Pilzragout

Es war einmal... So fangen nicht nur die meisten Märchen an, sondern auch die Geschichte von Luise Meinert, die von einer gemeinsamen, glücklichen Zukunft an der Seite ihres Bräutigams träumte.

Märchenhaft erhob sie sich, im strahlenden Glanz eines herrlichen Frühsommertages, die St. Andreas Kirche. Beschaulich, wie ein Kleinod aus längst vergangener Zeit. Ganz so, wie auch die vielen alten, liebevoll restaurierten Fachwerkhäuser, die sie umgab.

Lissi und Rainer waren in diesem Viertel aufgewachsen, waren Kinder der Auguststadt, wie sie von ihrem Begründer, Herzog August, einstmals benannt worden war. Sie stammten aus gutbürgerlichen Häusern, in denen sie behütet aufwuchsen. Kannten sich, wie man so sagt, bereits aus der Sandkiste. Und so, als wäre all dies von einer unsichtbaren Hand geleitet worden, standen sie nun vor dem Traualtar um sich das Jawort zu geben.

„Willst du, Luise Meinert, dem hier anwesenden, Rainer Grabenhorst, zu deinem rechtmäßigen Ehemann nehmen, ihn Ehren und die Treue halten, in guten und in schlechten Zeiten, bis dass der Tod euch scheidet?“ Der Pfarrer sah über den Rand seiner Brille, tat einen tiefen Blick in Lissis Augen, der ihr bis in den letzten Winkel ihrer gutherzigen Seele zu strömen schien. Niemals zuvor in ihrem noch jungen Leben war sie sich einer Antwort sicherer. „Ja, ich will!“, sprudelte es denn auch voller Überschwang aus ihr heraus und ihre glänzenden Augen erwehrten sich der Glückstränen die sich just in diesem Augenblick einstellten. „Dann erkläre ich euch Kraft meines Amtes zu Mann und Frau.“ Beinahe mahnend fügte der Geistliche hinzu: „Was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden.“

12 Jahre waren seit dem ins Land gezogen. Eine lange Zeit, in der sich viel verändert hatte. Fast auf den Tag genau, an ihrem ersten Hochzeitstag, war Frauke geboren worden. Rainer fand eine Anstellung in der Landmaschinenfabrik der Gebrüder Welger und Lissi bereitete ihm ein behagliches Heim. Das Glück der jungen Familie schien perfekt. Anfangs bemerkte die junge Mutter gar nicht wie sehr sich Rainer veränderte. Noch schienen seine gelegentlichen Trinkgelage nichts außergewöhnliches zu sein. Lissi nahm es hin, ohne sich dabei etwas zu denken. Ja, sie zeigte sogar Verständnis, wenn er sich nach der Tage Müh mit seinen Freunden einen geselligen Ausklang gönnte. Wie sollte sie auch ahnen, dass dies erst der Anfang eines waren Martyriums war?

Wie so oft in den letzten Monaten war Rainer nach der Arbeit nicht nach Hause gekommen. Lissi wusste genau dass er in seiner Stammkneipe an der Ecke saß und ihr Haushaltsgeld vertrank. So konnte es nicht weiter gehen - so durfte es nicht weitergehen! Viel zu lange hatte sie alles hingenommen, hatte seine Gemeinheiten stillschweigend ertragen, doch nun betraf es auch Frauke. Das Kind war weinend aus der Schule gekommen, hatte unter Tränen gefragt, warum es nicht so hübsche Sachen zum Anziehen bekam wie ihre Mitschüler. Lissi ertrug es nicht, dass man ihr Kind hänselte und verspottete. Sie wusste nicht mehr wie sie ihre Tochter trösten sollte.

An diesem Abend wollte sie all ihren Mut zusammen nehmen. Frauke lag in ihrem Bett und war endlich eingeschlafen. Ein wenig wartete Lissi noch, machte sich Mut, legte sich die Worte zurecht, mit denen sie Rainer überzeugen wollte, dann endlich griff sie sich die Jacke und zog die Wohnungstür hinter sich zu. Sie wollte nicht länger auf ihn warten, wollte in die Kneipe hinunter um ihn nach Hause zu bitten.

