Detektei Lessing

Der süße Durst nach Rache

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Es war der Tag der Urteilsverkündung im großen Verhandlungssaal vor dem Schöffengericht im Amtsgericht Wolfenbüttel. Der Mord an der Ehefrau des Wolfenbütteler Malermeisters Morten Krüger hatte in der Lessingstadt für großes Aufsehen gesorgt. Es handelte sich um einen Fall, der in der deutschen Kriminalgeschichte sicherlich seines Gleichen suchte. Wahrscheinlich hatte sich Miriam genau aus diesem Grund, trotz ihrer fortgeschrittenen Schwangerschaft und unserer bevorstehenden Hochzeit, nicht von der Übernahme der Anklagevertretung abbringen lassen.

Ein Fall, der meine Liebste zeitweise an ihre Grenzen brachte. Es gab Momente, die sie psychisch derart in Anspruch nahmen, dass sie fast am Ende war. Allein ihre Schwangerschaft wäre ausreichend Grund gewesen, den Fall abzugeben. Immerhin war sie bereits im siebten Monat. Doch wer Miriam kennt, weiß, dass sie sich auch in dieser Situation keine Blöße geben will. Aus lauter Sorge um sie verbrachte ich während der Verhandlungen möglichst viel Zeit im Gerichtssaal. In Anbetracht der vielen Arbeit, die sich auf meinem Schreibtisch angehäuft hatte, war ich mehr als froh, als sich Miriam nun zu ihrem letzten Antrag erhob.

„Der Angeklagte, Morten Krüger, hat seine Ehefrau nicht nur heimtückisch, an den mit Folien ausgelegten und somit steril hergerichteten Tatort gelockt, sondern sie obendrein auch noch in abscheulicher Weise psychisch gequält, indem er sie schminkte, ehe er ein Messer an ihre Kehle setzte und sein perfides Werk vollendete. Anschließend zerstückelte er den Leichnam seiner Frau, verpackte ihn in mehrere Müllbeutel und warf die Leichenteile auf dem Tiermastbetrieb seiner Schwiegereltern den Schweinen zum Fraß vor. Doch damit nicht genug, hat er den Angehörigen auch noch ein Video der Hinrichtung zukommen zu lassen.“

Miriam zeichnete ein abstruses und höchstdiffiziles Bild des Beschuldigten. „Somit hat er sich nicht nur durch diese bestialische Tat, sondern auch durch seine brutale und menschenverachtende Denkweise, für eine anschließende Sicherheitsverwahrung qualifiziert“, fuhr sie fort. „Ich beantrage somit die besondere Schwere der Schuld festzustellen und den Angeklagten Morten Krüger wegen Mordes in einem besonders schweren Fall zu einer Haftstrafe von fünfzehn Jahren zu verurteilen. Darüber hinaus beantrage ich eine anschließende Sicherheitsverwahrung zu verfügen.“

Damit schloss Miriam Herz ihren Strafantrag und nahm Platz. Das vorletzte Wort oblag dem Verteidiger. Ein verschlagener Winkeladvokat, der in dem Ruf stand, seine Verteidigung mit allen erlaubten und unerlaubten Mitteln zu führen.

„Hohes Gericht, verehrte Staatsanwältin, ich muss dem Antrag der Anklage in allen Bereichen widersprechen. Nach Meinung der Verteidigung ist die Schuld des Angeklagten keineswegs erwiesen. Es gibt weder ausreichende Beweise die meinen Mandanten des Mordes an seiner geliebten Frau überführen noch ein Motiv für diese Tat. Es konnte nicht zweifelsfrei geklärt werden, wer auf dem Video zu sehen ist, als die Ehefrau meines Mandanten ermordet und zerteilte wurde. Ebenso wenig steht fest, wer dieses Video anfertigte und wer es anschließend den Hinterbliebenen zustellte. Ferner ist nicht geklärt wer die Leichenteile auf dem Hof der Eltern des Opfers entsorgte. Ich sehe eklatante Ermittlungsfehler, die begründete Zweifel aufwerfen. Nach Einschätzung der Verteidigung kann das Gericht nur zu einem einzigen Urteilsspruch gelangen, in dubio pro reo, im Zweifel für den Angeklagten.“

„Nun, Angeklagter, Sie haben das letzte Wort“, gab der Richter dem Beschuldigten die letztmalige Gelegenheit, sein Gewissen zu erleichtern und ein Geständnis abzulegen. Morten Krüger erhob sich. „Im Grunde möchte ich mich den Ausführungen meines Anwalts anschließen“, erklärte der Beschuldigte. „Ich weiß bis heute nicht, wie alles so kommen konnte.“ Die Worte kamen sehr gefasst über seine Lippen und doch merkte man dem Malermeister an, wie sehr ihn der Prozess mitgenommen hatte. „Eines vielleicht noch, ich schwöre, dass ich meiner Frau nichts zu Leide getan habe!“ „Wir nehmen ihr letztes Wort zu Kenntnis. Das Gericht zieht sich nun zur Urteilsfindung zurück.“

Während der Beschuldigte für die Dauer der Unterbrechung in eine Verwahrungszelle gebracht wurde, zog sich Miriam in ihr Büro zurück. Dieses befindet sich seit einigen Jahren ebenfalls im Gerichtsgebäude. Während ich noch etwas auf dem Gang vor dem Verhandlungssaal auf und ab lief, um Miriam nicht gleich in ihr Büro zu folgen, sah ich auf den kleinen Innenhof und dachte an das alte Amtsgericht, welches dem jetzigen gegenübersteht. Ich erinnerte mich an den Besuch einer Verhandlung mit meiner Schulklasse. Unser damaliger Pauker, der Herr Ehrenfurt, ist längst verstorben.

Während ich also in meinen Erinnerungen schwelgte, bemerkte ich, dass sich die Eltern der Ermordeten und die des Beschuldigten nach wie vor höflich und kultiviert miteinander unterhielten. Ein gutes Beispiel dafür, dass man trotz dieser schlimmen Tat und ihrer Folgen zivilisiert mit einander umgehen kann.

„Wo warst du denn so lange?“, erkundigte sich Miriam, als ich einige Minuten später ihr Büro betrat. „Ich wollte dir ein paar Minuten Luft geben.“ „Im Grunde wundert es mich ohnehin, weshalb du schon wieder der Verhandlung beiwohnst. Offenbar hast du zurzeit nicht viel zu tun.“ „Sommerloch“, erklärte ich ironisch. „Was für ein Sommer? Soweit es überhaupt einen gab, ist der laut Kalender ja wohl längst Geschichte.“ „Nun sei doch nicht immer derart logisch“, beschwerte ich mich. „Das, mein lieber Leopold, liegt dann wohl an meinem Beruf.“ „Apropos, was glaubst du, wie der Spruch des Richters lauten mag?“ Miriam stemmte ihre Fäuste in die Hüften. „Diese Frage erübrigt sich ja wohl. Alles andere als ein Schuldspruch wäre ein Schlag gegen das Recht!“ In Anbetracht ihrer Reaktion verkniff ich mir jede weitere Frage

Gerade als ich meine Liebste auf einen leckeren Automatenkaffee einladen wollte, machte sich ihr Handy bemerkbar. „Es geht weiter“, verkündete Miriam. Das Gericht gelangte schneller zu einem Urteil als erwartet. Vielleicht können wir ja doch noch zusammen Mittagessen gehen.“ Ich sah meine Verlobte durchdringend an. Sie wusste sofort worauf ich hinaus wollte. „Da ich diesen Fall gewinnen werde, lade ich dich selbstverständlich ein.“ „Es ist ja nur wegen der Sommerflaute“, zwinkerte ich ihr zu.

Wenige Minuten später hatten sich sowohl das Publikum als auch alle übrigen Beteiligten wieder im Verhandlungssaal eingefunden. Als der Vorsitzende und die beiden Schöffen den Saal betraten, erhoben sich die Anwesenden. Der Richter verschwendete keine Zeit. Er verkündete das Urteil ohne sich zuvor zu setzen und ohne einleitende Worte.

„Nach Ansicht des Gerichts ist der Angeklagte, Morten Krüger, des heimtückischen und vorsätzlichen Mordes an seiner Ehefrau, Jasmin Krüger schuldig. Er hat das Opfer unter einem Vorwand auf eine Baustelle gelockt, auf der er zu dieser Zeit tätig war, hat sie dort überwältigt und in einem speziell zu diesem Zweck steril hergerichteten Raum gefoltert und schließlich getötet. Das Gericht sieht daher die besondere Schwere der Schuld und verurteilt den Beschuldigten zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe mit einer anschließenden Sicherungsverwahrung.“

„Hier geschieht Unrecht!“, war Morten Krüger mit dem Urteil nicht einverstanden. „Verdammt noch mal, ich habe meine Frau nicht umgebracht!“ „Angeklagter verhalten Sie sich ruhig!“, befahl ihm der Richter. „Ich möchte mit der Urteilsbegründung fortfahren.“ Doch der Verurteilte beruhigte sich nicht, begann stattdessen immer mehr mit seinen Armen herumzufuchteln. „Ich gehe nicht ins Gefängnis!“, schrie er. Der anwesende Justizbeamte griff nach seinen Armen, versuchte ihm Handschellen anzulegen. Morten Krüger versuchte sich dessen zu entziehen, schlug dabei, mehr versehentlich seinem Anwalt den Ellenbogen ins Gesicht. Der verlor das Gleichgewicht und kippte zur Seite. Dabei fiel ein Taschenmesser aus seiner Tasche.

Als Morten Krüger die Waffe sah, musste er sich binnen eines einzigen Atemzugs entscheiden. Er entschied sich für den falschen Weg, griff nach dem Messer, klappte es irgendwie auf und verletzte damit den Justizbeamten am Arm. Während dieser schockiert von ihm abließ, schwang sich der Verurteilte über das Pult, hinter dem er gesessen hatte und stürmte auf Miriam zu. Als ich seine Absicht erkannte, war es bereits zu spät, um ihm den Weg abzuschneiden. Die Vertreterin der Anklage stand zu einer Säule erstarrt hinter ihrem Pult und unternahm nicht einmal den Versuch sich seinem Zugriff zu entziehen. Als ich das Messer an Miriams Hals aufblitzen sah, wurde mir klar, dass jeglicher Versuch den Verurteilten anzugreifen das Leben meiner Liebsten gefährden würde.

