Detektei Lessing

Penner(un)glück

 

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„Stopp, sofort aufhören!“, rief Arnold Morgenrots dem Baggerfahrer zu. Dieser reagierte sofort. Er arbeitete lange genug mit seinem Kollegen zusammen, um dessen aufgeregte Handbewegungen richtig zu deuten. In einer so alten Stadt, wie Wolfenbüttel es ist, musste man bei Erdarbeiten quasi immer damit rechnen, auf irgendwelche historischen Relikte oder schlimmer noch, auf Munitionsfunde zu stoßen. Ein bei Straßen- und Tiefbaufirmen nicht sonderlich gern gesehener Umstand, der häufig genug alle Terminplanungen über den Haufen wirft.

„Was haben deine Adleraugen denn diesmal wieder erspäht?“, kletterte Norbert aus seinem Fahrerhaus. Sein Kollege stand da wie ein Denkmal und deutete mit ausgestrecktem Arm und starrem Blick auf ein breites Loch in der Fahrbahndecke. Als Norbert sah, was sein Kollege entdeckt hatte, stockte auch ihm der Atem. An einem der Brückenpfeiler ragte ein skelettierter Arm aus dem an dieser Stelle angehäuften Okerschlamm. Wer auch immer dort lag, musste einen schrecklichen Todeskampf hinter sich haben.

Oberkommissar Tim Sinner von der herbeigerufenen Polizei ließ sämtliche Arbeiten an der Brücke einstellen. Er ordnete vorsorglich an, das gesamte Gelände weiträumig abzusperren und veranlasste wegen der vielen vorbeilaufenden Passanten einen Sichtschutz aufzubauen. Um den Leichnam durch die Mitarbeiter der Spurensicherung an Ort und Stelle untersuchen zu können, mussten seitens der Baufirma umfangreiche Sicherungsarbeiten durchgeführt werden.

„Wer bezahlt diesen Aufwand hier eigentlich?“, erkundigte sich der Bauleiter wenig verständnisvoll bei Staatsanwältin Miriam Herz. „Na, Ihre Sorgen möchte ich haben“, entgegnete meine Lebensabschnittsgefährtin. „Das wird sich finden. Die Bergung des Leichnams liegt im öffentlichen Interesse.“ „Wie lange wird das Theater hier noch dauern?“, zeigte sich der Bauleiter genervt. „Bis die kriminaltechnische Untersuchung abgeschlossen ist.“ Der Mann mit dem Headset verschwand wütend in seinem Bauwagen. Er wusste, dass man ihm die Verzögerung anlasten würde, obwohl er am allerwenigsten dafür konnte.

„Welche Erkenntnisse konnten Sie bislang gewinnen?“, erkundigte sich Staatsanwältin Miriam Herz bei der Leiterin der Spurensicherung. „Fakt ist, dass wir bislang nichts als einen Leichnam haben. Ohne die Verrohrung der Oker und die damit verbundene Trockenlegung des Brückenfundaments wären die sterblichen Überreste dieses Herrn mit hoher Wahrscheinlichkeit niemals gefunden worden.“ „Es handelt sich also um eine männliche Leiche“, wiederholte Miriam. „So ist es“, bestätigte Rechtsmediziner Doktor Ramsauer. „Dank der unteren, noch einigermaßen gut erhaltenen Körperteile gibt es keinen Zweifel. Sie waren durch den angestauten Schlamm bedeckt und somit weder dem Zerfall durch Sauerstoff noch dem Befall durch Tiere zugänglich. Was für Kopf und Arme leider nicht zutrifft.“

Der Staatsanwältin lief ein kalter Schauer über den Rücken. „Wann kann der Leichnam geborgen werden?“ „Wir haben ihn soweit freigegraben und auf einer Vakuummatratze stabilisiert. Von mir aus kann's losgehen.“ „Gut, dann sage ich jetzt dem Bauleiter Bescheid, dass wir soweit sind.“

Bereits kurze Zeit später hatten Mitarbeiter der KTU und der Baufirma die Leiche ans Tageslicht befördert. Zur Feststellung der Identität und der Todesursache wurde der Leichnam schließlich ins rechtsmedizinische Institut nach Braunschweig gebracht. Da sich auch nach intensiver Suche am Fundort keinerlei Hinweise auf die näheren Umstände fanden, die zum Tod des Mannes geführt hatten, wurde die Baustelle noch in den Nachmittagsstunden des gleichen Tages wieder freigegeben - eine für den Bauleiter mehr als glückliche Fügung, da somit sein Zeitplan nicht vollends aus den Fugen geriet. Immerhin stellt die Bahnhofstraße die Anbindung des Forum Einkaufscenters zur Innenstadt sicher.

KTU kriminaltechnische Untersuchung

 

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„Was können Sie mir zum Tod des Mannes sagen, Doktor?“, kam der Oberkommissar recht schnell zur Sache. „Sie wissen, dass meine Hoffnungen vor allem auf das Ergebnis Ihrer Untersuchungen beruhen“, maß Tim Sinner dem Befund des Rechtsmediziners die höchstmögliche Bedeutung zu. „Tja, Sie wissen selbst, in welchem Zustand der Leichnam gefunden wurde“, relativierte Ruprecht Ramsauer die Hoffnung des Ermittlers. „Viel fand ich nicht, aber immerhin gibt es eine Fraktur am Hinterkopf.“ „Lässt sie auf einen gewaltsamen Tod schließen?“ Der Mediziner schüttelte den Kopf. „Das lässt sich leider nicht mit Bestimmtheit sagen. Ebenso gut könnte die Verletzung von einem Sturz herrühren.“

Tim Sinner machte ein recht betretenes Gesicht. „Wie sieht es mit der Identifikation des Mannes aus?“ Ramsauer war ein sehr erfahrener Rechtsmediziner, der auf eine lange Kariere in den Diensten der Polizei zurückblicken konnte. Wenn er sich während dieser Zeit eines zueigen gemacht hatte, dann war es die Überzeugung, nur über Erkenntnisse zu sprechen, die er wissenschaftlich belegen konnte.

„Bei dem Mann dürfte es sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um einen Mitteleuropäer handeln. Er verfügte über ein ausgesprochen gutes Gebiss, welches trotz seines Alters lediglich sehr moderate Zahnbehandlungen aufweist. Folglich gibt es hier keinerlei Hinweise auf Zahnersatz oder sonstige Besonderheiten.“ „Wie alt schätzen Sie den Mann ein?“, stellte der Ermittler eine der Schlüsselfragen. „Es war klar, dass Sie mich danach fragen“, seufzte Ramsauer. „Der Abnutzungsgrad seiner Zähne deutet auf einen Mann Mitte dreißig, der Zustand seiner Haut sagt jedoch etwas Anderes aus. Er muss sich viel an frischer Luft aufgehalten haben.“ „Vielleicht ein Bauarbeiter oder ein Gärtner?“, schlussfolgerte Sinner. Der Rechtsmediziner hob die im Okerschlamm konservierte Hand des Toten. „Sehen Sie sich seine Hände an. Nach harter körperlicher Arbeit sehen die nicht aus. Muskulatur und Rückrad deuten eher auf einen Job am Schreibtisch.“

Der Oberkommissar rieb sich nachdenklich das Kinn. „Wie alt war er denn nun?“ „Bei aller Zurückhaltung würde ich sein Alter auf Mitte Fünfzig datieren. Plus, minus fünf Jahre.“ „Was glauben Sie, wie lange der Leichnam unter der Brücke lag?“ „Die abschließende Auswertung der Laborergebnisse steht zwar noch aus, aber es deutet momentan alles auf einen Zeitraum von vier bis sechs Monate.“ „Sie machen es mir nicht gerade leicht, Herr Ramsauer“, ächzte der Ermittler.

„Vielleicht hilft Ihnen ja die Blinddarmnarbe weiter. Sie weist eine Besonderheit auf.“ Der Rechtsmediziner zog das weiße Laken zur Seite. „Ui“, staunte Sinner, „…die ist aber lang.“ „Alles andere, als eine gute Arbeit“, schüttelte Ramsauer verächtlich den Kopf. „Muss ein Stümper gewesen sein.“ „Falls sich jemand findet, der einen Mann seines Alters vermisst, könnte er ihn daran identifizieren“, schürzte Sinner die Lippen. „Fragt sich nur, ob unser Unbekannter aus dieser Gegend stammt?“, gab der Rechtsmediziner zu bedenken. „Wenn wir nicht herausbekommen, um wen es sich bei diesem Mann handelt, ist es nahezu unmöglich herauszufinden, wie er ums Leben kam.“ „Sie könnten mit dem Fall ja bei Aktenzeichen XY ungelöst auftreten“, witzelte Ramsauer. „Warum eigentlich nicht?“, griff Sinner die Idee des Rechtsmediziners als gut gemeinten Rat auf. „Wäre es möglich, das Gesicht des Toten zu rekonstruieren?“, lief der Oberkommissar jetzt zu ungeahnten Höhen auf. „Eine plastische Gesichtsweichteil-Rekonstruktion durch einen guten Forensiker?“, überlegte Ramsauer. „Warum nicht? Wenn Sie jemanden finden, der die Kosten dafür trägt, setze ich mich mit einem auf diesem Gebiet sehr ehrfolgreich tätigen Studienkollegen in Verbindung.“

Oberkommissar Tim Sinner war geradezu aus dem Häuschen. Dieser Fall versprach deutlich mehr, als zuvor erwartet. Falls er in dieser Sache eine gute Figur machte, stand seiner Beförderung zum Hauptkommissar nichts mehr im Wege. Nachdem er geradezu euphorisch in die Wolfenbütteler Dienststelle an der Lindener Straße zurückgekehrt war, vernahm er die Worte seines Kollegen Schubert nur noch beiläufig. „Wir hatten während der letzten zwölf Monate vier als vermisst gemeldete Männer im Landkreis.“ „Wie, äh, ja, gut.“ „Haben Sie in der Rechtsmedizin etwas Neues erfahren?“, hakte Kommissar Schubert nach. „Sonderlich viele Erkenntnisse gab es nicht, aber immerhin wissen wir jetzt, dass es sich um einen Mann Mitte Fünfzig handeln muss.“

Während Oberkommissar Sinner seinen Kollegen auch über die weiteren Details zum Leichnam informierte, betrat Miriam Herz das Büro der beiden Ermittler. „Falls wir mit den Vermisstenmeldungen nicht weiterkommen, könnten wir das Gesicht des Toten durch einen Forensiker rekonstruieren lassen“, gab Sinner die Idee des Rechtsmediziners weiter. Die Staatsanwältin zeigte sich durchaus angetan. „Sollte sich nach der Veröffentlichung des Fotos in der regionalen Presse niemand melden, der den Mann kennt, gäbe es die Möglichkeit über die Sendung ‚Aktenzeichen XY ungelöst' eine erheblich breitere Öffentlichkeit zu erreichen“, fügte der Oberkommissar hinzu.

„Ihr Engagement in allen Ehren, Herr Sinner, aber zunächst sollten wir doch mal die uns zur Verfügung stehenden Mittel ausschöpfen.“ „Es gibt einige Vermisstenanzeigen“, mischte sich Schubert ein. „So, wie es aussieht, könnten sich zwei davon auf unseren Unbekannten beziehen.“ „Na also, dann schlagen ich vor, dass Sie sich zunächst darum kümmern.“ Sinner sah seinen Kollegen mürrisch an. „Ich werde die Möglichkeit der Kostenübername inzwischen mit Oberstaatsanwalt van der Waldt klären.“ „Selbstverständlich“, stimmte der Oberkommissar zähneknirschend zu.

„Ich denke, du hattest vier Vermisstenanzeigen“, wandte sich Sinner seinem Kollegen zu, nachdem Miriam das Büro wieder verlassen hatte. „In zwei Fällen wurden erheblich jüngere Männer vermisst. Die sind ja dann auszuschließen, oder?“ „Das entscheide ich!“, ließ Sinner keinen Zweifel an seiner Autorität. Kommissar Schubert hatte verstanden. Er atmete zweimal tief durch, ehe er seinem Chef die Akten über den Schreibtisch schob.

Noch am selben Nachmittag trafen sich die Ermittler mit den Angehörigen der Vermissten vor der Rechtsmedizin zu einer möglichen Identifizierung der Leiche. Die Ehefrau eines als vermisst gemeldeten Herrn erschien vorsorglich in schwarzer Trauerkleidung. Die Nachricht, es könne sich bei dem Unbekannten um ihren vermissten Gatten handeln, hatte sie vom Schlimmsten ausgehen lassen.

„Guten Tag, mein Name ist Amelung, Ingrid Amelung. Sie sind die Herrn Kriminalbeamten, die mich hierher gebeten haben?“, stellte sich die Dame bei ihrer Ankunft vor. „So ist es“, bestätigte Tim Sinner. „Der junge Mann zu meiner linken ist Kommissar Schubert, ich bin Oberkommissar Sinner.“ „Wo ist denn nun mein Mann?“, schien es die vermeintliche Witwe recht eilig zu haben. „Bitte erzählen Sie uns zunächst vom Verschwinden Ihres Ehemannes“, bat Kommissar Schubert die seltsame Hinterbliebene in einen Warteraum.

„Winfried verschwand vor fast fünf Monaten. Er wollte nur noch schnell in die Firma, weil er dort wichtige Unterlagen vergessen hatte. Ich bin dann nach zwei Stunden Warten ins Bett gegangen. Als er am nächsten Morgen immer noch nicht daheim war, habe ich ihn anzurufen versucht, aber außer von der Mailbox habe ich seine Stimme seither nicht wieder gehört.“ Schubert reichte ihr ein Papiertaschentuch. „Drei Tage später habe ich Winfried als vermisst gemeldet“, schniefte sie. „Hat Ihr Gatte irgendwann geäußert, Sie verlassen zu wollen?“, erkundigte sich Sinner. „Na hören Sie mal! Mein Winnie und ich waren das glücklichste Ehepaar, das Sie sich vorstellen können. Ich spüre, dass ihm etwas Schlimmes zugestoßen sein muss. Winnie hätte mich niemals verlassen!“ Eine Ansicht, die beide Ermittler nicht unbedingt mit ihr teilten, aber das behielten sie natürlich für sich.

„Wie groß und wie schwer war Ihr Gatte bei seinem Verschwinden?“, lenkte Schubert das Gespräch auf die bevorstehende Identifizierung. „Gab es Operationen, denen sich Ihr Mann unterziehen musste?“ Sollte sich bereits zu diesem Zeitpunkt eine erhebliche Diskrepanz ergeben, hätte man der Dame den wenig erfreulichen Anblick ersparen können. „Ich habe Ihnen ein Foto von meinem Winnie mitgebracht.“ Sie wühlte in ihrer Handtasche herum und überreichte Schubert das Bild. „Er war 1,75 Meter und wog etwa 85 Kilogramm“, beschrieb sie den Vermissten. „Ach ja, man hatte ihm bereits vor unserer Hochzeit den Blinddarm herausgenommen.“

Der Mann auf dem Foto konnte tatsächlich der Unbekannte Tote sein. Die Tatsache, dass er am Blinddarm operiert worden war sowie die Angaben zu Gewicht und Größe passten zum Leichnam. „Also gut, wenn Sie soweit sind, können wir nun hinein gehen. Der Pathologe erwartet uns bereits“, erhob sich Oberkommissar Sinner. „Ich muss Sie allerdings vorwarnen. Der Anblick des Toten ist nicht schön.“

Die beiden Ermittler nahmen die vermeintliche Witwe in ihre Mitte, während Doktor Ramsauer eine der Kühlungsklappen öffnete und den Schlitten mit dem Leichnam herauszog. „Ich kann Ihnen lediglich die Blinddarmnarbe zeigen“, erklärte der Rechtsmediziner. „Weshalb kann ich nicht sein Gesicht sehen? Ich würde mich gern von meinem Mann verabschieden.“ „Es gibt kein Gesicht mehr, welches ich Ihnen zeigen könnte“, schüttelte der Pathologe den Kopf und zog das Laken im Bereich des rechten Unterbauches soweit zurück, dass eine etwa 12 Zentimeter lange Narbe mit einer Zacke nach links sichtbar wurde.

