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„Guten Tag, Herr Menzel. Schön, dass Sie da sind. Wir hatten Sie eigentlich schon gestern erwartet.“„Ich habe erst vor 3 Tagen erfahren, dass ich zu Ihnen soll und erst gestern in Friedland die Fahrkarte bekommen.“ „Nun ja, das macht ja nichts, Hauptsache Sie sind jetzt da. Ich hoffe, Sie haben ordentlichen Appetit mitgebracht! Erna wird Ihnen erst einmal ihr Zimmer zeigen. Wenn Sie sich frisch gemacht haben, erwarten wir Sie zum Abendessen.“ „Vielen Dank Herr Schuhmacher.“ Mein Brotherr war eine starke Persönlichkeit von etwa 60 Jahren. Er hatte einen sogenannten Herrenbauch und war etwa 170 cm groß. Seine raue Hand, die er mir zur Begrüßung reichte, war von harter Arbeit zerfurcht. Aus seinem gutmütigen Gesicht sahen mich zwei interessierte Augen musternd an. Die Augenbrauen waren breit und liefen über seiner Nase fast zusammen. Durch den hohen Haaransatz wirkten die Falten auf seiner Stirn sehr betont. Er rief nach Erna, dem Hausmädchen und wies sie an, mir mein Zimmer zu zeigen. Ich konnte mein Glück kaum fassen, nach über 10 Jahren endlich ein eigenes Zimmer, ein Raum nur für mich allein. Erna erzählte mir, dass dies einmal das Zimmer des jungen Herrn Schuhmacher gewesen sei. Die Schuhmachers hatten lange gebraucht, um über den Tod ihres Sohnes hinwegzukommen. Erna war von kräftiger Gestalt. Ihr rotes Haar hatte sie zu zwei Zöpfen geflochten. Rings um ihre Nase herum hatte sie viele kleine Sommersprossen. Ihre grünen Augen ließen sie sehr dominant erscheinen. Erna drehte sich um und bat mich, bevor sie mein neues Reich verließ, pünktlich in 20 Minuten zum Essen hinunter zu kommen. Ich schaute mich um und fühlte mich auf Anhieb wie zu Hause. Ja, hier konnte ich wieder zu mir finden, all die schrecklichen Erlebnisse hinter mir lassen. Alles vergessen und ein neues Leben beginnen. Ich zog meinen Mantel aus und hing ihn an den Türhaken. Außer dem Bett und einem kleinen Nachtschränkchen davor, stand vor dem Fenster, durch dass das sanfte Licht einer Straßenlaterne fiel, ein kleiner Tisch. Auf ihm ein Deckchen und ein Aschenbecher. Vor dem Tisch ein Sessel mit Armlehnen. Dem Bett gegenüber stand eine Kommode mit Schubladen. Auf ihr eine Porzellanschale, ein Krug und ein kleines Schälchen mit Seife. Gegenüber der Tür befand sich ein zweiflügliger Kleiderschrank. Der Läufer vor dem Bett und die Gardinen machten das Zimmer richtig gemütlich. Alles war hell und freundlich. Herz, dachte ich, was willst du mehr?

Nachdem ich mich frisch gemacht hatte, ging ich hinunter und suchte das Esszimmer. Auf dem Flur begegnete mir eine junge Frau, die mir bislang noch nicht vorgestellt wurde. Sie trug zwei große Porzellanschalen in der Hand. „Sie sind sicher Kurt, guten Abend, ich bin Gerda, können Sie mir bitte die Tür zum Esszimmer öffnen?“ „Ja natürlich, gern, aber welche?“ „Sie stehen direkt davor!“ Herr Schuhmacher schien großen Wert auf das gemeinsame Abendessen im Kreis der Familie zu legen. „Ah, da sind Sie ja! Kommen Sie herein. Ich möchte Ihnen meine Frau vorstellen.“ Er deutete mit einer Handbewegung auf eine Dame Mitte 60, mit wirrem grauen Haar, tiefen Furchen unter den Augen und gelblichen Händen. „Meine Tochter Gerda haben Sie ja schon kennen gelernt.“„Bitte nehmen Sie hier Platz, Herr Menzel.“ Am Tisch standen sechs Stühle und auch sechs Gedecke waren aufgetragen. Am Kopf der Tafel saß Herr Schuhmacher. Neben ihm seine Frau, die mir den Platz gegenüber ihrem Gatten zugewiesen hatte. Zu seiner rechten nahm Gerda Platz. Nachdem sich auch Erna gesetzt hatte, wurde ein Tischgebet gesprochen. Der sechste Platz blieb leer. Während des Essens wurde über allerlei Dinge des vergangenen Tages gesprochen. Es gab Pferdewürstchen und Kartoffelsalat. Anschließend einen Schokoladenpudding mit Vanillesoße. Unwillkürlich musste ich dabei an meine Kindheit denken, an den Pudding, den Mutter mir kochte und meine Augen wurden feucht. Ich versuchte, meine Gefühle zu verbergen, aber als Herr Schuhmacher mich ansprach und ich meinen Kopf erhob, um ihm die gebotene Achtung zu erweisen, sah er es mir an. „Na Kurt, Sie haben doch sicher jetzt auch Lust auf eine gute Zigarette?“ „Ja, sehr gern!“ „Dann gehen wir am besten in mein Herrenzimmer hinüber.“ Ich hoffte, dass die Damen nichts von meinem Gefühlsausbruch bemerkt hatten und folgte ihm erleichtert. „Nun Kurt, wie gefällt Ihnen Ihr Zimmer? Ich hoffe, Sie sind zufrieden?“ „Aber ja, ich danke Ihnen vielmals. Es ist sehr schön hier bei Ihnen.“ „Ich hoffe, Sie werden sich bald ganz wie zu Hause fühlen. Sie werden verstehen, dass ich ein wenig mehr von Ihnen erfahren möchte, als es mir das Flüchtlingsamt mitgeteilt hat.“ „Das kann ich gut verstehen. Was möchten Sie wissen?“ „Man teilte mir mit, dass Sie keine Angehörigen mehr hätten. Sind denn alle in diesem verdammten Krieg geblieben?“ „Vater ist beim Überfall auf Polen von einem Querschläger unglücklich getroffen worden und Mutter ist, als schon fast alles vorbei war, in unserem Haus von einer Fliegerbombe getötet worden. Meine Verlobte ist nach Süddeutschland gegangen und nicht auffindbar. Verwandte hatten wir nie. Ein Bruder von Vater war einmal nach Afrika ausgewandert.“ „Vielleicht könnten Sie mir von ihrem Eintritt in die Armee und den Jahren der Gefangenschaft erzählen?“ Herr Schuhmacher öffnete eine Flasche Wein, schenkte jedem ein Gläschen ein und bot mir eine Zigarette an. Er lehnte sich in seinen Ohrensessel zurück und erwartete voller Ungeduld die letzten 10 Jahre meines Lebens.

2. Kapitel

Braunschweig 1.4. 1940

„Auch wenn Mutter bei meinem Abschied weinte, war heute ein ganz besonderer Tag für mich.

Lange schon hatte ich meinen Eintritt in die Reichsarmee herbei gesehnt. Meine Ausbildung beim Panzergrenadier- bataillon 2 in Braunschweig konnte beginnen.

Der Drill war hart, die Schleifer ungerecht und unerbittlich. Menschenverachtend nutzten sie jede sich bietende Gelegenheit, um uns zu erniedrigen. Vom Reinigen der Latrinen, bis zur Bedienung der Bordkanone im Tiger, lernten wir in den folgenden Monaten einfach alles. Vor allem aber Kameradschaft, so wie ich sie vorher nicht mal in der HJ (Hitlerjugend) erfahren hatte. Wir alle waren am Schluss der Ausbildung überzeugt von uns und unseren Idealen. Die Gerechtigkeit der Sache stand außer Frage. Jeder von uns war bereit für Führer und Vaterland sein Leben zu geben.

Im Juni 41 war es dann endlich so weit. Wir hatten Marschbefehl! Zunächst ging es auf der Schiene Richtung Osten. Nachdem über 100 Divisionen zusammengezogen waren, begann am 22.6.41 die Operation Barbarossa. Wir überrannten die Sowjet Armee förmlich und standen nach nur zwei Tagen schon fast 200 Kilometer tief im Feindesland. Alles ging so schnell und reibungslos, dass sich niemand auch nur ansatzweise über die Rechtmäßigkeit unseres Tuns Gedanken machte. Das Überraschungsmoment war immer noch auf unserer Seite. In Scharen ergaben sich russische T 34 Besatzungen. Ihre Dörfer und Städte brannten. Links und rechts der Straßen standen Hunderte ausgebrannter Panzer. Über allem dieser Geruch von verbrannten Pferdeleichen und verschmortem Gummi, der mir wohl noch für den Rest meines Lebens anhaften wird. Unser Tross zog durch ausgebombte Straßen, vorbei an gespenstisch empor ragenden Mauerresten von Häusern in Minsk. Die Stadt wirkte wie ausgestorben. Aber wo in diesen Ruinen sollten auch noch Menschen leben? Als Teil der Heeresgruppe Mitte, fuhren wir entlang der napoleonischen Route. Unser weitläufiges Ziel hieß Moskau. Doch Ende August rollten unsere Verbände auf die Ukraine zu. Durch die Unterstützung der Luftwaffe hatten wir leichtes Spiel mit der von unseren Stukas bereits bombardierten russischen Armee.