Zögerlich stieß sie die schwere Eingangstür zur Seite und trat ein. Verbrauchte, von Zigarettenrauch geschwängerte Luft, laute Musik, Stimmengewirr, das Klappern von Würfeln in einem Knobelbecher und der widerliche Geruch von altem Frittenfett schlugen ihr entgegen. Wie konnte sich ein Mensch in dieser Umgebung nur wohl fühlen, fragte sie sich. Sie sah sich um, suchte nach Rainer und entdeckte ihn schließlich an einem der Tische. Er und seine Freunde spielten Karten. Erleichterung zeichnete sich auf ihrem Gesicht. Er schien noch nicht all zu viel getrunken zu haben. Während sie auf den Tisch zuging, machte ihn einer seiner Freunde auf Lissi aufmerksam. Rainer fuhr wie vom Blitz getroffen in die Höhe, kam mit zwei, drei schnellen Sätzen auf seine Frau zugeschossen und ergriff sie am Arm.

„Was willst du hier?“, herrschte er sie an. „Ich wollte dich abholen,“ antwortete sie zuversichtlich. Der Druck um ihren Arm verstärkte sich. „Du bist wohl von allen guten Geistern verlassen?“ „Aber ich muss mit dir reden,“ beharrte sie mit dem Mut der Verzweiflung. „Oh ja, wir werden reden, darauf kannst du wetten, aber erst wenn ich Heim komme und nun sieh zu, dass du dich nach Hause scherst!“ In seinem Blick lag blanke Wut, eine Wut, die sie in dieser Weise noch nie gespürt hatte. In diesem Augenblick wurde ihr bewusst, dass sie einen Fehler begangen hatte. Wortlos wandte sie sich um und verließ das Lokal.

Es vergingen Stunden ehe sie seine Wohnungsschlüssel im Türschloss hörte. Aus lauter Angst war sie bereits ins Bett gegangen. Als er das Schlafzimmer betrat stellte sie sich schlafend. Doch auch dies sollte ihr nichts nutzen. Rainer griff sie in die Haare und zog sie aus dem Bett und in die Höhe. „Ist dies die Achtung, die eine Frau ihrem Manne schuldig ist?“, schnauzte er sie an. Lissi griff sich an den Kopf, versuchte seine Hand daran zu hindern weiter in ihren Harren herumzureißen. „Antworte! Ist dies der Respekt den du mir entgegen bringen solltest?“ Doch noch ehe sie etwas sagen konnte, verspürte sie den heftigen Schmerz eines Schlages in ihrem Gesicht.

Erst als er von ihr abließ, begann sie zu weinen. Er hatte sie zurück auf das Bett geworfen. Lissi krümmte sich, hielt ihre Hände schützend über den Kopf. In ihr war eine Welt zusammen gebrochen. Bei all dem Kummer, den er ihr bislang bereitete, war er nicht ein einziges mal handgreiflich geworden. Dieses Tabu hatte er nun also auch überschritten.

„Du möchtest das ich öfter zu Hause bin?“, kehrte er unvermittelt ins Schlafzimmer zurück. Blanker Zorn hatte sein Gesicht zu einer fiesen Fratze entstellt. Nichts erinnerte sie darin mehr an das liebevolle Lächeln, welches sie einst so sehr an ihm liebte. „Kein Problem mein Schatz,“ fuhr er zynisch fort, ohne ihre Antwort abzuwarten. „Dann werde ich mich eben hier mit meinen Freunden zum Skat treffen.“

Während er sich auszog, schleppte sich Lissi in das Wohnzimmer hinüber. Um nichts in der Welt wollte sie in dieser Nacht das Bett mit ihrem Ehemann teilen. Die größte Sorge aber galt ihrer Tochter. Sie durfte auf keinen Fall etwas von dem erfahren, was gerade vorgefallen war. Sie hatte in der letzten Zeit schon viel zu viel mitbekommen.

In den folgenden Wochen und Monaten dachte sie oft über eine Trennung nach, doch jedesmal wenn es für kurze Zeit besser lief, verwarf sie diesen Gedanken wieder. Sicher war es auch die Angst vor dem, was nach einer Scheidung auf sie zu kommen würde. Frauke war in einem Alter in dem sie ihren Vater brauchte. Das Rainer schon zu diesem Zeitpunkt den Draht zu seiner Tochter verloren hatte, war ihr nicht klar.