„Zurück!“, schrie Krüger zu allem entschlossen. „Wenn ihr keine Zicken macht, wird ihr nichts geschehen.“ Während des Geschehens hatte der Vorsitzende den Notalarm unter dem Richtertisch ausgelöst. Auf Grund dessen verschlossen sich alle Ausgangstüren durch einen Sperrmechanismus. Alle Personen, die sich noch im Gerichtsgebäude, jedoch außerhalb des großen Verhandlungssaals befanden, wurden durch weitere Justizbeamte in Sicherheit gebracht. „Los, schließen Sie mir die Handschellen auf!“, befahl der Verurteilte dem Uniformierten. Der am Arm verletzte Justizbeamte stellte sich stur. „Nun machen Sie schon“, forderte ich den Mann auf. „Oder wollen Sie, dass er seiner Geisel etwas antut. „Tun Sie, was der Verurteilte verlangt“, nickte ihm nun auch der Richter zu. Der Justizbeamte zögerte immer noch.

Leider meinte der Justizbeamte ausgerechnet jetzt den Helden spielen zu müssen und versuchte den Moment zu nutzen. Ein Versuch, mit dem Krüger jedoch gerechnet hatte. Als der Uniformierte während des Aufschließens versuchte, die Hände des Verurteilten von Miriams Hals wegzuziehen, verpasste ihm Krüger einen heftigen Tritt zwischen die Beine. Während sich der Beamte vor Schmerz krümmte, fiel der Schlüssel zu Boden. Krüger erhöhte den Druck auf das Messer. Miriams Hals begann zu bluten. „Bitte lassen Sie mich, Herr Krüger, ich bin schwanger“, flehte sie. Da der Justizbeamte außer Gefecht gesetzt war, bückte ich mich nach dem Schlüssel. „Heben Sie ihn ganz langsam auf“, ließ sich der Verurteilte nicht aus der Ruhe bringen.

Miriam suchte Blickkontakt zu mir. Ich sah die Angst in ihren Augen. Während ich mich nach dem Schlüssel bückte, bedeutete ich ihr durch eine Geste mit meiner Hand Ruhe zu bewahren. „Und nun schließen Sie mir endlich diese verdammten Handschellen auf!“, forderte der Verurteilte. „Sie machen doch alles nur noch schlimmer, Krüger“, versuchte ihn der Richter zur Vernunft zu bringen. „Geben Sie auf, solange niemand zu Schaden gekommen ist.“ „Was soll ich denn noch schlimmer machen?“, fragte Krüger sarkastisch. „Wenn Sie wollen, dass niemand zu Schaden kommt, dann sorgen Sie dafür, dass sich mir niemand in den Weg stellt.“

Dann schob er Miriam zur Tür und weiter auf den Flur. „Sollte einer von euch auf die Idee kommen, mich anzugreifen, wird die Staatsanwältin dafür büßen. Ich habe nichts zu verlieren!“ „Lassen Sie ihn gehen“, wies der Richter die Justizbeamten an. Er wusste, dass das Mobile Einsatzkommando jeden Moment am Gericht eintreffen musste. Die Sicherheitskräfte zögerten. „Wird's bald!“, forderte der Mann mit dem Messer mit allem Nachdruck. Die elektronische Sicherung der Tür wurde aufgehoben. Auf dem Parkplatz vor dem Gericht angelangt, forderte Krüger Miriams Autoschlüssel. „Es tut mir leid, aber ich habe die Schlüssel in meinem Büro gelassen.“ „Dann geben Sie mir ihre, Richter!“ Der Mann in der Robe zögerte. „Na los! Wird's bald?“

Noch bevor das MEK eintraf, raste Krüger mit Miriam im Jaguar des Richters vom Parkplatz vor dem Gericht. Da absehbar war, dass sich der Verurteilte nicht bis zum Eintreffen des Einsatzkommandos hinhalten, geschweige denn von einer Flucht abbringen ließ, war ich zu meinem Wagen gelaufen, um wenigstens die Verfolgung des Jaguars aufzunehmen. Da ich Krüger in Sicherheit wiegen und somit etwas Druck aus der Situation nehmen wollte, folgte ich mit etwas Abstand. Das gab ich natürlich auch an die Notrufzentrale weiter.

Krüger lenkte den Jaguar an Schünemanns Mühle und dem alten Zeughaus vorbei und bog am Schlossplatz nach rechts auf die Doktor-Heinrich-Jasper-Straße. Da ich ihnen mit einigem Abstand folgte, musste ich zunächst den fließenden Verkehr durchlassen, der aus Richtung Parkhaus kam. Als ich dem Jaguar schließlich folgen konnte, war die schmale Straße bereits vor dem Ärztehaus so verstopft, dass es weder vor noch zurückging. Ich schlug aus Wut über mich selbst auf das Lenkrad. Kurz entschlossen scherte ich auf die Gegenfahrbahn aus und fuhr ein gutes Stück weit an den vor der Kreuzung wartenden Fahrzeugen vorbei. Ich hatte den Jaguar bereits wieder in Sichtweite, als mir ausgerechnet ein Lastwagen entgegenkam.

Als der Fahrer die Situation erkannte, begann er hinter seinem Lenkrad wie ein Choleriker zu toben. Um den Laster vorbeizulassen, lenkte ich meinen Skoda geistesgegenwärtig auf den an dieser Stelle recht breiten Fußweg. Doch jetzt sah der Zwerg erst recht rot. Er riss ebenfalls das Lenkrad herum und blockierte meinen Wagen. Meine flehentlichen Versuche, ihn zur Vernunft zu bewegen, verfehlten ihre Wirkung. Wutentbrannt sprang der Kerl aus seinem Führerhaus und kam auf mich zu. Ich war natürlich nicht weniger aufgebracht, wollte mich in dieser Situation allerdings auch nicht lange mit dem Herrn auseinandersetzen. Aus diesem Grund bat ich ihn, möglicherweise etwas lauter, seinen LKW wegen eines dringenden Polizeieinsatzes aus dem Weg zu fahren. Als er meinen Dienstausweis sehen wollte, schubste ich ihn zur Seite, um den Lastwagen selbst zur Seite zu fahren. Als er versuchte mich daran zu hindern, schlug ich kurzerhand zu.

Quasi im gleichen Moment sah ich, wie der Jaguar in Richtung Finanzamt davonfuhr. Da sich der Verkehr nun auch hinter dem LKW staute, war an einer weiteren Verfolgung nicht mehr zu denken. Ich half dem Brummifahrer auf die Beine und hoffte, dass die Polizei erfolgreicher war als ich.

 

-2-

„Mensch Krüger, schalten Sie endlich Ihr Gehirn ein!“, ließ sich Miriam weder vom Messer des Geiselnehmers noch von seiner Entschlossenheit beeindrucken. „Was glauben Sie denn, wie weit Sie kommen? Spätestens wenn wir die Stadt verlassen, werden wir in eine der Kontrollen kommen.“ „Noch sind Sie meine Geisel“, glaubte Krüger an seine Chance. „Wie wollen Sie fahren und mir gleichzeitig ein Messer an die Kehle halten?“ „Das lassen Sie mal meine Sorge sein.“

Während der Jaguar weiter auf der Adersheimer Straße stadtauswärts fuhr, waren in der Ferne bereits die Sirenen einiger Streifenwagen zu hören. „Wenn der Hubschrauber in der Luft ist, haben Sie nicht einmal mehr den Hauch einer Chance“, blieb Miriam gelassen. „Die Karre ist doch so auffällig wie eine rollende Litfaßsäule. „Halten Sie endlich den Mund!“ „Wie Sie meinen, Herr Krüger, aber im Grunde wollen wir diese Situation doch beide zu einem guten Ende bringen.“ Der Verurteilte verdrehte genervt die Augen.

Hinter der Kreuzung zum Gewerbegebiet „Am Rehmanger“ sah Krüger, wie sich der Verkehr an der Stadtgrenze staute. Blaulichtgewitter ließ den Grund dafür erahnen. Kurzerhand lenkte er den Jaguar in die „Hoffmann-von-Fallersleben-Straße“. Von dort aus fuhr er durch das angrenzende Wohngebiet am „Anton-Ulrich-Weg“ entlang, bis er schließlich vom „Kaltes Tal“ aus über einen befahrbaren Wanderweg zum Oderwald gelangte. „Na schön, aus der Stadt sind wir raus“, kommentierte Miriam, während Krüger nach rechts abbog. „Aber noch haben Sie es nicht geschafft. Wo wollen Sie eigentlich hin?“ „Verdammt, Sie hatten Recht“, bemerkte Krüger einen Hubschrauber, der sich ihnen langsam von der Stadt aus näherte.

Völlig unvermittelt riss er plötzlich den Jaguar nach links in eine Einfahrt. „Haus der Naturfreunde“, las Miriam, während sie mit dem Kopf gegen das Fenster der Beifahrertür geworfen wurde. Das Fahrwerk des Jaguars wurde auf das äußerste strapaziert. Staub wurde aufgewirbelt. So dass man kaum noch seine Hand vor Augen sah. „Sind Sie von allen guten Geistern verlassen?“, trat ein Mann, wie aus einem Nebel kommend an den Wagen. „Sie können hier doch nicht einfach...“ Weiter kam er nicht, weil ihm Krüger mit aller Kraft die Fahrzeugtür gegen den Körper rammte. Der Mann stöhnte und krümmte sich vor Schmerz. „Es tut mir leid, aber ich brauche Ihren Wagen“, erklärte Krüger, während er Miriam aus dem Wagen zerrte.

„Sie müssen verrückt sein“, schätzte der Mann die Situation völlig falsch ein. „Wenn Sie nicht machen, was er ihnen sagt, bringt er mich um“, flehte Miriam. „Der Mann ist ein verurteilter Mörder.“ Erst jetzt sah er das Messer in der Hand des Geiselnehmers. „Was ist das hier eigentlich?“, sah sich Krüger um. „Eine Schießsportanlage“, erklärte der Mann. „Ich bin hier der Schießsportleiter.“ „Dann kommen sicherlich bald die übrigen Mitglieder“, sinnierte der Verurteilte. Der Schießwart nickte. „Gut, dann wird man Sie ja bald finden.“ Im Gesicht des Mannes zeichnete sich ein Fragezeichen ab.

Krüger öffnete die Kofferraumklappe des Jaguars. „Los, rein hier!“, befahl er unmissverständlich. Dabei bedeutete er dem Schießsportleiter mit dem Messer in der Hand seine Entschlossenheit. Dennoch zögerte der Mann. „Was ist mit Ihnen?“, sah er zu Miriam herüber. „Es ist alles gut, tun Sie einfach nur, was er verlangt.“ Nachdem er die Kofferraumklappe wieder geschlossen hatte, fixierte er seine Geisel mit den mitgebrachten Handschellen am Haltegriff des Golfs. Dann fuhr er den Jaguar hinter das Gebäude und kehrte zurück. Bevor er einstieg sah er im Kofferraum des Golfs nach, ob sich darin Kleidung oder etwas anderes fand, was er auf seiner Flucht gebrauchen konnte. Er entdeckte ein Jagdgewehr und die dazugehörige Munition. Ein Fund, mit der Schusswaffe kam eine andere Brisanz ins Spiel kam.