Im Oktober dann doch noch die Richtungsänderung nach Süden. Unser neues Ziel hieß wieder Moskau! Es war kalt geworden, aber immer noch waren wir trunken der Erfolge, die auf unserem Weg bereits hinter uns lagen. Nach anfänglichen Schwierigkeiten erreichten wir Moskau erst im Dezember. Unsere Kampfkraft war bis auf ein Viertel geschrumpft. Der schärfste Gegner war jetzt der Winter. Schon nach wenigen Tagen wurde der Angriff auf Moskau abgebrochen. Unter unvorstellbaren Qualen hielten wir die Belagerung über Monate hinweg aufrecht. Im September 42 erwischte es mich dann. Bei einer Patrouillenfahrt durch ein ausgebombtes Dorf zerriss mir die Gewehrkugel eines Partisanen den Unterkiefer. Der Notoperation im Feldlazarett folgte der Krankentransport mit einer JU 52 nach Braunschweig ins Luftwaffenlazarett.

In einer neuartigen Operation wurde mir dort ein Stück Knochen aus meinem Bein entnommen und im Kiefer eingesetzt. Als gelungenes Experiment erlangte ich zweifelhaften Ruhm. Oberstabsarzt Maurer musste allerdings sein gesamtes Können aufbieten, um mir auch die Gebissfunktion zu erhalten. In den ersten Wochen und Monaten bereitete mir die Nahrungsaufnahme noch große Schmerzen. Aber im Gegensatz zu manch anderem Leidensgenossen war ich doch vergleichsweise gut davon gekommen. Männer mit amputierten Gliedmaßen oder Blinde gehörten zum alltäglichen Bild, auf meinen Rundgängen durch die Krankenhausflure.

Neben Mutter, die mich seit meiner Einlieferung vor zehn Wochen täglich besuchte, war mir Schwester Emmi besonders ans Herz gewachsen. Ihre Ruhe und Güte, mit der sie uns Kranke pflegte, gefielen mir besonders. Aber auch ihre äußere Erscheinung war mir sehr angenehm. Kurz vor meiner Entlassung, Mitte Dezember, waren wir uns auch persönlich näher gekommen. Zwar hatte ich beim Sprechen immer noch Schwierigkeiten, aber wir verstanden uns auch ohne viele Worte. Emmi war für mich wie ein von Gott gesandter Engel. Die folgenden Tage und Wochen sollten die Schönsten meines noch jungen Lebens werden. Wir versuchten jede freie Stunde miteinander zu verbringen. Sie hatte langes, blondes Haar. Eine niedliche, kleine Stupsnase und blaue Augen. Ein ganz klein bisschen lispelte sie manchmal. Das klang dann besonders süß. In endlos erscheinenden Spaziergängen, die nie enden sollten, schlenderten wir Hand in Hand durch die Okerauen. Bis zu meiner endgültigen Genesung sollte ich mit kleineren Aufgaben in der Heimat beauftragt werden. Mit anderen Kameraden führte ich Sammelaktionen zur Versorgung unserer frierenden Soldaten durch.

Am 10. April 43 bekam ich schließlich Order, mich der Panzerdivision 38 anzuschließen. Im Verband der 9. Armee, unter Führung Generaloberst Models, sollten wir die sowjetischen Truppen von Norden her angreifen. Die zwei uns verbleibenden Tage nutzten Emmi und ich, um uns zu verloben. Aus diesem feierlichen Anlass hatte ich im Restaurant „Zur Glocke“, gleich neben dem Dom, einen Tisch bestellt. Es wurde ein solch wundervoller Abend wie ich ihn nie vergessen werde. Zum ersten und letzten mal wachten wir am nächsten Morgen gemeinsam auf. Am höchsten Punkt unserer Gefühle hieß es nun Abschied nehmen. Dem schönsten Moment unseres Lebens, folgte nun der traurigste. Ich rückte ein! Die folgenden Monate, Mai und Juni, waren wir mit erheblichen Angriffsvorbereitungen beschäftigt. Der ursprüngliche Invasionstermin musste mehrfach verschoben werden.

Erst am 5. Juli begannen wir das Unternehmen „Zitadelle,“ die Schlacht im Kursker Bogen. Als Richtschütze in einem der über 600 Panther und Tigerpanzer sollten wir von Norden kommend, ein 50 Kilometer breites und 40 Kilometer tiefes Stellungssystem überwinden. Doch das was uns hier erwartete, war schlimmer als der Vorhof zur Hölle. Wir gerieten in ein noch nie erlebtes Sperrfeuer. Ein Vormarsch war auch wegen des Versagens der neuen Wunderpanzerwaffe „Goliath“ nicht möglich. Dieser kleine, unbemannte, ferngelenkte Sprengpanzer sollte in den gegnerischen Stellungen für große Unruhe sorgen. Leider gab es Steuerungsprobleme, die es dem Gegner leicht machten, ihn zu zerstören. Dazu kamen Nachschubschwierigkeiten mit dem Treibstoff. So konnte uns die 6. Luftflotte auch aus der Luft nicht mehr unterstützen. Mehr und mehr Panzer in unseren Reihen fielen den russischen Abwehrverbänden zum Opfer. Mitte Juli kam das Gerücht der Alliierten Landung auf Sizilien auf und schwächte auch noch die Moral der Truppe. Das Unternehmen Zitadelle war gescheitert. Wir wurden nach Norden, zum Orel Bogen in Marsch gesetzt, um der dortigen 2. Panzerarmee zur Hilfe zu kommen. Die Aktion gelang und die Befreiten schlossen sich mit unseren Resten zusammen. Mit vereinten Kräften gelang es uns, den Gegenangriff des Iwans nach leichten Geländeverlusten zu stoppen. Dennoch, die Schlacht im Kurker Bogen war verloren. Die 9. Armee, zu der auch meine Division gehörte, war nun Generalfeldmarschall von Kluge in der Heeresgruppe Mitte unterstellt. Zwar mussten wir bis zum Herbst Smolensk und Gomel räumen, konnten aber unsere Stellungen im Großen und Ganzen halten.

Im Frühjahr 44 kam es jedoch zu einer gewaltigen russischen Offensive, bei der auch mein Panzer getroffen wurde. Mit drei Kameraden gelang es uns, den brennenden Tiger zu verlassen. Einer der Kameraden hatte Feuer gefangen und rannte orientierungslos in die falsche Richtung. Versuche, ihn unter Einsatz des eigenen Lebens zu stoppen, misslangen. Schreiend wälzte er sich am Boden und versuchte das Feuer zu ersticken, ehe er vielleicht auch absichtlich in das gegnerische Gewehrfeuer lief und schließlich tödlich getroffen zu Boden sank. Wir anderen entkamen unerkannt in einem nahen Waldstück.

Die ganze Division befand sich im kontrollierten Rückzug. Wir wurden auf andere Panzer aufgeteilt. Immer weiter wurden wir in Richtung Westen zurück getrieben. Ende 44 standen wir schließlich nahe der alten Ostgrenzen vor Kriegsausbruch. Aller Kampf war somit umsonst gewesen. Mehr noch, ein Ende dieses sinnlosen Krieges war nicht in Sicht. Nun galt es nur noch, Heimatboden zu verteidigen. Bis hierher war es uns auch nicht sonderlich schwer gefallen, auf unserem Rückzug verbrannte Erde zu hinterlassen. Aber nun alles zu zerstören, was einst durch deutsche Hand mühsam geschaffen wurde, damit es dem Feind nicht in die Hände fiel, war fast unzumutbar. Mittlerweile wurden die Luftangriffe der Alliierten immer intensiver Schossen wir einen T 34 Panzer ab, rückten an seiner Stelle zwei neue nach. Die Übermacht des Gegners wurde immer deutlicher. Treibstoffmangel sorgte im Februar sogar dafür, dass wir unseren Tiger aufgeben mussten.