Ingrid Amelung sah für einen winzigen Moment auf die Narbe, ehe sie den Kopf zur Seite drehte und den Kommissaren zunickte. „Sind Sie absolut sicher, dass es sich um Ihren Ehemann handelt?“, kamen Schubert Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit. „Bitte sehen Sie sich die Narbe noch einmal genau an. Es darf kein Zweifel bestehen.“ Die Angesprochene folgte der Aufforderung des Kommissars nur sehr widerwillig. „Ja, er ist es. Mein Gott, es ist Winfried. Kein Zweifel, der Mann, der da liegt ist… nein, war mein Ehemann!“

Sinner und Schubert begleiteten die Witwe hinaus. „Wie ist Winfried ums Leben gekommen?“, erkundigte sie sich wieder einigermaßen gefasst. Oberkommissar Sinner öffnete ihr die Tür zum Foyer. „Wir wissen es noch nicht, aber momentan deutet alles auf einen Unfall hin.“ „Wann kann ich meinen Mann beerdigen?“ „Normalerweise können Sie alles in die Wege leiten. Der Freigabe des Leichnams dürfte nun nichts mehr im Wege stehen.“ „Dann lasse ich Winfried morgen Vormittag durch das Beerdigungsunternehmen abholen. Ich will ihm wenigstens einen schönen Abschied bereiten.“

Während die Kommissare der trauernden Witwe nachschauten und sie dabei beobachteten, wie sie in einen schwarzen Jaguar zu einem Herrn mit blauem Hut stieg, sprach sie ein reichlich abgerissen wirkender Obdachloser an.

„Habe ich das Vergnügen mit den Herren Kommissaren?“ Sinner und Schubert sahen sich sprachlos an. „Und wer sind Sie?“ „Axel Schweig, mein Name“, zog er seinen Schlapphut und deutete eine Verbeugung an. „Wir haben miteinander telefoniert.“ „Ach, Sie sind der Herr, der seinen Bekannten vermisst gemeldet hatte“, erinnerte sich Schubert. „Stets zu Diensten, die Herren.“ „Ja, schön, dass Sie gekommen sind…“ „Erschienen, junger Mann, erschienen! In meinem Alter muss man mit den Kräften haushalten.“ „Der Unbekannte ist soeben identifiziert worden. Wir benötigen Ihre Dienste also nicht mehr.“ „Na, Sie sind ja vielleicht lustig. Soll das heißen, ich habe mich vergeblich auf den weiten Weg gemacht?“ „Ich fürchte, genau so ist es“, bestätigte Sinner, sich bereits von dem Mann abwendend.

„Gestatten mir die Herren eine einzige Frage, damit auch ich, zumindest für heute, meinen Seelenfrieden machen kann?“ Schubert verdrehte die Augen. „Also bitte.“ „Hat der Tote eine etwa 12 Zentimeter lange Blinddarmnarbe mit einer Zacke?“

 

-3-

Es war schon spät, als Ingrid Amelung und ihr Begleiter die Villa im Wolfenbütteler Stadtteil Adersheim erreichten. Das Tor der Garage surrte leise nach oben. Majestätisch rollte der schwarze Jaguar über die Zufahrt, ehe er in der Doppelgarage verschwand. Sinner und Schubert nutzten die Gelegenheit, um dem Wagen zu folgen. Während sich die nun nicht mehr in Schwarz gekleidete, vermeintliche Witwe fröhlich lachend auf der Beifahrerseite aus dem Wagen schob, gaben sich die Kommissare zu erkennen.

„Darf man fragen, was es zu feiern gab?“, erkundigte sich Sinner befremdet. „Eine zugegeben nicht alltägliche Art der Trauer“, ergriff der Mann mit dem blauen Hut das Wort, „…für Frau Amelung ist es die für sie adäquate Art mit ihrem Schmerz umzugehen.“ „Sparen Sie sich das“, entgegnete der Oberkommissar gereizt. „Wer sind Sie eigentlich?“ „Mein Name ist Justus von Hohenloh. Ich bin ein Freund des Hauses.“ „Was wollen Sie denn eigentlich hier?“, zeigte sich Ingrid Amelung verwirrt. „Haben Sie mir meinen Mann mitgebracht?“ Wir wissen inzwischen, dass es sich bei dem Toten nicht um Ihren vermissten Ehemann handelt.“ „Dann habe ich mich wohl geirrt“, hob sie lapidar ihre Schultern. „Wie Sie erkennen können, ist Frau Amelung momentan nicht in der Situation, Ihre Fragen beantworten zu können.“ „Also schön, dann bitte ich Sie morgen Vormittag um 10 Uhr in die Wolfenbütteler Dienststelle an der Lindener Straße zu kommen.“ „Wir werden da sein“, versprach Hohenloh.

„Dass bei diesem bizarren Pärchen irgendetwas gewaltig zum Himmel stinkt, liegt wohl auf der Hand“, schüttelte Schubert nachdenklich mit dem Kopf, während sich die beiden Ermittler zur Dienststelle begaben. „Ich habe die Beiden absichtlich etwas später einbestellt, um noch etwas Zeit für Recherchen in ihrem Umfeld zu haben“, erklärte Sinner. „Wir wollen doch mal sehen, ob es einen Grund für die falsche Identifizierung des Toten geben könnte.“

„Guten Morgen, Frau Amelung, Herr von Hohenloh“, begrüßte Kommissar Schubert seine Gäste auf dem Flur vor dem Büro, welches er sich mit Oberkommissar Sinner teilte. „Schön, dass Sie unserer Einladung nachkommen konnten. Wenn ich Sie schon mal hereinbitten darf.“ Das ungleiche Paar folgte ihm. „Ist denn Ihr Kollege gar nicht da?“, sah sich von Hohenloh interessiert um. „Oberkommissar Sinner wird gleich zu uns stoßen“, versicherte Schubert. „Er wurde leider etwas aufgehalten.“

„Ich muss mich für meinen gestrigen Auftritt entschuldigen“, ergriff Ingrid Amelung das Wort. „Ich kann verstehen, wenn mein Verhalten etwas befremdlich auf Sie gewirkt haben muss.“ „Es steht mir nicht zu, Ihr Benehmen zu bewerten“, hob Schubert die Schultern. „Nichtsdestotrotz wirkte das Ganze etwas befremdlich.“ „Menschen reagieren zuweilen recht unterschiedlich, wenn es darum geht, ihren Kummer zu bewältigen.“

Oberkommissar Sinner betrat das Büro. „Verzeihen Sie bitte meine kleine Verspätung, ich wurde leider aufgehalten.“ „Aber das macht doch nichts“, versicherte von Hohenloh. „Da Frau Amelung gestern Abend unpässlich war, nehme ich an, dass Sie Ihre Bekannte noch einmal von der Wendung in diesem Fall unterrichtet haben?“ „Ich war völlig perplex, als mir Justus davon erzählte“, griff sich die vermeintliche Witwe theatralisch an die Brust. „Wie ist das möglich?“ „Das frage ich Sie?“, stutzte Sinner. „Ich war mir so sicher“, entgegnete Ingrid Amelung mit unschuldsvollem Blick. „Oder ging es eher darum, ihren vermissten Ehemann auf elegante Weise für tot zu erklären?“ „Na hören Sie, wie können Sie so etwas behaupten?“ „Nun, wir haben uns natürlich umgehört und das, was uns zu Ohren kam, macht uns schon von berufswegen her neugierig“, brachte es Schubert auf den Punkt. „Sie und Herr von Hohenloh sind seit dem Verschwinden Ihres Mannes ein Paar“, legte Sinner die Karten auf den Tisch. „Ich habe Frau Amelung über den Verlust Ihres Gatten hinweg getröstet. Dass wir uns dabei näher kamen, kann man sicherlich als Schicksal bezeichnen.“

Die Kommissare sahen sich vielsagend an. „Fakt ist, wenn Herr Amelung für tot erklärt worden wäre, hätten Sie, Frau Amelung, als dessen Witwe eine nicht unbeträchtliche Hinterlassenschaft angetreten und sie hätten wieder heiraten können“, schlussfolgerte Sinner. „Reden wir nicht lange um den heißen Brei herum, Herr Oberkommissar“, zeigte Justus von Hohenloh plötzlich Zähne. „Falls Sie andeuten wollen, dass Frau Amelung den Toten absichtlich in fälschlicher Weise als Ihren Gatten identifiziert hat, müssten Sie dies beweisen. Da ich denke, dass Sie dazu nicht in der Lage sind, verabschieden wir uns jetzt. Frau Amelung hat nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt, als Sie in dem Toten Ihren Gatten zu erkennen glaubte. Sollten Sie weiterhin etwas Anderes behaupten, werden Sie von meinem Anwalt hören.“ Von Hohenloh griff nach seinem Hut, hakte die vermeintliche Witwe ein und verließ mit ihr das Büro. Schubert und Sinner sahen ihnen verdutzt nach.

„Ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, dass sich hinter dieser versnobten Fassade Abgründe auftun“, sinnierte Sinner. Wer weiß, was sich da alles zu Tage fördern ließe.“ „Wenn sich tatsächlich bestätigen sollte, was Sie und ich vermuten, war die Nummer mit der Identifizierung eines fremden Leichnams echt harter Tobak“, konnte Schubert seinem Vorgesetzten nur beipflichten. „Wir werden die Sache im Auge behalten, aber zunächst sollten wir uns noch einmal Axel Schweig und der weiteren Identifizierung des Toten zuwenden. Abgesehen von dem Phantombild und dem Spitznamen sind wir nicht viel weiter.“

Eine halbe Stunde später und keine zwei Kilometer weiter, trafen sie den Obdachlosen an seinem Stammplatz in der Bärengasse an. Da er den Verkaufsstandort für die Obdachlosenzeitung bei der Abgabe der Vermisstenanzeige als Kontaktpunkt angegeben hatte, war es kein Problem ihn ausfindig zu machen. Wie so oft war er gerade damit beschäftigt die Fifty-fifty zu verkaufen.

Zeitung der Obdachlosen

„Hallo Herr Schweig, wie laufen die Geschäfte?“, erkundigte sich Kommissar Schubert. „Wenn Sie mir eine abnehmen würden, hätte ich schon drei verkauft.“ „Na, dann geben Sie meinem Kollegen auch gleich eine“, verfügte Schubert großzügig über das Portmonee seines Vorgesetzten. Geld und Zeitungen wechselten die Besitzer. Wie wäre es mit einer Tasse Kaffee?“, tat Sinner eine einladende Handbewegung in meine Richtung. Ich hatte ebenfalls eine der bereits verkauften Zeitungen des Obdachlosen erstanden und las diese an einem der vor meinem Stammcafé aufgestellten Tische. Ich bemerkte die Kommissare erst, als sie am Nebentisch Platz nahmen und bei Anne Kaffee und Cappuccino bestellten. Da mich bislang keiner der beiden Ermittler hinter meiner Zeitung erkannt hatte, beließ ich es dabei. Schließlich war ich meinem Beruf entsprechend neugierig auf das, was die Vertreter der Staatsgewalt mit dem Obdachlosen zu besprechen hatten.

„Sie sagten, Sie und der Verstorbene wären etwa zwei Jahre lang gemeinsam auf Platte gewesen“, begann Sinner das Gespräch. „Ja, ja, müssen so ungefähr zwei Jahre gewesen sein“, bestätigte der Angesprochene. „Während dieser Zeit muss Ihnen Ihr Freund doch so einiges über seine Vergangenheit erzählt haben“, mutmaßte der Oberkommissar. „War er womöglich vor irgendetwas auf der Flucht? „Ich weiß nur, dass es Hugo nicht immer so mies ging. Er sehnte sich öfter nach seinem Bett und ner heißen Dusche zurück.“ „Hat er denn nie über dieses andere Leben mit Ihnen gesprochen?“, schenkte ihm Kommissar Schubert nur wenig Glauben. „Nein!“, entgegnete der Obdachlose entschieden. „Er fand auf der Straße endlich das, wonach er sein Leben lang vergeblich gesucht hatte.“ „Was soll das gewesen sein?“, hob Schubert skeptisch die Braue. „Achtung vor dem Besitz des Anderen, Respekt vor dem Leben und den Stolz darauf, ein anständiger Mensch zu sein.“

Es herrschte betretenes Schweigen, als Anne den Kaffee für die Kommissare und den Cappuccino für den Obdachlosen brachte. Ich fragte mich, wer dieser Hugo war und welches Schicksal er erlitten hatte. Dann erinnerte ich mich schließlich an ein Gespräch mit Miriam. Sie hatte mir zwei Tage zuvor von einem Mann erzählt, der bei Abbrucharbeiten an der alten Okerbrücke neben der Hauptpost gefunden worden war. Offensichtlich waren Sinner und Schubert gerade dabei, im Leben des Toten zu recherchieren. Ich beschloss, noch ein wenig länger als geplant sitzen zu bleiben.

„Sie haben Ihren Freund kurz nach seinem plötzlichen Verschwinden als vermisst gemeldet. Hat er Ihnen während ihres letzten Treffens irgendetwas von der Absicht erzählt, wieder in sein ursprüngliches Leben zurückzukehren?“ „Nee“, schob der Zeitungsverkäufer seine Unterlippe ein Stück weit hervor, um an seinem Cappuccino zu schlürfen. Sinner wurde ungeduldig. „Wollte er sich sonst in irgendeiner Weise verändern?“ „Nicht das ich wüsste. Warum auch?“, sah er die Kommissare fragend an. „Es ging uns gut. Hugo war ein phantastischer Schachspieler. Wir haben mitunter die halbe Nacht lang an einem einzigen Spiel gesessen.“

„Also schön“, fasste Sinner zusammen. „Hugo hat also nie etwas davon gesagt, dass er sein Leben als Obdachloser satt habe und er hat auch nichts davon verlauten lassen, vor irgendjemandem auf der Flucht zu sein.“ „So ist es“, bestätigte der Obdachlose. „Erzählen Sie uns, was an dem Tag geschah, als Hugo verschwand“, bat Sinner. „Im Grunde war alles wie immer“, begann der Zeitungsverkäufer. „Es war an einem der späten Herbsttage. Hugo und ich kamen von der Tafel, wo wir uns einige Lebensmittel geholt hatten. Wir brachten unsere Schätze ins Quartier und gingen anschließend zum Forum, um dort Pfandflaschen zu sammeln. Als wir dort ankamen, war es bereits dunkel. Während sich Hugo die Papierkörbe an den Bushaltestellen vornahm, suchte ich das Parkdeck ab. Als ich fertig war, begab ich mich an unseren Treffpunkt um auf ihn zu warten. Ich sah ihn nicht wieder.“

Sinner überlegte angestrengt. „Sie erwähnten gerade ein Quartier.“ Axel Schweig nickte. „Wir hatten eine gemeinsame Unterkunft in der Nähe der Bahngleise“, blieb der Obdachlose vage. „Dann gehe ich davon aus, dass Ihr Freund bei seinem Verschwinden einige Habseligkeiten in Ihrer Unterkunft zurückließ.“ Axel Schweig druckste herum. „Wir wollen Ihnen die Andenken an Ihren Freund nicht wegnehmen, aber im Augenblick könnten uns diese Dinge dabei helfen, seine Identität festzustellen“, erklärte der Oberkommissar. „Sie wollen doch sicher auch, dass Hugos Tod aufgeklärt wird.“ Der Obdachlose nickte betreten.