„Was versprechen Sie sich eigentlich von Ihrer Flucht?“ erkundigte sich Miriam. „Selbst, wenn Ihnen heute die Flucht gelingt, können Sie nie sicher sein, ob man Sie morgen nicht doch irgendwo erkennt und einsperrt. Sie werden niemals zur Ruhe kommen, immer das Gefühl haben, dass jemand hinter Ihnen steht.“ „Es liegt nicht in meiner Absicht, ein Leben lang davonzulaufen. Ich will lediglich, dass die Polizei vorbehaltlos weiterermittelt.“

Miriam kam ins Grübeln. Würde er weiterführende Ermittlungen verlangen, wenn er seine Frau tatsächlich getötet hatte? Hatten die Ermittler nicht umfassend genug ermittelt oder am Ende womöglich Beweise falsch bewertet? Waren all die Beweise und Indizien, die von den Kriminalbeamten recherchiert und über Wochen zusammengetragen wurden, aus einem falschen Blickwinkel gesehen worden? Waren die Einwände, mit denen sich Krüger während der Vernehmungen verteidigte, am Ende doch nicht nur Schutzbehauptungen? Miriam und die Ermittler hatten diese abgetan, ohne sie wirklich nochmals objektiv zu überprüfen.

„Nennen Sie mir einen triftigen Grund, weshalb man Ihnen den Mord an Ihrer Frau anhängen will, oder weshalb ausschließlich Sie durch die Beweise belastet wurden und ich werde diesen Fall neu aufrollen“, versprach Miriam. „Ach, hören Sie doch auf“, tat Krüger das Versprechen der Staatsanwältin als hohle Phrase ab. „Als ich Ihnen während der Vernehmungen mögliche Gründe nannte, bezichtigten Sie mich noch als Lügner und taten meine Erklärungen als unglaubwürdig ab. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie meine Einwände nun plötzlich ernst nehmen.“ Morten Krüger schüttelte den Kopf. „Ich glaube Ihnen kein einziges Wort! Abgesehen davon, würden Sie in Ihrer Situation alles versprechen, um die Sache hier in Ihrem Sinn zu beenden.“

Während der VW Golf am Möbelhof in Adersheim vorbeifuhr, warnte die Polizei im Radio vor einem bewaffneten Gewalttäter, der mit einer Geisel im Großraum Wolfenbüttel in einem silbergrauen Jaguar unterwegs sei. Der Sprecher empfahl, bei Sichtkontakt die Polizei zu rufen und sich in jedem Fall fernzuhalten.

„Na also“, kommentierte Krüger die Durchsage zufrieden. Den Wechsel unseres Wagens haben sie bislang noch nicht mitbekommen. Wir haben uns also einen kleinen Vorsprung erarbeitet.“ „Stellt sich nun die Frage, wo Sie mit mir untertauchen wollen“, machte sich Miriam Gedanken. „Wir fahren fürs Erste an einen Ort, an dem uns niemand vermutet und an dem wir ganz sicher nicht auffallen werden“, schien Krüger bereits einen Unterschlupf ins Auge gefasst zu haben.

An der Immendorfer Kreuzung stoppte Krüger in der Linksabbiegerspur weil die Ampel rot anzeigte. Einen Augenblick später rollte ein Streifenwagen rechts an dem Golf vorbei und hielt zwei Wagen vor ihm in der geradeausspur. „Mach jetzt bloß keine Zicken“, hielt Krüger das Messer vor Miriams Bauch. „Ich bin ja nicht lebensmüde“, entgegnete die Staatsanwältin mit angsterfüllter Stimme. Als die Ampel auf grün umsprang war sie einerseits erleichtert als sich der Streifenwagen entfernte, andererseits begrub sie mit ihm die Hoffnung auf eine baldige Rettung.

„Hätten Sie wirklich zugestoßen?“, fragte sie einige Kilometer weiter. „Was glauben Sie?“, entgegnete Krüger in einer ganz merkwürdigen Weise lächelnd. „Eigentlich müssen Sie doch davon ausgehen, weil ich doch nach ihrer Meinung ein besonders abscheulicher Mörder bin. Da kommt es doch auf einen weiteren Mord gar nicht an, oder?“ Miriam war sich zum ersten Mal im Verlauf ihrer Karriere unsicher.

In der Nähe von Gebhardshagen lenkte er den Golf auf ein verlassenes Fabrikgelände. Er schob ein altes Rolltor zur Seite und fuhr den Wagen in eine der ehemaligen Produktionshallen. Dann befreite er Miriam von den Handschellen und ließ sie aussteigen. „Und wie lange wollen Sie nun mit mir hierbleiben?“ „Solange bis der wahre Mörder gefasst wurde“, entgegnete Krüger zu allem bereit. „Aber hier können wir doch nicht bleiben“, sah sich Miriam bestürzt um. „Es gibt noch einen Bürotrakt, der an die Halle angrenzt“, erklärte er. „Nicht ganz Ihr Stil, aber für ein paar Tage wird es schon gehen.“

 

-3-

„Das kann doch alles nicht wahr sein!“, schimpfte ich wie ein Rohrspatz. „So ein auffälliger Wagen kann sich doch nicht in Luft auflösen.“ „Früher oder später werden wir ihn finden“, versprach Oberstaatsanwalt van der Waldt. „Es würde mich nicht wundern, wenn der Kerl den Fluchtwagen nicht längst gewechselt hat.“ „Bislang gibt es keine Meldung über den Diebstahl eines KFZ.“ „Wurden die Orte überprüft an denen sich Krüger bis zu seiner Verhaftung aufgehalten hatte?“ „Herr Lessing“, beruhigte ihn van der Waldt. „Wir sind keine Anfänger.“ „Was ist mit Krügers Anwalt? Wie kann es sein, dass der Idiot mit einem Messer in den Gerichtssaal spaziert und es seinem Mandanten dann auch noch quasi auf dem Silbertablett serviert?“ „Styvesand dachte offenbar nicht mehr an das Taschenmesser.“ „Das stinkt doch zum Himmel! Wenn Sie mich fragen, hat der Krüger zur Flucht verholfen.“ „Ich werde Ihren Verdacht natürlich überprüfen, aber solange es für diese Behauptung keine Beweise gibt, sollten Sie mit Ihren Anschuldigungen vorsichtig umgehen.“

„Wenn dieser Mistkerl Miriam auch nur ein Haar krümmt, weiß ich nicht, was ich mit dem Kerl mache.“ „Ich gehe eigentlich davon aus, dass er Frau Herz laufen lässt, sobald er sich in Sicherheit wähnt“, mutmaßte van der Waldt. „In ihrem Zustand ist sie nur eine Belastung für ihn.“ „Na, das lassen Sie Miriam besser nicht hören.“ „Am besten fahren Sie jetzt erst einmal nach Hause, hier können Sie eben sowieso nichts machen.“

Ich sah van der Waldt ungläubig an. „Das ist jetzt sicher nicht Ihr ernst. Ich kann doch in einer solchen Situation nicht nach Hause fahren und die Hände in den Schoß legen. Das könnten Sie an meiner Stelle ganz sicher auch nicht.“ „Ich fahre aber auch nicht wie ein wild gewordener Terrier durch die Stadt und verprügele Lastwagenfahrer.“ „Okay, mir sind da wohl etwas die Nerven durchgegangen, aber der Kerl war ja im Grunde selber schuld“, verteidigte ich mich. „Sie können froh sein, das der Mann von einer Anzeige gegen Sie absieht“, bekundete der Vorgesetzte meiner Verlobten. „Es gelang mir, ihm Ihre Aktion als Polizeieinsatz zu verkaufen.“ „Das ist sehr nett von Ihnen“, nickte ich ihm dankbar zu. „Ich kann mir gut vorstellen, was in diesem Moment in Ihnen vorging, aber genau deshalb möchte ich Sie nicht bei der Fahndung dabeihaben.“

Als Betroffener sieht man eine solche Situation wesentlich emotionaler als ein Unbeteiligter. Da wo kühle Taktik und klare Überlegung notwendig sind, übernehmen oftmals die Angst um den Angehörigen und andere Gefühle die Kontrolle über den Verstand. Aus der Sicht des Oberstaatsanwalts war seine Entscheidung mich nicht dabei haben zu wollen, also absolut richtig und professionell. Trotzdem könnten mich keine zehn Pferde dazu bewegen, das weitere Geschehen in aller Ruhe von zu Hause aus abzuwarten. Allein der Gedanke, Miriam würde unterdessen etwas zustoßen, trieb mir den Schweiß auf die Stirn. „Sowie es etwas Neues gibt, melde ich mich bei Ihnen“, versprach van der Waldt. Ich nickte ihm nochmals dankbar zu und stieg in meinen Wagen. Ob er wirklich annahm, dass ich mich komplett heraushalten würde? Im Grunde war´s mir egal. Wichtig war jetzt nur noch Miriams Leben, sonst nichts.

„Suchen Sie mir alles heraus, was Sie im Netz über Morten Krüger finden!“, stürmte ich in die Detektei. „Ich habe im Radio von einer Geiselnahme im Gericht gehört“, entgegnete Trude. „Frau Herz ist doch wohl nicht betroffen?“ „Leider doch, bislang gibt es keine Verbindung. Bitte beeilen Sie sich, Trude.“ „Ich setze mich sofort an den Rechner“, erklärte die gute Seele. Ich war von ihrem Eifer geradezu überwältigt. „Sie sind nicht mit Gold aufzuwiegen.“ „Wir finden sie, Chef und dann treten Sie dem Kerl gehörig in den Arsch!“

Selbst nach all den Jahren überraschte mich Trude immer noch. Während ich die ersten Ergebnisse ihrer Internetrecherchen studierte, riss mich das Läuten meines Handys aus den Gedanken. „Wir haben den Jaguar entdeckt“, informierte mich van der Waldt. Der Oberstaatsanwalt hatte Wort gehalten. „Kennen sie die Schießsportanlage am Oder?“ „Ich kenne das Haus der Naturfreunde“, überlegte ich. „Genau da kommen Sie am besten gleich hin.“

Da ich wegen langwieriger Bauarbeiten nicht über die Bundesbahnbrücke, die Linden und Halchter verbindet, fahren konnte, musste ich den Umweg über den Bahnhof nehmen. An der Kreuzung zum „Kaltes Tal“ fuhr ich dann allerdings geradeaus, um an der Berufsschule vorbei direkt über den alten Wanderweg zum Oder zu gelangen. Als es den Autobahnzubringer noch nicht gab, wurde dieser Schleichweg genutzt, um zu den Schrebergärten und weiter nach Halchter zu gelangen. Damals gab es keine Spaßmobile auf dem Parkplatz. Ich bog nach rechts ab und fuhr in Richtung Adersheim. Kurz darauf sah ich auch schon Blaulicht zwischen den Bäumen aufblitzen.

