte er sich besorgt. „Das machen wir, wenn alles gelaufen ist“, beruhigte ich ihn, während ich mich erhob, um nach Leonie zu sehen. „Na dann bis bald, Herr Lessing.“
„Weshalb kommst du denn nicht nach? Der alte Herr hat dir extra ein Glas Mineralwasser fertig gemacht“, fragte ich meine Azubine, nachdem ich zum Wagen zurückgekehrt war. „Ich hatte einen Anruf von Christoph. Er fragte, ob ich am Wochenende frei habe, weil er und mein Onkel Detlef mit mir nach Sylt fahren wollen.“ „Ich hoffe du hast zugesagt, Sylt ist immer eine Reise wert.“ „Ich wollte zunächst nachfrage, ob es in Ordnung ist, weil wir doch die Kirche observieren müssen und auch noch den Versicherungsfall an der Backe haben.“ Ich winkte ab. „Da mach dir mal keinen Kopf. Du fährst gewiss mit deinen Onkeln nach Sylt. Vielleicht haben wir die Fälle bis dahin ja sogar schon aufgeklärt.“ „Ich hatte darauf gehofft, zumindest einen Fall allein lösen zu dürfen.“
„Da werden andere kommen“, tröstete ich meine Azubine. Ich bemerkte, wie sehr sie sich wegen der vertanen Gelegenheit grämte. „Ich bin wirklich gespannt, ob Trude wegen der vermeintlichen Unfälle etwas in Erfahrung bringen konnte“, überlegte Leonie, während ich den Wagen wendete, um zur letzten Unfallstelle in der Elbinger Straße zu fahren. Im selben Moment klingelte mein Handy. „Sie rufen aufs Stichwort an, Trude“, stellte ich fest. „Was haben Sie für mich?“ „Wir hatten offensichtlich den richtigen Riecher“, erklärte sie über die Freisprecheinrichtung. „Ich stieß auf ein rundes Dutzend Unfälle, die bei verschiedenen Versicherungen angezeigt wurden. Als Zeugin trat in den meisten Fällen eine gewisse Ludmilla Ponderenko auf.“ „Die ominöse Zeugin“, bemerkte meine Azubine.
„Aber das muss doch aufgefallen sein“, meldete Leonie Zweifel an. „Das Duo war klug genug, um die Unfälle auf halb Niedersachsen zu verteilen“, beschrieb Trude das Vorgehen der Betrüger. „Axel habe ich wie verabredet zur Wohnung von Igor Radkowitch geschickt. Er observiert sie seit etwa einer Stunde.“ „Gut, wir sehen uns jetzt die Örtlichkeiten an der letzten Unfallstelle an. Falls sich bei Axel etwa tut, informieren Sie uns bitte.“ „Geht klar, Chef. Ich bleibe natürlich ebenfalls dran.“
-2-
„Es gibt mehrere prägnante Stellen in der Lessingstadt, die sich für einen solchen Betrug hervorragend eignen“, beschrieb ich Leonie. „Auf der ‚Wendessener Straße‘ gilt gleich an drei Stellen die ‚Rechts vor Links Regel‘. Hierbei ist die Straße hinter dem Super-Markt ebenso schlecht einsehbar, wie die Straße zur ‚Siedlung‘, die eher wie eine breite Einfahrt wirkt.“ „Die beim Aldi-Markt kenne ich“, stimmte mir meine Azubine zu. „Die Straßenkreuzungen um den ‚Wiesengrund‘ und dem ‚Böttcherweg‘ bieten Betrügern ebenso gute Möglichkeiten, um Unfälle vorsätzlich zu provozieren, wie im Wohngebiet um die ‚Elbinger Straße‘.“
Leonie machte große Augen. „Wie sollen wir die denn alle gleichzeitig überwachen?“ „Gar nicht, wir werden jetzt nur einige Anwohner am letzten Unfallort befragen. Vielleicht können wir ja jemand ausfindig machen, der etwas gesehen hat.“ „Weshalb sollte das die Polizei nicht längst gemacht haben“, fragte Leonie stirnrunzelnd. „Weshalb sollten sie? Es gab bereits die Zeugin Ponderenko, wenn du dich erinnerst. Jeder weitere Aufwand müsste gerechtfertigt sein.“ „Das ist verrückt, aber auch irgendwie genial“, räumte Leonie euphorisch ein. „Kein Wunder, dass man den Betrügern so lange nicht auf die Spur kam.“
Ich stoppte den Wagen in einer der freien Parkbuchten und sah mich um. „Größtenteils Einfamilienhäuser und eine ganze Menge Balkone, auf denen sicherlich einige Leute gesessen hätten, wenn es an diesem Tag laut Polizeibericht nicht geregnet hätte“, seufzte ich. „Könnte das Wetter eine wichtige Rolle spielen?“, überlegte Leonie. „Eine gute Frage, auf die uns Trude vielleicht eine Antwort geben könnte.“
Die ersten Anwohner, die etwas gesehen haben konnten, wohnten in einem der Unfallstelle gegenüberliegenden Zweifamilienhaus. Auf dem Klingelschild der oberen Geschosswohnung stand der Name Schlenderjahn. „Na so möchte ich aber auch nicht heißen“, schmunzelte Leonie. „Ja bitte?“, meldete sich eine raue Stimme aus dem Lautsprecher der Gegensprechanlage. „Guten Tag. Bitte entschuldigen Sie die Störung. Wir ermitteln wegen eines Unfalls, der sich am 8. Mai vor Ihrem Haus ereignete“, erklärte ich. „Sind Sie von der Polizei?“, erkundigte sich die Stimme. „Nein, wir kommen von der Detektei Lessing und ermitteln im Auftrag der Versicherung“, entgegnete ich.