Kurz darauf rollte der Dienstwagen der Ermittler, von der Bundesstraße 4 kommend, parallel zu den Gleisen, bis zum Stellwerk. Von dort aus gingen sie in nordwestliche Richtung weiter, bis die letzten Gartenlauben auftauchten. „Ich wusste gar nichts von diesem Kleingartenverein“, zeigte sich Sinner überrascht. Axel Schweig deutete auf eine reichlich heruntergekommene Hütte. „Die Laube ist gleich da vorn links, direkt am Fluss.“ „Gehören Sie der Kolonie an?“, erkundigte sich Schubert. „Nee, nee“, lachte der Obdachlose, „Für die Parzelle findet sich niemand. Dafür, dass ich hier unterkriechen darf, muss ich die Wege sauber und die Augen offen halten.“

Axel Schweig nutzte offensichtlich nicht nur die Hütte, sondern baute auf dem ihm überlassenen Boden auch eigenes Gemüse an. Er zeigte den Kommissaren nicht ohne stolz, wie er sich eingerichtet hatte. „Alles vom Sperrmüll“, erklärte er. „Sie glauben gar nicht, was die Leute alles so wegwerfen.“ „Haben Sie die Bücher alle gelesen?“, wunderte sich Schubert über ein ganzes Regal voller Lektüre. „Nur weil ich mit dem dekadenten Leben unserer Gesellschaft abgeschlossen habe, muss das nicht zwangsläufig mit Dummheit einhergehen.“ „So war es auch nicht gemeint“, betonte Schubert.

Der Laubenpieper legte die Zeitungen zur Seite und ließ sich in einen alten Ohrensessel fallen. „Sorry, aber seit ich weiß, dass Hugo nicht wieder kommt, bin ich etwas dünnheutig geworden.“ „Es sind diese dämlichen Klischees, die einem die Sicht auf die Wahrheit verklären.“ „Hier also haben Sie und Hugo während der letzten Jahre gelebt“, sinnierte Sinner, während er sich in der Hütte umsah. „Na ja, nicht die ganze Zeit. Die Laube haben wir erst vor etwa zwei Jahren bezogen.“ „Zeigen Sie mir doch bitte jetzt die Sachen, die Ihr Freund hier zurückgelassen hat.“

„Im Grunde leben Sie hier gar nicht so schlecht“, merkte Schubert an, während der Penner zwischen all den leeren Flaschen und einem Sammelsurium an Gegenständen und Utensilien nach den Sachen seines Freundes suchte. „Fehlt nur noch, dass Sie dieses Leben romantisch finden.“ Kommissar Schubert ärgerte sich über sich selbst. Wie so oft, war ihm kein Fettnäpfchen tief genug. „Ach, hier ist ja sein Rucksack.“ „Sie bekommen ihn wieder“, versprach Sinner, nachdem er einen flüchtigen Blick in dessen Inneres geworfen hatte. „Ich verlasse mich darauf.“ „Eine letzte Frage noch, Herr Schweig“, wandte sich der Oberkommissar nochmals um, während er die Laube verließ. „Konnte Hugo eigentlich schwimmen?“ Der Angesprochene zeigte sich nachdenklich. „Sie werden es nicht für möglich halten, aber ich weiß es nicht.“ „Ist ja nicht so schlimm.“ Sinner reichte ihm seine Karte. „Falls Ihnen noch etwas einfallen sollte, wäre es gut, wenn Sie sich in der Dienststelle melden.“ Axel nickte.

 

-4-

„Der Bericht des Pathologen und unsere Nachforschungen lassen keinen anderen Schluss zu, als dass unser Unbekannter ohne Fremdeinwirkung ums Leben kam“, erklärte Sinner. „Ein tragischer Unfall also“, schlussfolgerte Staatsanwältin Miriam Herz. „Der Rechtsmediziner konnte zwar Schädigungen der Leber und anderer Organe durch den erhöhten Genuss von Alkohol feststellen, aber dies sagt natürlich nichts darüber aus, ob der Tote zum Zeitpunkt seines Ablebens unter dem Einfluss von Rauschmitteln gestanden hat.“ Die Staatsanwältin schlug den Ordner mit den Ermittlungsergebnissen symbolhaft zu. „Tja meine Herren. Da uns die Mittel für eine Rekonstruktion verwehrt wurden und sich die Identität unseres Toten nicht auf anderem Wege feststellen lässt, bleibt uns nichts anderes übrig, als den Fall vorerst zu den Akten zu legen.“

Während sich Sinner erhob, um das Büro von Miriam Herz zu verlassen, blieb Schubert wie angewurzelt sitzen. „Das ist jetzt nicht Ihr Ernst“, schüttelte er ungläubig den Kopf. „Hier wird doch wieder eindeutig mit zweierlei Maß gemessen! Wenn es sich um ein verdientes Mitglied unserer beschissenen Gesellschaft handeln würde, dann stünden alle Mittel bereit, um den Tod des Mannes aufzuklären, aber es geht ja nur um einen Penner.“ „Sie wissen, dass ich da keinen Unterschied mache, Schubert“, entgegnete die Staatsanwältin mit ruhiger Stimme. „Sie vielleicht nicht, aber sicher diejenigen, die in ihren Sesseln sitzen, keine Ahnung von der Realität haben und trotzdem ihr Zepter schwingen.“ „Tut mir Leid, Schubert.“

„Sie haben Glück, dass die Herz nicht zu denen gehört, die jedes Wort auf die Goldwaage legen, aber dennoch haben Sie sich da gerade keinen Gefallen getan“, schlug Sinner seinem Kollegen anerkennend auf die Schulter. „Ist doch wahr“, hatte sich Schubert auch nach dem Verlassen des Büros nicht beruhigt. „Wollen Sie diesem Obdachlosen entgegentreten und ins Gesicht sagen, dass kein Geld da ist, um die Identität seines Freundes herauszufinden?“ Oberkommissar Sinner schwieg. „Wenn die Akte erst geschlossen ist, wird sie ganz sicher nicht so schnell wieder geöffnet.“ „Ich kann Sie ja verstehen, Schubert, aber im Endeffekt ändert sich mit dem Wissen um den Namen des Toten nichts an der Ursache, die zu seinem Ableben führte. Insofern ist es tragisch, mögliche Hinterbliebene von seinem Tot nicht unterrichten zu können, aber nun einmal nicht zu ändern.

Axel Schweig nahm die Nachricht von der Einstellung des Falles nicht in der erwarteten Weise zur Kenntnis. „Es ist nett, dass Sie mir den Rucksack vorbeibringen. Sie taten sicher alles, was in Ihrer Macht lag, um Hugos Tot aufzuklären, aber manchmal gibt es halt Dinge, die wir nicht beeinflussen können.“ „Falls Sie doch noch erfahren, wie ihr Freund mit bürgerlichem Namen hieß, wären wir Ihnen dankbar, wenn Sie ihn uns mitteilen würden“, bat Schubert abschließend. „Es wäre bestimmt auch im Sinne Ihres Freundes, wenn wir eventuell vorhandene Angehörige informieren könnten.“ „Das glaube ich nicht“, widersprach Axel Schweig. „Er lebte ganz sicher nicht auf der Straße, weil er ihnen so viel bedeutete.“

 

-5-

„Was ist los mit dir?“, erkundigte ich mich bei meiner Lebensgefährtin. Miriam und ich nutzten ihre Mittagspause, um die ersten wärmenden Sonnenstrahlen des verfrühten Frühlings gemütlich bei einer Tasse Cappuccino zu genießen. „Ach, ich weiß auch nicht, irgendwie nervt mich im Moment alles.“ „Nun erzähl schon, was ist los?“ „Du kennst doch den neuen Kommissar.“ „Schubert“, entgegnete ich. „Der nach Kleinschmidts Pensionierung kam, um Oberkommissar Sinner zu unterstützen.“ „Genau“, bestätigte Miriam. „Was ist mit ihm?“ „Er hat mir vorhin etwas vorgehalten, was mir ziemlich zu denken gibt.“ „So?“ „Es geht um den unbekannten Leichnam, der unter der Okerbrücke gefunden wurde. Ich musste die Ermittlungsakte heute schließen, weil mir Van der Waldt die Mittel zur Rekonstruktion des Gesichts gestrichen hat. Ohne die Identifizierung der Unbekannten bleibt der Fall jedoch nie wirklich abgeschlossen.“

Ich erinnerte mich an das Gespräch zwischen den Kommissaren und dem obdachlosen Zeitungsverkäufer, welches an genau dem Tisch stattgefunden hatte, an dem Miriam und ich gerade saßen und dessen Zeuge ich zufällig geworden war. „Steht denn wenigstens fest, woran der Mann starb?“, weckte der Fall allmählich mein Interesse. „Es deutet zumindest nichts auf ein Gewaltverbrechen hin“, entgegnete Miriam ohne wirklich überzeugt zu sein. „Ich kenne dich lange genug, um zu spüren, wann dir eine Sache Bauchschmerzen bereitet“, zwinkerte ich ihr zu. „Soll ich mich mal etwas umhören? Vielleicht finde ich ja so ganz nebenbei etwas heraus.“ Miriam strahlte über das ganze Gesicht. „Aber du hast doch momentan wirklich genug zu tun“, standen ihre Worte im krassen Missverhältnis zu ihrer Mimik. „Für dein Seelenheil ist mir kein Weg zu weit.“

Meine Liebste war also glücklich, ich war es auch, weil sie es war. Und Kommissar Schubert war es, weil der Obdachlose glücklich war. Letzteren musste ich allerdings zuvor noch von seinem Glück überzeugen. Zugegeben, so ganz selbstlos ging ich nicht an die Sache heran. Ich betrachtete die Recherchen, die ich in diesen Fall erledigen würde, als eine Art Investition in die Zukunft. Wenn es mir gelang, die Identität des unbekannten Toten zu klären, war ich, was mein Konto bei Miriam anging, von der Soll- sicherlich auf die Habenseite gewechselt. Das soll heißen, Miriam künftig nicht mehr mit einem schlechten Gewissen entgegentreten zu müssen, wenn es darum geht, wichtige Informationen für meine Fälle von ihr erbitten zu müssen.

Die Kontaktaufnahme zu Axel Schweig gestaltete sich nicht sonderlich problematisch. Ich wusste ja aus der Zeitung der Obdachlosen, wo er die Fifty-fifty verkaufte. Erst wenige Tage zuvor hatte ich ihm an seinem Standort neben dem Juwelier in der Bärengasse eine Zeitung abgekauft. Ich brauchte mich also nur entspannt zurückzulehnen und auf ihn zu warten. Früher oder später würde er auftauchen, da war ich mir sicher.

Ich nutzte die Zeit, um mich mit meinem Freund Jannis über die Krise auf der Krim und mit Freundin Katja über ihren Menorca Reiseführer für Kinder zu unterhalten. Sie hatte schon eine Menge Arbeit in ihre Idee investiert und so, wie es aussah, musste ihr Projekt ein großer Erfolg werden. Wer über Jahre ein und dasselbe Café besucht, kommt, wenn er nicht kontaktscheu ist, auch mit vielen Menschen ins Gespräch. So habe ich von vielen interessanten Geschichten gehört und war von ihren Schicksalen gerührt. Gerade mein Lieblingscafé wird durch seine vielen Stammgäste geprägt.

Meine Geduld sollte nicht enttäuscht werden. Ich hatte kaum mein Speziale Lento ausgetrunken, als der Obdachlose auch schon seinen Verkaufsstand aufbaute. „Hallo Herr Schweig“, begrüßte ich ihn freundlich lächelnd. Der Mann sah mich verdutzt an. „Ja bitte?“ „Hätten Sie wohl einen Moment Zeit für mich? Ich würde Sie gern zu einem Kaffee einladen.“ „Weshalb?“ „Es geht um Ihren kürzlich tot aufgefundenen Bekannten“, erklärte ich. „Was haben Sie damit zu tun?“ „Entschuldigen Sie, ich vergaß mich vorzustellen. Mein Name ist Lessing, ich bin Privatermittler.“

Axel Schweig begriff nach wie vor nicht, was ich von ihm wollte. Wie auch? Woher sollte er wissen, dass ich für die Staatsanwaltschaft tätig war. „Am besten, wir setzen uns an einen der Tische und ich erkläre Ihnen, worum es geht.“ Der Zeitungsverkäufer zuckte mit den Achseln. „Von mir aus.“ Einem, dem das Leben wahrscheinlich übel mitgespielt hat, fällt es sicherlich besonders schwer, einem Fremden Vertrauen entgegenzubringen. Dementsprechend zurückhaltend reagierte Axel Schweig auf meine Fragen. Bevor ich auf persönliche Dinge zu sprechen kommen konnte, musste ich sein Vertrauen gewinnen.

„Ich weiß, dass die Polizei die Ermittlungen bezüglich der Klärung der Identität Ihres Freundes eingestellt hat. Sie geht davon aus, dass Ihr Bekannter bei einem Fall von der Brücke unglücklich aufschlug und ertrank.“ „So hat man es mir gesagt“, bestätigte der Obdachlose. „Bislang deutet nichts darauf hin, dass es anders gewesen sein könnte“, räumte ich ein, „und doch ist es unbefriedigend, dem Unbekannten weder einen Namen noch ein Gesicht geben zu können.“ „Die haben ihn unter dem grünen Rasen beerdigt“, atmete Axel Schweig schwer. „Wenn Sie es wollen, kann ich zumindest versuchen, dies zu ändern.“ „Ich habe kein Geld, um Sie zu bezahlen“, seufzte der Angesprochene. „Da machen Sie sich mal keine Sorgen. Mein Einsatz fällt in die Rubrik ‚Gute Tat der Woche‘ und kostet Sie keinen Cent.“

Axel Schweig sah mich skeptisch an. „Sie wollen mir doch nicht weiß machen, aus reiner Nächstenliebe zu arbeiten.“ „So ist es auch nicht“, bestätigte ich seine Bedenken. „Sagen wir mal so: Ich möchte einem lieben Menschen einen Gefallen tun.“ „Dann ist soweit alles klar“, stimmte der Obdachlose zu. „Ich frage mich nur, weshalb Sie glauben, mehr herausfinden zu können, als die Polizei.“ „Weil ich anders arbeite und weil ich über eine Geheimwaffe verfüge.“ „Eine Geheimwaffe?“ „So ist es“, lächelte ich geheimnisvoll. „Wenn Sie interessiert sind, werde ich Sie ihnen bei Gelegenheit vorführen.“ Die Ungläubigkeit in Schweigs Gesicht überwog der Neugier. „Sie verkackeiern mich.“ „Lassen Sie sich überraschen“, blieb ich geheimnisvoll.