„Frau Herz haben wir leider nicht gefunden“, empfing mich Oberstaatsanwalt van der Waldt. „Der Jaguar des Richters steht hinter dem Gebäude. Zwei Mitglieder des Schießsportvereins entdeckten ihn, weil zwar das Tor zum Gelände offenstand, der Schießsportleiter jedoch nirgends zu sehen war“, erklärte der Jurist. „Nachdem sich der Mann im Kofferraum des Jaguars bemerkbar machte, jedoch kein Schlüssel vorhanden war, riefen sie die Polizei.“ „Dann hat Krüger hier offenbar den Fluchtwagen getauscht“, überlegte ich. „Davon gehen wir aus“, bestätigte van der Waldt meine Annahme. „Fahrzeugtyp und Kennzeichen sind uns inzwischen bekannt und in der Fahndung.“

„Wieviel Vorsprung hat Krüger inzwischen?“ „Wir konnten den zeitlichen Ablauf recht gut rekonstruieren. Es dürften etwa siebzig Minuten vergangen sein, bis wir den Golf in der Fahndung hatten“, musste van der Waldt einräumen. „Wenn wir eine Geschwindigkeit von etwa achtzig Stundenkilometern zu Grunde legen, liegt der Radius, um den wir die Kontrollen ausweiten mussten, bei etwa neunzig Kilometer.“ Ich winkte resignierend ab. „Sie wissen genauso gut wie ich, dass es somit fast aussichtslos ist, den Wagen zu stellen. Krüger wird längst am Zielort angelangt sein.“ „Vorausgesetzt er wusste, wohin er wollte.“

„Wo ist denn eigentlich dieser Schießsportleiter?“, erkundigte ich mich bei van der Waldt. „Im Haus.“ „Kann ich mit ihm reden?“ Der Oberstaatsanwalt nickte. „Aber denken Sie bitte daran, dass der Mann noch ganz unter dem Eindruck der Tat steht.“ Ich sah Miriams Vorgesetzten seufzend an. „Sie wissen schon, dass dies nicht meine erste Zeugenbefragung ist?“ „Ich wollte Sie nur noch einmal daran erinnern.“

„Guten Tag, mein Name ist Lessing. Fühlen Sie sich in der Lage, einige Fragen zu beantworten?“ „Ich habe doch schon alles Ihren Kollegen gesagt.“ „Wenn ich Sie dennoch bitten dürfte, mir nochmals alles so präzise wie möglich zu schildern?“ Der Mann zuckte mit den Achseln. „Na schön, von mir aus.“ Er leerte seinen Kaffeebecher und schilderte den Tathergang in allen Einzelheiten. „Wieviel Benzin befindet sich im Tank Ihres Wagens?“, stellte ich ihm eine Frage, an die bislang noch niemand gedacht hatte. „Er war noch etwa halb voll.“ „Gab es im Kofferraum einen gefüllten Reservekanister?“, hakte ich nach. Der Zeuge griff sich erschrocken mit der Hand vor den Mund. „Das nicht, aber mein Jagdgewehr mit der passenden Munition befand sich noch im Kofferraum.“ „Wieviel Schuss?“ „Ich hatte gerade ein neues Päckchen mit einhundert Schuss angerissen und meine Börse lag auch dabei.“ Dies war eine Entwicklung, die alles veränderte.

Ich informierte Andreas Fuchs, den Leiter des mobilen Einsatzkommandos von der neuen Situation. „Auch das noch“, reagierte er besorgt. „Als wenn die Sache nicht auch so schon kompliziert genug gewesen sei.“ „Was gedenken Sie nun zu tun?“, stellte ich die Frage, deren Antwort ich im Grunde bereits kannte. „Für uns ist der Einsatz an dieser Stelle erst einmal beendet“, entgegnete Fuchs wie nicht anders erwartet. „Ohne die Gewissheit, wo sich der Geiselnehmer aufhält, oder zumindest einen Anhaltspunkt, kommen wir nicht weiter.“ Auch wenn diese Aussage alles andere als akzeptabel war, musste ich sie als logische Konsequenz hinnehmen. Zu diesem Zeitpunkt blieb Fuchs nichts anderes übrig, als darauf zu hoffen, dass der Golf in eine der vielen Kontrollen geraten würde, oder aber irgendwo auffiel. Was mich betraf, blieben mir zwei Möglichkeiten. Die eine war, all die Orte abzuklappern, an denen sich Morten Krüger zuletzt aufgehalten hatte, die andere war, zunächst mehr über den Verurteilten herauszufinden. Ich entschied mich für Letzteres.

-4-

„Wie kommen Sie eigentlich auf die absurde Idee, die Polizei würde die Mordermittlungen nochmals aufnehmen und Ihnen binnen weniger Tage den vermeintlich waren Mörder präsentieren?“, erkundigte sich Miriam. „Ganz einfach“, schien sich Krüger seiner Sache sicher. „Weil Sie in meiner Gewalt sind.“ Miriam schüttelte den Kopf. „Wie unschuldig sind Sie eigentlich? Sie begehen ein Unrecht, um sich von einem anderen reinzuwaschen. Ist das Ihre Meinung von Gerechtigkeit?“ „Manchmal muss man eben dem Recht auf die Sprünge helfen.“

Miriam und Krüger hatten das obere Stockwerk des Verwaltungsgebäudes erreicht. „Setzen Sie sich“, deutete er auf ein zerschlissenes Sofa, vor dem ein heruntergekommener Sessel und ein klapperiger Tisch standen. „Hier oben sind wir sicher. In die alte Fabrik verirrt sich so gut wie nie jemand. Die Gebäude sind zu abgeschieden. Sie können sich also jegliche Hilferufe sparen. Es würde Sie doch niemand hören.“ „Und wie soll es nun weitergehen?“, hakte Miriam nach. „Während Sie hierbleiben, werde ich der Polizei meine Forderung mitteilen und ein Ultimatum setzen.“ „Man wird Sie sofort erkennen“, gab meine Liebste zu bedenken. „Das lassen Sie mal meine Sorge sein!“, entgegnete Krüger. Dann holte er die Handschellen hervor und kettete Miriam an einem massiven Rohr der Heizungsanlage an.

Als Krüger nach mehr als drei Stunden zurückkehrte, trug er ein Basecup und eine Sonnenbrille, mit der er sein Äußeres immerhin soweit verändert hatte, dass man zwei Mal hinsehen musste, um ihn zu erkennen. Überdies hatte er mehrere Tragetaschen dabei. „Ich habe uns genügend Lebensmittel mitgebracht, um die nächsten Tage über die Runden zu kommen“, sprach er und schloss die Handschellen auf. Miriam erhob sich und tat einige Schritte durch den Raum. Vom langen Sitzen in mehr oder weniger der gleichen Position tat ihr der Rücken weh.

Sie staunte nicht schlecht, als sie sah, dass Krüger sogar an Getränke und Toilettenpapier gedacht hatte. „Haben Sie einen Supermarkt überfallen?“, erkundigte sie sich nicht ohne Hintergedanken. „Der Schießsportleiter hat uns freundlicherweise sein Portmonee im Wagen gelassen. Auf warmes Essen müssen wir allerdings verzichten.“ Offenbar stand dem Geiselnehmer auch noch das nötige Glück zur Seite.

„Wenn Sie so lange hierbleiben wollen, stellt sich die Frage, wo ich hier schlafen soll?“ Krüger deutete auf das Sofa. „Ihnen ist schon klar, dass ich in anderen Umständen bin?“, erinnerte Miriam. „Für ein paar Tage wird die Schese schon ausreichen.“ „Sie haben ja noch kein Kind bekommen“, erwiderte die Geisel verärgert. „Unser Glück währte leider nur vier Monate“, sinnierte Krüger nachdenklich, während er die Lebensmittel in eine Ecke räumte.

„Sie und Ihre Frau erwarteten ein Baby?“, griff Miriam den Faden auf. „Es hat nicht sollen sein“, seufzte der Verurteilte betroffen. „Was ist passiert?“ „Jasmin hat es verloren“, schluckte Krüger. Soviel Sensibilität hatte Miriam nicht erwartet. „Wollen Sie darüber reden?“ „Nein“, entgegnete er nun wieder schroff. „Versuchen Sie erst gar nicht, mich einzulullen. Ich durchschaue Sie doch.“ „Sorry, aber mein Interesse war nicht geheuchelt. Ich würde gern mehr über Sie erfahren.“ „So, warum denn erst jetzt? Wenn Sie sich schon eher die Mühe gemacht hätten, könnten wir uns den ganzen Mist hier sparen.“ „Vielleicht haben Sie Recht, Herr Krüger, aber so wie ich einen Fehler machte, sind Sie gerade im Begriff ebenfalls einen zu begehen.“

Für einen Moment lang kam der Geiselnehmer ins Grübeln. Dann schüttelte er den Kopf und lächelte. „Fast wäre ich Ihnen auf den Leim gegangen.“ „Dann glauben Sie doch was Sie wollen, aber wenn Sie selber eine Chance wollen, müssen Sie auch bereit sein, mir eine zu geben.“

Von diesem Zeitpunkt an herrschte zwischen Krüger und seiner Geisel Funkstille. Während der Verurteilte nachdenklich in einem der Sessel saß, hielt es Miriam nicht auf dem Sofa. Sie durchmaß den Raum immer wieder aufs Neue. „Sie regen mich auf, mit Ihrer Rennerei!“, beendete Krüger abrupt sein Schweigen. „Ich muss zur Toilette“, entgegnete die Staatsanwältin. „Sagen Sie das doch gleich“, entgegnete Krüger, erhob sich und griff nach der Packung mit den Papierrollen. „Folgen Sie mir.“

„Was war das hier eigentlich mal?“, versuchte Miriam herauszufinden, wo sie eigentlich war. „Netter Versuch, aber je weniger Sie wissen, umso besser ist es für uns beide.“ Ganz am Ende des Flurs sah Miriam aus dem Fenster. Der Schmutz der vergangenen Jahre hatte die Glasscheibe um einiges eingetrübt. Immerhin erkannte sie in einigen hundert Meter Entfernung eine Straße und gleich dahinter einen Wald. Beides reichte jedoch längst nicht aus, um sich ein genaueres Bild zu machen. Seit sie die Bundesstraße verlassen hatten, war ihr die Gegend fremd.