Zwei weitere schlimme Jahre schleppten sich ins Land. Das Leben an Rainers Seite wurde noch unerträglicher. Luise war für ihren Ehemann mittlerweile nur noch ein Dienstmädchen ohne jegliche Rechte. Längst hatte sie sich mit diesem Leben abgefunden, hatte sich ihrem Schicksal widerstandslos ergeben. Einzig der Gedanke, ihre Tochter so unbeschadet wie möglich groß zu bekommen nährte ihr Tun.

Es war Fraukes fünfzehnter Geburtstag. Zum ersten Mal hatte sie einige Freunde zu der Feier einladen dürfen. Eigentlich war es überhaupt das erste Mal, dass ihr Geburtstag richtig gefeiert werden sollte. Zusammen mit ihrer Mutter hatte sie das Kinderzimmer geschmückt, Kuchen gebacken und Limonade eingekauft. Alles schien perfekt, doch entgegen seines Versprechens hatte es ihr Vater einmal mehr vorgezogen nach der Arbeit nicht nach Hause, sondern in seine Stammkneipe zu gehen. „Mach dir nichts daraus,“ tröstete Lissi ihre Tochter. „Die Hauptsache ist doch, dass deine Freundinnen gekommen sind.“ Frauke seufzte enttäuscht. „Du hast recht, Mama. Soll er doch bleiben wo der Pfeffer wächst!“

Leider blieb er nicht wo der Pfeffer wächst. Die Mädchen hatten gerade die Lore Pommes Frites verdrückt, die Lissi für sie zubereitet hatte, als Rainer in die Küche gestolpert kam. „Ich habe die Jungs zum Skat mitgebracht,“ lallte er. „Sieh zu, dass du uns was vernünftiges zu Essen zauberst!“ Lissi sah ihn entgeistert an. „Ja, hast du denn Fraukes Geburtstag vergessen?“ Rainer schwankte, sah feist grinsend in die verschreckten Mädchengesichter und winkte schließlich ab. „Was kratzt mich das? Die Gören sollen jetzt verschwinden.“

„Aber Papa, dass kannst du doch nicht machen!“, rief Frauke entsetzt, während sie von ihrem Stuhl aufsprang. Rainers Augen funkelten gefährlich. „Willst du mich daran hindern?“ Seine Tochter wich zurück. „Der Kindergarten wird jetzt geschlossen,“ wandte er sich nun den anderen Mädchen zu. Seht zu, dass ihr nach Hause kommt.“ Frauke brach in Tränen aus. „Alles musst du mir kaputt machen, ich hasse dich!“ Sie sah nicht, wie Rainer ausholte und sich seine Hand zu einer Faust ballte. Sie spürte nur wie ihr Gesicht plötzlich schmerzte, wie sie nach hinten taumelte, dass Gleichgewicht verlor und sich den Kopf an der Tischkante anschlug. Als sie wieder zu sich kam, fand sie sich mit einem dicken Verband in ihrem Bett wieder.

Lissi saß am Fußende und vergoss bittere Tränen. „Gott sei dank,“ seufzte sie erleichtert, als Frauke ihre Augen öffnete. „Was ist geschehen?“, stammelte die Fünfzehnjährige. Offensichtlich konnte sie sich noch nicht wieder an das Geschehene erinnern. Die geschwollene Wange schmerzte und unter ihrer Schädeldecke hämmerte es als steppte ein Presslufthammer darauf. „Du bist gestürzt, Kleines,“ erzählte ihr Lissi nur die halbe Wahrheit. „Schlaf weiter, um so schneller bist du wieder gesund.“

Zwei Monate verhielt sich Rainer wie ein Mustergatte. Er kam von der Arbeit nach Hause, ging nur noch gelegentlich in die Kneipe und versuchte alles, um bei seiner Familie verlorenen Boden wieder gut zu machen. Fast hätte Luise ihm geglaubt, dass er sich wirklich ändern wollte, doch als er eines Abends wieder betrunken nach Hause kam und in sein altes Verhaltensmuster verfiel, wusste Lissi dass er sich niemals wirklich ändern würde.