Eine Weile geschah gar nichts. „Hallo, sind Sie noch da?“, fragte ich irgendwann. Im nächsten Moment öffnete sich die Haustür. „So, so, von der Versicherung kommen Sie also“, wiederholte zu unserer Überraschung eine rüstige Dame mit eben jener rauen Stimme. „So ist es“, bestätigte ich. „Die wollen wohl mal wieder nicht zahlen“, entrüstete sie sich. Offenbar hatte sie schlechte Erfahrungen gemacht. „Darum geht es nicht, es gibt Zweifel am Hergang des Unfalls“, ergriff Leonie das Wort. „Waren Sie Zeugin des Unfalls?“, hakte meine Azubine nach. „Dazu müsste ich erst einmal wissen, um welchen Unfall es überhaupt geht, Kindchen.“
„Es geht, wie gesagt, um den Unfall vom 8. Mai“, entgegnete ich, ehe Leonie etwas sagen konnte. Die alte Dame lachte kurz auf. „Das habe ich schon mitbekommen, junger Mann. Ich bin ja nicht senil. Aber glauben Sie, ich weiß jetzt noch, welcher Unfall an diesem Tag geschah? Hier kracht es zwei bis drei Mal im Monat. Hier pulsiert das wahre Leben. Ich brauchte noch nie einen Fernseher und muss trotzdem für das Verdummungsprogramm bezahlen was einem tagtäglich vorgesetzt wird. Eine Sauerei ist das, wenn Sie mich fragen.“
Die energische alte Dame sprach mir irgendwie aus der Seele. „Unfallbeteiligt waren ein Mercedes in grau-Metallic und ein Dacia Sandero in schwarz“, erklärte Leonie. „Ah ja, ich kann mich erinnern“, nickte die vermeintliche Zeugin. „Das muss an einem Vormittag gewesen sein.“ „Stimmt“, bestätigte meine Auszubildende. „Um 10:22 Uhr.“ „Ich kam gerade vom Einkaufen zurück. Aber da war leider schon alles vorbei.“ „Ist Ihnen etwas aufgefallen?“, hakte ich nach. „Hören Sie nicht zu? Ich sagte doch, dass ich vom Einkaufen kam. Glauben Sie, ich stelle mich mit den schweren Taschen noch stundenlang hin und halte Maulaffenfeil?“
Ich atmete tief durch. „Abgesehen davon hatten es die Bullen nicht mal nötig beispielsweise meine Nachbarin zu befragen. Die hat nämlich alles mit angesehen.“ Ich horchte auf. „Sie meinen Frau Mengelmann, die unter Ihnen wohnt?“, resümierte ich, auf das zweite Klingelschild deutend. „Sehen Sie hier sonst noch einen Namen?“, erwiderte sie kopfschüttelnd. „Sind Sie sicher, dass Sie Detektiv sind und damit Ihren Lebensunterhalt bestreiten können?“ Mir blieb die Spucke weg. Sie winkte ab und wandte sich seufzend der nach wie vor offenstehenden Haustür zu. „Kein Wunder, dass dieses Land vor die Hunde geht.“
Während ich in eine Art Schnappatmung verfiel, verschwand die freundliche Dame im Hausflur. Ich war froh, dass ich mich beherrscht hatte. „Wenn Sie sich soweit beruhigt haben, Chef, klingele ich jetzt bei Mengelmann“, grinste Leonie unverhohlen. „Hoffentlich ist die Nachbarin umgänglicher“, lächelte ich noch immer den Kopf schüttelnd. „Und das, wo Sie doch sonst immer so ein Schlag bei den Ladys haben“, witzelte Leonie weiter.
„Hallo, ja bitte?“, meldete sich eine wesentlich freundlichere Stimme aus dem Lautsprecher der Sprechanlage. „Detektei Lessing“, stellte ich mich vor. „Bitte entschuldigen Sie die Störung. Wir ermitteln wegen eines Unfalls, der sich am 8. Mai vor Ihrem Haus ereignete“, entgegnete ich zum wiederholten Mal. Das Summen des Türöffners forderte uns auf, das Gebäude zu betreten. Auch hier trafen wir auf eine ältere Frau. Ich zuckte meine Zulassung und hielt ihn ihr entgegen. „Treten Sie bitte näher.“ Meine Azubine und ich kamen ihrer Aufforderung dankbar nach.
„Ich habe bereits von der Detektei Lessing gehört“, überraschte sie uns, während sie uns in ihr Wohnzimmer bat. „Ich hoffe nur Gutes?“, entgegnete ich lächelnd. „Meine Tochter musste vor einigen Jahren Ihre Dienste in Anspruch nehmen. Meine Enkelin war damals in die Satanisten-Szene hineingerutscht.“ Ein Fall, an den ich mich noch heute mit einigem Schaudern erinnerte.[1] „Wie geht es Ihrer Enkelin heute?“, erkundigte ich mich. „Am Anfang dachten wir, sie würde die schrecklichen Ereignisse nie vergessen, aber inzwischen ist sie darüber hinweg.“ „Das freut mich sehr.“ Leonie sah mich interessiert an. Es ging um einen Fall, der weit zurück lag und den man selber rasch vergessen möchte.
„Meine Familie hat Ihnen viel zu verdanken, Herr Lessing“, sagte Frau Mengelmann, während sie mir anerkennend mit ihrer Hand auf die Schulter klopfte. „Bevor Sie mir Ihre Fragen stellen, koche ich uns aber einen Kaffee“, ließ sie keinen Zweifel daran, mir auf diese Weise ihre Wertschätzung zum Ausdruck bringen zu wollen. Nachdem sie uns im Wohnzimmer zurückgelassen hatte, entdeckte ich an den Wänden einige gerahmte Fotos.
„Ist das auf dem Foto die Enkelin von Frau Mengelmann?“, erkundigte sich Leonie, die es ebenfalls nicht auf dem Sofa gehalten hatte. „Es muss einige Zeit vor ihrem Verschwinden aufgenommen worden sein“, mutmaßte ich. „Wie kam das Mädchen eigentlich zum Satanismus?“ „Zunächst zog sie sich immer häufiger schwarze Klamotten an, schminkte sich und traf sich mit anderen jungen Leuten aus der Gothic-Szene. Nichts worüber sich ihre Eltern sorgen mussten, aber dann geriet sie an einen jungen Mann, der sie zu geheimen okkulten Treffen mitnahm, auf denen nicht nur Tiere geopfert wurden.“ „Krass!“, sinnierte Leonie. „Auf dem Foto sieht sie so harmlos aus.“ „Das war sie auch. Als sie begriff, was vor sich ging, war es zu spät.“
„Ich habe leider nur noch etwas Gebäck“, kehrte Frau Mengelmann ins Wohnzimmer zurück. „Der Kaffee ist auch gleich durchgelaufen.“ „Machen Sie sich doch bitte keine Umstände wegen uns.“ „Ihr Besuch bereitet mir Freude“, entgegnete die Rentnerin. „Sie haben mir damals das Wichtigste auf der Welt wohlbehalten zurückgebracht. Ich stehe tief in Ihrer Schuld.“ „Das tun Sie nicht“, erwiderte ich. „Ich tat meine Arbeit, sonst nichts.“
„Dann komme ich am besten zum Grund unseres Besuchs“, lenkte Leonie das Gespräch auf unseren aktuellen Fall. „Ach ja, der Unfall“, erinnerte sie sich. „Ich glaube es ging um einen grauen Mercedes und einen Dacia.“ „Alle Achtung, Sie haben ein gutes Gedächtnis“, lobte ich verblüfft. „Na ja, ich habe mir diesen Unfall nur deswegen gemerkt, weil da diese junge Frau war, die von den Polizeibeamten befragt wurde.“ „Wieso fiel Ihnen die Frau auf?“, hakte ich nach. „Weil die schon vor dem Unfall an der Ecke stand und ständig die Elbinger Straße hinuntersah. So, als würde sie auf den Bus warten.“ Das hörte sich mehr als interessant an.