Nach einer guten Stunde hatte ich das Eis des Misstrauens in ihm so weit zum Schmelzen gebracht, dass er mir die Geschichte ihrer Freundschaft in allen Einzelheiten erzählte. Er schilderte, wie unbeholfen sich Hugo anfangs gab und wie unbedarft er anderen gegenüber auftrat. „Es dauerte lange, bis er sich anderen gegenüber behaupten konnte. Die Welt da draußen ist rau. Wenn du überleben willst, brauchst du Ellenbogen“, beschrieb er das Leben auf der Platte wohl sehr zutreffend. „War Hugo sein tatsächlicher Vorname?“ „Ich nahm es an. Zumindest nannte er mir diesen Namen, als ich ihn danach fragte.“ „Denken Sie bitte genau nach“, forderte ich Axel auf. „Gab es irgendwann eine Situation, in der er seinen Familiennamen gebrauchte?“ „Glauben Sie mir, Herr Lessing, darüber habe ich mir während der vergangenen Tage bereits mehrfach das Hirn zermartert. Ich kann mich leider nicht an eine solche Begebenheit erinnern.“

Im Grunde hatte ich nichts anderes erwartet. Es wäre ja auch zu schön gewesen. Folglich musste ich nach anderen Anhaltspunkten suchen, um ans Ziel zu gelangen. „Gibt es einen Nachlass?“ „Den haben die Kommissare auch schon durchgesehen“, erklärte der Zeitungsverkäufer. „Das Ergebnis kennen Sie.“ „Wenn es Ihnen Recht ist, würde ich trotzdem gern noch einen Blick darauf werfen.“

Irgendwie geisterte in meinem Kopf das Bild eines Penners herum, der unter einer Brücke kampierte. Dementsprechend überrascht war ich, als mich Axel in seine Laube führte. Klar, die Hütte hatte weder Strom noch fließend Wasser und es zog an allen Ecken und Enden, aber es war ein Dach über dem Kopf und es waren einige Quadratmeter Freiheit, die ihm sein Leben so ermöglichten, wie es ihm in den Kram passte. Axel war ein Aussteiger, mitten in unserer bis ins kleinste Detail strukturierten Wohlstandsgesellschaft.

„Warum sind Sie diesen Weg gegangen?“, fragte ich ihn, während er mit seinem zweiflammigen Campingkocher das Wasser für eine Tasse Tee aufsetzte. „Also zunächst sollten wir mal das Sie weglassen“, entgegnete der Hausherr. „Ich bin der Axel“, reichte er mir seine von harter Arbeit gezeichnete Hand. „Okay, nenn mich Leo.“ „Tja Leo, die Antwort lässt sich in zwei, drei Sätzen zusammenfassen. Als mein kleiner Handwerkerbetrieb in Insolvenz ging, weil das Land, als mein Hauptauftraggeber, die ausstehenden Rechnungen nicht zahlte, verließ mich zunächst meine Frau, dann der Rechtsanwalt, und schließlich verlor ich den Prozess. Als ich dann versuchte, bei verschiedenen staatlichen Einrichtungen Hilfe zu bekommen, sagte man mir, dass die Staatskassen leer seien. Meine bis dato brav gezahlten Steuergelder würden dringend benötigt, um unsere militärischen Auslandsmissionen zu bezahlen und um in höchst wichtige Projekte der Europäischen Union zu investieren. Nur gut, dass in unserem Land niemand hungern muss. Es gibt ja schließlich die Tafel und Suppenküchen.“

Es war nur allzu deutlich, wie viel Wut und Enttäuschung aus seinen Worten sprach. Vielleicht sind die Verantwortlichen in unserem Land inzwischen zu liberal? Die Veränderungen durch die Gesellschaft in den siebziger Jahren waren sicherlich notwendig und zum großen Teil gerechtfertigt, aber waren sie gerade in jüngster Zeit nicht manchmal schon überzogen? Man ist sicherlich nicht schon deshalb ein Rechtsradikaler, weil man die Zuwanderungsfrage mit einem skeptischen Auge betrachtet.

Der Rucksack des Verstorbenen gab nicht sonderlich viel her. Abgesehen von Blut verdünnender Medizin und Herztropfen, fanden sich lediglich Unterwäsche, eine Pfeife und weitere Rauchutensilien sowie zwei Fotos, auf denen ein Junge und ein Mädchen zu sehen waren. „Erzählte Hugo eventuell von eigenen Kindern?“, wandte ich mich Axel zu. „Nein. Ich habe die Fotos auch erst nach seinem Verschwinden gesehen. Ist schon merkwürdig“, sinnierte Axel. „Da glaubst du einen Menschen gut zu kennen und dann stellt sich plötzlich heraus, dass du im Grunde gar nichts über ihn weißt.“

„Du glaubst gar nicht wie häufig ich Ehepaare unter meinen Auftraggebern habe, die geradezu verblüfft sind, wenn ich ihnen die Ergebnisse meiner Recherchen präsentiere. Oftmals decke ich selbst nach dreißig Jahren Ehe noch so dunkle Geheimnisse auf, dass es mein Auftraggeber kaum glauben kann. Ich sage dir, die menschliche Seele ist wie eine Schlangengrube. Wer sich in ihr verliert, ist verloren.“

„Aus deinen Worten spricht viel Wahrheit und noch mehr Erfahrung, Leo“, stellte Axel fest. „Bevor ich Privatdetektiv wurde, war ich bei der Braunschweiger Kriminalpolizei. Zuerst bei der Sitte, später bei der Mordkommission. Glaub mir, ich habe so manches erlebt und viel zu viel gesehen.“ „Du warst ein Bulle und hast alles hingeschmissen?“ „Du siehst, wir haben durchaus Gemeinsamkeiten.“ Axel und ich mussten lachen. „Und so wie es aussieht, hat keiner von uns seinen Entschluss bereut“, stellte er schmunzelnd fest. „Cést la vie.“

„Ich habe übrigens noch eine Spieldose von Hugo“, erinnerte sich Axel. „Eine Spieldose?“, wiederholte ich ungläubig. „Hugo gab sie mir mit den Worten, ich solle gut darauf achten.“ Axel verschwand kurz hinter einer Decke, die er als eine Art Paravent benutzte, um seine Schlafstadt abzuteilen. „Hier ist sie“, kehrte er zurück. Ich war reichlich überrascht. Die Spieldose schien ziemlich alt und möglicherweise wertvoll zu sein. Zu einer heiteren Melodie drehte sich eine bunt bemalte, sehr filigrane Eulenspiegelfigur.

„Ein sehr schönes Stück“, stellte ich anerkennend fest. „Ich würde sie mir gern für ein paar Tage ausleihen, um ihren Wert bestimmen zu lassen.“ Axel zögerte. „Sie ist das einzige, was mir von Hugo geblieben ist“, schob er mahnend nach. „Du bekommst sie wohlbehalten zurück, versprochen.“ Schließlich willigte er kopfnickend ein. „Bis morgen ist es sicher zu knapp, aber wenn du mich übermorgen in meiner Detektei besuchen würdest, kann ich dir bestimmt schon mehr über die Spieldose sagen.“ „Na gut.“ „Ist es okay für dich, wenn ich sie zusammen mit dem Rucksack mitnehme?“ Mein neuer Freund stimmte ein weiteres Mal zu.

Als ich die kleine Schrebergartenkolonie in Richtung des alten Scheringtunnels verließ, erfüllte mich ein Gefühl innerer Zerrissenheit. Einerseits hatte ich das Bedürfnis Axel bei einem Neuanfang helfen zu wollen, andererseits fragte ich mich, ob er mit seinem jetzigen Leben wirklich so unzufrieden war. Ich vertagte meine Entscheidung, um sie von weiteren Erkenntnissen abhängig zu machen.

 

-6-

„Gut, dass Sie da sind, Herr Lessing, Sie werden bereits erwartet.“ Ich sah meiner Putzsekretärin verwundert in die Augen. „Worum geht es denn?“ „Das wollte mir die Dame nicht sagen“, schürzte Trude die Lippen. „Na schön, führen Sie die Frau bitte in mein Büro.“ „Sie sollten vorher noch bei Rechtsanwalt Börner zurückrufen. Seine Sekretärin hat schon zweimal angerufen.“ „Da bin ich mal für zwei Stunden in der Stadt und schon will alle Welt etwas von mir“, schüttelte ich genervt den Kopf. „Vielleicht sollten Sie endlich Ihr Handy in Ordnung bringen lassen“, bemäkelte Trude. „Sie haben ja Recht, meine Liebe, aber nun machen Sie mir bitte eine Verbindung mit Herrn Börner.“

„Hallo, alter Rechtsverdreher“, begrüßte ich meinen Freund mit der gebotenen Höflichkeit. „Wo drückt denn der Schuh?“ „Detlef hat morgen Geburtstag. Eigentlich wollte er diesen Tag in aller Ruhe begehen, aber nun habe ich mir gedacht, dass es doch sicher ganz nett wäre, wenn wir mit Miriam und dir schön essen gehen würden.“ „Soviel ich weiß, hat Miriam morgen Abend noch nichts vor. Von daher müsste es also klappen“, sagte ich zu. „Hast du schon einen Tisch reserviert?“ „Ich dachte mir, wir gehen zu Yussef“, entgegnete Christoph. „Da ist es doch noch am gemütlichsten.“ Ich staunte nicht schlecht. Ein Gourmet wie er und die gute griechische Hausmannskost? Mir sollte es Recht sein. Nach der Betriebsruhe im Februar war ich noch nicht wieder dort gewesen. „Okay, dann treffen wir uns am besten bei Yussef.“ „Ich freue mich.“

Die Freundschaft zu Christoph bestand schon seit mehreren Jahren. Anfangs ausschließlich über seine Mandantschaft, für die ich in vielen verzwickten Fällen erfolgreich ermittelt hatte, später dann und damit meine ich die Zeit nach meinem Koma, hatte ich ihm, gerade was die Auslastung meiner Detektei betraf, viel zu verdanken. Nachdem sich Christoph irgendwann geoutet hatte, entwickelte sich zwischen ihm und Detlef, Miriam und mir, so etwas wie eine Freundschaft. Es war, als hatte er mit diesem Bekenntnis eine unsichtbare Schranke geöffnet.

Kann ich Ihren Besuch hereinbitten?“, unterbrach Trude den Fluss meiner Gedanken. „Wie? Äh, ja natürlich.“ Als ich durch die offen stehende Tür meines Büros sah, was Trude da in ihrem Schlepptau hatte, katapultierte es mich geradezu aus meinem Drehstuhl. Ich zupfte mein Jackett zurecht, knöpfte zumindest einen der Knöpfe zu und eilte der überaus attraktiven Erscheinung mit ausgestreckter Hand entgegen. Allein was das Aussehen meiner Auftraggeber anging, hatte sich der Wechsel vom Beamtenstatus in die Selbstständigkeit mehr als gelohnt. Ich fragte mich, weshalb ein Mann wie ich sein Charisma auf eine einzige Frau beschränken sollte. War es nicht eine Sünde, mich so vielen schönen Frauen vorzuenthalten?

„Mein Name ist Lessing“, reichte ich ihr meine Hand, um in 007 Manier fortzufahren. „Leopold Lessing.“ Trude verdrehte die Augen und schloss hinter sich die Tür - natürlich auf der falschen Seite. „Nehmen Sie bitte Platz, Frau...“ „Van der Waldt.“ Ich stutzte. „Kann Ihnen meine Sekretärin etwas zu trinken bringen?“ „Danke, ich wurde bereits bestens versorgt.“ Ich bedeutete derweil mit einer deutlichen Handbewegung meiner Putzsekretärin, das Büro zu verlassen. „Van der Waldt?“, wiederholte ich nachdenklich. „Mein Mann ist Oberstaatsanwalt“, bestätigte sie meine Annahme. „Eine Freundin hatte kürzlich Ihre Dienste in Anspruch genommen und Sie als sehr diskret beschrieben.“ „Sie können unbesorgt sein. Was in diesen Wänden besprochen wird, geht nicht nach draußen.“

Weshalb ich in diesem Moment spontan an Trude dachte, weiß ich nicht. „Was führt Sie zu mir?“ Die Schönheit stieß einen tiefen Seufzer aus. „Ich befürchte, von meinem Mann betrogen zu werden.“ „Entschuldigen Sie, aber wenn ich Sie so vor mir sitzen sehe, kann ich mir dies beim besten Willen nicht vorstellen. Eine Frau wie Sie betrügt man nicht.“ „Das ist wirklich sehr lieb von Ihnen, aber es gibt deutliche Anzeichen dafür, dass es eben doch so ist.“

„Welche Anzeichen lassen Sie zu diesem Ergebnis kommen?“, hakte ich nach. „Ich habe eine Kurzmitteilung in seinem Handy gelesen.“ „Sie kontrollieren sein Handy?“, hob ich die Brauen. „Nein, das heißt ja. Es hat sich so ergeben. Jedenfalls schrieb ihm eine gewisse Miri, dass sie sich auf das bevorstehende Wochenende mit ihm freue.“ Ich horchte auf. „Wie nannte sich die Dame?“ „Miri“, wiederholte Frau van der Waldt. „Kennen Sie das Miststück etwa?“ Wenn Miri der Kosename von Miriam war, musste ich mich zumindest fragen, ob es sich um meine Lebensgefährtin handelte. „Nicht direkt“, wich ich ihrer Frage aus.

„War die SMS der einzige Hinweis auf die Untreue Ihres Mannes?“ „Nein, aber es gab lauter Kleinigkeiten, die zusammengenommen keinen anderen Schluss zulassen. Eine Frau spürt so etwas.“ „Von was für Kleinigkeiten sprechen Sie?“ Sie atmete schwer. „Ich fand ein Taschentuch mit Lippenstift in seinem Jackett, ein anderes Mal roch er nach einem fremden Parfüm. In letzter Zeit kommt er oft später aus dem Büro. Angeblich macht er Überstunden, aber wenn ich ihn über den Festnetzanschluss anrufe, geht er nicht ans Telefon.“

Im Grunde waren dies deutliche Indizien, die bei jeder Ehefrau die Alarmglocken schrillen lassen. Letztendlich waren sie jedoch kein Beweis für einen Seitensprung. „Wann haben Sie die SMS gelesen?“ „Gestern“, entgegnete die Schönheit. „Dann ist also aller Wahrscheinlichkeit nach das nächste Wochenende gemeint“, schlussfolgerte ich. „Das denke ich auch“, bestätigte sie meine Annahme. „Hat Ihr Mann für die infrage kommenden Tage etwas geplant?“ Frau van der Waldt nickte betrübt. „Er fährt zu einem Kongress nach Frankfurt.“ Ich überlegte angestrengt, ob Miriam etwas in dieser Richtung erwähnt hatte, stellte aber erleichtert fest, dass dem nicht so war. Ich kannte van der Waldt nur vom sehen und ich wusste, dass er Miriams Vorgesetzter war.