Am nächsten Morgen war sein Bett verwaist. Obwohl es Wochenende war, musste er seine Schlafstatt schon früh verlassen haben. Erst am späten Vormittag kehrte mit einem prall gefüllten Korb voller Pilze nach Hause. Gut gelaunt eröffnete er ihr, dass er seine Skatkumpane für den Abend eingeladen hatte. Als besonderen Clou wollte ihnen der passionierte Pilzkenner ein Pilzragout vorsetzen.

Während Frauke ihrer Mutter bei der Zubereitung half, kümmerte sich Rainer um die Getränke. Jahrelang waren die Eheleute gemeinsam in die Pilze gegangen, doch seit einiger Zeit zog es Reiner vor allein durch die Wälder rund um die Lessingstadt zu streifen. Da ihm vor allem in der jüngeren Vergangenheit das Glück häufig verlassen hatte, wunderte sich Lissi über den vollen Korb. Schon während sie die Pilze wusch waren ihr einige darunter aufgefallen, die ihr völlig unbekannt waren. „Solche Pilze habe ich noch nie gesehen,“ schwärmte Frauke denn auch wegen der kräftigen Farben, in der die Schattengewächse schimmerten. „Mir geht es da nicht anders. Vielleicht sollten wir besser deinen Vater fragen.“

„Hör zu,“ reagierte Rainer ungehalten. In seinen Augen funkelte es bedrohlich. „Ich sammele seit zwanzig Jahren Pilze, da kann man wohl davon ausgehen, dass ich weiß was ich in den Korb lege!“ Lissi wich erschrocken zurück. „Ist ja schon gut, ich esse eben keine Pilze, die ich nicht kenne.“ Rainers Gesicht formte sich zu einer hässlichen Fratze. „Wer hat denn gesagt, dass du mit essen sollst?“ Lissi schluckte. Sie kannte ihren eigenen Ehemann nicht mehr. Noch wenige Stunden zuvor hatte er sich redlich Mühe gegeben wieder so wie früher zu sein, wieder der Mann zu sein, denn sie einst liebte und nun das. Also gut, wenn es unbedingt will, soll er die verdammten Pilze doch essen, dachte Lissi trotzig.

Die Skatrunde erschien wie üblich gegen 20 Uhr. Rainer hatte sich bereits mit einigen Gläschen Jägermeister in Stimmung gebracht. Genau wie ein viertel Jahr zuvor, wurde zunächst das Essen aufgetragen. Lissi rollte den Servierwagen mit dem Pilzragout ins Wohnzimmer. Obwohl ihr nicht wohl dabei war, überließ sie die Männer ihrem Schicksal. Immer wieder versuchte sie sich zu beruhigen, versuchte sich einzureden, dass Rainer der bessere Pilzkenner war, doch mit jedem neuerlichen Gedanken musste sie sich eingestehen, dass sie seinen Tod geradezu herbeisehnte. Aber was war mit den Gästen ihres Mannes, durfte sie ihren Tod ebenso billigend in Kauf nehmen?

Luise hatte Angst vor ihrer eigenen Courage. Sie wusste was ihr blühte, wenn sie die Tür öffnete und die Männer stören würde, geschweige denn, wenn sie von giftigen Pilzen spräche. Andererseits waren dies die selben Freunde, die jahrelang amüsiert zuschauten, wie Reiner sie drangsalierte. Ihnen gab sie eine Mitschuld an seiner Veränderung.

Als sie in die Küche zurückkehrte, schlug ihr das Entsetzen ins Gesicht. Frauke hatte einen Teller mit Pilzen vor sich, von denen sie sich gerade einen in den Mund steckte. „Um Himmels Willen!“, rief sie schockiert. „Spuk das sofort aus!“ Mit zwei, drei schnellen Schritten stürzte sie an den Tisch, schlug ihrer Tochter auf den Rücken, damit sie den Pilz ausspie und riß ihr den Teller weg. Frauke wusste nicht wie ihr geschah. „Wieviel hast du davon schon gegessen?“ Das Mädchen blickte ihre Mutter verwundert an. „Ich... ich wollte gerade anfangen.“ Lissi sank auf den freien Stuhl neben ihrer Tochter und atmete erleichtert durch.