„Sehr merkwürdig“, stutzte meine Azubine. „Zumal es an der Ecke keine Haltestelle gibt.“ „Konnten Sie sehen, ob die Frau dem Mann im Mercedes ein Zeichen gab?“, wagte ich mich ein gutes Stück weit vor. Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe sie leider nicht die ganze Zeit beobachten können, aber ich bin mir sicher, dass sie den Fahrer des Mercedes kannte.“ Ich horchte auf. „Sie scheinen sich dessen recht sicher zu sein“, resümierte ich. „Ja natürlich, ich sah, wie sie, kurz nachdem die Polizei weg war, mit ihm zusammen in einen anderen Wagen stieg, der ein Stück weiter die Straße hinunter parkte. Der Mercedes war ja inzwischen abgeschleppt.“ „Das haben Sie wirklich gut beobachtet“, lobte ich sie verblüfft.
Dies waren mehr als Indizien, welche vom Anwalt der Betrüger als Zufälle abgetan werden konnten. Beweise für einen fingierten Unfall waren es allerdings auch noch nicht. „Ich hole uns erst einmal den Kaffee“, erklärte sie, während sie sich erhob und das Wohnzimmer verließ. „Kann ich Ihnen behilflich sein, Frau Mengelmann?“, bot sich Leonie an. „Ach, dass ist nett. Das Tablett ist mir doch schon recht schwer geworden.“
Während die Mädels in der Küche zu tun hatten, erinnerte ich mich an meine aktive Zeit bei der Braunschweiger Kripo. Es war im Grunde dieselbe Sache wegen der ich damals den Dienst quittierte. Das Desinteresse einiger Polizisten, aber auch die Unterbesetzung und der bürokratische Aufwand sorgen schon zu meiner Zeit dafür, dass den Dingen nicht in der erforderlichen Weise auf den Grund gegangen wurde. Schien eine Sache klar, legte sich so mancher Ermittler oft viel zu früh fest. Den vermeintlichen Täter im Blick, wurde dann so lange mit Scheuklappen weiterermittelt, bis die Kette von Indizien passte. Diese Gleichgültigkeit führt zu Justiziars Erblindung. Ein bekannter, nicht hinnehmbarer Makel.
„Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, die Polizeibeamten hätten auf Sie zukommen und zum Unfallhergang befragen müssen“, stellte ich klar, „…aber die Beamten wussten natürlich nicht, dass Sie etwas beobachtet hatten.“ Frau Mengelmann schenkte uns Kaffee ein und stellte die Kanne auf ein Stövchen ab. Die darunter züngelnde Flamme zischte, während sie die Tropfen fraß, die auf die brennende Kerze tropften. „Das ist so nicht richtig, Herr Lessing“, widersprach die alte Dame. „Ich habe den Wachtmeister darauf angesprochen, aber er sagte mir, dass bereits alles geklärt sei.“
Leonie und ich sahen uns fassungslos an. Wobei ich meine Wut nur schwer verbergen konnte. „Wären Sie bereit, Ihre Aussage vor Gericht zu wiederholen?“, stellte Leonie die entscheidende Frage. Frau Mengelmann zuckte mit der Schulter. „Natürlich, warum nicht?“ „Großartig“, freute sich meine Azubine. „Genau wie die Kekse“, gestand ich. „Haben Sie die selber gebacken?“ „Sie sind ein Schmeichler, Herr Lessing. Die Kekse sind von meiner Enkelin. Sie hat Konditorin gelernt.“ Da schloss sich der Kreis auf eine wundervolle Weise und es bestätigte sich wieder einmal, dass ich mich damals richtig entschieden hatte.
-3-
In den folgenden Tagen hatten wir alle Hände voll mit der Observation an der Antonius-Gemeinde und mit allerlei kleineren Fällen zu tun. Eigentlich ging das Leben seinen ganz normalen Gang und so hatte ich Miriams Idee zu einer Lesung im Schmidt Terminal an der ‚Halchtersche Straße‘ zu gehen, längst wieder vergessen. „Denkst du an heute Abend, Schatz?“, erinnerte sie mich bei unserem gemeinsamen Frühstück. Ich sah sie aus großen Augen fragend an.
„Du hast doch wohl hoffentlich dein Versprechen nicht vergessen?“, reagierte sie lauernd. „Natürlich nicht, mein Schatz“, entgegnete ich gedehnt. „Du hast es vergessen“, durchschaute sie mich enttäuscht. Inzwischen ratterten meine Synapsen auf Hochtouren. Der Überdruck in meinem Gehirn entwickelte die verrücktesten Ideen. „Kultur!“, entfleuchte es in letzter Sekunde meinem Mund. Das Überdruckventil öffnete sich und der angestaute Druck entwich mit einem leisen Pfeifen, allgemein als Tinnitus bekannt. „Dein Glück“, quittierte Miriam meine Eingebung. „Ich dachte schon, du hättest die Lesung vergessen.“ „Ich bitte dich, mein Schatz. Wo werde ich denn etwas, was dir so sehr am Herzen liegt, vergessen können?“
„Überzieh es nicht! Sei heute Abend lieber pünktlich, damit du dir noch etwas Passendes anziehen kannst.“ Vergebliche Liebesmüh, meine Liebste hatte mich also doch längst durchschaut. C`est la vie, so ist das Leben. „Ich werde um 17 Uhr auf der Matte stehen, versprochen.“ Damit stopfte ich mir den letzten Bissen Toast in den Mund, schlürfte den Rest Kaffee aus der Tasse und gab Miriam einen Kuss. „Du willst doch wohl nicht…“ Weiter brauchte mein Schatz nicht zu sprechen. Ich tippte mir an die Stirn und drehte mich zu Ramona. „Jetzt hat dich der Papa beinah vergessen.“ „Ich frage mich, ob es sich bei dir schon um eine einsetzende Demenz handelt“, bekam ich die nächste Breitseite. Ich drückte meiner Kleinen ein Kuss auf die Stirn und sah Miriam kopfschüttelnd an. „Allmählich brauchst du für deine Zunge auch einen Waffenschein.“
Während ich über die Treppe in meine Detektei hinunter ging, hoffte ich darauf, dass meine Worte die erhoffte Wirkung erzielten. Ich kann schon was vertragen, aber dies war nicht der Umgang, den ich mir für uns wünschte.