„Übernehmen Sie den Fall?“ Ich wog gedanklich das Für und Wieder in dieser Sache ab. Der Umstand, dass ich über Miriam indirekt mit dem Fall zu tun haben konnte, sprach eigentlich gegen eine Übernahme des Falles. Meine Neugier sagte allerdings etwas Anderes. „Bevor ich Ihnen zusage, möchte ich, dass Sie Ihren Mann klar und direkt mit dem Verdacht konfrontieren. Sie glauben gar nicht, wie oft so ein Verdacht lediglich auf ein Missverständnis zurückzuführen ist. Sollte sich aus diesem Gespräch keine für Sie befriedigende Erklärung ergeben, können Sie auf mich zählen.“

Frau van der Waldt nickte mir seufzend zu. „Ich bin froh, dem Rat meiner Freundin gefolgt zu sein. Sie haben mir wieder ein Stück weit Hoffnung gegeben.“ „Das freut mich, Frau van der Waldt.“ Wir erhoben uns. „Sie werden sehen, nachdem Sie mit Ihrem Mann gesprochen haben, löst sich Ihr Verdacht in Luft auf.“ „Hoffentlich.“ Dem konnte ich nichts hinzufügen.

Während Trude das Internet nach der Herkunft der markanten Spieldose durchforstete, sah ich mir die Okerbrücke oder besser gesagt, was von ihr übrig geblieben war, genauer an. Die Abrissarbeiten waren bereits weit vorangekommen und so wirkte der Ort, an dem der teilweise skelettierte Leichnam gefunden wurde, recht bizarr und unwirklich auf mich. Was ich bislang von der Auffindesituation wusste, hatte ich in der Zeitung gelesen. Natürlich nahm, wie immer bei derartigen Funden, die Öffentlichkeit besonderen Anteil. So waren bereits die skurrilsten Geschichten im Umlauf.

Eine dieser Storys bezog sich auf einen Arzt, der unweit der Brücke seine Praxis unterhielt und sich wegen mehrerer Verfehlungen bei Nacht und Nebel von der Brücke gestürzt haben sollte. Vom morastigen Okerschlamm verschlungen, sei er nun, viele Jahre später, wieder ausgespuckt worden. Eine andere Geschichte rankte sich um einen erfolglosen Drücker . Als er eines Tages wieder ohne Abonnement in eine der alten Koksbaracken zurückkehrte, die dort standen, wo sich heute der Parkplatz des Entertainmentcenters befindet, sei der Chef der Drückerkolonne ausgerastet und habe ihn im nahen Fluss ertränkt. Seine Leiche sei bis dato nicht wieder aufgetaucht. Es wird erzählt, dass sich das Wasser der Oker in jedem Jahr zu der Zeit des Mordes an eben jener Stelle rot einfärbt. Mythos oder Wahrheit? Hat nicht jede Geschichte ihren Ursprung?

Mein Blick folgte dem unaufhörlichen Strom des Wassers und ich fragte mich, weshalb der Leichnam des Mannes nicht weiter mit fortgespült wurde. Gerade dann, wenn das Harzwasser im Frühjahr nach der Schneeschmelze seinen höchsten Stand hatte, riss es alles mit sich, was ihm in die Quere kam. Wie kam es, dass der Tote größtenteils mit Schlamm überzogen wurde? Ich begab mich an die Stelle, an der ich den Fundort der Leiche vermutete. Bauarbeiter hatten mittlerweile die letzten Trümmer entfernt.

„Entschuldigen Sie“, sprach ich einen der Männer an. „Ich bin Privatermittler…“ „Das macht ja nichts“, fiel mir der Mann ins Wort. „Dafür brauchen Sie sich nicht entschuldigen.“ Ich war offensichtlich auf einen Spaßvogel gestoßen. „Es geht um den Toten, der hier gefunden wurde.“ „Ach was“, fuhr er mir wieder dazwischen. „Können Sie mir den genauen Fundort zeigen?“ „Eigentlich ist Feierabend, aber andererseits habe ich auch einen Durst.“ Es war klar, was der Bauarbeiter damit zum Ausdruck bringen wollte. Ich ließ einen Zehner gucken. „Ich habe großen Durst.“ „Okay, ich bekomme auch auf andere Weise heraus, wo der Tote gefunden wurde.“ „Besser wenig Durst zu löschen, als gar keinen“, sprach er und zog mir den Geldschein aus der Hand.

„Also, wo befindet sich denn nun die genaue Stelle?“ „Sie stehen direkt davor“, verkündete der Witzbold, über das ganze Gesicht grinsend. „Da unten lag sie. War ein gruseliger Anblick. Nur der Schädel und eine Hand ragten aus dem Schlamm. Seitdem träume ich davon und habe ständig so trockene Lippen.“ „Ja, ich weiß.“ „Steht denn schon fest, wer der arme Teufel war?“ „Nein, noch nicht, aber sicherlich ein Mann mit zu großem Durst“, feixte ich. „Ha, ha, wirklich sehr witzig.“

Bei meinem Blick in den Fluss bemerkte ich, wie sich an der Brückenmauer des nördlichen Ufers durch die Strömung eine Art Strudel bildete. Es war deutlich zu sehen, wie sich das mitgeführte Blattwerk an dieser Stelle staute, kurzzeitig ablagerte und wieder mitgerissen wurde. Genauso musste es sich auch mit dem Leichnam und in der Folge mit der angespülten Erde verhalten haben.

„Ich muss die Baustelle aber jetzt wirklich verschließen“, mahnte der Bauarbeiter zum Aufbruch. „Ja, natürlich“, fasste ich den Gedanken zu Ende und folgte ihm. „Sag mal, Chef…“ „Chef“, unterbrach ich ihn. „Ha, der war gut“, klopfte er mir auf die Schulter. „Wo bekommt man eigentlich solche Hüte?“ „Das ist ein Stetson und den bekommt man nicht. Ein Stetson findet seinen Besitzer.“ Der Mann sah mich an, als sei ich einer Anstalt entsprungen. Dabei war meine Auskunft voller Ernst. Ein Stetson ist nicht einfach nur ein Hut, er ist eine Ideologie.

„Wie lange wird der Umbau der Brücke dauern?“, fragte ich den illusionierten Bauarbeiter. „Das wird sich wahrscheinlich bis in den Oktober hinziehen.“ Ein erstaunter Pfiff kam über meine Lippen. „Na, wenn das kein verkehrstechnisches Chaos gibt.“ Der Bauarbeiter winkte ab. „Alles einkalkuliert.“

Zeitungsverkäufer

 

-7-

Da ich auch einen Durst hatte, waren meine Recherchen für diesen Tag beendet. Immerhin gab es zumindest in meinen Hirnwindungen eine weitere Baustelle. Der Gedanke, Miriam könnte mich mit ihrem Vorgesetzten betrügen, ließ mich nicht mehr los. Natürlich versuchte ich mich immer wieder zu beruhigen, aber so ein Typ wie ich braucht Klarheit. Auch wenn ich mich davon im Laufe des Abends immer mehr entfernte. Mein Tröster in dieser Phase der Verwirrung war ein bekannter Wolfenbütteler Meister – Jägermeister.

Der Beipackzettel mit der Telefonnummer, den ich für Notfälle stets unter meinem Stetson aufbewahre, fiel dem Barkeeper in der Schlossschenke als letztes Mittel für meinen Abtransport in die Hände. Er zitierte meinen Freund Jogi einmal mehr im richtigen Augenblick an meine Seite.

„Jawohl, da kommt mein bester Freund Jogi!“, plärrte ich ihm entgegen, kaum, dass ich ihn hinter meinem Alkoholschleier erblickte. „Mein bester und einziger Freund“, lallte ich, während ich ihn freudig umarmte. „Meine Güte, Leo“, hielt er mich an den Schultern zurück, „du hast dir ja mächtig einen gegönnt.“ „Darauf kannst du wetten!“, bestätigte ich seinen Eindruck nicht ohne Stolz. „Ich war mit Herrn Mast auf der Jagd“, kicherte ich. „Und, habt ihr was geschossen?“, spielte Jogi das Spiel mit. „Den Oberstaatsanwalt“, entgegnete ich mit ernster Miene. „Van der Waldt?“, erkundigte sich Jogi ungläubig. „Was hast du denn mit dem?“

Die Antwort blieb ich meinem Freund fürs erste schuldig. Nicht, dass ich den Grund für den feuchtfröhlichen Abend für mich behalten wollte, aber es gab etwas sehr Dringliches, was in diesem Moment keinen Aufschub duldete. Gottlob befanden sich die Toiletten ganz in der Nähe. Da machte es auch nichts, dass ich in der Eile die verkehrte Tür aufriss. Wichtig war es, auch bei dem dichtesten Alkoholschleier immer noch die Contenance zu wahren.

„So mein Lieber, jetzt blasen wir zum Halali und beenden deine Jagd“, erklärte Jogi in seiner unmissverständlichen Art. „Ich habe dir eine Flasche Mineralwasser bestellt. Die trinkst du jetzt und nebenbei erzählst du mir in aller Ruhe, weshalb du dir heute einen hinter die Binde gegossen hast.“ Mein Freund ließ sich mit unbändiger Geduld und noch mehr Einfühlungsvermögen das ganze Dilemma von mir erzählen. Dabei achtete er akribisch darauf, dass ich immer wieder genug Mineralwasser zu mir nahm.

„Ich kenne Miriam lange genug, um zu wissen, dass Sie dir so etwas niemals antäte. Denk nur daran wie peinlich die Geschichte mit ihrem Bruder war, als du wie ein begossener Pudel vor dem Casa Leone gestanden hast .“ „Oh Mann, erinnere mich bloß nicht daran“, griff ich mir an den Kopf. „Dümmer ging's nimmer.“ „Leider doch, wie du siehst.“

Da hatte mich mein Freund wieder einmal vor einer Riesendummheit bewahrt. Der Umstand, dass jeder von uns, nach wie vor seine eigene Wohnung hatte, bewahrte mich an diesem Abend vor einer weiteren Peinlichkeit. Auch wenn mein Gesamterscheinungsbild, Dank des Mineralwassers nicht mehr ganz so chaotisch wirkte, war ich froh darüber, meiner Lebensabschnittsgefährtin nicht in dieser Weise unter die Augen treten zu müssen. Wie ich letztendlich ins Bett kam und wer mir die Schuhe ausgezogen hatte, blieb im Bereich der Spekulation.

Was mir da am nächsten Morgen in die Augen blinzelte, war nicht die Untersuchungslampe meines Hausarztes und auch nicht das Licht, welches einem aufgeht, wenn man etwas kapiert hat, sondern einfach nur die Sonne, die sich ihren Weg vorbei an den Übergardinen meines Schlafzimmerfensters bahnte. Als ich meinen Kopf ruckartig in eine andere Lage bringen wollte, wurde ich unsanft an den vorangegangenen Abend erinnert. Unter meiner Schädeldecke feierten die sieben Zwerge offensichtlich eine mordsmäßige Faschingsparty. Als dann auch noch Miriam mit einem vorwurfsvollen Blick zur Tür hereinstürmte und den Rest der Sonne auch noch ins Zimmer ließ, dachte ich, mein letztes Stündlein hätte geschlagen.

Hier stinkt es ja wie in einem Pumakäfig!“, rief sie, die Nase rümpfend und riss auch gleich noch das Fenster auf. „War wohl ein feuchtfröhlicher Abend gestern?“ „Sei so gut und sprich etwas leiser“, bat ich um etwas Nächstenliebe. „Was gab's denn zu feiern?“, erkundigte sich meine Herzensdame. „Ich war mit einem der Tippelbrüder unterwegs, um mehr über den toten Unbekannten herauszufinden“, log ich, dass sich die Balken bogen. „So viel Einsatz ehrt dich ja geradezu“, entgegnete Miriam spitzfindig. Wäre ich bereits zu diesem Zeitpunkt wieder Herr meiner Sinne gewesen, wäre mir der Unterton in ihrer Stimme sicherlich aufgefallen. So tappte ich wie ein Anfänger in ihre Falle.

„Bist du denn wenigstens für deinen Einsatz belohnt worden?“ „Na ja, du weißt doch, wie es in diesen Kreisen zugeht. Fremden gegenüber sind die mehr als verschlossen“, log ich unverschämt weiter. „Ich wusste gar nicht, dass du und Jogi inzwischen so fremd miteinander seid. Vor allem wusste ich nicht, dass der Ärmste als Penner unterwegs ist“, versetzte mir meine Liebste die erste Breitseite. „Ein Bekannter sprach mich wegen deines peinlichen Auftritts in der Schlossschenke an. Du sollst derart voll gewesen sein, dass du dich auf der Damentoilette übergeben musstest“, schlugen ihre Worte ein weiteres Mal wie Granaten bei mir ein.

„Okay, du hast mich erwischt“, gab ich zähneknirschend zu. „Was um Himmels Willen ist denn los mit dir? Hast du Sorgen? Warum sprichst du nicht mit mir?“ Dies war genau die Situation, die ich um jeden Preis vermeiden wollte. Solange ich keinen konkreten Anhaltspunkt hatte, dass sie und van der Waldt etwas miteinander hatten, wollte ich Miriam auch nicht darauf ansprechen. Andererseits wollte ich ihr aber auch nicht hinterher spionieren. Soviel Vertrauen musste sein.

„Es ist nichts“, beharrte ich einfallsreich. Miriam verdrehte die Augen. „Und weil es dir so richtig gut geht, gehst du los und betrinkst dich!“ „Ich weiß es doch auch nicht, Schatz“, seufzte ich theatralisch. „Vielleicht ist es ja auch die Mitliefe Crisis?” „Blödsinn! In der steckst du, seit wir uns kennen.“ „Bitte, tu mir den Gefallen und schrei nicht so rum. Ich habe das Gefühl, mir platzt der Schädel.“ „Das geschieht dir ganz Recht, mein Lieber.“ Von wegen Frauen sind mitfühlend und warmherzig. Bei Miriam war davon kaum etwas zu spüren.

Ich schlurfte wie auf Eiern ins Badezimmer. Den Blick in den Spiegel hätte ich mir sparen sollen. Haben Sie sich schon mal vor sich selbst erschrocken? Der Typ da vor mir, war kein Zombie sondern die geschundene Kreatur eines Detektivs. Ich werde nie wieder mit Curt Mast auf die Jagd gehen.

„Weißt du was, mein Schatz, wir könnten uns endlich dieses Wellnesswochenende gönnen, von dem du schon so begeistert warst.“ „Ach schau her. Ihr Männer seit doch so etwas von einfach gestrickt. Wenn ihr ein schlechtes Gewissen habt, versucht ihr alles, habt ihr die tollsten Ideen. Falls du glaubst, mich auf derart billige Weise abzulenken, muss ich dich enttäuschen. Ich fahre dieses Wochenende nach Frankfurt.“ Dass sie diese Reise nicht allein unternehmen würde, registrierten selbst die kleinen Stepptänzer unter meiner Schädeldecke. „Was in aller Welt willst du denn in Frankfurt?“, stellte ich mich ahnungslos. „Juristenkongress“, entgegnete sie knapp. „Okay, dann fahren wir eben in die Mainmetropole.“

Damit hatte nun Miriam ganz offensichtlich nicht gerechnet. Der sonst so coolen Staatsanwältin klappte die Kinnlade herunter. „Wir würden nicht viel Zeit miteinander verbringen können. Der Zeitplan der Veranstaltung ist straff organisiert.“ „Ach, das macht doch nichts, ich wollte mir Frankfurt schon immer mal näher ansehen. Abgesehen davon wohnt dort ein alter Freund, den ich bei dieser Gelegenheit endlich wieder besuchen könnte.“ „Leo, es geht nicht“, trat Miriam auf die Bremse. „Ich fahre mit Oberstaatsanwalt van der Waldt.“

Betretenes Schweigen erfüllte daraufhin den Raum. „Du Ärmste“, reagierte ich selbst für mich unerwartet. „Schlimmer geht's nimmer. Ausgerechnet mit dem Gurkenhals musst du das Wochenende verbringen?“ „Ich, äh, ja“, begann sie zu stottern. Ich ging zu ihr und nahm sie in den Arm. „Alles nur für die Karriere, nicht wahr?“ Ich gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Nur gut, dass wir uns vertrauen.“ Miriam nickte und ich war stolz darauf, ihr, für den Fall, dass zwischen den Beiden nichts lief, keine unberechtigte Szene gemacht zu haben. Falls da doch etwas war, hatte ich ihr andererseits ein schlechtes Gewissen mit auf die Reise gegeben.