„Dann drücken Sie uns mal die Daumen. Ich weiß nicht, ob das Wasser noch läuft.“ „Das ist jetzt nicht Ihr Ernst!“, reagierte Miriam bestürzt. Der Hahn quietschte, als Krüger daran drehte, aber Wasser gab es nicht. „Und nun?“, fragte die Geisel vorwurfsvoll. „Setzen Sie sich auf den Thron, ich mache Sie wieder fest und sehe nach, weshalb das Wasser nicht läuft.“ „Ehe ich mich auf dieses verdreckte Klo setze, pusche ich mir eher ins Nest.“ „Wie Sie meinen“, entgegnete Krüger gelassen, fesselte Miriam mit den Handschellen am Wasserauslass und verließ die Damentoilette. „He, Sie können mich doch nicht einfach so hier stehen lassen!“ „Wenn Sie sich nicht setzen wollen, bleibt Ihnen wohl nichts anderes übrig.“

„Verdammter Idiot!“, murmelte Miriam vor sich hin. Wutentbrannt riss sie an den Stahlachten, versuchte sie mit samt dem Rohr von der Wand zu reißen. Doch die alten Eisenrohre schienen so stabil wie eh und je. Nach einigen Fehlversuchen, stellte sie ihre Bemühungen ein und ließ sich erschöpft auf dem in der Mitte gebrochenen Klodeckel nieder. Schließlich wurde der Druck in der Blase so groß, dass ihr keine Wahl blieb. Miriam schloss also die Tür zu der kleinen Kabine und stellte entsetzt fest, dass kein Schloss mehr darin war, um sie zu verriegeln. Sie fluchte innerlich, aber letztendlich kam es da nun auch nicht mehr drauf an.

Sie hatte sich kaum ihrer überflüssigen Last entledigt, als sie ein Zischen in der Leitung vernahm. Krüger hatte das Wasser offensichtlich wieder zum Laufen gebracht. Kurz darauf kehrte er auch schon zurück. „Na, hat´s geschnackselt?“ „Das Wasser läuft wieder“, entgegnete Miriam. „Ich weiß, aber das meinte ich nicht“, verkniff sich Krüger ein Schmunzeln. „Machen Sie mich lieber los.“ „Sie gestatten mir sicherlich, dass ich mich ebenfalls...“ „Ja sicher, aber beeilen Sie sich bitte. Mein Handgelenk tut weh.“

Auch wenn die Bilder des Tatvideos und die Rekonstruktion des Tathergangs, sowie die Bedrohung, die von dem Verurteilten im Gerichtssaal ausging, für meine Liebste mehr als beängstigend gewesen war, hatte sie Krüger mittlerweile als besonnenen und in gewisser Weise sogar als anständigen Mann erlebt. Er schien so ganz anders zu sein, als der widerwärtige Killer, dem sie den Mord an seiner Frau zugeordnet hatte. Und doch bestand laut Indizienlage kein Zweifel daran, dass er es getan hatte.

Das Urteil des Gerichts hatte ihr in allen Punkten Recht gegeben, beruhigte sie sich. Richter und Schöffen waren ihr, was Beweiswürdigung und Rekonstruktion des Tathergangs betraf, in allen Belangen gefolgt. Immer wieder sagte sie sich, dass er einfach der Mörder sein musste und doch gab es da gewisse Zweifel, die sie einfach nicht mehr losließen.

„Haben Sie bei Ihrer Shoppingtour eigentlich auch bei der Polizei angerufen?“ „Natürlich, sonst würde das Ganze hier ja keinen Sinn machen“, erklärte Krüger. „Mit wem haben Sie gesprochen?“ Der Verurteilte zuckte mit den Achseln. „Mit irgendeinem Beamten in der Notrufzentrale.“ „Sie hätten sich mit Kommissar Sinner verbinden lassen sollen“, bekundete Miriam. „Da hätten Sie Ihren Forderungen an Ort und Stelle Nachdruck verleihen können.“ „Damit sich mein Anruf zurückverfolgen lässt?“, schmunzelte Krüger „Für wie dumm halten Sie mich eigentlich?“ „Auch wenn Sie es mir vielleicht nicht glauben, aber daran habe ich gerade nicht gedacht.“ Der Geiselnehmer winkte ab. „Schon gut, Sie machen auch nur Ihren Job.“ Miriam ärgerte sich über sich selbst. Auf diese Weise würde sie sein Vertrauen ganz sicher nicht gewinnen.

 

-5-

„Da Krüger seine Ehefrau auf einer seiner Baustellen tötete, habe ich alle Baustellen herausgesucht, auf denen seine Firma zuletzt tätig war“, erklärte Trude. „Dann klappere ich die gleich nach dem Malerbetrieb ab“, informierte ich meine Putzsekretärin über mein weiteres Vorgehen. „Seien Sie bitte in der Zwischenzeit so lieb und versuchen Sie die Ermittlungsakte Krüger aus dem Büro von Frau Herz zu holen.“ Trude sah mich über den Rand ihrer Lesebrille skeptisch an. „Ich gehe wohl Recht in der Annahme, dass dieser Auftrag nicht so ganz legal ist?“ „Glauben Sie, Sie würden das hinbekommen?“ „Sie können sich an Helga erinnern?“ „Sie meinen Ihre Bekannte vom Kiefernweg?“ „Genau. Die Gute putzt im Gerichtsgebäude und sie brennt darauf, sich endlich für Ihre Hilfe revanchieren zu können.“ „Versprechen Sie mir, vorsichtig zu sein“, mahnte ich zur Umsicht. Trude winkte ab. „Na logisch, Sie kennen mich doch.“

Während meine Putzsekretärin ihre alten Verbindungen aktivierte, suchte ich den Malerbetrieb von Morten Krüger auf. Die Zivilstreife vor der Einfahrt zum Hof des mittlerweile geschlossenen Betriebs war ebenso leicht zu übersehen, wie ein Flusspferd vor einer Eisdiele. Natürlich musste Sinner damit rechnen, dass Krüger seinen Betrieb aufsuchen würde, um Papiere und Geld für seine Flucht zu holen, aber die Möglichkeit, ihn dabei festzunehmen, sank bei der diskreten Beobachtungsweise dieser beiden Kollegen gegen null.

Derart gewarnt, wählte ich einen, sagen wir mal, etwas ungewöhnlichen Weg in das Gebäude. Mein geschulter Blick hatte natürlich sofort das angekippte Fester auf dem rücklings gelegenen Balkon entdeckt. Okay, ich hatte zuvor die offene Hofeinfahrt des Nachbarhauses durchqueren und die Grenzmauer überwinden müssen, aber dies hätten auch die Flitzpiepen vor dem Haus sehen müssen. Seit ich dem Trachtenverein nicht mehr angehörte, hatte das Niveau eben stark gelitten.

Zu meiner Überraschung konnte ich mir sogar den Weg über den Balkon sparen, da eines der Werkstattfenster ebenfalls angekippt war. Für einen geschulten Ermittler stellt ein solch altes Fenster kein wirkliches Hindernis dar. Eine einfache Dachlatte, die ich wenige Meter entfernt in einer Gitterbox fand, reichte, um sie durch den offenen Spalt einzuführen. Ich legte seitlich den Hebel um und drückte das Fenster auf. Da der Flügel auf halb neun hing, achtete ich während des Einstiegs darauf, dass er wegen seines Eigengewichts nicht abbrach. Erst einmal drinnen, ließ sich das Fenster wieder problemlos schließen. So konnte von außen niemand vermuten, dass jemand im Haus war.

Natürlich hatte die Kriminalpolizei die Werkstatt und ebenso die Wohnung von Täter und Opfer nach möglichem Beweismaterial durchsucht und dieses, soweit vorhanden, beschlagnahmt. Doch darum ging es mir nicht. Ich suchte nach Anhaltspunkten, die auf einen Ort deuteten, an dem sich Krüger verstecken konnte. Einen Ort, an dem es nicht auffiel, dass er eine Geisel bei sich hatte.

Obwohl die privaten Räume, oberhalb der Werkstatt, ideal für ein Versteck gewesen wären, musste Krüger davon ausgehen, dass sie von der Polizei observiert würden. Was ja auch der Fall war. Neben einer kleinen Küche waren ein einfaches Bad mit einer Dusche und ein Raum eingerichtet, in dem sich ein Bett und ein Kleiderschrank befanden. Es deutete alles darauf hin, dass Krüger hier öfter übernachtet hatte.

Nachdem ich die privaten Räume durchsucht hatte, stieß ich in einem Büro neben der Werkstatt schließlich auf einen Dateischrank aus Metall. Dieser enthielt die erhofften Kundenadressen und einige Ordner, in denen sich Personalabrechnungen, Auftragsangebote und Rechnungen über Einkäufe von Materialien und dergleichen befanden. Da ich an Ort und Stelle nicht heraussuchen konnte, was von Relevanz war, entschied ich mich die komplette Kundendatei mitzunehmen.

Der Weg zurück über die Mauer zum Nachbarhof war, zumindest was das Gewicht des blauen Sackes betraf, etwas beschwerlicher. Die immer noch in ihrem Auto vor der Werkstatt postierten Kollegen hätten mir wahrscheinlich sogar bei seiner Verladung geholfen, wenn ich sie darum gebeten hätte. Bevor ich mich nun auf den Weg zu Krügers Schwiegereltern machte, brachte ich die Unterlagen in der Detektei vorbei.

„Die Akten liegen auf Ihrem Schreibtisch, Chef“, verkündete Trude, kaum dass ich die Tür zu ihrem Vorzimmer geöffnet hatte. „Wie um alles in der Welt haben Sie das denn so schnell...?“ Trude hielt den Zeigefinger über ihre Lippen. „Es ist besser, wenn Sie nicht alles wissen, Chef.“ Dann deutete sie auf den blauen Müllsack auf meinem Rücken. „Was haben Sie denn da?“ „Arbeit für Sie, Trude.“ „Hätte ich nur nicht gefragt“, entgegnete sie seufzend. „Das hätte auch nichts geändert. Es handelte sich um Unterlagen über Krügers Kunden. Es wäre sicher hilfreich, wenn Sie herausfinden könnten, ob eines der Objekte, in denen er zuletzt gearbeitet hat, zurzeit leer steht.“

Trude fuhr sich schnaufend mit der Hand durch das Haar. „Ich werde mir inzwischen die Ermittlungsakte vornehmen. Irgendwie müssen wir weiterkommen.“ Bevor ich die Tür zu meinem Büro hinter mir schloss, fiel mir Bea ein. „Kümmert sich Axel noch um den Hund?“ „Ja, machen Sie sich keine Sorgen. Er nimmt uns Bea bis auf weiteres ab.“ „Das ist gut!“

Bei keinem anderen Fall, den Miriam als Staatsanwältin und somit in Vertretung der Anklage vertrat, war ich derart häufig im Verhandlungssaal. Kein Fall war so grausam in der Ausführung, wie der Mord an Jasmin Krüger. Gewiss kein Fall den eine Schwangere bearbeiten sollte, aber diesen Einwand ließ Miriam natürlich nicht für sich gelten. Folglich machte ich mir Sorgen um sie und versuchte ihr bei ihrer Arbeit so nah wie möglich zu sein. Wie richtig ich mit meinem Gefühl lag, hatte sich in den vergangenen Stunden in dramatischer Weise bewahrheitet.