Da für uns und viele andere Kameraden kein technisches Gerät mehr verfügbar war, wurden alle versprengten Truppenteile im neu ausgerufenen Volkssturm gesammelt. Als Unteroffizier unterwies ich nun jeden waffenfähigen Mann in der Handhabung von Karabiner, Maschinenpistole oder Panzerfaust. Mir wurden 5 Freiwillige unterstellt und ich bekam den Befehl, mich an Sicherungsmaßnahmen, direkt vor den Toren Berlins, zu beteiligen. Mit einem Pritschenwagen wurden wir und eine andere Gruppe nach Norden vor die Stadt gefahren. Als Teil der Berliner Garnison unter Oberst Weitling, hatten wir den Auftrag, uns bei Eberswalde einzugraben und mit unseren MGs und nur einer Panzerfaust die russischen Panzer aufzuhalten.

Es war Ende April und der Boden war immer noch frostig. Jeder Hieb in die Erde ließ unsere Hände erbeben. Tiefer immer tiefer mussten wir uns in den Schoß der Mutter Erde graben, um vollständig darin Schutz zu finden. Der immer lauter werdende Geschützdonner der immer näher kommenden Panzerverbände beflügelte unsere Grabungen. Jeder von uns hatte sich ein sogenanntes Einmannloch gewühlt und schlüpfte nun in der Hoffnung, sich nicht das eigene Grab geschaufelt zu haben, hinein. Von uns sechs war ich der einzige mit direkter Kampferfahrung. Wie würden die Anderen bei Sichtkontakt mit dem Iwan reagieren?

Es blieb keine Zeit, um diesen Gedanken zu vertiefen. Schon rollten die ersten T 34 auf unsere Stellung zu. Es waren drei! Bis jetzt hatten sie uns nicht bemerkt. Ich wies die Kameraden an, sie erst in Schussweite kommen zu lassen. Auf mein Kommando schossen wir aus allen Rohren. Mit meiner Panzerfaust traf ich den ersten der genau auf uns zu rollenden T 34 an der Seite. Es zerschlug ihm die linke Kette. Die Russen antworteten mit Granaten. Durch einen Volltreffer wurden zwei Mann getötet und zwei weitere verletzt. In Anbetracht der Ausweglosigkeit der Situation und um der Verletzten willen, beschlossen wir auf Zuruf, uns der Übermacht zu ergeben. Mit Hilfe eines weißen Taschentuchs, welches ich an dem Lauf meines Karabiners befestigte, versuchten wir dem Iwan unsere Aufgabe zu signalisieren. Vorsichtig warfen wir unsere Waffen aus den Gruben und harrten hoffnungsvoll der Dinge, die da kamen. Der Feind stellte den Beschuss ein. Ich krabbelte als Erster aus meinem Loch und hielt die Hände über meinen Kopf. Die Anderen folgten erst als klar war, dass nicht auf mich geschossen wurde. Langsam, mit erhobenen Händen gingen wir auf das grelle Licht der Scheinwerfer zu. Sechs Russen, ihre Kalaschnikows im Anschlag, nahmen uns in Empfang. „Weuna raspitjie!“ Krieg kaputt.

3. Kapitel

Jetzt erst drehte ich mich zu Karl und sah, dass er eine blutende Wunde an der Stirn hatte. Granatsplitter hatten ihn getroffen. Noch schlimmer hatte es Rudi erwischt. Er war am Hals verletzt und blutete stark. Die linke Hand, mit der er die Wunde abzudecken versuchte, war Blut getränkt. Jürgen und mir ging es besser. Wir hatten nichts ab bekommen. Heinz Bremer und Helmut Müller waren neben uns in ihren Stellungen tödlich getroffen. Das war den Worten der beiden gerade zurückkommenden Russen, deutlich zu entnehmen, auch ohne deren Sprache zu beherrschen. Außer ihrer Namen, die ich mir vorsichtshalber, aufgeschrieben hatte, um die Angehörigen benachrichtigen zu können, blieb mir nichts von ihnen in Erinnerung. Zu kurz war die gemeinsame Zeit. Zwei Russen begannen nun uns auf das Genaueste zu filzen. Die anderen hielten uns weiterhin in Schach. Sie suchten nicht nur nach versteckten Waffen, sondern vor allem nach Wertgegenständen aller Art. Als sie ihre akribische Suche eingestellt hatten, wurden wir von einer Eskorte in östliche Richtung zu einem Sammelplatz getrieben. Nach etwa einer Stunde kamen wir an einem halb zerbombten Landbauernhof an. Wir wurden zu einem Dutzend anderer Kriegsgefangener in eine Scheune gesperrt.

Rudi musste von Jürgen und mir den ganzen Weg über gestützt werden. Seine Halswunde hatten wir mit einem Schal und einem Stofffetzen abgedeckt. Im spärlichen Licht der Scheune war nicht viel vom Ausmaß der Verletzung zu erkennen. Außer ihn vorsichtig in die kärglichen Strohreste zu legen, blieb uns im Moment nichts zu tun. Auch wir legten uns nun in den Staub des Lehmbodens und versuchten zu schlafen. Wer wußte schon, was der neue Tag uns bringen würde. Tausend Gedanken das Richtige getan zu haben, gingen mir da durch den Kopf. Aber hatte ich nicht auch meiner kleinen Gruppe über Verantwortung zu tragen? Bevor ich schließlich doch irgendwann in den Schlaf hinüberglitt, musste ich auch an Emmi denken und an die viel zu wenigen aber so schönen Stunden, die wir zusammen hatten. Sollten jemals weitere folgen? Halb im Unterbewusstsein nahm ich noch das Gelächter der russischen Türposten war. Dann schlief auch ich.

Als der Morgen graute, wurden wir höchst unsanft aus dem Schlaf gerissen. An der Pferdetränke sollten sich immer vier von uns waschen. Endlich konnte ich mir Rudis Wunde ansehen. Ein Splitter hatte sich in seinen Hals gebohrt. Er musste dringend entfernt werden. Der Wachposten rief nach einem seiner Kameraden und deutete auf Rudi. Dieser sah sich die Wunde an und befahl dem Posten etwas zu holen. Nach einigen Minuten kam der mit Verbandszeug und einer Flasche Wodka zurück. Er nahm sein Messer aus der Scheide, desinfizierte es mit dem Wodka, nahm selbst einen kräftigen Schluck, wies uns an, den Kameraden fest zu halten und holte kurzerhand den Splitter mit Hilfe seines Messers aus der Wunde. Rudi schrie und bäumte sich kurz auf, um im nächsten Moment das Bewusstsein zu verlieren. Der Iwan blieb ganz ruhig, ließ sich ein Stück Binde geben, tränkte diese mit Wodka und verband Rudis Hals damit. Eine zweite Binde zum Wechseln übergab er an mich. Dann gab es endlich etwas zu Essen. Für jeden gab es Brot und Kapustasuppe. Wenig später kam eine weitere Gruppe Gefangener auf den Hof. Es dauerte nicht lange und unser gesamter Tross, von nun etwa 30 Männern, marschierte in das nächste, größere Lager ab. Jürgen und ich nahmen den inzwischen wieder zu sich gekommenen Rudi in unsere Mitte und trugen ihn so, die etwa 10 Kilometer.

Nach dem Eintreffen wurden wir als erstes wieder gefilzt und dann registriert. Beim anschließenden Verhör übersetzte ein Dolmetscher. Unter anderem wurde nach der Mitgliedschaft in der NSDAP gefragt. Wir mussten den Oberkörper frei machen und dann wurden die Innenseiten unserer Oberarme genaustens untersucht. Bei SS Angehörigen ist hier die Blutgruppe eintätowiert. Jedes abgelegte Kleidungsstück wurde nochmals untersucht. So begutachtet, wurden wir in das Sammellager entlassen. Hier waren etwa 500 Gefangene eingepfercht. Deutsche Offiziere waren eingesetzt, um für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Wieder gab es eine warme Suppe, diesmal sogar mit Fleisch und natürlich wieder mit Brot. Anschließend wurden wir in Gruppen abgezählt und der Aufbruch ins nächste Lager stand bevor. Genau wie vor fast vier Jahren, kam ich wieder durch ausgebombte Dörfer. Nur waren es diesmal deutsche Höfe, die dort brannten. Keine Menschenseele war zu sehen. Gegen Abend trafen wir in irgendeinem weiteren Gefangenenlager ein. Wir beschlossen, nach Möglichkeit zusammen zu bleiben. Was bei einer Masse von 10000 oder mehr Menschen sicher nicht leicht war. Hier blieben wir nun einige Wochen. Am 9. Mai ging die Nachricht der Kapitulation wie ein Lauffeuer durch das Lager. Alle drängten zum schwarzen Brett an einer der Baracken, um es mit eigenen Augen zu sehen. Was alle befürchtet oder erhofft hatten, war nun Wirklichkeit geworden. Es gab Tränen, Wut und Trauer unter den Umherstehenden. Ich war einfach nur froh, dass nun bald alles vorbei sein würde und ich zu meinen Lieben könnte.