„Was ist denn eigentlich los?“, stammelte Frauke. „Ich denke die Pilze sind in Ordnung.“ „Ich sagte dir doch, dass ich die eine Sorte nicht kenne.“ „Ja und?“ „Ich habe irgendwie ein ungutes Gefühl.“ Frauke verdrehte die Augen. „Wenn Vater meint das sie in Ordnung sind, dann sind sie es auch!“ Lisi zuckte mit den Schultern. „Wenn er so überzeugt von sich ist, soll er sie essen, wir jedenfalls nicht!“ Mit diesen Worten erhob sie sich und leerte den Teller in den Müll.

Der Rest des Abends verlief wie gewohnt. Mit zunehmender Stunde wurde es in der Wohnstube lauter, die Stimmung ausgelassener. Von einer eventuellen Pilzvergiftung war nichts zu spüren. Im Gegenteil, die Männer schienen sich in einem Rausch zu befinden. Der Alkohol floss in Strömen und es verging kein Gongschlag in dem nicht wenigsten einer von ihnen nach Lissi brüllte. Angewidert ließ sie alles über sich ergehen, duldete die Demütigungen ihres Mannes, während sie seine Gäste bediente und machte selbst da noch gute Miene zum bösen Spiel, als die Kerle begannen ihr den Hintern zu tätscheln. Insgeheim betete sie, dass bald alles vorbei sei.

Irgendwann, tief in der Nacht hatten die betrunkenen Skatbrüder endlich genug. Frauke war längst in ihrem Zimmer verschwunden und hatte sich auf Lissis Geheiß eingeschlossen. Den Kerlen war in dieser Nacht alles zuzutrauen. Wie sie es schließlich dennoch geschafft hatte, diese Orgie unbeschadet zu überstehen, war ihr eigentlich ein Rätsel. Noch in der Nacht beseitigte sie die Überbleibsel der feuchtfröhlichen Skatrunde. Als sie völlig erschöpft in die Federn sank, rückten die Zeiger ihres Weckers bereits auf kurz vor vier vor. Rainer schnarchte tief und fest. Zumindest von ihm hatte sie in dieser Nacht nichts mehr zu befürchten.

Erst gegen neun Uhr erwachte sie. Ein erster, verstohlener Blick galt der linken Seite ihres Doppelbettes. Rainer schlief immer noch tief und fest. Vorsichtig drückte sie das Bettzeug zur Seite und setzte sich auf die Kante, wo sie einige Augenblicke verweilte. Der Kreislauf. Dann erhob sie sich, blinzelte durch den schmalen Schlitz, den die Übergardinen auf die Straße freigaben und sah just in diesem Augenblick einen von Rainers Saufkumpanen mit seiner Familie. Sicher auf dem Weg in die Kirche, überlegte Lissi. Allem Anschein nach ging es dem Kerl gut. So etwas wie Erleichterung machte sich in ihr breit, aber auch die ernüchternde Gewissheit, dass sich nichts in ihrem Leben ändern würde.

Sie verließ das Schlafzimmer auf leisen Sohlen, nur mit einem Morgenmantel bekleidet. Bevor sie im Badezimmer verschwand, setzte sie den Kessel mit dem Kaffeewasser auf. Sie fasste auf die Klinke zu Fraukes Zimmer. Die Tür war noch verschlossen. Es schien ein Sonntag wie viele andere vor ihm zu werden. Nach dem Essen würde Rainer in seine Stammkneipe gehen und während sich Frauke mit ihren Freundinnen treffen würde, blieb für sie selbst nur der Fernsehapparat. So hatte sie sich ihr Leben nun wirklich nicht vorgestellt.

In ihren Gedanken versunken hockte sie immer noch am Frühstückstisch, als Frauke in die Küche schlurfte. Obwohl es mittlerweile schon fast Mittag war, hatte Lissi den Rest ihrer Familie schlafen lassen. Eigentlich war ihr gar nicht bewusst, dass es bereits so spät war. Sie hatte die Zeit einfach vergessen. Dementsprechend erschrocken reagierte sie, als sie eher beiläufig auf die Küchenuhr blickte. „Um Himmels Willen, ich habe noch gar nichts gekocht,“ erwachte sie aus ihrer Lethargie. „Ist mein Vater schon in der Kneipe?“, fragte Frauke nach einem kurzen Blick in die Wohnstube. „Schläft noch,“ klapperte Lissi hektisch mit den Töpfen. „Der pennt noch?“, wiederholte das Mädchen mit ihren eigenen Worten. „Ja, wenn du im Bad warst, kannst du ihn vorsichtig wecken. In etwa 20 Minuten bin ich mit dem Essen so weit.“

Luise verstand es wie keine Zweite aus dem wenigen was ihr Kühlschrank hergab ein schmackhaftes Essen zu zaubern. Ohne das Geld, was sie selber dazu verdiente, wären sie längst verhungert.