So richtig wohl fühlte ich mich in der Klamotte nicht, aber Miriam hatte auf Hemd und Krawatte bestanden. Bei dem legeren Jackett hingegen konnte ich mich durchsetzen. Der Stetson gehörte ohnehin zu mir wie die Pileolus zum Papst. „Wenn Tanja in den nächsten 5 Minuten nicht hier eintrudelt, können wir das Event sowieso vergessen“, wetterte Miriam ungeduldig. „Es ist immer das Gleiche, wenn wir ausgehen wollen“, brachte sie sich selbst in Rage. „Ich hoffe, sie hat uns nicht vergessen. Scheint ja in letzter Zeit normal zu sein.“ Auch diese Spitze ignorierte ich weltmännisch.
Kurz darauf saßen wir in meinem Wagen und fuhren über die ‚Goslarsche‘ und die Kreuzung ‚Kaltes Tal‘, um am Entertainment-Center vorbei, zum Busbahnhof des Schmidt-Terminals zu gelangen. Obwohl wir bereits 20 Minuten vor Veranstaltungsbeginn eintrafen, war der Andrang beachtlich. Zu meiner Überraschung begrüßte uns der Autor persönlich. Gleich darauf gab es einen Begrüßungssekt. Auch wenn mir jetzt ein Bier lieber gewesen wäre, eine schöne Geste, die Miriam offensichtlich sehr genoss. Was für ein Trubel und so gar nicht meins, aber was tut man nicht alles dem Haussegen zuliebe?
Als ich meine Liebste inmitten einer Traube gackernder Hühner sah, wandte ich mich dem Musiker zu, den ich am Ende eines kleinen Saales hinter seiner Gitarre entdeckte. Das weckte schon eher mein Interesse, zumal ich mich in meiner Jugendzeit selber mit der Klampfe versuchte. Wenn es auch nur dazu diente, die richtigen Mädels abzuschleppen. Wer in die Saiten hauen konnte, brauchte kaum Konversation betreiben. Da war er wieder, der wehmütige Gedanke an meine Junggesellenjahre. Ist es vermessen, sich diese Zeit für ein paar Tage zurückzuwünschen?
Irgendwann begann die Veranstaltung mit einer kurzen Ansprache des Veranstalters. Da dieser unentgeltlich für das leibliche Wohl seiner Gäste sorgte, war eine kurze Werbung in eigener Sache nur legitim. Im Anschluss folgten einige Worte des Autors zum Inhalt des Romans und dem Hinweis, das Handy nach der Lesung wieder anzuschalten. Es war schon witzig zu sehen, wie viele Leute daraufhin in ihre Taschen griffen. Den Abschluss der Vorredner machte der Musiker, der hervorhob, wie nah sich seine Songs inhaltlich an den Roman anlehnten.
Endlich ging´s los und das, was der Autor vortrug war zu meiner Überraschung weniger langweilig als befürchtet. Ja, der Krimi erinnerte mich sogar ein wenig an mein eigenes Leben.
Nachdem das erste Kapitel abgeschlossen war, griff der Musiker in die Saiten. Er sang einen Schlager aus den frühen Achtzigern. Das war der Moment, in dem zwei Reihen vor mir eine Frau aufsprang und dem Mann hinter der Klampfe einen Büstenhalter zuwarf. Es folgten eindeutige Zurufe, und Liebesbekundungen, die den Musiker vollends aus dem Rhythmus brachten. Ein Mitarbeiter des Veranstalters ging schließlich dazwischen und bedeutete der Stalkerin wieder Platz zu nehmen. Nachdem sich auch das Publikum beruhigt hatte, las der Autor weiter.
„Du hattest Recht“, flüsterte ich Miriam zu. „So eine Lesung ist wirklich eine interessante Sache.“ Meine Liebste verdrehte die Augen. „War ja klar.“ Als sich das Gleiche nach dem Ende des zweiten Kapitels wiederholte, schlug die Stimmung unter den Zuhörern um. Was zuvor irgendwie amüsant wirkte, schien nun zu nerven. Einige Besucher forderten die Dame zur Ruhe auf. Als sich diese dann sogar zur Bühne begab, versuchte der Mann vom Ordnungsdienst die Frau daran zu hindern. Die Situation drohte bereits vollkommen aus dem Ruder zu laufen, als ihr Idol eingriff und mit der Stalkerin den Saal verließ.
„Haben Sie bitte einen Moment Geduld und bleiben Sie bitte so lange sitzen. Ich bin sicher, Mark Beerell wird in wenigen Augenblicken zurückkommen.“ Die Situation wirkte auf die Anwesenden zwar irgendwie skurril, aber sie taten, um was sie der Autor gebeten hatte, weil er es verstand, die Zeit des Wartens mit interessanten Informationen zu überbrücken. Zur allgemeinen Verwunderung dauerte es tatsächlich nicht lange, bis der Musiker zurückkehrte und den angespielten Song zu Ende performte.
Das Publikum hatte gerade noch applaudiert, als ein lauter Schrei des Entsetzens die einsetzende Stille zerriss. Jedem der Anwesenden war sofort klar, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste. Ich sprang auf, um nachzusehen. Autor und Musiker sowie einige Zuhörer folgten mir in den Ruhebereich des Terminals, wo die Veranstalterin mit der Hand vor dem Mund, starr vor Bestürzung, auf die Stalkerin deutete. Erst als ich näherkam, sah ich einen Schaschlikspieß aus dem rechten Ohr der Frau ragen.
Da sich vom Ordnungsdienst niemand berufen fühlte, um die Frau auf ein Lebenszeichen zu überprüfen, gab ich mich als Detektiv zu erkennen, trat an die Person heran und fühlte ihr den Puls. „Sie ist tot“, stellte ich fest. Erneute Schreie anwesender Damen lockten weitere Zuhörer und natürlich auch Miriam aus dem Saal an den Fundort der Leiche. „Das ist doch die Verrückte von vorhin“, hörte ich jemanden sagen. Ein anderer deutete auf Mark Beerell. „Sie haben doch gerade noch mit der Frau gesprochen.“ „Der Musiker hat sie ermordet, das liegt doch auf der Hand“, schlussfolgerte vorschnell ein Mitarbeiter des Ordnungsdienstes.