Etwa eine Woche später wurden alle aus unserer Baracke, die noch einigermaßen gesund schienen, wieder in Marsch gesetzt. Karl, Jürgen und ich marschierten zusammen. Rudi blieb im Lager zurück. Was aus ihm geworden ist, kann ich nicht sagen. Ich habe ihn nie wieder gesehen. Die Bewachung unserer aus etwa 500 Gefangenen bestehenden Kolonne war scharf. Auf 10 „Weuna plenny“ Kriegsgefangene kam ein Iwan. Sie drängten zur Eile, denn der Weg war weit. Vielen Kameraden war das Tempo zu hoch, oder sie bluteten in ihren Stiefeln so stark, dass sie sich etwas auf den Panjewagen erholen durften. Gegen Abend schleppten wir uns völlig entkräftet durch das Lagertor von Neudamm. Nach dem Essenfassen durften wir uns auf die angewiesenen Pritschen schlafen legen. Es sind zwei oder dreistöckige Holzpritschen auf denen jeder einzelne nicht mehr als 40 Zentimeter Breite an Platz hatte. So lagen dann 20 und mehr Gefangene dicht gedrängt neben einander und versuchten so gut es eben ging mit den neuen Lebensumständen zurechtzukommen.

Gleich am nächsten Tag mussten wir zur körperlichen Begutachtung. Hierfür mussten sich alle komplett nackend ausziehen und sich den geübten Griffen eines Arztes und dessen Gehilfinnen stellen. Auf Grund unseres Gesundheitszustandes wurden wir in verschiedene Gruppen klassifiziert. Jürgen und ich wurden mit gewissem Stolz in die Klasse eins gemustert. Uns wurden die schwersten Arbeiten aufgebürdet. Karl, den wir auch Professor nannten, kam in die Gruppe drei für leichte Arbeiten. Die Gruppe der Einser wurde nun oft für Arbeitseinsätze außerhalb des Lagers genutzt. Wir mussten ganze Häuser für die russische Kommandantur herrichten, Fabrikanlagen demontieren oder ähnliche Arbeiten verrichten. Das Mehr an Nahrung, welches wir für unser Mehr an Arbeit in Empfang nahmen, konnte den Substanzverlust unserer Körper nicht ausgleichen. Anfang Juni hieß es dann schon wieder Sachen packen. Viel war zwar nicht zu packen, aber dennoch war es jedes Mal schon wegen des bevorstehenden Fußmarsches, äußerst strapaziös. Unser neues Ziel war mehr als 40 Kilometer weit entfernt.

Karl, Jürgen und ich blieben auch weiterhin zusammen. Der Marsch in glühender Hitze war mehr als eine Tortur. Aber das Lager war das bisher beste. Sogar die Toiletten waren in einem guten Zustand. Auch hier wurden Jürgen und ich zu körperlich schweren Arbeitseinsätzen abkommandiert. Noch schlechter traf es etwa 400 Kameraden, ebenfalls alles Einser, die zum Abriss einer kompletten Eisenbahnlinie eingesetzt wurden. Wir mussten statt dessen die Chemieanlagen von AGFA abbauen und auf Güterzüge verladen.

Das Leben im mit etwa 40000 Kriegsgefangenen voll ausgelasteten Lager bedarf gewisser Regeln, denen sich keiner entziehen kann. Sauberkeit ist hier höchstes Gebot. Wer sich nicht daran hält, bekommt die Ablehnung der Anderen zu spüren. Das kann schrecklich sein! Nach geleisteter Arbeit blieben oft noch einige Stunden zum Spielen mit selbst gebauten Schachbrettern oder gemalten Karten. Sogar an Kultur wurde gedacht. Ein Chor der russischen Armee sang Lieder aus der Heimat.

Ende Juli, noch vor dem Morgengrauen, weckte mich Lärm auf der Straße am Lagerzaun. Eine große Zahl von Sowjets war dort angetreten. Nach der Morgensuppe wurde ein neuer, noch größerer Arbeitstrupp von Einsern zusammengestellt. Es waren diesmal sicher über Tausend! Ich dachte an die Eisenbahnlinie von Berlin nach Warschau und an den Zustand, in dem die anderen Einser bei ihrer Rückkehr ins Lager waren, nachdem sie die Bahnlinie von Soldin nach Arnswalde abgerissen hatten. Dann hieß es Abschied nehmen von Karl und all den anderen, mit denen wir uns in der kurzen Zeit unseres Aufenthalts angefreundet hatten. Wir versprachen uns zu schreiben und winkten uns ein letztes Mal zu. Der Zug von Einsern hatte sich in Bewegung gesetzt. Es ging das Gerücht um, dass die Zurückgebliebenen bald entlassen würden. Im Bahnhof mussten wir Güterwaggons besteigen. Die Fahrt ging nach Posen. Wir kamen uns wie Vieh auf dem Weg zum Schlachthof vor. In einer Ecke des Waggons stand ein Blechkasten und neben ihm ein Sack mit Kalk. Das war während der ganzen Fahrt unsere Toilette. Da wir in so großer Zahl eingepfercht waren, konnten sich nur die schwächsten von uns auf den Boden setzen. Rings um den Blechkasten standen die Männer mit Durchfall. Denn obwohl der Weg nicht weit war, so war ein Durchkommen recht langwierig. Am Abend trafen wir in Posen ein. Das Lager war scharf bewacht. Die Übernachtungsbaracken ebenfalls. Allerdings von Millionen von Wanzen, die jeden Quadratzentimeter bedeckten. Wir zogen es vor, die Nacht in möglichst großer Entfernung zu den Baracken im Freien zu verbringen.

Gegen Morgen dann Schüsse! Wie sich später herausstellte, hatten zwei SS Offiziere zu fliehen versucht. Ihre Körper hingen den ganzen Tag zur Abschreckung leblos im Stacheldraht. Nach einer schlaflosen zweiten Nacht im Regen, ging es Gott sei Dank am nächsten Morgen weiter mit der Bahn nach Osten. Nur noch 44 Kameraden konnten sich einen Waggon teilen. Damit hatte jeder von uns ein Anrecht auf einen Liegeplatz. Wir suchten uns gegenseitig nach Wanzen und anderem Ungeziefer ab. Bis auf ein paar Eiablagen und einigen wenigen Tierchen, die sofort unschädlich gemacht wurden, war auch im Gepäck und den Uniformen nichts zu finden. Erst gegen Abend wurde die zweite Mahlzeit ausgegeben. Pro Wagen einen 20 Liter Eimer mit Suppe und Brot. Den Darm konnten wir während der Rast am Bahndamm endlich halbwegs vernünftig entleeren. Dann ging die Fahrt weiter. Aus dem vergitterten Waggonfenster heraus, konnte ich den Flusslauf des Bug erkennen. Jenes Gebiet, durch das unser Panzer im Juni 41 rollte, um am Unternehmen Barbarossa teilzunehmen. Das aber war jetzt schon Geschichte. Hier nun rollten wir zwar in die gleiche Richtung, ebenfalls auf Moskau zu, aber diesmal wahrscheinlich, um das zerstörte Land wieder aufzubauen. Aber dann, kurz vor Moskau, ging die Fahrt plötzlich nach Süden und erst hinter Tula erst wieder nach Osten. Nun ging es in Richtung Schwarzes Meer. Mitte August war unser Zielort erreicht. Unser Zug hielt in Wolsk an der Wolga. Dies also sollte während der nächsten Monate unser Zuhause sein. Schon als wir den Zug bestiegen und er in östliche Richtung davon fuhr, wussten wir, dass der Wunsch nach Heimat für lange Zeit unerfüllt bliebe.

4. Kapitel.

Wir hätten es wesentlich schlechter treffen können. Das Lager in Wolsk war mit dem Platz für nur 200 Gefangene total überfüllt. Das größte von fünf Lagern in der Umgebung war Saratow. 350 Plätze gab es in Engels, der ehemaligen Hauptstadt der deutschen Wolgarepublik. Außerdem gab es zwei etwa 100 Kilometer entfernte Waldlager. Bis zur Aufteilung, in ein paar Tagen, mussten sich alle Gefangenen das eine Lager in Wolsk teilen. Die Latrine war ein einfacher Erdbunker mit 16 runden Öffnungen in der Oberplatte. Wasserleitungen waren nicht vorhanden. Das kostbare Nass musste mit Pferdewagen herangeschafft werden. Nach dem ersten Essen mussten wir alle zum Appell antreten. Der deutsche Lagerleiter, Oberstleutnant Kolbe, erklärte uns den Tagesablauf. Nach der Morgensuppe war um 7 Uhr Abmarsch der Arbeitsgruppen. Unsere Hauptmahlzeit bekamen wir um 19 Uhr. Geschlafen wurde um 22 Uhr. Sonntags war arbeitsfrei. Danach suchte sich jeder einen Schlafplatz. Bis zur Aufteilung des Lagers machte ich mir unter freiem Himmel eine Schlafstatt zurecht.