Während der Prozesstage bekam ich einige Einblicke in den Fall. Auch wenn es sich um einen reinen Indizienprozess handelte, basierte die Anklage auf hieb und stichfesten Beweisen, die Morten Krüger meiner Meinung nach zweifelsfrei als Täter entlarvten. So wurde der Verurteilte zur Tatzeit ganz in der Nähe des Tatortes gesehen. In seinem Werkstattwagen fand die Polizei eine Rolle des verwendeten Panzerklebebandes und blaue Müllsäcke derselben Herstellermarge. Auf beiden Beweismitteln wurden seine Fingerabdrücke sichergestellt. Anhand von Körperflüssigkeiten konnte zweifelsfrei nachgewiesen werden, dass die blauen Müllsäcke mit den Leichenteilen, in dem besagten Fahrzeug transportiert wurden. Der DNA Abgleich mit den Hinterlassenschaften der Ermordeten ließ keinen Zweifel daran, dass es sich um die sterblichen Überreste von Jasmin Krüger gehandelt hatte.

Im Grunde war es nur einem grausigen Zufall zu verdanken, dass ein Angestellter im Mastbetrieb von Jasmin Krügers Eltern, menschliche Knochen im Schweinestall fand. Als er die Schweine wie gewohnt fütterte, erkannte er im Maul eines der Tiere einen Finger. Als er genauer nachsah, kamen in der Box weitere Knochen zum Vorschein. Geistesgegenwärtig trieb er die Tiere in eine andere Box und informierte die Polizei.

Erste Untersuchungen im rechtsmedizinischen Institut Hannover bestätigten sehr schnell die Befürchtung des zunächst herbeigerufenen Veterinärs. Eine detaillierte Suche am Fundort durch die Spurensicherung erbrachte die blauen Müllsäcke. Der Täter hatte sie in einem Recyclingcontainer entsorgt, der frei zugänglich auf dem Betriebsgelände aufgestellt war. Dass es sich letztendlich um die sterblichen Überreste ihrer eigenen Tochter handelte, ergab sich erst nachdem klar war, dass Jasmin etwa zeitgleich verschwunden war und nun natürlich auch in diese Richtung ermittelt wurde.

Mehrere Aussagen einiger Freunde des Ehepaares ließen Morten Krüger ins Visier der polizeilichen Ermittlungen geraten. Demnach lief es in der Ehe des Paares bereits seit längerem nicht mehr harmonisch. Während Morten seiner Frau Ehebruch vorwarf, bezichtigte sie ihn immer häufiger als eifersüchtigen Versager. Letzteres war als Anspielung auf seine Zeugungsunfähigkeit zu verstehen.

Der wohl schwerwiegendste Beweis für die Schuld des Verurteilten lag in der am Tatort verwendeten Folie. Sie stammte nachweislich aus dem Malerbetrieb von Morten Krüger und wies auf einer quadratischen Fläche von etwa zwanzig Zentimetern ausschließlich seine Fingerabdrücke auf. Auch wenn die Verteidigung dies mit dem frei zugänglichen Lager erklärte, in dem sich alle Mitarbeiter seines Betriebes, sowohl an den Müllsäcken als auch an den Folien bedienen konnten, wollte das Gericht dieser Argumentation nicht folgen. Der Hinweis der Staatsanwaltschaft auf die eingehende Überprüfung der Angestellten und deren Alibis zur Tatzeit entkräftete diese Möglichkeit. Im Gegenteil, Krügers Einwand zu einem möglichen Motiv einer seiner Angestellten, belastete ihn letztendlich mehr als den Gesellen, dem er eine Beziehung mit dem Opfer unterstellte.

Eifersucht ist ein starkes Mordmotiv. Auch der Hinweis der Verteidigung, dass jeder Mitarbeiter der Malerfirma den Schlüssel des Werkstattwagens hätte an sich nehmen können, um darin die Leichenteile zu transportieren, erschien dem vorsitzenden Richter als wenig wahrscheinlich. Keiner der Angestellten hatte ein Motiv und selbst der Geselle, dem Krüger eine Affäre mit seiner Frau unterstellte, verfügte über ein wasserdichtes Alibi. Er war mit anderen Sportlern beim Schwimmtraining. Zusammen mit den Resten der elektrischen Säge, die man bei der Hausdurchsuchung in der Garage des Angeklagten fand, gab es keinerlei Zweifel mehr. Der Täter hatte sie nachweislich zum Zerteilen der Leiche verwendet. Die Blutanhaftungen des Opfers ließen keinen anderen Schluss zu.

Falls die Unschuldsbekundungen des Verurteilten der Wahrheit entsprachen, musste ihn jemand auf übelste Weise gelinkt haben. Ein derart perfekter Plan wäre kaum durchführbar, da immer mit dem Unvorherseh-baren gerechnet werden müsste. Genau aus diesem Grund wird es niemals den perfekten Mord geben.

Ich schlug die Ermittlungsakte zu und stieß einen tiefen Seufzer aus. Wenn Krüger schuldig war, hatte er eine bühnenreife Show im Gerichtssaal abgeliefert. Wenn nicht, war seine Flucht und die Geiselnahme tatsächlich seine einzige Chance, um noch irgendetwas zu bewirken. Ich hatte diesen Gedanken kaum zu Ende gedacht, als auch schon mein Handy klingelte. Oberstaatsanwalt van der Waldt berichtete mir von Krügers Forderung.

„Konnten Sie feststellen, von wo der Anruf kam?“, erkundigte ich mich. „Krüger ist gewieft. Das Gespräch dauerte keine zwei Minuten und es wurde von einem Prepaid Handy geführt.“ „Eine Ortung war also nicht möglich“, überlegte ich. „Das Geld dafür hat er aller Wahrscheinlichkeit nach aus dem Portmonee des Golffahrers.“ „Davon müssen wir ausgehen.“ „Was ist, wenn er seine Frau tatsächlich nicht umgebracht hat?“

Van der Waldt schien keine Antwort auf meine Frage zu wissen. „Selbst, wenn Sie die Ermittlungsakte noch einmal aufschlagen, wird es wohl kaum möglich sein, dem Geiselnehmer binnen achtundvierzig Stunden den wahren Täter zu präsentieren“, seufzte ich. „Das ist nur ein Teil meiner Sorge“, bekannte der Oberstaatsanwalt. „Krüger ist rechtskräftig verurteilt. Sein Anwalt müsste folglich in Berufung gehen. Ob der Ermittlungsrichter einem Antrag stattgeben wird, der unter dem Hintergrund einer Geiselnahme erzwungen werden soll, ist mehr als fraglich.“ „Aber es geht um Miriams Leben“, betonte ich mit allem Nachdruck. „Ich habe bereits mit Krügers Anwalt gesprochen. Er ist bereit alles Nötige in die Wege zu leiten. Bis morgen ist er mit dem Antrag auf Berufung so weit, dann kommt es auf den Richter an.“ „Das kann doch alles nicht wahr sein!“, verlor ich die Fassung. „Miriams Leben hängt letztendlich von der Einsicht eines Richters ab?“ „Ich kann Sie verstehen, Herr Lessing, aber mir sind leider die Hände gebunden.“ „Na toll! Während irgendwelche Anträge ausgefüllt und formuliert werden, vergeht kostbare Zeit. Zeit, die am Ende fehlen könnte. Ich werde Miriams Leben nicht in die Hände eines Richters legen und allein auf das Gesetz vertrauen.“ „Machen Sie keine Dummheiten, Leopold!“, mahnte van der Waldt. „Wenn Sie auf eigene Faust ermitteln, kann ich Ihnen kaum helfen und ich weiß auch von nichts.“ Ich hatte ihn verstanden. „Danke.“ „Ich verlasse mich auf Sie. Bringen Sie uns Miriam wohlbehalten zurück!“

 

-6-

Miriam hatte es sich so bequem gemacht, wie es den Umständen entsprechend möglich war. Sie saß auf dem kleinen Sofa, hatte ihre Schuhe ausgezogen, die Beine nach oben gelegt und versuchte zu schlafen. Krüger hatte darauf verzichtet, ihr die Handschellen anzulegen. Dies tat er nur, wenn er sich nicht auf der Etage befand. Irgendwo in einem der anderen Räume hatte er einen zweiten Stuhl gefunden. Die mitgebrachten Brötchen und die Packung mit den Bockwürstchen ließen sich mit dem Messer seines Anwalts aufschneiden. Er servierte beides wie zu einem Hotdog zusammengelegt.

„Hier“, reichte er Miriam den Snack. „Es ist nicht wie im Hilton, aber Teller haben wir leider nicht. „Danke.“ Krüger setzte sich neben die Staatsanwältin. „Hier ist noch eine Flasche Wasser.“ Miriam nahm sie dankbar entgegen. „Sie sprachen vorhin von einem Ultimatum“, erinnerte sie sich. „Wieviel Zeit haben Sie der Polizei gegeben?“ „Achtundvierzig Stunden“, entgegnete der Verurteilte. „So gern wie ich glauben würde, dass sich binnen dieser kurzen Zeit Hinweise finden lassen, die Ihre Unschuld beweisen, so sehr muss ich dies ehrlich gesagt bezweifeln. Wenn man realistisch ist, stellt sich die Frage, weshalb die Polizei in so kurzer Zeit zu neuen Erkenntnissen gelangen soll, die dann auch noch zu einem ganz anderen Ergebnis führen?“ „Ich weiß, dass zwei Tage kurz bemessen sind, aber je länger wir uns hier aufhalten, umso gefährlicher wird es für mich.“

„Okay, was werden Sie also nach dem Ablauf des Ultimatums machen?“, brachte es Miriam auf den Punkt. „Wie meinen Sie das?“, überlegte Krüger. „Sie haben sich offenbar noch keine Gedanken gemacht“, schüttelte Miriam den Kopf. „Gesetz den Fall Sie melden sich nach Ablauf der beiden Tage bei Oberstaatsanwalt van der Wald, dann erwarten Sie doch von ihm, dass er Ihnen den Namen des tatsächlichen Mörders präsentiert.“ „Richtig“, bestätigte Krüger. „Was wollen Sie unternehmen, wenn er Sie vertröstet?“ Der Malermeister zeigte sich nachdenklich. „Wollen Sie mich dann auch umbringen und zerstückeln?“, provozierte die Staatsanwältin. „Verdammt noch mal, ich habe Jasmin nicht getötet!“ „Na, vielleicht reicht ja auch ein kleiner Finger, den Sie mir mit dem Messer Ihres Anwalts abtrennen können.“ „Hören Sie damit auf, Frau Herz, ich werde Ihnen nichts antun!“

„Aber merken Sie denn nicht selber, wie absurd die ganze Aktion ist?“, hielt ihm Miriam vor. „Ich habe nichts zu verlieren.“ „Oh doch, Sie haben ihre Achtung vor sich selbst zu verlieren.“ „Die nutzt mir im Knast auch nichts“, erwiderte Krüger niedergeschlagen. Die Staatsanwältin spürte, dass sie auf diesem Weg nicht weiterkam. Sie spürte aber auch, wie sich mehr und mehr Zweifel bezüglich seiner Schuld bei ihr einstellten und genau dies ließ sie nun nicht mehr locker. Als Vertreterin des Rechts ging es ihr nicht in erster Linie darum, irgendjemanden hinter Gitter zu bringen.