„Rufen Sie lieber die Polizei“, bat Miriam den Mann erbost. Inzwischen wies ich die Zuhörer an, Ruhe zu bewahren und sich wieder auf Ihre Plätze zu setzen. Miriam zückte ihren Dienstausweis. „Ich bin Staatsanwältin. Niemand verlässt das Terminal, bis die Polizei hier ist. Postieren Sie sich bis dahin an den Ausgängen“, befahl sie den Männern vom Ordnungsdienst.
Die sahen hingegen die Veranstalterin fragend an. „Bitte meine Herren, folgen Sie den Anweisungen der Staatsanwältin“, bestärkte sie Miriam in ihrem Bemühen. Sie selbst schien vom Auffinden des Leichnams noch immer geschockt.
„Ich habe nichts damit zu tun!“, weigerte sich einer der Besucher. „Sie können mich hier nicht gegen meinen Willen festhalten!“, rief er. „Wer gehen will, kann dies nach Abgabe seiner Personalien natürlich tun, aber bedenken Sie bitte, dass Sie sich dadurch verdächtig machen“, machte Miriam allen Anwesenden deutlich. „Nach einer kurzen Befragung durch die Polizei können Sie ohnehin nach Hause gehen.“ „Unter uns ist ein Mörder, so viel steht fest“, ließ sich der Mann nicht beirren. „Offensichtlich haben Sie ein großes Interesse daran, die Veranstaltung so schnell wie möglich zu verlassen“, stellte ich fest. „Was wollen Sie damit sagen?“, reagierte der Mann bärbeißig. „Nichts“, entgegnete ich gedehnt. „Ich wundere mich nur, weil sie so nervös reagieren.“
„Irgendwie hat er ja Recht“, sprang ihm eine Frau zur Seite. „Wer garantiert mir denn, dass ich nicht das nächste Opfer des Mörders werde?“ „Gute Frau, es ist doch noch gar nicht sicher, ob es sich um einen Mord handelt.“ „Was denn sonst? Die Frau wird sich den Spieß wohl kaum selber in den Kopf gerammt haben“, meldete sich ein weiterer Zuhörer zu Wort. „Sie wissen ebenso wenig wie ich, ob es sich am Ende um einen tragischen Unfall handelt“, eröffnete ich eine weitere Möglichkeit.
„Das ist ja lächerlich“, erregte sich der Mann, der es so eilig hatte. „Da hinten sitzt der Mörder! Sie wollen Ihren Freund doch nur aus der Schusslinie nehmen.“ „Genau, der ist doch vorhin mit dem Opfer verschwunden“, stellte die Frau fest. „Er hat sie umgebracht, weil sie ihn mit ihrer Penetranz zur Weißglut brachte.“ Ich konnte mir diesen Schwachsinn nicht länger anhören und ging zu Mark, der mit Miriam und der Veranstalterin im Innenhof des Terminals nach Luft schnappte.
Nur wenige Minuten nachdem ich die Stalkerin auf ihre Vitalfunktionen überprüft hatte, trafen Polizei und Rettungswagen am Terminal ein. Miriam gab sich sofort als Staatsanwältin zu erkennen. Der ebenfalls eingetroffene Notarzt nahm sich des Opfers an und stellte kurz darauf dessen Tod fest. Nach und nach trafen weitere Streifenwagen ein. Polizisten sicherten den Fundort der Leiche und nahmen die Personalien aller Anwesenden auf.
„Was machst du denn hier, Leo?“, erkundigte sich Oberkommissar Sinner verwundert, als er mich im Foyer entdeckte, wie ich uns gerade einige Getränke organisierte. „Miriam und ich haben die Lesung besucht“, entgegnete ich, als wäre es das Normalste von der Welt. „Die Staatsanwältin ist auch hier?“ Sinner sah sich nach allen Seiten um. „Ist sie.“ Ich deutete auf den kleinen Innenhof. „Der smarte Typ neben ihr ist der Songwriter Mark Beerell“, erklärte ich. „Der Mann mit der Mütze ist der Schriftsteller. Die beiden traten gemeinsam auf.“
„Ich bin wirklich überrascht, dich bei einer solchen Veranstaltung anzutreffen“, räumte der Ermittler ein. „Etwas Kultur könnte dir auch nicht schaden“, erwiderte ich großspurig. „Offenbar erlebt man bei solchen Events einiges“, grinste Sinner. „Das Opfer ist übrigens die Stalkerin des Musikers. Er hat, kurz bevor die Leiche von der Veranstalterin entdeckt wurde, mit ihr gesprochen. Sie hatte wiederholt die Veranstaltung gestört.“ „Interessant“, überlegte Sinner. „Wir reden nachher weiter. Ich will hören, ob der Notarzt schon etwas zum Umstand des Todes sagen kann.“ „Sie hat einen Schaschlikspieß im Ohr“, warnte ich den Ermittler vor. „Das nenne ich mal kreativ“, reagierte Sinner bemerkenswert locker. Ich lieferte die Getränke im Innenhof ab und folgte ihm zum Fundort. Miriam ließ es sich nicht nehmen, mich dabei zu begleiten.
Als wir dazustießen packte der Notarzt gerade seinen Koffer ein. „Doktor Sahe-Mafasi“, hörten wir, wie sich der Mediziner vorstellte. „Die Frau starb an inneren Blutungen im Gehirn. Der Spieß muss ihr mit großer Kraft in das Ohr gerammt worden sein“, erklärte er. „Da war nichts mehr zu machen. Ich nehme an, es war in Ihrem Interesse, dass ich den Spieß so beließ, wie ich ihn in der Frau vorfand.“ Oberkommissar Sinner nickte dem Arzt dankbar zu. „Kann das Opfer bei der Tat oder danach geschrien haben?“ „Das kommt sicherlich darauf an, ob der Spieß Teile des Sprachzentrums zerstörte“, hielt sich der Arzt vage. „Da kann Ihnen der Rechtsmediziner nach der Obduktion sicher mehr sagen“, vertröstete er Sinner.
„Können Sie schon etwas zum Zeitpunkt des Todes sagen?“, erkundigte sich Schubert. Doktor Sahe-Mafasi hob nachdenklich die Brauen. „Unter allem Vorbehalt ist die Frau nicht länger als eine Stunde tot.“ „Das kommt hin“, bestätigte Miriam. „Herr Beerell begab sich gegen 19:20 mit der Frau in die Sitzecke, um mit ihr zu sprechen. Frau Schmidt entdeckte das Opfer etwa 10 Minuten nach seiner Rückkehr auf die Bühne. In der Zwischenzeit war weder ein Hilferuf noch ein Schmerzensschrei zu hören.“ „Dann war Herr Beerell also der letzte, der die Frau lebend sah“, stellte Kommissar Schubert fest. „Nein“, widersprach ich. „Der Letzte war der Mörder.“
Der Oberkommissar nickte mir bekennend zu. „Ich halte Herrn Beerell nicht für derart abgebrüht, um gleich nach dem Mord an… Wie heißt die Frau eigentlich?“, unterbrach ich mich.