Am nächsten Morgen folgte schon der erste Arbeitsappell. Eine Maurerkolonne wurde gesucht. Dreißig Mann! Jürgen und ich meldeten uns sofort freiwillig und wurden genommen. Andere sollten Schiffe beladen oder waren auf Handwerksbetriebe verteilt. Die meisten Gefangen gingen in die Landwirtschaft.

Wenig später marschierte unsere Kolonne, von nur einem Posten bewacht, durch die Stadt. Unser erster Arbeitseinsatz befand sich fast am Ende von Wolsk. Im Gegensatz zu den meisten anderen Häusern, die aus Holz und Lehm erbaut waren, sollte dieser Neubau aus roten Ziegeln entstehen. Für Jürgen als gelernten Maurer, gab es keine Probleme. Ich dagegen hatte in der Heimat nur dann und wann mit Bauhilfsarbeiten etwas dazu verdient. In der ersten Zeit war es nicht leicht, den von mir verlangten Arbeiten gerecht zu werden. Vor allem gab es ständig Übersetzungsprobleme, die dazu führten, dass Jürgen und ich in kürzester Zeit die wichtigsten russischen Wörter erlernten.

Durch die Abgänge in die anderen Lager hatte sich das Leben in Wolsk normalisiert. Wir schliefen nun, immer noch etwas beengt, in den Erdbunkern. Hier befanden sich ebenfalls das Büro des Dolmetschers und die deutsche Lagerleitung. Die Liegefläche auf den doppelstöckigen Schlafgestellen betrug 40 cm pro Mann. Bei einer Gesamtbreite von 4 Metern mussten also 10 Personen nebeneinander liegen. Als Unterlage dienten Bretter. Selbst an solche lebensfeindlichen Umstände gewöhnt sich der Mensch recht schnell. Immerhin hatte es den Vorteil, dass die Kameraden, die innen lagen, von zwei Seiten gewärmt wurden. Als Nachteil blieb die rasend schnelle Ausbreitung von Krankheiten und Ungeziefer unter den Häftlingen zu erwähnen.

Nach einigen Wochen des Einlebens, war es Oktober und Väterchen Frost hielt Einzug. Über Nacht fielen 20 cm Schnee. Das hatte leider auch das Einfrieren unseres Waschplatzes zur Folge. Also blieb zum waschen nur der Schnee! Während der ersten, noch nicht ganz so kalten Wintertage, wurde unsere Maurerkolonne mit Putz und Ausbauarbeiten in den leicht beheizten Innenräumen beauftragt. Nach einigen Tagen zeigte das Thermometer bereits 20 Grad Kälte an und auch diese Arbeiten mussten eingestellt werden.

Mit unseren deutschen Sommeruniformen konnte man sich gegen die beißende Kälte kaum mehr schützen. Jürgen und ich kamen nun in eine Sägewerkskolonne. Die Arbeit an der Säge war hart, aber durch die größeren Brotrationen immer noch besser, als der Innendienst. Hier wurden nur die Geschwächtesten und Kranken eingesetzt. Durch die geringeren Essensgaben ging es ihnen zusehends schlechter. Die unausweichliche Folge waren Lazarett und schließlich russische Erde.

Zur großen Freude aller wurden wir Ende Oktober in russischer Winteruniform neu eingekleidet. Diese wattierten Hosen und Jacken brachten große Erleichterung. Auch als das Thermometer im November unter Minus 30 Grad fiel, hielten uns die Filzstiefel noch halbwegs warm. Man musste nur stets in Bewegung bleiben. Die Wolga war längst zugefroren und der Fährbetrieb längst eingestellt. Selbst die Wasserstelle, von der uns die Wasserwagen stets versorgten, war nur noch unter größten Strapazen zu erreichen. Den Kameraden in den beiden Waldlagern musste es bei diesen Schneemassen noch bedeutend schlechter gehen. Auf dem Weg zum Sägewerk mussten wir durch die ganze Stadt. So kamen wir hier und da auch mit den Einheimischen in Kontakt. Zu meiner großen Überraschung waren uns die Russen, trotz des Krieges, kaum feindselig eingestellt. Im Gegenteil!

Auch im Sägewerk, wo einige deutsche Maschinen schon über 20 Jahre lang ihren Dienst taten, ohne auch nur einmal zu murren, lobten sie die deutsche Gründlich - und Zuverlässigkeit. Dank einiger Materialien aus russischen Volkseigentum, die wir auf dem Bazar gegen Brot eintauschten, gelang es uns, die dürftigen Essensrationen aufzustocken und so bei Kräften zu bleiben. Indes machten uns des Nachts, die vielen Ratten in unserem Erdbunker sehr zu schaffen. Dem einen oder anderen Kameraden wurde da des Nachts, schon mal ein Ohr angefressen. Keine Liegefläche war vor ihnen sicher. Ende März hatten wir es geschafft, der Winter lag hinter uns! Die Wolga, die eben noch zugefroren war, hatte über Nacht ihren Eispanzer abgelegt und war zu einem reißenden Strom geworden. So schnell der Winter gekommen war, so schnell ging er auch wieder. Straßen und Plätze standen unter Wasser. In den Mulden bildeten sich kleine Seen. Der noch gefrorene Boden konnte die Wassermassen noch nicht aufnehmen. Wie schon befürchtet, hatte der Winter in den beiden Waldlagern mit unerbittlicher Härte zugeschlagen. Von den etwa 800 Kameraden, die im letzten Sommer voller Zuversicht in die Lager aufgebrochen waren, lebten gerade noch 100! Sie hatten keine neuen Uniformen erhalten und waren auch von Versorgungsmöglichkeiten abgeschnitten. Besonders schlimm war es im Waldlager 2 zugegangen. Von dort kamen nur noch 25, dem Tode nahe, in unser Lager zurück.

Jürgen und ich wurden wieder den Maurern zugeteilt. Den ganzen Sommer über bauten wir mit den gerade vorhandenen Materialien, Haus um Haus, ohne jedoch eines auch nur ganz fertig zu bekommen. Dies also sollte in der folgenden Zeit mein Leben sein. Doch im Winter 47 geschah die zweite Katastrophe. Ein unheimlicher Grippevirus raffte einen nach dem andern dahin. Es gelang den Lagerärzten nicht, der Seuche Herr zu werden. Im Frühjahr waren von den einstmals in Wolsk angekommenen 1300 Kriegsgefangenen, nur noch 20 Prozent am Leben. Auch das Lager Engels war längst aufgelöst worden. Gott allein weiß, warum Jürgen und ich von alle dem verschont blieben.

Juli 47 wurden die Gefangenenlager Wolsk und Saratow aufgelöst. Wieder ging es mit der Bahn in ein anderes Lager. Nun hatte uns das Schicksal also doch in eines der Kohlegrubenlager des Donezbeckens verschlagen. Unser Arbeitsplatz war in einer der miesesten Gruben. Mit einer Kohlengrube im Ruhrgebiet hatte sie nicht viel gemein. Einen Förderturm suchte man hier vergebens. Die Kumpel gingen durch einen schräg, in den Berg getriebenen Stollen zu ihrem Arbeitsplatz. Ihnen entgegen kamen die vollen Förderwagen, die mittels Haspel hochgezogen wurden. Es wurde in drei Schichten Akkord gearbeitet. Auf einer der Sohlen gab es ständig Wassereinbruch. Nach etwa 2 Monaten hatten Jürgen und ich uns auch an diese schwere Arbeit gewöhnt. Glücklicherweise wurden wir auch hier nicht getrennt und konnten uns so gegenseitig helfen. Das Lager in Kuibyschew war bis auf die Wanzen, die allerdings in unglaublicher Zahl, fast wie eine Strafe Gottes, vorhanden waren, das bisher Beste. Die Verpflegung war natürlich auch hier äußerst knapp bemessen. Aber immerhin gab es für das wenige, das es gab, einen richtigen Speiseraum. Vier lange Jahre sollte das nun mein zu Hause sein. Wahrscheinlich wäre es dies noch viel länger gewesen, wenn ich nicht im Oktober 51 einen Arbeitsunfall gehabt hätte.