„Wenn Sie Ihre Frau nicht töteten, dann stellt sich ja die Frage, wer es wirklich war“, lenkte Miriam das Gespräch in eine konstruktivere Richtung. „Sie haben sich doch ganz sicher Ihre eigenen Gedanken zu dieser Frage gemacht“, sinnierte sie. „Allerdings“, pflichtete ihr Krüger bei. „Ich weiß, dass meine Frau eine Affäre mit einem meiner Gesellen hatte, da bin ich mir sicher. Mittlerweile bin ich davon überzeugt, dass es da noch weitere Liebhaber gab.“ „Was den Gesellen angeht, wurde dessen Alibi überprüft“, relativierte Miriam. „In seiner Befragung bestritt er überdies diese Affäre.“ „Ich bin doch nicht blind“, beharrte der Verurteilte auf seine Überzeugung. „Sie hätten die Blicke sehen sollen, die sich die beiden zuwarfen. Was ist mit meinen anderen Angestellten? Die müssen doch etwas mitbekommen haben.“ „Laut Ermittlungsprotokoll wurden im Umfeld Ihres Gesellen detaillierte Befragungen durchgeführt. Demnach hat niemand etwas von dieser Affäre bemerkt.“

„Und trotzdem ist es, wie ich sage“, blieb Krüger stur bei seiner Überzeugung. „Sie sprachen von weiteren Liebhabern“, knüpfte Miriam an seine Aussage an. „Gab es hierzu konkrete Anhaltspunkte?“ „Es begann alles mit der Totgeburt unseres Kindes. Jasmin hatte ein Abort im dritten Monat. Nach der anschließenden Untersuchung im Krankenhaus sagte man ihr, dass sie völlig gesund sei und dass man sich den Verlust nicht erklären könne.“

„Ihre Frau und Sie müssen fürchterlich gelitten haben“, konnte Miriam, wegen ihrer eigenen Schwangerschaft, sehr gut nachempfinden, was das Ehepaar in dieser Zeit durchmachte. „Leider kam Jasmin mit diesem Verlust überhaupt nicht klar. Anstatt mit mir gemeinsam zu trauern, gab sie mir die Schuld daran. Ich nahm es hin, weil es wahrscheinlich die einzige Möglichkeit für sie war, mit der Situation umzugehen.“ Krüger zuckte mit den Achseln. „Vielleicht musste sie sich deshalb bei anderen Männern eine Art Bestätigung holen.“

Miriam war sehr nachdenklich geworden. Sie musste unentwegt über ihre eigene Situation grübeln. Es hatte eine ganze Zeit und vor allem eine ganze Menge Nerven gekostet, ehe klar war, dass es trotz aller Widrigkeiten mit ihrer Schwangerschaft geklappt hatte. War sie mit dem Prozess gegen Krüger ein Risiko eingegangen? Hätte sie die Bedenken van der Wald und ihrem Verlobten ernster nehmen sollen? Es war ruhig geworden im ehemaligen Büro des Chefs. Draußen vor den Fenstern schlich sich die Dunkelheit von den Bäumen herüber, tauchte die maroden Mauern der alten Fabrik in eine Szene wie aus einem Edgar Wallace Film.

Ehe sich die Dunkelheit auch in dem Raum ausbreitete, in dem Miriam und Krüger der Dinge harrten, die das Schicksal in den nächsten Stunden mit sich bringen würden, erhob sich der Geiselnehmer und zündete eine der Kerzen an, die er vorsorglich mitgebracht hatte.

-7-

„Sie haben ja nun selbst erlebt, was im Gerichtssaal geschah“, kam ich ohne Umschweife auf den Grund meines Besuchs. „Die Frau Staatsanwältin befindet sich immer noch in der Hand des Verurteilten.“ Der Vater der Ermordeten sah mich forschend an. „Sie haben sich als Privatermittler ausgewiesen. Ich verstehe nicht so ganz in welcher Funktion Sie uns befragen wollen.“ Ich hatte mit dieser Frage gerechnet. „Frau Herz ist meine Verlobte“, erklärte ich. „Verstehe, aber wie können wir Ihnen weiterhelfen, Herr Lessing?“ „Wir nehmen um diese Zeit immer unseren Tee“, unterbrach die ehemalige Schwiegermutter des Täters unser Gespräch. „Sie trinken doch auch eine Tasse?“ „Gern.“

„Ich kann nachfühlen, wie sehr Sie und Ihre Gattin unter dem Verlust Ihrer Tochter leiden und verstehen, wenn Sie jetzt erst einmal zur Ruhe finden möchten“, fühlte ich mit den Teichmanns. „Ich bitte Sie dennoch, mir von der Ehe Ihrer Tochter mit dem Verurteilten zu erzählen. Es geht nun auch um mein Kind, wie Ihnen ja bei der Verhandlung aufgefallen sein dürfte.“ Er nickte mir verständnisvoll zu. „Ich will natürlich auch, dass dieser Mistkerl gefasst und seiner gerechten Strafe zugeführt wird, aber wie kann das Eheleben meiner Tochter für die Ergreifung des Mörders von Nutzen sein?“ „Zum einen möchte ich mir ein Bild von Morten Krüger machen, zum anderen gibt es möglicherweise Orte, an denen er sich verbergen könnte.“

Jasmins Mutter kehrte mit dem Tee zurück. Dazu kredenzte sie ein Schälchen Kekse, zu denen sie ihrem Mann und mir einen kleinen Teller reichte. „Greifen Sie zu, Herr Lessing.“ „Danke schön, sehr freundlich.“ „Herr Lessing möchte etwas über Jasmins Ehe erfahren. Er verspricht sich davon Einblicke in das Leben unserer Tochter und eventuell Hinweise auf ein Versteck dieses Verbrechers.“ „Ich habe mir natürlich auch schon Gedanken über einen solchen Ort gemacht“, reagierte die Frau ganz anders, als von mir erwartet. „Zunächst solltest du Herrn Lessing erklären, dass wir von Anfang an starke Bedenken gegen diese Verbindung hatten“, sprach der Schweinemastbetreiber an mir vorbei. „Wie du ja weißt, hatte Jasmin schon immer ihren eigenen Kopf“, antwortete sie ihrem Mann direkt. Ich hatte das Gefühl, gar nicht am Tisch zu sitzen.

„Hättest du den Dingen nicht einfach ihren Gang gelassen, könnte unsere Tochter heute noch leben“, warf sie ihrem Ehemann vor. „Aber der Herr hatte ja ständig Wichtigeres zu tun.“ „Du vergisst, dass ich hier einen Betrieb mit über tausend Schweinen und einem Dutzend Angestellten zu leiten habe“, entwickelte sich ein munterer Schlagabtausch. Ich lehnte mich entspannt zurück, knabberte von den Keksen und lauschte dem Wortgefecht. „Als sie diesen Kerl zum ersten Mal in unser Haus brachte, hättest du ihn vor die Tür setzen sollen“, warf der Hausherr seiner Frau vor. „Damals machte er einen guten Eindruck“, verteidigte sie sich.

Ihr verbitterter Ehemann sprang förmlich aus seinem Sessel. „Du verfügtest noch nie über eine akzeptable Menschenkenntnis.“ Er zog die Schublade einer alten Kommode auf und entnahm ihr eine verschnörkelte Holzkiste. Dann kehrte er an den Tisch zurück und bot mir eine von den darin befindlichen Zigarren an. „Danke sehr, aber ich rauche nicht.“ „Nehmen Sie, Herr Lessing!“, beharrte er. Ich wagte es nicht, ihm zu widersprechen. „Begleiten Sie mich in mein Büro“, blieb er in der Tonlage. „Aber mein Tee…“, merkte ich an, „…der schmeckt kalt auch noch.“

„So, hier sind wir ungestörter“, verkündete er ärgerlich. „Meine Frau gehört zu den Menschen, die in jedem anderen der ihnen begegnet etwas Gutes suchen. Selbst in diesem Versager fand sie noch etwas Positives.“ „Ihre Tochter muss in ihm…“ „Meine Tochter war ein liebestolles Dummchen, die sich von dem Geschwafel und den Versprechungen dieses Kretins beeindrucken ließ“, unterbrach er mich. „Ich habe von unserer ersten Begegnung an gewusst, dass der Kerl nichts taugt.“ „Woran haben Sie das festgemacht?“ „Der war nichts weiter als ein Aufschneider, ein Möchtegern, der es im Leben niemals zu etwas bringen würde.“ Ich sah mein Gegenüber verwundert an. „Er hat seinen Meisterbrief gemacht und quasi aus dem Nichts einen Malerbetrieb aufgebaut.“ „Ich bitte Sie, Herr Lessing, das hätten Sie mit dem Geld Ihres Vaters ebenso gut hinbekommen. Der konnte nicht mal ein lebensfähiges Kind zeugen.“

Dieser Mann forderte meine Nerven heraus. „Gibt es eigentlich Fotos aus glücklichen Tagen?“ „Höchstens aus Jasmins Kindheit, aber da sollten Sie besser meine Frau fragen“, erklärte er aus einem Selbstverständnis heraus, dass ich kaum Worte fand. „Haben Sie hier im Salon mit Ihrer Tochter Billard gespielt?“, fragte ich, um zumindest etwas Bitternis aus unserer Unterhaltung zu nehmen. „Tja“, nickte er, „...damals war die Welt noch in Ordnung. Jasmin hatte Agrarwissenschaften studiert. Sie wollte den Betrieb übernehmen und in einigen Bereichen verändern. Wir hatten Pläne, Herr Lessing, große Pläne.“

Zum ersten Mal zeigte der Mann mit der Zigarre so etwas wie ein Gefühl. „Wieso änderte sich das dann?“, hakte ich nach. „Ihre Zigarre ist ja aus. Sie müssen schon daran ziehen“, bemerkte er meinen Versuch ohne Asthmaanfall davon zu kommen. Mit dem nächsten Atemzug brannte meine Zigarre wieder. Mit dem nächsten bekam ich einen Hustenanfall. „Okay, ich sehe schon, aus Ihnen wird nie ein vernünftiger Raucher. Legen Sie das gute Stück einfach in den Ascher“, zeigte er doch noch Einsicht.