Gewissheit hatte ich indes immer noch nicht. Ich war gespannt, ob die Frau des Oberstaatsanwaltes eventuell etwas herausgefunden hatte. Ich stellte mir die Frage, wie ich mich verhalten sollte, wenn sie mehr Beweise für eine Affäre finden sollte. Konnte ich für einen anderen in eigener Sache ermitteln und mir meine Arbeit am Ende womöglich auch noch bezahlen lassen?

Lessing 10 „Schladener Roulette

 

-8-

Als ich an diesem Morgen in die Detektei kam, ahnte ich nicht, welche Wendung der Fall des unbekannten Toten nehmen sollte. Trude empfing mich mit einem zufriedenen Lächeln. So, wie sie es immer tat, wenn sie erfolgreich war. Es war wie eine Art Ritual. Trude brannte darauf, mir das Ergebnis ihrer Recherche mitzuteilen und ich fragte sie wie immer: „Na nun, Trude, Sie strahlen ja über alle vier Backen. Darf ich wissen, was Sie so vergnüglich stimmt?“ „Es ist diese Spieldose“, öffnete sie die Internetseite eines bekannten Braunschweiger Auktionshauses.

„Es handelt sich offenbar um ein Unikat, welches von einem Schöppenstedter Künstler im Jahre 1750 für den Russischen Zarenhof als Auftragsarbeit angefertigt wurde“, erläuterte Trude. Ich staunte nicht schlecht über diese Neuigkeit. „Der Wert der Spieldose wird auf etwa fünfzigtausend Euro beziffert.“ Ich stieß einen erstaunten Pfiff aus. „Für einen Betrag, der diesen noch übertrifft, wurde die Kostbarkeit 1967 von einem unbekannten Sammler ersteigert.“ Ich sah meine Putzsekretärin skeptisch an. „Sie sind sicher, dass es sich bei unserer Spieldose um keinen Nachbau handelt?“ Trude reagierte fast schon beleidigt. „War ja klar, dass Sie an meinen Fähigkeiten zweifeln würden. Ich habe mir deshalb erlaubt, für heute Nachmittag einen Termin mit Professor Papenstadt zu machen.“ „Mit wem?“ „Der Professor ist unter anderem Leiter des Eulenspiegel Museums in Schöppenstedt. Er erwartet Sie um 14 Uhr.“ „Na dann.“

Ich hatte bereits öfter in Schöppenstedt zu tun, aber seit das Café Eulenspiegel nicht mehr geöffnet war, gab es einen Grund weniger, der mich dort gern länger verweilen ließ. Die leckere Mohn-Marzipan-Torte suchte ich seither andernorts vergebens. Dafür war ich umso überraschter, als ich meinen Wagen vor dem Museum parkte und den modern anmutenden Neubau zum ersten Mal betrachtete. Ich konnte mich an einige Streiche des Eulenspiegels erinnern und obwohl die Schulzeit lange zurücklag, auch dunkel an seine Person. Da hatte es der Witzbold und Schwerenöter also tatsächlich zu einer ansehnlichen Hinterlassenschaft gebracht.

Der Professor erwartete mich in der sonnendurchfluteten Empfangshalle. „Schön, dass wir uns endlich kennenlernen“, stürmte er sogleich auf mich zu, kaum dass ich die Halle betreten hatte. „Woher wissen Sie…?“ „…dass Sie es sind?“, schnitt er mir das Wort ab. „Ihre Sekretärin hat Sie mir bestens beschrieben.“ Wobei sein Blick auf meinen Stetson gerichtet war. „Schön, dass sich zwei so bedeutende Köpfe unserer Region endlich begegnen“, sprach er in Rätseln, bevor er in ein ausgiebiges Gelächter verfiel. Ich fragte mich, ob der Mann zwischendurch auch mal Luft holte. „Sie wissen schon, Lessing und Eulenspiegel.“ Erneutes Lachen.

Plötzlich blieb sein Blick an der Tasche haften, in der ich die Spieldose transportierte. Sein Lachen verstummte von einer Sekunde zur nächsten. „Kommen Sie, wir gehen nach oben.“ Flugs wieselte er über die Treppe nach oben. Obwohl er gut und gern zwanzig Jahre älter war, hatte ich Mühe, ihm zu folgen. „Am besten gehen wir in mein Arbeitszimmer. Da sind wir ungestört.“ Vorbei an Vitrinen, in denen etliche Bücher mit dem Eulenspiegel auf dem Einband ausgestellt waren, vorbei auch an Bildern, die dem Schelm nachempfunden waren und an Historien, die seine Streiche darstellten, erreichten wir das kleine Büro des Museumsleiters.

„Zu unserer Ausstellung erzähle ich Ihnen anschließend gern mehr, aber im Augenblick bin ich wegen Ihres Mitbringsels außerordentlich neugierig“, erklärte er mir seine Eile. „Wenn es sich tatsächlich um die verschollene Spieldose handeln sollte, wäre es eine Sensation. Ihr Wert ist mittlerweile nahezu unbezahlbar.“ Während ich das gute Stück aus meiner Tasche kramte, zitterten die Hände des Professors vor Aufregung. „So, hier ist also das Döschen.“ „Vorsichtig!“, mahnte der alte Herr. „Na, dann werfen Sie mal einen Blick darauf“, schob ich ihm das vermeintliche Unikat über den Tisch, ohne so recht an die Echtheit der Spieldose glauben zu wollen.

Der Professor nahm eine Lupe zur Hand und prüfte, drehte und wandte mit akribischem Blick. „Es werden sicherlich noch einige Tests von Nöten sein, um das Alter des Holzes zu bestimmen und ich würde auch gern noch die Meinung eines befreundeten Gutachters einholen, aber soweit ich es beurteilen kann, handelt es sich bei dieser Spieldose tatsächlich um die Arbeit eines Schöppenstedter Künstlers um Anno 1750.“ Er setzte die Kostbarkeit vor sich auf dem Tisch ab und schwieg bedächtig. In seinen Augen standen Tränen des Glücks.

„Was glauben Sie, Professor, welchen Wert diese Spieldose heute hat?“ Der alte Herr strich sich nachdenklich durch den Bart. „Bei einer Auktion, die fast fünfzig Jahre zurückliegt, wurde sie von einem unbekannten Sammler für eine Summe von über vierzigtausend Mark ersteigert. Der heutige Wert dürfte bei weit über fünfzigtausend Euro liegen.“ Seine Einschätzung deckte sich insoweit mit Trudes Recherche im Internet. „Welchen Wert diese Spieldose für einen Sammler hat, lässt sich nur schwer beziffern, aber wenn ich das Geld zur Verfügung hätte, würde ich auch einhunderttausend Euro zahlen.“ „Holla die Waldfee!“

Bei der ganzen Euphorie war mir ein Gedanke völlig abhanden gekommen. Wie um alles in der Welt kam ein Penner an eine solche Kostbarkeit? Da hätte es eher zu ihm gepasst, wenn er ein Zentner Kronkorken für den guten Zweck gesammelt hätte. „Darf ich fragen, wie Sie in den Besitz der Dose kamen?“ „Nun, ich darf Ihnen momentan leider nichts dazu sagen. Meine Ermittlungen befinden sich noch am Anfang, aber ich verspreche Ihnen, mit meinem Mandanten darüber zu sprechen, ob es möglich wäre, Ihnen die Dose als Leihgabe für das Museum zur Verfügung zu stellen.“ Der Professor ergriff gerührt meine Hand. „Wenn Sie das wirklich ermöglichen könnten, wäre es fantastisch.“ „Ich müsste allerdings zuvor herausfinden, in wessen Besitz sich die Spieldose zwischenzeitlich befunden hat.“ „Möglicherweise kann ich Ihnen da weiterhelfen“, überlegte der Museumsleiter. „Der heutige Leiter des Braunschweiger Auktionshauses ist ein alter Studienfreund. Ich rufe ihn sofort an und bitte um seine Hilfe. Vielleicht empfängt er Sie noch heute.“

Eine knappe Stunde später rollte mein Skoda auf den Parkplatz des Braunschweiger Auktionshauses in der Adenauer- Straße. „Guten Tag, mein Name ist Lessing“, stellte ich mich dem Pförtner vor. „Guten Tag“, nickte mir der Mann in der Loge freundlich zu. „Herr Blasius erwartet mich bereits.“ „Wenn ich Sie zunächst um Ihre Legimitation bitten darf.“ Ich legte meinen Personalausweis vor und wartete geduldig, bis ihn der Mann hinter dem kugelsicheren Glas überprüft hatte. „Sicherheit wird bei Ihnen offensichtlich groß geschrieben“, merkte ich an. „So ist es“, entgegnete der Pförtner, während er mir den Ausweis mittels einer Schublade zurückschob, die in den Tresen eingelassen war. „Begeben Sie sich bitte in die Sitzecke, und warten Sie dort, bis Sie abgeholt werden.“

Ich dachte an die immensen Werte, die bei einer Auktion den Besitzer wechselten und natürlich auch an das Geld, welches dabei floss. Folglich musste in einem Auktionshaus wie diesem eine gewisse Sicherheit gewährleistet sein. Da ging es bestimmt mitunter um Millionen. Ich konnte mich auf einen Überfall auf ein Auktionshaus in Hannover erinnern, welcher zu meiner aktiven Zeit bei der Braunschweiger Kripo die Titelseiten der Gazetten füllte. Damals hatte eine südosteuropäische Bande die Kasse überfallen und reichlich Beute gemacht. Österreichische Kollegen griffen sie kurz darauf an der slowakischen Grenze auf.

„Herr Lessing?“, begrüßte mich eine junge Frau voller draller Weiblichkeit. „So ist es“, bestätigte ich mit einem leichten Kopfnicken. „Ich bin die Assistentin von Doktor Blasius. Mein Chef erwartet sie in seinem Arbeitszimmer. Folgen Sie mir bitte.“ „Nichts lieber als das, Frau…?“, entgegnete ich neugierig. „Blasius, ich bin die Tochter.“ „Ach was.“ Wie reizvoll auch vollschlanke Frauen sein konnten, wurde mir klar, als ich hinter ihr her die Treppe empor stürmte. Da war keine Spur von Behäbigkeit. Abgesehen davon finde ich es nicht korrekt, wenn Mann die Qualitäten einer Frau auf ihr Äußeres reduziert. Moment mal, kam das gerade von mir? Hm, mit dem Alter wechseln wohl auch die Ansichten. Wobei das Wort ‚Ansichten' in mehrfacher Hinsicht zu betrachten ist.

Das Arbeitszimmer von Herrn Blasius war geräumiger als meine gesamte Detektei. Der Schreibtisch so groß, dass ich ihn dahinter kaum wahrnahm, als ich eintrat. „Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, werter Herr Lessing“, kam der kleine Blasebalg hinter seinem Schreibtisch hervorgehüpft. Mein Blick wechselte zwischen ihm und seiner Tochter. Unfassbar, was alles mit den Genen vererbt werden kann. „Sie sind schuld!“ Ich schluckte trocken. „Woran?“, kam es zögerlich über meine Lippen. „Dank Ihnen haben Roderich und ich nach all den Jahren wieder Kontakt.“ „Das freut mich.“

„Nehmen Sie doch bitte Platz. Meine Assistentin kümmert sich einstweilen um Ihren Stetson.“ Wir ließen uns in einer Sitzecke nieder, die mit blauem Plüsch bezogen war. „Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten, Herr Lessing?“, zwinkerte mir das Töchterchen zu. Ich fragte mich, ob dem Töchterchen eine Fliege ins Auge geflogen war. „Bitte ein Ginger Ale“, versuchte ich sie aus der Fassung zu bringen. Ihre Mimik war köstlich. „Ich fürchte, Ingwerlimonade ist gerade aus“, entgegnete sie dann allerdings äußerst schlagfertig. „Nee Quatsch, wenn Sie haben, trinke ich einen Kaffee.“ „Haben wir.“ Mein Blick folgte unwillkürlich ihrem Hintern. „Meine Frau und ich haben uns damals alle Mühe gegeben“, versicherte mir Herr Blasius, dem mein Interesse an seiner Tochter nicht verborgen geblieben war.

„Oh, entschuldigen Sie bitte, ich…“ „Sie sind ein Mann und Liliane ist nicht ohne“, knuffte er mir den Ellenbogen in die Seite. Was für ein Tag, dachte ich. Irgendwie tapste ich von einer Verlegenheit in die nächste. „Sie möchten also wissen, wer damals die Eulenspiegelspieldose ersteigerte“, kam er schließlich zur Sache. „So ist es“, bestätigte ich. „Sie wissen schon, dass ich Ihnen den Namen eigentlich nicht geben kann?“ Das Wörtchen 'eigentlich' ließ genug Spielraum für Spekulationen. „Nach dem Anruf meines alten Schulfreundes hat sich Liliane dennoch auf die Suche nach den Unterlagen gemacht. Nach einem Wasserschaden in unserem Archiv, der schon über zwanzig Jahren zurück liegt, war es alles andere als selbstverständlich, den Namen überhaupt noch zu finden.“

„Ich weiß Ihre Mühe wirklich zu schätzen“, bedankte ich mich. „So? Wir werden sehen.“ Ich fragte mich, was wir sehen würden. Als Töchterchen schließlich mit meinem Kaffee zurückkehrte und das Tablett in gebückter Haltung direkt vor mir absetzte, wusste ich, was ich sehen würde. „Oh, ich habe den Zucker vergessen“, trällerte sie und eilte nochmals davon. Ich vermied es diesmal, meinen Blick in ihre Richtung schweifen zu lassen. „Haben Sie am Wochenende etwas vor, junger Mann?“, erkundigte sich Doktor Blasius. Ich hatte nicht den leisesten Schimmer, wohin die Reise ging, aber ohne eine Gegenleistung schien ich nicht wieder aus der Nummer herauszukommen.