Es war in der Frühschicht. Natürlich konnte dem russischen Steiger mal wieder alles nicht schnell genug gehen. Beim Nachrutschen der Kohle aus einem schräg nach oben getriebenen Abbauflöz fiel diese auf die Gleise und versperrte dem Förderwagen die Durchfahrt. Drei Kumpel versuchten es mit Gewalt. Ich stand seitlich vor dem Wagen und versuchte mit der Schaufel die Kohle zwischen den Achsen weg zu bekommen. Plötzlich setzte sich der Wagen in Bewegung. Einer der Brocken hebelte dabei die Vorderachse aus der Schiene und der Hund kippte in meine Richtung. Ich warf mich zwar noch zur Seite, bekam aber wegen des geringen Platzes an dieser Stelle mein linkes Bein nicht mehr weg. Meine Knochen krachten förmlich. Dann ein stechender Schmerz. Mit Hilfe der Kanthölzer wurde der Wagen angehoben und ich darunter weggezogen. An äußeren Verletzungen war nicht viel zu sehen. An zwei, drei Stellen etwas Blut, sonst nichts. Dafür wurde mein Bein von Minute zu Minute, dicker und dicker. Ich wurde auf einem Förderwagen nach oben gezogen und sofort in unser Lager gefahren. Der Lagerarzt bestätigte meine Befürchtungen. Das Bein war gebrochen! Er ordnete die Überweisung in ein Hospital an.

Am späten Nachmittag, nach einer beschwerlichen, äußerst schmerzhaften Fahrt über Straßen voller Schlaglöcher, hatten drei weitere Verletzte und ich auch diese Strapazen hinter uns gebracht. Eine russische Krankenschwester half mir dabei, mich meiner gesamten Kleidung zu entledigen. Am ganzen Körper wurde ich rasiert und schließlich desinfiziert. Nach dem Röntgenbild wurden die Knochen gerichtet und das Bein eingegipst. Gegen Morgen schob mich ein Pfleger in Uniform in den Krankensaal. Hier standen etwa 60 Betten, in denen etwa 100 Patienten untergebracht waren. Nur die schwersten Fälle hatten das Privileg, ein ganzes Bett allein belegen zu dürfen. Mein Mitbettbewohner war Fritz Rademayer aus Berlin. Auch ein Arbeitsunfall. Nach 3 Wochen wurde ich ein weiteres Mal geröntgt. 2 Wochen später wurde ich mit Gips entlassen und dem Lagerlazarett zugewiesen. Nach einer weiteren Woche wurde er abgenommen. Aber auch Tage danach, hatte ich beim Gehen noch Schmerzen. Meine Arbeiten im Innendienst konnte ich kaum erledigen und so ordnete der Lagerkommandant am 10. Dezember schließlich meine Entlassung aus der Kriegsgefangenenschaft an. Als mir die deutsche Lagerverwaltung am Vortag von meiner bevorstehenden Entlassung berichtete, wollte ich es zunächst kaum glauben. Was würde wohl nun aus Jürgen werden? Er stand leider nicht auf der Liste der zu Entlassenden. Doch dann war es wirklich so weit. Etwa 30 Gefangene verließen das Lagertor in Richtung Bahnhof. Am Zaun stand Jürgen und hatte Tränen in den Augen. Wir winkten uns zu und auch ich hatte einen dicken Kloß im Hals. Ob wir uns je wieder sehen würden?

Am 15. Dezember erreichte der Zug die russisch- polnische Grenzstation Brest. 3 Tage später fuhr er in Frankfurt an der Oder ein. Hier endete unser Transport. Alle Entlassenen, auch die aus den anderen Lagern, insgesamt über 100, wurden auf das Beste versorgt und nach ihrem Geburts oder Heimatort befragt. 8 von 10 entschieden sich für die Weiterfahrt in den unter westlicher Verwaltung stehenden deutschen Teil. Am 19. Dezember 1951 ist meine Odyssee im Aufnahmelager Friedland fürs erste beendet.

5. Kapitel

Endlich wieder in Freiheit! Deutsches Essen, ein warmes Bad nehmen und zivile, saubere Kleidung tragen. Wie sehr hatte ich mich danach gesehnt, wie lange darauf verzichten müssen? Das Rote Kreuz versorgte uns mit allem Nötigen. Schon am Tag unserer Ankunft wurden wir registriert und die Namen der Angehörigen aufgenommen. Während der nächsten Wochen unseres Aufenthaltes wollte das Rote Kreuz nach ihnen suchen. Auch in den Gängen des Aufnahmelagers hingen Tausende von Suchmeldungen verzweifelter Menschen, die noch hofften. War unser Zug mit über einhundert Spätheimkehrern nicht Nahrung für ihr Hoffen? Viele rührende Szenen sich wieder findender Menschen, spielten sich an den nächsten Tagen im Lager ab. Doch von Tag zu Tag wuchs die Angst in mir, selber niemanden mehr zu haben. Die Wochen vergingen und ich erholte mich zusehends. Jeden Morgen hatte ich ungeduldig auf Post von meinen Lieben gewartet, dann die Bitte zur Lagerbetreuung zu kommen. Ich erhielt die Mitteilung, dass Mutter bei einem der letzten Bombenabwürfe auf Braunschweig ums Leben gekommen sei. Das Haus, in dem ich so viele glückliche Jahre meiner Kindheit verbracht hatte, existierte nicht mehr. Von Emmi hatte man nur in Erfahrung bringen können, dass sie nach Süddeutschland gegangen war. Ich brauchte einige Tage, bis ich diesen Verlust verkraftet hatte. Aber dann gab es kein Halten mehr. Ich wollte wenigstens Emmi finden. Vielleicht war es ja gar nicht meine Emmi, die da nach Süddeutschland gegangen war? Vielleicht lebte sie ja noch immer in Braunschweig und wartete auf meine Rückkehr? Da Braunschweig nun unweit der neuen innerdeutschen Grenze lag, war die Stadt in den ersten Nachkriegsjahren geradezu überlaufen. Es bestand kaum Möglichkeit der Unterbringung. Dennoch hatte ich Glück und bekam vom Roten Kreuz eine Adresse in Wolfenbüttel.“

6. Kapitel

Während meiner Erzählung waren die Stunden wie Minuten vergangen. Herr Schuhmacher hatte mehrmals nachgeschenkt und seiner lieben Frau, als diese kurz herein kam um nach dem Rechten zu sehen, eine gute Nacht gewünscht. Nachdem ich nun am Ende meiner Ausführungen angelangt war, zeigte er sich sehr beeindruckt. „Ich hatte bereits einiges über russische Kriegsgefangenenlager gehört, aber das es so schlimm ist, dachte ich nicht. Danken Sie Gott, dass Sie mit dem Leben davon gekommen sind. Es ist spät geworden. Ich danke Ihnen für die Schilderung Ihrer letzten Jahre und hoffe, dass es Ihnen gelingt, sich im normalen Leben wieder zurechtzufinden. So fern es in meiner Macht steht, will ich ihnen gern dabei behilflich sein.“ „Ich werde mich bemühen, Ihr in mich gesetztes Vertrauen nicht zu enttäuschen.“ „Davon bin ich überzeugt. Das Wochenende sollen sie noch ausruhen und sich ein wenig einleben. Die Arbeit beginnt für Sie erst am Montag. Schlafen Sie gut; Kurt.“ „Danke Herr Schuhmacher, ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.“

Gleich am nächsten Morgen, nach dem Frühstück, welches in der Küche eingenommen wurde, machte ich mich auf den Weg zum Flüchtlingsamt. In Friedland hatte ich einen neuen Pass und Papiere bekommen, die ich dort vorlegen sollte. Nachdem alles erledigt war, beschloss ich mir die Stadt ein wenig anzuschauen. Eine Stadt, dicht bei Braunschweig, die ich von Schulausflügen und Ernteeinsätzen mit der HJ, bereits kannte. Diesmal hatte es das Schicksal wirklich gut mit mir gemeint. Das wiedergewonnene Gefühl von Freiheit hatte etwas Berauschendes. Ich eroberte Straße um Straße und erkannte vieles aus alter Zeit wieder. Der Krieg hatte hier Gottlob nicht viele Wunden geschlagen. Sicher war auch schon vieles verheilt. Die Blütenpracht der hier im Sommer zu Tausenden wachsenden Blumen und Gemüse muss die Bomberpiloten wohl gnädig gestimmt haben. Sogar Kinos und Geschäfte mit prall gefüllten Auslagen waren zu sehen. Die meisten Leute waren zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs. Aber auch einige Autos und Motorräder gab es schon wieder. Allerdings durchweg alles alte, reparierte Fahrzeuge. Der Winter meinte es in diesen ersten Januartagen recht gut mit denen, die auch zu dieser Jahreszeit draußen arbeiten mussten. Kein Vergleich zu dem harten russischen Winter! Die englische Besatzungsmacht schien allgegenwärtig. Ständig fuhren Jeeps der Militärpolizei oder Lastkraftwagen mit Tarnanstrichen an mir vorbei. Aber keiner verlangte nach meinen Papieren oder fragte, wohin ich wollte. Die Wolfenbüttler hatten sich scheinbar gut mit ihren Besatzern abgefunden. Für die Zeit bis zu meiner ersten Lohnauszahlung, hatte ich vom Flüchtlingsamt eine Art Überbrückungsgeld erhalten. In einem Edekaladen kaufte ich mir davon 500 Gramm fetten Speck für 2,10 DM und ein Kommissbrot für 80 Pfennig. Dazu leistete ich mir eine Flasche Bier, die ich gleich öffnen ließ. Den Speck ließ ich mir in feine Streifen zerschneiden. Nahe dem Theater lag ein Park mit einem wunderschönen Wasser. Hier ließ ich mich auf einer Bank nieder und genoss die warmen Sonnenstrahlen und die milden Temperaturen. Auf meinem Schoß hatte ich den Speck, dazu aß ich das Brot und trank mit großem Genuss die Flasche Bier. Ich schaute auf den kleinen See, der sich vor mir erstreckte und dachte an Emmi. Für Morgen hatte ich mir die Fahrt nach Braunschweig vorgenommen. Ich wollte mein Elternhaus, oder das was davon übrig war, mit eigenen Augen sehen. Vor allem aber wollte ich das Grab meiner Eltern besuchen. Vielleicht ließ sich auch noch etwas von Emmi in Erfahrung bringen.