„Sie sind eine starke Persönlichkeit“, stellte ich fest. „Es fällt mir schwer zu glauben, dass Ihre Tochter neben Ihnen zu Wort gekommen wäre.“ Zunächst sah mich mein Gegenüber unwirsch an, dann begann er aus voller Brust zu lachen. „Leute wie Sie gefallen mir!“, klopfte er mir auf die Schulter. „Ich mag Menschen, die das aussprechen was sie denken.“ Im nächsten Moment deutete er mit dem Kopf auf den Billardtisch. „Wie wäre es mit einer Partie?“ Lust hatte ich schon, aber im Grunde lief mir die Zeit davon. „Sorry, aber es geht immer noch um das Leben meiner Verlobten.“ „Ach, Herr Lessing, wie konnte ich den Grund für Ihren Besuch nur vergessen?“

„Wenn es Ihnen Recht ist, würde ich mir zusammen mit Ihrer Frau gern noch einige Fotos von Ihrer Tochter ansehen.“ „Ja, natürlich.“ Er drückte seine Zigarre aus und begleitete mich zurück zu Tee und Plätzchen. „Herr Lessing würde gern noch ein paar Fotos von Jasmin sehen.“ „Gern“, erhob sich die Angesprochene und eilte zu einer anderen Kommode. „Sie müssen mich nun leider entschuldigen, Herr Lessing, aber die Pflicht ruft.“ Ich sah ihm irritiert nach. Gerade wollte er noch eine Partie Billard mit mir spielen.

Während mir Jasmins Mutter die Kindheitsbilder ihrer Tochter vorführte, suchte ich darauf nach Örtlichkeiten, die sie zusammen mit Morten Krüger im Laufe ihrer Ehe genutzt haben konnte und die sich nun als Versteck eignen könnten. Ganz nebenbei erfuhr ich von den ersten, glücklichen Jahren des Paares. „Nachdem Jasmin das Kind so plötzlich verloren hatte, verlor sich auch ihre Liebe und von heute auf morgen änderte sich einfach alles. Nach all den Vorbehalten, die Max in diesen Jahren gegen Morten hatte, schien sich nun alles zu bestätigen. Jasmin begann ihren Mann zu hassen.“

„Wo sind diese Fotos entstanden?“, fielen mir einige der Bilder auf. „Das sind Aufnahmen von unserem Wochenendhaus in der Heide“, erläuterte sie. Ich wurde hellhörig. „Ist das Haus noch in Ihrem Besitz?“ „Wir haben es Jasmin zur Hochzeit geschenkt. Ich weiß nicht, ob sie es in der Zwischenzeit verkauft hat, aber oft waren sie ganz gewiss nicht dort.“ „Wo genau befindet sich dieses Ferienhaus?“, hakte ich nach. „Wenn Sie von Gifhorn kommend in Richtung Uelzen fahren, befindet es sich gleich hinter Warenholz auf der linken Straßenseite. Es ist gar nicht zu verfehlen. Ein großer Fliegenpilz wird Ihnen den Weg weisen. Das Feriengebiet nennt sich Brutlos Heide.“ „Könnte ich das Foto vielleicht mitnehmen? Sie bekommen es ganz bestimmt zurück.“ „Also gut. Aber nur wenn Sie es mir wiederbringen.“ Sie löste es vorsichtig aus dem Buch und reichte es mir.

„Gibt es eventuell alte Gebäude, Hallen, Lager, die nicht mehr von Ihrem Betrieb genutzt werden und die Morten kennen könnte?“ „Da ist mir leider nichts bekannt, Herr Lessing. Aber möglicherweise können Ihnen die Krügers weiterhelfen.“ „Ich sah sie auf dem Gang vor dem Verhandlungssaal“, erinnerte ich mich. „Sie haben offenbar ein gutes Verhältnis zueinander.“ „Das ist richtig“, nickte sie. „Die Krügers können ja nichts dafür.“ „Das ist wohl wahr“, stimmte ich zu und erhob mich. „Dann möchte ich mich zunächst für Ihre Unterstützung bedanken. Falls ich noch eine Frage habe, würde ich gern noch einmal auf Sie zukommen.“ „Mein Mann und ich sind froh, wenn wir Ihnen helfen konnten. Ich hoffe, es geht alles gut für Sie aus.“ „Das hoffe ich auch.“

Es dämmerte bereits, als ich vor dem Ferienhaus in der Heide stand. Um keine Zeit zu verlieren, hatte ich mich direkt auf den Weg gemacht. Im besagten Feriengebiet angekommen, staunte ich nicht schlecht, wie groß das Gelände war und wie viele Wochenendhäuser es hier gab. Das ganze Gebiet war sehr naturbelassen angelegt. Da die Aufnahme bereits vor vielen Jahren gemacht wurde, waren die darauf abgelichteten Bäume und Sträucher natürlich größer und höher. Eine schlichte Glocke, die damals wie heute vor der Eingangstür baumelte, hatte mich auf die richtige Spur gebracht. Erst nachdem ich das Grundstück betreten hatte und das Schild mit dem Namen Krüger neben der Tür erblickte, war klar, dass sich das Häuschen immer noch im Besitz der Familie befand.

Von außen sah das Gebäude verlassen aus. Der Golf, den Krüger bei seiner Flucht an sich gebracht hatte, war weit und breit nicht zu sehen und auch sonst deutete nichts darauf hin, dass meine Suche erfolgreich war. „Hallo Sie! Was machen Sie denn da?“, vernahm ich plötzlich die Stimme eines Mannes, der wie aus dem Nichts plötzlich hinter mir auftauchte. Zwei weitere Männer standen in geringem Abstand hinter ihm. Die Baseballschläger in ihren Händen machten Eindruck.

„Ich wollte nachsehen, ob Herr Krüger hier ist.“ „Der wird wohl sobald nicht mehr hier auftauchen“, lispelte einer der Männer. „Der sitzt nämlich im Knast“, fügte sein Kumpel hinzu. „Leider nicht und wenn die Herrn gestatten, greife ich nun ganz langsam in meine Tasche und reiche Ihnen meine Zulassung.“ „Ah, einer von diesen Privatschnüfflern“, verkündete der Wortführer. „Wie meinten Sie das?“, erinnerte er sich an meine Worte. „Wurde Morten Krüger etwa nicht verurteilt?“ „Oh doch, verurteilt wurde er, aber dummerweise trat er seine Haftstrafe nicht an, weil er eine Geisel nahm und sich seitdem auf der Flucht befindet.“ „Hätte ich Morten gar nicht zugetraut“, zeigte sich der Anführer der selbsternannten Bürgerwehr überrascht.

„Ist nicht ohne, was man ihm da vorwirft“, befand sein Kumpel. „Der Krüger hat seine Frau ganz sicher nicht umgebracht und schon gar nicht zerteilt. Dazu wäre der nie und nimmer in der Lage gewesen.“ „Hast du ihm eine Geiselnahme zugetraut?“, gab der dritte im Bunde zu bedenken. „Ihr kanntet Morten Krüger wohl besser“, schlussfolgerte ich aus ihren Worten. „Na ja, wie man sich halt so kennt in so einem Feriengebiet.“ „Oft war er ja nicht hier“, erinnerte sich sein Kumpel. „Dafür war seine Frau umso öfter da“, grinste der Lispler. Ich wurde hellhörig. „Frau Krüger war auch allein hier?“ „Na ja, allein war sie nicht, wenn Sie verstehen.“ „Sie nutzte das Häuschen also als Liebesnest.“ „Zumindest standen immer wieder andere Autos vor der Tür.“

Krügers Behauptung vor Gericht, seine Frau hätte ihn betrogen, war also alles andere als aus der Luft gegriffen. „Sie meinen, Frau Krüger hatte wechselnde Männerbekanntschaften?“ Der Wortführer nickte. „Wir haben es ihm allerdings nicht gesagt. Ist doch so, Jungs, oder?“ Seine Freunde stimmten ihm nickend zu. „Gibt man sich unter Kollegen nicht wenigstens einen Tipp?“, konnte ich das passive Verhalten der drei Strategen nicht so recht glauben. „Brauchten wir gar nicht, der Krüger hat es irgendwann auch selbst mitbekommen“, rückte einer der drei schließlich mit der Sprache heraus. „Wie ist das zu verstehen?“, hakte ich nach. „Naja, es war im letzten Jahr, als er ohne Wissen seiner Frau unerwartet hier auftauchte, als mal wieder ein fremdes Auto vor dem Haus stand.“ Der Lispler deutete auf das gegenüberliegende Grundstück. „Ich war gerade im Garten, als Morten vorfuhr. Ich dachte, jetzt gibt es so richtig Zoff, doch anstatt ins Haus zu stürmen und alles kurz und klein zu schlagen, setzte er sich ins Auto und fuhr einfach wieder weg.“

„Der hat die Jasmin geliebt“, mutmaßte der Wortführer. „Nie im Leben hätte er sie umgebracht.“ Während meiner Zeit als Hauptkommissar hatte ich so manches erlebt. Dazu gehörten auch Verhaltensweisen, die sich in keine Schablone pressen ließen. Oftmals schluckten geschundene oder gedemütigte Menschen, ließen alles wortlos über sich ergehen, bis der berühmte Tropfen eben doch eines Tages das Fass zum Überlaufen brachte. Diese Reaktionen waren dann derart heftig, dass sich niemand vorstellen konnte, dass die Tat von dem unscheinbaren Partner ausgeführt wurde.

„Bevor ich mich wieder ins Auto setze, würde ich mich gern davon vergewissern, dass sich tatsächlich niemand im Haus aufhält.“, erklärte ich der Bürgerwehr. „Wir haben leider keinen Schlüssel zum Haus.“ „Es reicht, wenn ich mit der Taschenlampe durch die Fenster ins Innere leuchten kann.“ „Nur zu, ich denke, dagegen ist nichts einzuwenden.“ Meine Vermutung bestätigte sich leider. Hier versteckte sich Krüger jedenfalls nicht. Dennoch hatte ich wertvolle Details erfahren, die Miriams These vom Mord aus Eifersucht als Tatmotiv untermauerten. Was allerdings den Unterschlupf anging war ich keinen Schritt weiter. Ich hatte noch etwa vierzig Stunden, um Krüger zu finden oder um ihm einen potentiellen Täter zu präsentieren.