„Ich wollte eigentlich auf die Spusi warten, um das Gesamtbild nicht zu zerstören“, erklärte Schubert den Umstand, dass er bislang noch nicht im Rucksack der Frau nach ihren Papieren gesucht hatte. „Haben Sie ein erstes Foto gemacht, um die Auffindesituation zu dokumentieren?“, erkundigte sich Sinner. „Wir können ja nicht zwingend davon ausgehen, dass die Spusi eintrifft, bevor das Opfer zur Seite kippt.“ Schubert schluckte trocken, griff zu seinem Handy und fotografierte das Opfer, sowie den Auffindeort.
Anschließend öffnete Sinner den Rucksack. „So, hier habe ich ja schon ihren Personalausweis. Das Opfer trug den schönen Namen Isabell Sonntag“, las er. „Sie wohnte hier in Wolfenbüttel.“ Miriam schüttelte den Kopf. „Der Name sagt mir nichts, aber ich sprach bereits mit Herrn Beerell. Er kennt die Tote von einigen Auftritten. Allerdings habe sie ihn nie zuvor in diesem Ausmaß gestalkt.“
„Die Besucher der Lesung werden ungeduldig“, unterbrach uns Walburga Schmidt, die natürlich bemüht war, die Situation für die Besucher des Schmidt Terminals erträglich zu halten. „Die Leute wollen verständlicherweise nach Hause.“ „Sie haben Recht“, nickte ihr Sinner verständnisvoll zu. „Kümmern Sie sich darum, Schubert. Ich möchte jetzt erst einmal mit Herrn Beerell sprechen.“ „Ja, aber wir können die Leiche doch nicht unbewacht hier herumsitzen lassen.“ „Dann stellen Sie halt einen der Polizisten dazu ab“, reagierte sein Vorgesetzter genervt. „Sowie Sie die Personalien und eine erste Aussage haben, können sie die Leute entlassen.“ „Soll ich die Leute gleich für morgen Vormittag in die Dienststelle einbestellen?“ Sinners Stirn krauste sich. „Machen Sie das, unsere Kollegen werden es Ihnen danken. Ich werde dann allerdings ganz sicher nicht anwesend sein.“
-4-
Spurensicherung und Rechtsmedizin bestätigten die ersten Eindrücke des Notarztes. Der Fundort der Leiche war auch der Tatort. Doktor Schnippler bezifferte 19:30 Uhr plus minus 15 Minuten als Todeszeitpunkt. Bevor und nachdem das Opfer in die Rechtsmedizin nach Braunschweig verbracht wurde, fertigte die Spurensicherung eine Unmenge von Fotos aus allen erdenklichen Positionen an. Jedes auch noch so unscheinbare Teilchen wurde durch ein kleines Nummernschild gekennzeichnet, in einem Grundriss dokumentiert und abschließend fotografiert. In dieser Weise bearbeitet, wurde es in einem Beutel mit einer Nummer eingetütet und in eine Beweismittelkiste eingeräumt.
Ähnlich verhielt es sich mit einer speziellen Folie, mit der abschließend jeder Zentimeter der Sitzecke beklebt wurde, um sie danach mitsamt den darauf befindlichen Fasern nebst potentiellen DNA-Trägern wieder abgezogen und vakuumiert zu werden. Auf diese Weise sichergestellt, konnte von Technikern im Labor genauestens nachvollzogen werden, wo sich die betreffende Folie und somit ein möglicher Beweis befunden hatte.
Seit ich meinem Dienst bei der Mordkommission quittiert hatte, war der technische Aufwand bei der Tatortanalyse enorm gestiegen. Inzwischen fand ein regelrechtes Wettrüsten zwischen Verbrechen und Polizei statt. Untersuchungsmethoden und die Sicherung möglicher Beweismittel waren eine Wissenschaft geworden. All dies konnte allerdings nicht die gute alte Ermittlungsarbeit ersetzen, bei der eine Fülle relevanter Indizien und Beweise in Kombination mit unterschiedlichsten Motiven zusammengetragen wurden.
Es lag auf der Hand, dass die Veranstaltung nicht fortgesetzt wurde. Entgegen aller Erwartungen wurde der Musiker weder von der Polizei verhaftet, noch zur Vernehmung in die Polizeidienststelle mitgenommen. Lange, nachdem der Autor und die übrigen Eventbesucher das Terminal verlassen hatten, saßen Miriam, Mark und ich mit Walburga Schmidt noch zusammen und unterhielten uns.
„Ich verstehe das alles nicht“, seufzte der immer noch sehr mitgenommen wirkende Songwriter. „Nach unserem Gespräch war alles tutti. Ich hatte ihr für einen der nächsten Tage ein Abendessen im Smedien zugesagt. Dort wollte ich ihr in aller Ruhe klarmachen, dass ich nicht mehr als eine Freundschaft zu ihr wollte“, erklärte uns Mark. „Ihr musste doch klar gewesen sein, dass du mitten in einer Partnerschaft steckst“, führte Walburga an, die den Musiker seit Jahren kannte. „Oder lief da was zwischen dir und dieser Frau?“, hakte sie nach. „Quatsch“, reagierte Mark energisch.