„Nein, bislang noch nicht“, entgegnete ich daher nichtsahnend. „Schön. Wie ich bereits feststellen konnte, sind Ihnen die Reize meiner Tochter nicht verborgen geblieben“, begann er ein Vermittlungsgespräch, wie ich es noch nicht erlebt hatte. In meiner Verzweiflung nippte ich an dem heißen Kaffee und war überrascht. Egal, wie die Sache hier ausging, Kaffee kochen konnte die Maid. „Die Gute ist leider etwas zu schüchtern, wenn Sie verstehen…“ Ich nickte. „Liliane scheint Sie zu mögen. Vielleicht könnten Sie ja am Wochenende zusammen ausgehen?“

Baff! Die Katze war aus dem Sack und ich kam mir vor wie ein kleines Mäuschen auf dem Weg durch ein Labyrinth aus tausenden von Fallen. In diesem Augenblick kehrte die Katz zurück. Ich sah mich im Geiste bereits in ihren Fängen. „Der Kaffee schmeckt hervorragend“, lobte ich sie zur Freude ihres Herrn Papa. „das muss eine ganz auserlesene Mischung sein“, nahm ich einen weiteren Schluck. „Oh, Sie sind offensichtlich ein Kenner. Er kommt von den Philippinen und wird dort aus dem Kot der Zibetkatze hergestellt.“ Ich hatte Mühe, den Rest des Schluckes, der sich noch in meinem Mund befand nach unten zu befördern. Die Blöße wollte ich mir dann allerdings auch nicht geben. Auf jeden Fall wurde mir schlagartig speiübel. „Das ist nicht Ihr Ernst, oder“, hoffte ich immer noch auf eine Finte. „Der Zibetkaffee ist der teuerste und beste Kaffee der Welt“, klärte sie mich lachend auf. Töchterchen hatte sich auf das Übelste für meine kleine Ginger Ale Einlage revanchiert.

Die aufmunternden Blicke des Papas ließen keinen Zweifel an der Notwendigkeit, sein erdachtes Spiel in die nächste Runde zu treiben. „Vielleicht können Sie mir die Produktion dieses Kaffees ja am Samstagabend bei einem gemütlichen Essen etwas näher erläutern?“, paarte ich meine Worte mit einem unwiderstehlichen Lächeln. „Warum so lange warten?“, entgegnete sie keineswegs so scheu, wie mir der Herr Papa glauben machen wollte. „Weil ich bis dato leider dringenden Verpflichtungen nachkommen muss.“ „Also schön, rufen Sie mich an. Hier ist meine Karte.“

„Der Mann, der die Spieldose ersteigerte, heißt Jakob Goslar. Die damalige Adresse lautete Philosophenweg 8. Ob es sich bei dem Herrn tatsächlich um den Sammler handelte, oder ob er nur als Mittelsmann fungierte, kann ich Ihnen freilich nicht sagen.“ Ich bedankte mich bei Doktor Blasius und seiner Tochter und verabschiedete mich. „Ich bringe Sie noch hinunter“, zwinkerte mir Liliane zu. Töchterchen ging, um meinen Stetson zu holen. Papa hielt bei der Verabschiedung meine Hand für einen Moment lang fest. „Ich hoffe, Sie sind ein Ehrenmann, Herr Lessing.“ „Sie zweifeln nicht wirklich daran, oder?“

 

-9-

Unter der im Braunschweiger Auktionshaus erfahrenen Adresse im Philosophenweg 8 fand ich ein herrschaftliches Anwesen im Stil der Gründerjahre vor. Aber so viel war mir von vornherein klar, wer eine Spieldose von beträchtlichem Wert ersteigern kann, konnte nicht am Hungertuch nagen. Zu meiner Überraschung verschanzten sich die Eigentümer der Villa nicht hinter hohen Mauern und massiven Toren. Die Einfahrt stand weit geöffnet und hieß jeden Besucher willkommen.

„Entschuldigen Sie, wenn ich Sie einfach so überfalle“, waren meine ersten Worte, nachdem mir eine gut gekleidete Dame mittleren Alters die Haustür öffnete. „Mein Name ist Lessing, ich bin privater Ermittler und hätte Sie gern in einer dringenden Angelegenheit gesprochen.“ „Mich?“, entgegnete die Frau lächelnd. „Ich suche eigentlich nach einem Herrn Jakob Goslar.“ „Oh, dann möchten Sie sicherlich mit Frau Talbach sprechen.“ Ich stimmte ihr vorsichtshalber erst einmal zu. „Treten Sie bitte näher.“

Ich zog meinen Stetson ab und bestaunte die künstlerischen Elemente im Foyer. „Warten Sie hier bitte einen Augenblick. Ich werde sehen, ob sich Frau Talbach für Sie frei machen kann.“ Frei machen? Ich stutzte… Mal sehen wie alt Frau Talbach war. Was für eine versnobte Ausdrucksweise. Wie viel Geld es wohl bedurfte, um so zu reden, dachte ich, während ich die Zeit des Wartens nutzte, um mich umzusehen.

„Frau Talbach erwartet Sie auf der Terrasse. Bitte folgen Sie mir.“ Ich fragte mich noch, ob ich mich blamiert hatte, als ich die Hausdame mit der Dame des Hauses verwechselt hatte, als ich mit einigem Erstaunen vor einer Frau mit Farbpalette und Pinsel gegenüberstand. „Das Licht ist heute fantastisch“, erklärte sie, einen schwungvollen Farbstrich auf die Leinwand zaubernd. „Ein Aquarell, wenn ich nicht irre“, versuchte ich zu glänzen. „Oh, ein Kenner“, wandte sich mir die Künstlerin zu. „Wie finden Sie es?“ „Ich verfüge leider über zu wenig Sachverstand, um mir ein objektives Urteil erlauben zu können“, versuchte ich mich herauszureden. „Papperlapapp, trauen Sie sich ruhig.“ „Also gut, wenn ich ehrlich sein soll, gefällt es mir nicht.“ „Wissen Sie was? Mir gefällt es auch nicht!“

Ohne ein weiteres Wort zu sagen, löste sie die Leinwand aus der Staffelei, schlug sie auf dem Boden entzwei und reichte sie der erstaunt neben mir stehenden Hausdame. „In den Müll damit, Violetta.“ „Setzen Sie sich, Herr Lessing. Eine Tasse Tee?“ „Gern.“ „Endlich mal jemand, der auch sagt, was er denkt“, lächelte sie, während sie mir den Tee in ihre Tasse einschenkte. „Zucker?“ „Äh, ja, ein Stück.“ „Sie möchten mich also in einer dringenden Angelegenheit sprechen“, kam sie auf den Grund meines Besuches zurück. „Tja, eigentlich weiß ich nicht, ob ich bei Ihnen an der richtigen Adresse bin“, begann ich eher zögerlich. „Es geht um eine alte Spieldose, die vor vielen Jahren durch einen Herrn Jacob Goslar ersteigert wurde.“ „Jacob Goslar war mein Vater.“

Ich war also auf der richtigen Spur. „Von was für einer Spieldose sprechen Sie?“ Ich bemerkte die plötzliche Unruhe in den Augen der Künstlerin. „Es handelt sich um eine sehr schön verzierte Dose, auf der sich ein tanzender Eulenspiegel dreht.“ „Woher haben sie die Spieldose?“ „Beantworten Sie bitte zunächst meine Frage“, beharrte ich. Die Künstlerin stieß einen tiefen Seufzer aus und griff mit zitternder Hand nach ihrer Tasse, um einen Schluck von meinem Tee zu trinken.

„Mein Vater hat die Spieldose damals meiner Mutter zum zehnten Hochzeitstag geschenkt. Sie liebte diese Spieldose. In der Nacht vor dem Tod meiner Mutter verschwand sie plötzlich. Und nun sagen Sie mir bitte, wie Sie an die Spieldose kommen.“ Ich fragte mich, ob sich das Schicksal des unbekannten Toten tatsächlich aus einer bislang völlig unvorhersehbaren Richtung bewegt hatte. „Sie befand sich in der Hinterlassenschaft eines Obdachlosen“, erklärte ich, nicht ohne dabei ihre Reaktion genauestens zu beobachten.

„Er stand also die ganze Zeit über mit ihr in Verbindung“, sinnierte Frau Talbach. Tränen quollen ihr aus den Augen. Ich reichte ihr ein Papiertaschentuch. „Danke“, schniefte sie. „Wie kam er ums Leben?“, fragte sie mit zitternder Stimme. „Wer“, konnte ich ihr nicht so recht folgen. „Sie sprachen von einer Hinterlassenschaft.“ Langsam dämmerte es mir. „Sie meinen den Obdachlosen?“ Frau Talbach nickte sprachlos. „Um das herauszufinden, bin ich hier. Der unbekannte Mann, um den es geht, wurde kürzlich bei Brückenarbeiten gefunden“, vermiet ich es, ins Detail zu gehen. Da er weder Ausweispapiere bei sich hatte, noch irgendetwas, womit sich seine Identität feststellen ließ, konnten auch keine Angehörigen ermittelt werden.“

„Dann muss dieser Tote mein Bruder sein“, schlussfolgerte sie erstaunlich gefasst. „Sein Freund, dem er auch die Spieldose hinterließ, nannte ihn einfach nur Hugo.“ „Hugo war auf der Uni der Spitzname meines Bruders“, erklärte die Künstlerin. „Das Hu für Hubert und das go für Goslar.“ Somit schien es kaum noch einen Zweifel an der Identität des Unbekannten zu geben. „Ich habe ein Bild von ihm auf meinem Schreibtisch stehen. Warten sie, ich hole es.“ Während die couragierte Frau in ihr Arbeitszimmer eilte, suchte ich nach einer passenden Erklärung, weshalb ich ihren Bruder nicht anhand des Bildes identifizieren konnte.

„So, hier ist ein Bild von Hubert. Ist er es?“ „Es tut mir leid, aber der Zustand seines Gesichts lässt keine Rückschlüsse über sein Aussehen zu. Ihr Bruder lag etwa ein halbes Jahr unter der besagten Brücke, ehe er entdeckt wurde.“ Sie schloss ihre Augen, ihre Hand legte sich bestürzt über den Mund und ihre Atmung wurde ruckartig und von Entsetzen getragen. Ich hasste solche Momente schon, als ich noch bei der Kripo war und dennoch gehören sie nach wie vor zu meinem Job, weil sie so sind, wie das Leben selbst. Hart und unerbittlich. Nur, wer sich dem Schmerz stellt, wird auch die schönen Momente des Lebens genießen können.

„Aber wie soll ich nun jemals erfahren, ob es sich wirklich um meinen Bruder handelt?“, fasste sie sich auch jetzt relativ schnell wieder. „Hatte Ihr Bruder seinen Blinddarm noch?“ Frau Talbach sah mich erstaunt an. „Nein und das war auch eine ganz verrückte Geschichte“, erzählte sie, während sie sich die Tränen trocknete. „Wir waren mit Vater und Mutter im Urlaub auf Teneriffa, als Hubert akute Blinddarmschmerzen bekam. Damals gab es dort noch keine Kliniken wie heute und die nächste Stadt war weit entfernt. Es fand sich schließlich ein betrunkener Dorfarzt, der den Eingriff vornahm. Der Mann rettete Hubert das Leben.“ „Deswegen also die überlange Narbe“, fügte sich nun doch eins zum anderen. „…und der Haken am unteren Ende“, fügte Frau Talbach hinzu. „Womit auch die letzten Zweifel ausgeräumt sein dürften.“

„Kann ich meinen Bruder sehen?“, fragte sie nach einer Weile des Schweigens. „Das ist leider nicht mehr möglich. Er wurde bereits vor einigen Tagen beerdigt. Es gibt allerdings ein Foto von der Narbe, um ihn daran eventuell noch identifizieren zu können.“ „Können Sie mir dann wenigstens zeigen, wie er zuletzt lebte und wer dieser Freund war?“ „Sicher“, willigte ich ein, „…aber zunächst würde mich interessieren weshalb Ihr Bruder so lebte.“

Sie sah mich lange an, bevor sie mir antwortete. „Ich kenne Sie seit einer halben Stunde und doch weiß ich, dass alles, was ich nun erzählen werde, bei Ihnen gut aufgehoben ist. Ich weiß nicht, warum ich zu Ihnen Vertrauen habe, aber es ist einfach so.“ „Könnte es mein ehrliches Gesicht sein?“ „Vielleicht.“

Und dann erzählte mir Renate Talbach, geborene Goslar, vom Tod ihres Vaters und wie ihr Bruder die Firma übernahm. „Anfangs lief auch alles ganz gut, bis Hubert dann begann an der Börse zu spekulieren. Zunächst bekamen wir gar nicht mit, wie Steuern und Löhne nicht mehr pünktlich bezahlt wurden. Dann ging alles sehr schnell. Mein Bruder und seine Frau waren zu einem wichtigen Termin nach Hannover unterwegs, als sie sich im Auto heftig stritten. Hubert verlor die Kontrolle über den Wagen und verursachte einen schweren Unfall, bei dem Marion ums Leben kam. Er hat es nicht verwunden, an ihrem Tod die Schuld zu tragen. Einige Tage später war er verschwunden. Einzig unserer Mutter hinterließ er einige Zeilen.“

Die Geschichte hatte mich sehr betroffen gemacht. „Und Ihr Bruder hat sich nie wieder bei Ihnen gemeldet?“ „Leider nicht. Wir haben natürlich eine Vermisstenanzeige aufgegeben und später, als es der Firma wieder besser ging, haben wir sogar eine Detektei mit der Suche beauftragt. Alles vergebens.“ „Nun sagten Sie vorhin, die Spieldose habe sich bis zuletzt im Besitz Ihrer Mutter befunden. Folglich muss Ihr Bruder Kontakt zu ihr gehabt haben.“ Die Schwester des Obdachlosen lehnte sich fassungslos zurück. „Bei aller Liebe, Herr Lessing, ich kann weder meine Mutter noch meinen Bruder verstehen.“ „Vielleicht hilft es Ihnen, wenn Sie sehen, wie er lebte, wenn Sie seinen Freund kennenlernen und mit der Staatsanwältin sprechen.“ „Staatsanwältin?“, horchte die Künstlerin auf. „Die Umstände seines Todes sind noch nicht abschließend geklärt.“

 

-10-

Als Kurt Talbach an diesem Abend spät aus der Firma nach Hause kam, erzählte ihm seine Frau, immer noch sehr aufgewühlt, von meinem Besuch. „Ich werde mich morgen Vormittag mit Herrn Lessing und der Staatsanwältin treffen, um die letzten Zweifel an Huberts Identität auszuräumen.“ „Ich wusste damals schon, dass es kein gutes Ende mit deinem Bruder nehmen würde. Aber so war er, seit ich ihn kannte. Nie hat er sich der Verantwortung gestellt. Wenn es brenzlig wurde, hat er den Schwanz eingeklemmt und ist abgehauen.“

„Muss das jetzt sein, Kurt? Immerhin habe ich meinen Bruder verloren.“ Kurt Talbach nahm seine Frau tröstend in den Arm. „Entschuldige Renate, ich hatte einen anstrengenden Tag.“ „Der Detektiv wird mich mit Huberts Freund bekannt machen. Stell dir vor, er hat mit diesem Mann mehr oder weniger auf der Straße gelebt.“ „Entsetzlich“, reagierte Kurt Talbach kopfschüttelnd. „Nun stelle dir vor, es würde bekannt werden, dass sich dein Herr Bruder während der vergangenen Jahre als Penner herumgetrieben hat. Weißt du eigentlich, was das für den Ruf der Firma bedeuten würde?“ „Sag mal, geht es denn für dich immer nur um die Firma?“

Kurt Talbach schenkte sich einen Whisky ein, steckte sich eine Zigarre an und ließ sich in einem der Sessel nieder. „Wir leben davon, nicht wahr?“, gab er altklug zu bedenken. „Und wie ich finde, nicht schlecht. Deinem werten Bruder haben wir dies sicher nicht zu verdanken. Wer hat die Firma denn vor dem Ruin bewahrt?“, zog er selbstgefällig an seiner Zigarre. „Wer hat die Goslar GmbH wieder zu einem der führenden Fahrradfabrikanten in Norddeutschland gemacht?“ „Ja, ja, ja, ich werde dir auf ewig dankbar dafür sein, aber bitte nicht in diesem Augenblick.“

Kurt Talbach hielt es nicht länger in seinem Sessel aus. Ausgesprochen nervös durchmaß er nun immer wieder den Raum. Auch der Whisky konnte an diesem Zustand nichts ändern. Immer wieder setzte er zu neuen Worten an, um sie jedes Mal wieder zu verwerfen. „Ich werde mich Morgen mit Herrn Lessing treffen und ich werde mir von ihm zeigen lassen, wie Hubert lebte und daran werden auch deine Einwände nichts ändern.“ „Dann sei wenigstens so vernünftig und halte dich was die Firma angeht, bedeckt. Zumindest scheint es bei dieser Angelegenheit von Vorteil, den Namen der Firma beibehalten zu haben.“

Renate Talbach fragte sich, ob es ihrem Mann tatsächlich nur um das Wohl der Firma ging. Konnte es sein, dass seine Reaktion eine späte Abrechnung mit dem Mann war, der ihn während ihrer gemeinsamen Zeit in der Firma ausschließlich mit niederen Arbeiten betreute? Längst hatte er all seinen Kritikern und Zweiflern gezeigt, was in ihm steckte und doch schien ihn der Ehrgeiz auch jetzt noch zu zerfressen. Der Tribut seines Erfolgs lag in ihrer Ehe, die schon lange nicht mehr in tiefer Zuneigung begründet war. Schleichend hatten sie sich voneinander entfernt. Das, was sie noch miteinander verband, schien nicht mehr als die Tinte auf ihrem Ehevertrag.