„Mama!“, hörte sie Frauke plötzlich aufgeregt aus dem Schlafzimmer rufen. Lissi ließ alles stehen und liegen, sie wusste sofort, dass irgend etwas nicht in Ordnung war. Die Fünfzehnjährige stand zu einer Säule erstarrt neben dem Bett ihres Vaters. „Er rührt sich nicht, ich glaube er ist tot,“ stammelte sie. „Um Himmel Willen!“ Lissi drängte ihre Tochter zur Seite, ergriff Rainer an den Schulter und schüttelte ihn, schrie ihn an, versuchte seine Atmung zu spüren – alles vergebens. „Lauf zum Nachbarn und lass den Notarzt rufen,“ wandte sie sich an Frauke. Doch die blieb wie angewurzelt stehen. „Beeile dich!“ „Willst du das wirklich?“, fragte das Mädchen plötzlich mit einer Stimme, die ihre Mutter erschauern ließ. „Überlege doch mal, alle werden sagen, dass du das Essen absichtlich vergiftet hast.“

Lissi erhob sich, starrte ihre Tochter an, versuchte kühlen Kopf zu bewahren, doch ihre Gedanken purzelten wild durcheinander. Sie zog Frauke mit sich hinaus auf den Flur. „Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich deinen Vater absichtlich mit den Pilzen vergiftet habe!“ Frauke schwieg. „Aber es ist nicht möglich,“ besann sich Lissi. „Ich habe doch vorhin beim Aufstehen den Lutz mit seiner Familie vorbeigehen sehen. Es können nicht die Pilze sein.“ „Dann bis du erst recht verdächtig. Es wird heißen, dass du die Pilze nur in Vaters Essen mischtest.“ Jegliche Farbe war aus Lissis Gesicht gewichen. „Wer hat ihm die Pilze aufgetan?“, fragte ihre Tochter herausfordernd. Beide sahen sich schweigend in die Augen. „Sie werden es so drehen, dass du ihn vergiftet hast und du wirst keine Chance haben deine Unschuld zu beweisen.“

Lissi brach in Tränen aus. All dies war zu viel für sie. Es schien als würden nun alle Dämme brechen, als würde sich all der Kummer der vergangenen Monate und Jahre auf einmal entladen. Wer würde für ihre Tochter sorgen, wenn sie im Gefängnis saß? Aber noch schlimmer war ihr der Gedanke, dass Frauke sie für die Mörderin ihres Vaters hielt. Wie gut taten da die tröstenden Worte, die sie plötzlich aus dem Mund ihrer Tochter vernahm. „Ich glaube dir, obwohl ich weiß, wie sehr du ihn verachtetest.“ Lissi hob den Kopf, wischte sich die Tränen aus den Augen und sah Frauke so tief in die Augen, wie sie es nur vermochte. „Ich bin keine Mörderin.“

Schweigend saßen sie nebeneinander, überlegten was nun zu tun sei. Schließlich kamen sie überein die Leiche des Vaters gemeinsam mit dem Handwagen fortzuschaffen und an geeigneter Stelle zu vergraben. Den Leuten wollten sie erzählen, dass er die Familie bei Nacht und Nebel verlassen hatte. „Schön und gut,“ sagte Lissi nachdenklich. „Aber wo um alles in der Welt sollen wir ihn beerdigen? Wir können ihn ja wohl kaum auf einen Friedhof bringen.“ „Warum eigentlich nicht?“, sinnierte Frauke. „Nicht weit von hier, im Lechlumer Holz, da wo einst die alte Heerstraße entlang führte, gibt es einen Platz, an dem im Mittelalter vermeintliche Hexen und Gesetzlose hingerichtet wurden. Das sogenannte alte Gericht. Wir haben es in der Schule durchgenommen.“ Lissi jagte allein der Gedanke einen kalten Schauer über den Rücken. „Bist du von Sinnen? Wir können doch nicht...“ „Warum nicht?“, fiel ihr ihre Tochter ins Wort. „Hast du eine bessere Idee?“