„Ich verstehe nach wie vor nicht, weshalb das Opfer keinen einzigen Laut von sich gab“, stellte Miriam die Frage, die uns alle beschäftigte. „Sie muss den Mörder gekannt haben“, schlussfolgerte Walburga. „Wie sollte er sonst so dicht an sie herangekommen sein?“ „Wenn ihr zum Tatort hinüberseht, wird klar, wie dunkel es dort ist. Viel heller war es dort zur Tatzeit auch nicht und dennoch gelang es dem Täter, das Ohr präzise zu treffen“, sinnierte ich. „Wenige Millimeter daneben und der Holzspieß wäre gebrochen.“
„Mir wird schlecht“, griff sich Walburga an den Hals. „Na weißt du, Leopold, ganz so ausführlich musst du uns an deinem Gedankengang auch nicht teilhaben lassen“, schimpfte Miriam. „Als ich die Frau mit dem Spieß im Kopf da sitzen saß, konnte ich zunächst meine Gedanken gar nicht ordnen“, versuchte die Veranstalterin den Augenblick zu erklären, in dem sie das schreckliche Bild vor sich sah. „Alles purzelte irgendwie durcheinander, ließ mich keinen klaren Gedanken fassen.“
„Es geht auch Menschen, die in ihrem Beruf häufig mit dem Tod zu tun haben nicht anders“, tröstete Miriam. „Ich werde mich hoffentlich niemals an den Anblick eines Ermordeten gewöhnen.“ „Was bleibt, ist die Frage nach dem Warum?“, fragte ich nach einem möglichen Motiv. „Mark scheint der Einzige der Anwesenden zu sein, der die Frau offenbar etwas kannte“, sagte ich nachdenklich. „Was willst du damit sagen?“, fühlte sich der Musiker angegriffen. „Dass du die Tote bei einem deiner Konzerte eventuell in Begleitung gesehen hast“, nahm ich ihm den Wind aus den Segeln.
„Es ist offensichtlich, dass du kurz vor dem Mord an Isabell Sonntag mit ihr am Tatort gesprochen hast“, kombinierte ich. „Das Gespräch mit ihr verlief harmonisch, weil ich mich auf ein Date mit ihr einließ.“ „Du hattest dich mit ihr verabredet?“, konnte Walburga kaum glauben, was uns Mark erzählte. „Aber das war doch nur, um sie fürs erste ruhig zu stellen“, behauptete er. „Jemand anderer hat das dann wörtlich genommen“, entgegnete ich unüberlegt. „Dein Sarkasmus war schon mal besser“, reagierte Miriam kopfschüttelnd. „Sorry.“
„Wie kam die Frau nur auf die Idee, du würdest dich auf sie einlassen?“, hakte Walburga nach. „Du bist dir sicher, der Frau keinerlei Hoffnungen gemacht zu haben?“ „Aber ja“, beteuerte Mark genervt. „Ich hatte mit der Lady nicht das Geringste zu tun. Sie war ein Fan, mehr nicht.“ „Wenn dem so ist, haben Sie nichts zu befürchten“, versprühte Miriam Zuversicht. „Ich weiß gar nicht, was ich den Kommissaren morgen Nachmittag sagen soll.“ „Herr Sinner hat Sie in die Dienststelle gebeten?“, erkundigte sich die Staatsanwältin. „Hoffentlich können die mich bis dahin als Tatverdächtigen ausschließen.“
„Ich glaube zwar nicht, dass es nötig sein wird, aber für den Fall der Fälle weiß ich einen guten Anwalt. Die Adresse eines ausgezeichneten Detektivs hast du ja“, grinste ich schelmisch. Wie konnte ich zu diesem Zeitpunkt ahnen, dass er schon kurz darauf meine Dienste in Anspruch nehmen musste?
„Du hattest Recht, mein Schatz. So eine Lesung ist tatsächlich eine tolle Sache“, räumte ich auf dem Heimweg ein. Miriam schüttelte ungläubig den Kopf. „Man kann einfach nirgends mit dir hingehen. Es scheint mir so, als würde dir der Tod an jeder Ecke begegnen.“ Mein Gesicht verzog sich, weil ich einen tiefen Seufzer ausstieß. „Ich weiß, was du meinst, aber was kann ich für das Schlechte in der Welt?“
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„Guten Tag, Herr Beerell“, empfing Schubert den Musiker. „Es ist gut, dass Sie unserer Einladung nachgekommen sind.“ „Ich hoffe, ich kann zur Klärung des Verbrechens beitragen“, entgegnete der Songwriter. „Das wäre wünschenswert. Wie Sie sich sicher denken können, waren wir in der Zwischenzeit nicht untätig. Es gibt einige neue Erkenntnisse, die bereits etwas Licht auf den Fall werfen“, sprach der Kommissar für Marks Gefühl reichlich borniert. „Wenn Sie mir bitte in das Besprechungszimmer folgen? Mein Chef wird gleich zu uns stoßen.“
Der Besuch in der Polizeidienststelle an der ‚Lindener Straße‘ war eine Premiere für Mark. Aus seiner Sturm- und Drangzeit kannte er bislang nur die alte Villa auf dem ‚Grüner Platz‘. Dort hatte er allerdings auch schon mal eine Nacht in einer Ausnüchterungszelle verbracht. Lange war es her und fiel längst in die Rubrik ‚Jugendsünden‘. Trotzdem war sein Verhältnis zur Polizei auch heute eher von Misstrauen geprägt.
„Wollen Sie etwas trinken?“, erkundigte sich Schubert, kaum dass er auf dem Holzstuhl hinter dem Tisch Platz genommen hatte. „Kaffee, Cola, Wasser?“ „Ein Wasser wäre prima.“ Während er auf den Kommissar wartete, betrat sein Chef den Raum. „Entschuldigen Sie die kleine Verspätung, ich habe noch mit der Pathologie telefoniert. Wir wissen inzwischen, wie Frau Sonntag starb.“ Er legte eine Mappe mit einigen Seiten darin auf dem Tisch ab und stieß einen tiefen Seufzer aus. „Kein schöner Tod, wie Sie sich denken können.“
Mark zuckte mit den Achseln. „Ich weiß zwar nicht, wie ich Ihnen behilflich sein kann, aber…“ „Wie wäre es mit der Wahrheit?“, schnitt ihm Sinner das Wort ab. Im selben Moment kehrte Schubert mit den Getränken zurück. „Ich habe Ihnen einen Kaffee mitgebracht“, wandte sich der Kommissar seinem Vorgesetzten zu. „Sehr nett von Ihnen.“ Sinner schob ihm die Mappe zu und sah ihn schweigend an.
„Wenn ich Ihre Worte richtig in Erinnerung habe, erklärten Sie uns gegenüber, Sie hätten die Tote lediglich von einigen Konzerten gekannt, die Sie in diesem Jahr im regionalen Umfeld gaben“, fasste der Oberkommissar zusammen. Der Zeuge nickte. „Das stimmt so allerdings nicht“, bezichtigte ihn Sinner, die Unwahrheit zu sagen. „Sie wurden von Frau Sonntag erst gestalkt, nachdem Sie die Affäre zu ihr abbrachen.“ Mark Beerell fühlte sich ertappt.