Eine ganze Weile saß ich so da und schaute einem Angler zu. „Ist es nicht schon etwas spät fürs` Angeln?“ „Ach wissen Sie, das Fische fangen ist mir eigentlich gar nicht so wichtig. Beim Angeln kann ich so wunderbar entspannen, alles um mich herum vergessen. Wenn dann trotzdem mal einer beißt, freue ich mich um so mehr.“ „In diesen Jahren hat wohl jeder von uns etwas zu vergessen. Vielleicht sollte ich auch anfangen zu angeln?“ „Ich sitze oft hier, wenn Sie Lust haben, setzen Sie sich doch dazu. Eine zweite Angel habe ich immer dabei.“ „Vielen Dank für das nette Angebot. Ich werde sicher darauf zurückkommen.“ Die Sonne hatte ihre zu dieser Jahreszeit ohnehin nicht so hohe Bahn verlassen und war nun im Begriff langsam unterzugehen. Die so eben noch wärmenden Sonnenstrahlen waren verschwunden und ich konnte spüren, wie es langsam kälter wurde. Vielleicht noch eine Stunde, dann würde es dunkel sein. Zeit für mich, den Heimweg anzutreten. Bis in die Auguststadt war es noch ein weiter Weg. Etwa auf halber Strecke kam ich beim Bahnhof vorbei, wo ich auf die Standuhr schauen konnte. Dieses Städtchen hatte etwas beschauliches an sich. Es war kaum Hektik zu spüren. Einen der ältesten Bahnhöfe Deutschlands gab es hier. Die Zugverbindung nach Braunschweig war eine der Ersten. Wolfenbüttel war das Zentrum deutschen Gemüseanbaus. Eine Stadt, die ihre Blütezeit ohne Frage noch vor sich haben würde. Es war bereits 6 Uhr. In einer Stunde war Essenszeit. Erna hatte mir gesagt, dass Herr Schuhmacher großen Wert auf das gemeinsame Abendessen lege. Ich musste mich also etwas beeilen, um pünktlich zu sein. Schnell warf ich noch einen Blick auf den Fahrplan und setzte meinen Weg fort.

Genau wie gestern saßen alle Familienangehörigen sowie Erna und ich auf den gleichen Plätzen. Genau wie gestern war der sechste Platz wieder mit eingedeckt. Ich nahm mir vor, Erna bei Gelegenheit danach zu fragen. Auch heute wurde wieder über die Dinge des vergangenen Tages gesprochen. Eine Gewohnheit, die ich mit der Zeit zu schätzen lernte. Nach dem Essen saßen wir alle in der guten Stube zusammen. Herr Schuhmacher und ich spielten Schach und die Damen widmeten sich ihren Handarbeiten. Mein Brotherr bot mir bei der Suche nach Emmi seine Unterstützung an. „Ein Freund von mir ist im Flüchtlingsamt beschäftigt und mir noch einen Gefallen schuldig. Es wäre ja gelacht, wenn der auch nichts herausfinden würde. Ich werde mich gleich Anfang der Woche mit ihm in Verbindung setzen.“ Ich gab ihm das Schriftstück, welches mir das Rote Kreuz in Friedland bezüglich der Nachforschungen zukommen lassen hatte. Nach unserer zweiten Partie Schach, die fast zwei Stunden dauerte, zog ich mich in mein Zimmer zurück. Ich wollte für den schwierigen, vor mir liegenden Tag ausgeruht sein. Am nächsten Morgen traf ich dann beim Frühstück auf Gerda. Endlich eine gute Gelegenheit, um auch mit ihr ins Gespräch zu kommen. „Guten Morgen, Herr Menzel, haben Sie gut geschlafen?“ „Danke, sehr gut! Aber sagen Sie doch Kurt zu mir.“ „Aber nur, wenn Sie Gerda zu mir sagen!“ „Mit Vergnügen!“ „Sie wollen heute nach Braunschweig fahren?“ „Ja, ich möchte das Grab meiner Eltern besuchen.“ „Ein schwerer Gang, den Sie da vor sich haben. Dann wünsche ich Ihnen für heute alles Gute!“ „Vielen Dank!“ Auch nachdem sie gefrühstückt hatte, blieb sie am Tisch sitzen und leistete mir Gesellschaft. Mehr noch, sie machte mir sogar eine Stulle für den Tag und packte sie mir ein. Das ich noch den Rest vom Speck und dem Kommissbrot hatte, erzählte ich ihr nicht. Fräulein Schuhmacher hatte dunkelblondes Haar, welches sie nach hinten hochgesteckt trug. Sie war etwas blas und ein wenig zu dünn, was durch ihre Größe noch mehr hervorgehoben wurde.

Gegen 8 Uhr machte ich mich auf den Weg zum Bahnhof. Eine knappe Stunde später saß ich bereits auf einer der Holzbänke im Zugabteil und schaute auf die am Fenster vorbeihuschenden Häuser, Gärten und Felder. Das sah schon alles erheblich besser aus als auf den Fahrten durch Russland. Die Acker waren bestellt und die Häuser; die, sei es durch Kriegseinwirkungen oder nur ihres Alters wegen, in schlechtem Zustand waren, wurden wieder aufgebaut oder repariert. Das dumpfe, monotone Geräusch welches die Zugräder verursachen, wenn sie über die Gleisnahtstellen rollen, war jedoch das Gleiche. Keine 20 Minuten später fuhr die Dampflok mit einem grellen Pfeifton in den Braunschweiger Hauptbahnhof ein. Schon auf den letzten Kilometern meiner Fahrt hatte ich gesehen, dass der Krieg hier in der Innenstadt weitaus größeren Schaden verursacht hatte. Auch der Bahnhof, noch aus Kaisers Zeiten, einst mit herrlicher Ornamentverglasung, hatte arg gelitten. Zunächst führte mich mein Weg an das Grab meiner Eltern auf den Magnifriedhof. Ich ging die Oker entlang, vorbei an der Martinskirche und dem Dom. Aber auch vorbei an etlichen Ruinen. Einen Weg, den ich als Kind so viele Male gegangen war. Nur noch ein kurzes Stück, dann hatte ich es geschafft. Zu meinem Entsetzen hatten die Bomben auch vor dem Friedhof nicht halt gemacht. Ich hatte Mühe mich zurechtzufinden. Aber schließlich fand ich Vaters Grab. Neben ihm hatte auch Mutter ihre letzte Ruhestatt gefunden. Wie es auch damals schon üblich war, versuchte der Hinterbliebene nach dem Ableben des geliebten Ehepartners eine Doppelgrabstelle zu bekommen, um im Tode wieder mit ihm vereint zu sein.

Auf dem Grabstein stand unter dem Namen meines Vaters, außer Mutters Namen auch das Datum vom 8.2.45. Wer, wenn nicht Emmi, hatte zur Erfüllung Mutters letzten Wunsches Sorge getragen. Auch die in den letzten Jahren gewonnene Lebenserfahrung half mir nicht. Ich kam mir plötzlich verloren wie ein kleines Kind vor. Der Seelenschmerz in meiner Brust brannte heißer als jedes russische Feuer, welches ich in den Jahren meiner Gefangenschaft durchschritten hatte. Mutters Lachen aus einer glücklichen Vorkriegszeit, als wir gemeinsam mit Vater im Bürgerpark unsere Späße machten. Die Lieder, die sie mir vorsang, wenn sie mich zu Bett brachte, oder die Geschichten aus der Kaiserzeit, die uns Vater an langen Winterabenden erzählte, all das waren plötzlich nur noch schöne Erinnerungen. Was war nur aus all meinen Plänen geworden? Studieren wollte ich, und Brücken bauen. Geblieben war nur ein Handlanger auf dem Bau, der froh sein konnte, eine Arbeitsstelle gefunden zu haben! Aber dabei wollte ich es nicht belassen. Am Grab meiner Eltern schwor ich mir durch Fleiß und meiner Hände Arbeit eine bessere Zukunft aufzubauen. Ich schwor, ihnen keine Schande zu bereiten und mich um ihr Grab zu kümmern.