Es war bereits tief dunkle Nacht, als sich Mutter und Tochter daran machten den Leichnam durch das Treppenhaus nach unten in den kleinen Innenhof zu schaffen. Sie hatten mit ihrem Vorhaben extra so lange gewartet, bis auch das letzte Licht in den übrigen Wohnungen ausgegangen war. Ein hartes Stück Arbeit lag hinter ihnen, als sie den Bollerwagen endlich über die Doktor Heinrich Jasper Straße in Richtung Stöckheim zogen. Lissi betete, dass niemand sie anhalten und unter die alten Lumpen sehen möge, mit denen sie den Toten zugedeckt hatten. Überall da wo es möglich war, benutzten sie Seitenstraßen, versteckten sich, wenn die Lichter eines Scheinwerfers ein Auto ankündigten.

Schließlich erreichten sie die Ortsgrenze von Stöckheim, wo sie in einen Feldweg abbogen, der sie durch die Okerauen bis zum Lechlumer Holz führte. Von dort aus wurde es noch beschwerlicher. Der Weg durch den Wald führte stetig bergauf. Es mochten Stunden vergangen sein, bis sie endlich die Stelle erreicht hatten, die Frauke von einer Exkursion mit der Schulklasse kannte. Doch selbst sie fand diesen Ort mitten in der Nacht zum Fürchten. Inmitten ihrer Mitschüler hatte sie ihre Späße darüber gemacht, doch jetzt, mit dem toten Vater unter den Lumpen war es ihr um einiges anders.

„Es wird bald hell,“ mahnte ihre Mutter zur Eile und die beiden Frauen machten sich an die Arbeit. Der schwere, von Wurzeln durchzogene Waldboden verlangte ihnen ihre letzten Kräfte ab. „Müssen wir denn noch tiefer?“, schnaufte Frauke, am Ende ihrer Kräfte. „Nein, ich denke das reicht. Es ist tief genug, um den Wildtieren keine Witterung zu geben.“ Mit letzter Kraft wuchteten sie den leblosen Körper in das Grab. Lissi sprach mit zitternder Stimme einige wehmütige Worte des Abschieds. Dann warf sie einige Blumen, die Frauke am Wegrand entdeckt hatte in das Erdloch und bedeckte die Leiche mit Erde. Abschließend zogen sie einige Äste und Zweige über das Grab um die Stelle zu verbergen.

Völlig erschöpft ließen sie sich auf einem umgestürzten Baumstamm nieder und ruhten sich einige Minuten aus. Lissi nahm ihre Tochter in den Arm und weinte. „Wir schaffen das.“ Auch in Fraukes Augen wurde es feucht. „Schlechter als bisher kann es doch eigentlich gar nicht werden.“ „Wenn wir zusammen halten nicht,“ bekundete Lissi mit bebender Stimme.

Genau in diesem Augenblick blendete sie ein Lichtstrahl, wanderte quer über den Waldboden, bis zu der Stelle, an der sich Rainers Grab befand. Dort verweilte er einen Moment, um gleich darauf seinen Weg fortzusetzen und das Innere einer aufgeplatzten, knochigen Eiche auszuleuchten. Lissi und Frauke trauten ihren Augen nicht. Was sich dort im Lichterschein in den herrlichsten Farben widerspiegelte, war nichts anderes, als genau die Pilze, die Rainer in seinem Korb nach Hause gebracht hatte.

Beruht diese Geschichte auf einer wahren Begebenheit?

Hat sie sich tatsächlich so und nicht anders abgespielt, habe ich bei ihrer Niederschrift ein wenig geflunkert, oder war am Ende gar alles gelogen?

Sie selbst müssen entscheiden welchen Teil der Geschichte Sie glauben wollen.

Doch eines sei an dieser Stelle noch Abschließend erwähnt: Nichts von dem was zu seien scheint, muss Wirklichkeit sein. Oft trügt der Schein und das, was zu sein scheint, ist mehr schein als sein.