 

 

-11-

Wie am Vortag miteinander besprochen, traf ich mich mit Renate Talbach in der Dienststelle der Kriminalpolizei an der Lindener Straße in Wolfenbüttel. Miriam und ich waren früh genug da, um Oberkommissar Sinner vom Ergebnis meiner Ermittlungen zu unterrichten.

„Wie gesagt, ich habe den Namen des Mannes für meinen Auftraggeber herausgefunden.“ „Hubert Goslar lebte seit drei Jahren auf der Straße. Wer bitteschön sollte ein Interesse an seiner Identität haben?“ „Da Sie offensichtlich nicht mehr in den Schlaf finden würden und Ihr Kollege dann sicherlich darunter leiden müsste, werde ich mal nicht so sein. Mein Auftraggeber ist Axel Schweig.“ Während Sinner ungläubig die Kinnlade herunterklappte, musste sich Kommissar Schubert das Lachen verkneifen. „Sie wollen mir doch nicht allen Ernstes weismachen, dass dieser Tippelbruder Ihr Auftraggeber ist“, fühlte sich der Oberkommissar veralbert. „Lassen Sie sich neuerdings auch mittels Leergutflaschen entlohnen?“ „Ach wissen Sie, Sinner, Geld ist nicht alles.“

Ein schüchternes Klopfen an der Bürotür der Kommissare kündigte den Besuch von Renate Talbach an. „Guten Tag, gnädige Frau“, sprang ich auf, um die Schwester des bis dato unbekannten Toten zu begrüßen. „Ich möchte Ihnen Frau Staatsanwältin Herz, Oberkommissar Sinner und Kommissar Schubert vorstellen.“ „Renate Talbach“, stellte sich unser Besuch kurzerhand selber vor. „Die Kommissare waren mit der Klärung des Todes Ihres Bruders beauftragt.“ „Unsere aufrichtige Anteilnahme zum Tod Ihres Bruders“, erhob sich Miriam, um der Hinterbliebenen ihr Mitgefühl auszudrücken. „Vielleicht sollten wir zunächst alle eventuellen Zweifel ausräumen“, zeigte sich Sinner weniger pietätvoll. „Gerade in diesem Fall gab es ja bereits eine falsche Identifikation.“

Renate Talbach sah mich fragend an. Ich vertröstete sie mit der Erklärung auf einen späteren Zeitpunkt. „Ich habe hier ein Foto, welches die Blinddarmnarbe zeigt, die Sie Herrn Lessing ja bereits beschrieben haben“, kam Sinner recht schnell zur Sache. „Erkennen Sie hierauf eindeutig die Narbe Ihres Bruders?“ Renate Talbach betrachtete das Foto eine Weile, ehe sie es an den Oberkommissar zurückgab. „Es besteht kein Zweifel.“ „Gut.“ Sinner legte das Foto zurück in die Akte. „Dann können Sie mir bestimmt sagen, wie groß ihr Bruder war.“ „Oh, jetzt haben Sie meinen wunden Punkt getroffen“, lächelte sie verlegen. „Ich kann so etwas schlecht einschätzen, aber vielleicht stellen Sie sich mal an die Tür.“ Sinner kam ihrer Bitte eher zögerlich nach. Die Tatsache, dass ich dem Toten einen Namen gegeben hatte, schien in ihm gewaltig zu rumoren.

„Wie groß sind Sie, Herr Kommissar?“ „Ein Meter achtzig“ „Dann war Hubert etwa fünf Zentimeter kleiner“, überlegte Renate Talbach und hatte damit die Angabe im Befund des Rechtsmediziners exakt bestätigt. „Okay, soweit ich das anhand der mir vorliegenden Unterlagen sehen kann, handelt es sich bei dem Toten mit hoher Wahrscheinlichkeit um Ihren Bruder, Hubert Goslar.“ „In seiner Hinterlassenschaft fanden sich keinerlei Ausweispapiere“, erklärte Kommissar Schubert. „Haben Sie eine Idee, wo diese abgeblieben sein könnten?“ „Nach seinem Verschwinden haben wir natürlich auch sein Arbeitszimmer nach einer Spur durchsucht. Ausweispapiere haben wir dabei leider nicht gefunden.“

„Können Sie sich vorstellen, dass Ihr Bruder freiwillig aus dem Leben schied?“, meldete sich nun auch Miriam zu Wort. „Sie glauben gar nicht, wie oft ich mir diese Frage während der vergangenen drei Jahre stellte. Einerseits kann ich es mir nicht vorstellen, andererseits brach er alle Brücken hinter sich ab, um sich wahrscheinlich selbst zu bestrafen. Einem solchen Menschen ist wahrscheinlich auch ein Suizid zuzutrauen.“ „Es wird sich wohl nie abschließend klären lassen, ob ihr Bruder einen Unfall erlitt, oder freiwillig aus dem Leben schied“, erklärte die Staatsanwältin. „Selbst ein Verbrechen kann nicht in Gänze ausgeschlossen werden.“

Renate Talbach erhob sich abrupt. „Eigentlich möchte ich nur noch das Grab meines Bruders besuchen und sehen, wie er zuletzt lebte. Herr Lessing bat mir an, mich auf diesem Weg zu begleiten. Wenn Ihrerseits keine weiteren Fragen bestehen, möchte ich jetzt gern gehen.“ Miriam stand ebenfalls auf und reichte ihr die Hand. „Sollte es noch Unklarheiten geben, haben wir Ihre Adresse. Alles Gute.“ „Danke.“ Frau Talbach wandte sich den Kommissaren zu. „Meine Herren.“ Ich schnappte mir meinen Stetson und folgte ihr.

Zunächst begleitete ich Hugos Schwester auf den Hauptfriedhof, wo sie auf dem Grab ihres Bruders ein Gesteck niederlegte. Mit dezentem Abstand beobachtete ich, wie sie einige Minuten schweigend inne hielt. Ihr Blick auf das Grab zu ihren Füßen gerichtet, sah ich die tiefe Trauer in ihren Augen. Die Geschwister mussten sich einmal sehr nahe gestanden haben.

Anschließend fuhren wir zum Fundort des Leichnams, wo sie sich genau von mir erklären ließ, wie und wo ihr Bruder gefunden wurde. Die Kraft, die dabei von dieser Frau ausging, beeindruckte mich zutiefst. Sie musste während der Zeit der Ungewissheit unglaublich gelitten haben. Die Tatsache, dass ihr Bruder tot war, musste daher eine Art Befreiung für sie sein. Mit seinem Grab hatte sie nun die Möglichkeit, von ihm Abschied zu nehmen und einen Ort, an den sie immer dann zu ihm zurückkehren konnte, wenn ihr danach war.

„Es wäre schön, wenn Sie mir nun seinen Freund, diesen Herrn Schweig, vorstellen könnten“, bat sie abschließend. Ein Blick zur Uhr verriet mir, dass es für seinen Standort in der Bärengasse noch zu früh war. „Um diese Zeit werden wir Herrn Schweig sicherlich noch in seiner Behausung antreffen. Ich schlage vor, wir gehen gleich hier an den Gleisen entlang.“ Hiermit war der Weg zum alten Stellwerk gemeint, der von der Bahnhofstraße parallel zum Bahndamm entlang führte. Nach etwa zweihundert Metern hatten wir unser Ziel erreicht. Renate Talbach konnte kaum glauben, dass ihr Bruder in dieser Umgebung gelebt hatte.

„Hallo, Herr Schweig, sind Sie zuhause?“, rief ich, als wir die Hütte erreichten. „Komm nur herein, Leo“, vernahm ich seine Stimme aus dem Inneren des Verschlags. „Meine Güte“, erschrak er, als er die Dame bemerkte, die sich in meinem Schlepptau befand. „Du hättest mich wenigstens warnen können, dass du so eleganten Besuch mitbringst“, säuselte er, während er sich ganz Gentleman von seinem Sofa erhob, um Frau Talbach mit einem angedeuteten Handkuss zu begrüßen. „Ist mir ein außerordentliches Vergnügen gnäh Frau.“ „Ganz meinerseits“, entgegnete meine Begleitung so völlig anders als von mir erwartet.

„Darf ich dir Frau Talbach vorstellen? Sie ist die Schwester von Hubert Goslar, alias Hugo, wie er dir besser bekannt sein dürfte.“ „Ich wusste doch, dass du verfluchter Windhund herausfindest, wer Hugo wirklich war“, schlug mir Axel anerkennend auf die Schulter. „Oh pardon, ich vergaß meine guten Manieren. Nehmen Sie doch bitte Platz.“ Frau Talbach nickte. „Nun verstehe ich, weshalb mein Bruder mit Ihnen befreundet war.“ „Ich wusste, dass Hugo weit bessere Zeiten hinter sich hatte. Seine Art, sein Benehmen und die Geschichten, die er zu erzählen hatte, ließen auf eine hohe Bildung und eine gute Erziehung schließen.“ „Hat er Ihnen nie von seiner Familie erzählt?“, wollte die Schwester seines Freundes wissen. „Oh doch, sehr oft sogar, aber er vermiet es akribisch irgendwelche Namen zu nennen. Wobei ihm der Tod seiner Frau und die Schuld, die er daran trug am meisten zusetzte.“ „Ich weiß“, seufzte Renate Talbach. „Das wird wohl auch der Grund für seinen Suizid gewesen sein.“ „Sie glauben an einen Selbstmord?“, hakte der Obdachlose nach. „Sie nicht?“ „Nein!“, entgegnete Axel Schweig energisch. „Okay, Hugo war möglicherweise nicht immer glücklich, aber er hatte alles, was man zum Überleben braucht und er hatte mich. Nein, Hugo ist definitiv nicht freiwillig aus dem Leben geschieden.“

„Kannst du dich noch an den Tag erinnern, an dem er verschwand?“, stellte ich eine der Fragen, die längst überfällig waren. „Und ob! Schließlich habe ich mich oft genug gefragt, ob er in sein altes Leben zurückkehren wollte. Die Antwort ist ein klares ‚nein'! Ich weiß es noch so genau, als wäre es erst gestern gewesen. Wir hatten den ganzen Tag über in der Fußgängerzone gestanden und gut Kasse gemacht.“ „Herr Schweig hat die Wolfenbütteler Generalvertretung zum Verkauf der Obdachlosenzeitung“, erklärte ich zum besseren Verständnis. „Ah ja.“ „Na jedenfalls wollten wir uns am Abend eine gute Malzeit gönnen. Hugo machte sich also auf den Weg zum Bahnhofsimbiss. Als er nach einer Stunde nicht zurück war, bin ich los, um nach ihm zu suchen. Die im Imbiss sagten, dass er dort nicht angekommen war. Ich habe natürlich alles abgesucht, auch das Flussufer, aber da war nichts. Ich habe bis zum nächsten Morgen abgewartet und bin dann zu den Bullen. Die haben aber nur gesagt, dass ich warten soll und erst nach drei Tagen eine Vermisstenanzeige aufgeben könne. Das tat ich dann auch.“

„Hatte Hubert etwas getrunken?“, fragte ich im Hinblick auf einen Unfall. „Ganz sicher nicht“, entgegnete Axel Schweig energisch. „Hugo hat nie getrunken. Er sagte mal, dass der Alkohol Schuld an der Misere seines bisherigen Lebens sei, auf keinen Fall wolle er, dass sich dies wiederhole.“ „Dann können wir einen Unfall unter dem Einfluss von Alkohol also ausschließen“, brachte ich es auf den Punkt. „Wenn ich doch nur geahnt hätte, dass er unter der Brücke eingeklemmt war.“ „Sie haben sich nun wirklich nichts vorzuwerfen“, tröstete ihn Renate Talbach. „Sie waren Hubert der beste Freund, den er seit langem hatte. Ich wünschte, ich wäre ihm nur eine halb so gute Schwester gewesen.“

„Da fällt mir ein, dass es einige Tage vor seinem Verschwinden eine merkwürdige Begebenheit gab. Es war in der Fußgängerzone. Ich hatte das Gefühl, dass Hugo von jemandem erkannt worden war. Als ich ihn später darauf ansprach, leugnete er ihn zu kennen.“ „Können Sie den Mann beschreiben?“, hakte Renate Talbach nach. „Also, soweit ich mich erinnern kann, war er gut gekleidet und in etwa von Hugos Statur.“ „Würdest du ihn wiedererkennen?“, griff ich nach dem möglichen Strohhalm. „Ich weiß nicht, es ist schon so lange her“, relativierte Axel sein Erinnerungsvermögen.

„Was auch immer zum Tode meines Bruders geführt haben mag“, erhob sich Renate Talbach. „Ich möchte es wissen.“ Sie sah mich herausfordernd an. „Bringen Sie Licht ins Dunkel, Herr Lessing. Ich möchte Sie engagieren.“ „Ich hoffe, Sie sind sich bewusst, dass ich auch im Umfeld Ihrer Familie ermitteln muss.“ „Durchaus“, zeigte sich meine Auftraggeberin wenig überrascht. „Ich denke, die Wahrheit ist das Mindeste, was ich meinem Bruder schuldig bin.“ „Sie sind eine tolle Frau“, ließ Axel keinen Zweifel an seinen Gefühlen. „Danke.“

 

 

Ende der Leseprobe