„Offensichtlich haben Sie den Ernst der Lage noch nicht erkannt“, fuhr Sinner vor. „Im Zuge unserer Ermittlungen suchten wir natürlich auch die Wohnung von Frau Sonntag auf, wo wir auch den Anrufbeantworter des Opfers abhörten“, erzählte der Kommissar. „Sie können sich wohl nicht zufällig an einen Anruf erinnern, bei dem Sie eine Nachricht darauf hinterließen?“ Der Songwriter schluckte trocken. Hinter seiner Stirn rumorte es gewaltig. Blufften die Kommissare oder hatte das kleine Luder seine recht eindringliche Warnung tatsächlich nicht gelöscht?
„Okay, da war mal was zwischen Isabell und mir. Nichts Ernstes, nur für eine Nacht, dachte ich.“ „Das sah Frau Sonntag wohl etwas anders“, schlussfolgerte Schubert. „Na ja, sie sprach von der großen Liebe, obwohl ich ihr von Anfang an nichts versprochen hatte. Ich gab ihr sogar mehrfach zu verstehen, dass ich meine Lebenspartnerin auf keinen Fall wegen ihr verlassen würde.“ „Was ja wohl ganz offensichtlich nicht den erwünschten Erfolg brachte“, resümierte Schubert. „Deswegen mussten Sie Frau Sonntag auf andere Weise loswerden“, ließ Sinner keinen Zweifel daran, dass er Mark Beerell für den Mörder hielt.
„Die Frau war verrückt und ich wusste mir allmählich keinen Rat mehr, aber deswegen bringe ich sie doch nicht um.“ „So? Das hörte sich auf dem Anrufbeantworter aber ganz anders an“, warf ihm Schubert vor. Der Kommissar betätigte eine Taste auf seinem Laptop und spielte die Bandaufnahme ab. „Lass mich endlich in Ruhe und lass vor allem Marie aus der Sache raus, sonst bist du fällig.“
„Um Himmels Willen, ich meinte doch damit nicht, dass ich sie umbringen werde!“, erregte sich der Musiker. „So? Für mich klang das aber genauso“, ließ sich der Oberkommissar nicht beirren. Mark schlug mit der Faust auf den Tisch. „Verdammt noch mal, ich habe diese Frau nicht getötet, auch wenn ich es im Geiste schon etliche Male hätte tun können.“ „Sie sind impulsiv, ich würde sogar von Jähzorn sprechen“, interpretierte der Ermittler die Reaktion seines Gegenübers. „Zumindest haben Sie sich nicht unter Kontrolle.“
Mark winkte ab. „Sie drehen sich die Dinge so, wie Sie sie brauchen. Vorn mir erfahren Sie kein Wort mehr.“ „Dann muss ich Ihnen leider mitteilen, dass wir Sie in der Sache nicht mehr als Zeuge, sondern als Tatverdächtigen befragen.“ „Ich gehe jetzt! Sie können mich hier nicht festhalten“, verkündete der Befragte und stand auf, um den Raum zu verlassen. „Das steht Ihnen derzeit selbstverständlich noch frei, aber ich darf Sie bitten, sich bis auf Weiteres zu unserer Verfügung zu halten.“
Meine Prophezeiung bestätigte sich also, nur dass Mark die von mir erhaltende Visitenkarte von meinem Freund und Rechtsanwalts schneller benutzte als erwartet. Ebenso schnell klingelte das Telefon auf Trudes Schreibtisch und nur eine halbe Stunde später begrüßte ich die niedliche Reno in Christoph Börners Vorzimmer.
„Wo hast du denn nur meine aufsässige Nichte gelassen?“, erkundigte sich der smarte Advokat und Schwipp-Onkel meiner Azubine. „Die hat noch genügend Arbeit auf ihrem Schreibtisch“, entgegnete ich lächelnd. „Wie ich höre, hast du mich an einen Mandanten empfohlen. Ein gewisser Herr Beerell, dessen Veranstaltung du kürzlich mit Miriam zusammen besucht hast.“ „Ein Freund aus alten Zeiten, zu dem ich allerdings lange keinen Kontakt mehr hatte.“
„Wie auch immer, deinem alten Kumpel steht das Wasser bis zum Hals.“ In meinem Gesicht stand ein dickes Fragezeichen. „Wann soll er die Frau denn umgebracht haben? Er war höchstens 5 Minuten mit ihr allein. Das heißt, er war ja nicht mal mit ihr allein. Keine zwanzig Meter von den beiden entfernt saßen fünfzig Besucher der Lesung und warteten ungeduldig darauf, dass die Veranstaltung weitergehen würde. Abgesehen davon hast du den Mann kennengelernt. Glaubst du wirklich, der geht zwischen zwei Songs mal eben um die Ecke und ermordet seine Stalkerin?“ „Sie war mehr als seine Stalkerin“, überraschte mich Christoph. „Während dein Kumpel meinte, es wäre ein One-Night-Stand, glaubte Isabell Sonntag an die große Liebe.“ Ich griff mir an den Kopf. „Na jetzt wird mir natürlich einiges klar. So ein Idiot, durch seine Lügerei hat er sich jetzt so richtig verdächtig gemacht.“
„Es kommt noch dicker, Leopold“, setzte der Rechtsanwalt noch einen drauf. „Oberkommissar Sinner nahm natürlich die Wohnung des Opfers unter die Lupe und stieß bei dieser Gelegenheit auf eine Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter. Der Musiker hatte darauf eine Drohung hinterlassen.“ Ich griff mir an die Stirn. „Wie dumm kann man denn sein?“ „Als ich von ihm wissen wollte, weshalb er dies getan hatte, erklärte er seine Worte als Kurzschlusshandlung. Isabell Sonntag wollte seiner Partnerin von ihrer Beziehung erzählen.“ „Na prima, da liefert er auch gleich noch das passende Motiv mit“, seufzte ich.
„Er ist unbedarft und genau das lässt ihn in meinen Augen unschuldig erscheinen“, bekundete mein Freund. „Ich bin schon sehr darauf gespannt, wie das Obduktionsergebnis ausfällt. Eins ist klar, dein Kumpel ist nur deshalb noch auf freiem Fuß, weil Sinner ihm die Tat bislang nicht nachweisen kann. Sollte einer der Zeugen doch etwas gesehen haben, was Mark Beerell belasten könnte, wird Tim beim Richter Untersuchungshaft beantragen.“ „Es muss doch irgendetwas geben, womit wir Mark entlasten können“, überlegte ich. „Wahrscheinlich wäre es effektiver, den wahren Mörder zu finden“, krauste sich Christophs Stirn. „Du warst selber bei der Mordkommission und weißt, wie schwer es ist, in andere Richtungen weiter zu ermitteln, wenn du einen derart Verdächtigen im Gewahrsam hast.“
[1]Lessing 2 ‚Im Banne der Dämonen‘
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