Wie ich so, tief in meinen Gedanken versunken, meinem Leben einen neuen Sinn zu geben versuchte, sah ich zwei oder drei Grabreihen weiter, eine Freundin der Familie. Ich hatte sie sofort erkannt und ging ihr nach, in der Absicht sie anzusprechen. Sie blieb vor einem Grab stehen und betete. Dann bückte sie sich, um die mitgebrachten Blumen gegen einen Strauß verwelkter zu tauschen. Ich blieb in einiger Entfernung zurück und wartete geduldig ab. Nach einer Weile wandte sie sich ab und kam genau auf mich zu. Erst als sich fast auf gleicher Höhe, unsere Blicke trafen, erkannte sie mich. „Bist du das, Kurt?“ „Ja Tante Berta, ich bin es wirklich!“ „Mein Gott du lebst! Nach so langer Zeit bist du zurückgekommen. Wo warst du nur all die vielen Jahre?“ „Der Russe hatte mich bis ans Schwarze Meer verschleppt. Aber bitte erzähle mir von Mutter und von Emmi.“ „Es gibt so vieles zu erzählen, am besten du begleitest mich nach Hause. Ich koche uns etwas Gutes zum Mittag und dann können wir bei einer guten Tasse Kaffee über alles reden.“ „Wohnst du noch in deiner alten Wohnung?“ „Glücklicherweise blieb unser Haus verschont. Aber viele andere in der Husarenstraße hat es erwischt.“ Auf dem Weg in die Stätte meiner Kindheit, fragte ich Berta wessen Grab sie auf dem Friedhof besucht hatte. „Stimmt, vom Tode meines Pauls kannst du ja noch gar nichts wissen. Ich habe ihn in den letzten Kriegstagen verloren. Bei dem Versuch, Plünderer von unserem Laden abzuhalten, ist er erschlagen worden. Es waren betrunkene englische Soldaten. Der Fall kam vor das Militärgericht und die Schuldigen wurden bestraft. Seither bekomme ich von den Engländern eine kleine Zusatzrente.“ „Das tut mir leid, ich mochte Onkel Paul sehr gern.“ Ein paar Schritte noch, dann wären wir da. Was würde mich an der nächsten Ecke erwarten? Welcher Anblick würde sich mir bieten? Mein Herz schlug mir bis an den Hals. Ich war sehr aufgeregt. Aber das Bild, welches sich mir nun bot, übertraf meine schlimmsten Erwartungen. An der Stelle, wo einst das Haus stand, in dem ich wohnte, war nur noch ein freier Platz. Der Lauf der Zeit hatte ihn schon größtenteils mit Grün überzogen. Etwa jedes vierte Haus stand nicht mehr. Die Gebäude dazwischen waren ebenfalls zum Teil erheblich in Mitleidenschaft gezogen. Sie waren zum Teil übersät mit Einschusslöchern. Nur größere Schäden hatte man notdürftig behoben. Erstes Ziel war es, so vielen Menschen wie möglich ein Dach über dem Kopf zu schaffen. Da waren Schönheitsreparaturen nebensächlich. Auch Bertas Wohnung, die in dem Haus, das dem unseren vis - a- vis lag, hatte einiges abbekommen. Der Kohleofen in ihrem Wohnzimmer sorgte für eine wohlige Wärme. Tante Berta übergab mir einige persönliche Sachen meiner Eltern. Sie hatte diese aus den Trümmern unseres Hauses gesammelt und für mich aufbewahrt. Mit feuchten Augen schaute ich die paar Fotos, den alten Kerzenleuchter aus geschmiedeten Stahl und die anderen Habseligkeiten durch. „Mehr war aus dem Schuttberg leider nicht zu bergen,“ sagte Berta, als sie mit den Tellern in der Hand wieder aus der Küche kam. „Ich bin dir für diese Sachen mehr als dankbar. So habe ich wenigstens ein paar Andenken.“

Es gab Pellkartoffeln mit Butter und eine echte Braunschweiger Mettwurst. Dann erzählte Berta von Mutter und den vielen Besuchen, die ihr Emmi bis zu jenem Unglückstag abgestattet hatte. Oft hatten die drei Frauen zusammen in Mutters Küche gesessen und über die Zukunft gesprochen. „Eines Nachts geschah dann das Unfassbare. Erst als die Alliierten Bomber am Himmel über der Stadt auftauchten, wurde Fliegeralarm gegeben. Natürlich viel zu spät! Eine der ersten Bomben traf euer Haus. Die Detonation überraschte Paul und mich in unserem Treppenhaus auf den Weg in den Keller. Fensterscheiben barsten, alles erzitterte und geriet ins Schwanken. Die Druckwelle schleuderte Glassplitter und Steine wie Geschosse durch die Luft. Keiner blieb davon verschont. Als sich der Staub gesetzt hatte, sahen wir erst, was geschehen war. Martha muss sofort tot gewesen sein. Sie war nicht, so wie viele Andere von den Trümmern begraben. Wir fanden sie als erste. Sie hat sicher nicht gelitten. Paul und ich haben dann mit Emmis Hilfe für ihre Bestattung gesorgt. Als wir uns vorhin trafen, war ich eigentlich gerade auf dem Weg zu ihr.“ „Ich bin Euch sehr dankbar! Wenn ich wieder zu Geld gekommen bin, mache ich es wieder gut.“ „Das brauchst du nicht, wir haben es gern getan. Deine Mutter war eine gute Frau, sie hat uns oft geholfen. Du musst dir jetzt erst einmal selbst wieder etwas aufbauen.“ „Ich wohne und arbeite in Wolfenbüttel bei einer Baufirma. Wenn es dir recht ist, komme ich dich von Zeit zu Zeit besuchen.“ „Das wäre mir sogar sehr recht.“ „Aber sag mir nun bitte, was du von Emmi weißt. Das Rote Kreuz gab mir Bescheid, dass sie nicht mehr in Braunschweig lebt.“ „Das ist leider wahr. Bis vor etwa 2 Jahren kam sie zweimal im Monat in beständiger Regelmäßigkeit. Sie half mir sehr über Pauls Tod und begleitete mich auch vor das Militärgericht. Bei ihrem letzten Besuch war sie in tiefer Trauer. Ganz plötzlich war ihr Vater gestorben. Woraufhin sie und ihre Mutter beschlossen, mit dem kleinen Michael nach Augsburg zu Verwandten zu gehen. Da von dir seit über 5 Jahren kein Lebenszeichen mehr gekommen war, musste man das Schlimmste annehmen.“ Völlig verdutzt fragte ich: „Wer ist Michael?“ „Wieso. Weißt du nichts von deiner Vaterschaft? Haben dich denn Emmis Briefe an die Front nicht mehr erreicht?“ „Nicht einer!“ „Dann wird mir nun natürlich so manches klar. Bevor eure Verbindung abriss, hatte Emmi 2 Briefe von dir erhalten. In ihrer Antwort schrieb sie dir von ihrer Schwangerschaft und wartete sehnsüchtig auf deine Reaktion. Doch dann hörte sie nichts mehr von dir. Glaub mir, sie hat nie aufgehört, an deine Rückkehr zu glauben, aber die Not hier und das Wohl des Kindes trieben sie zu dem Entschluss nach Augsburg zu gehen.“ „Hast du die Adresse?“ „Emmi hat sie mir aufgeschrieben. Es tut mir so leid, aber als die Wohnung im letzten Jahr ausgebessert wurde, ist der Zettel abhanden gekommen. Ich habe überall nach ihm gesucht. Er ist weg! Aber die Leute hießen Zimmermann. Das weiß ich genau!“ „Das ist besser als nichts. Wenn sie noch in Augsburg leben, dann werde ich sie auch finden!“ Ich war aufgesprungen, hatte sie mitsamt dem Stuhl, auf dem sie saß, in die Arme genommen und versuchte sie zu beruhigen. „Glaube mir, ich werde sie finden! In 2 Wochen werde ich dich wieder besuchen, vielleicht habe ich bis dahin schon etwas in Erfahrung gebracht.“ Mein rasanter Stimmungswechsel wirkte auf Tante Berta geradezu befreiend. „Ich werde die Zeit nutzen, um die Wohnung noch einmal nach diesem verflixten Zettel ab zu suchen.“ „Das ist lieb von dir! Ich muss dich jetzt leider verlassen. Bei Schuhmachers wird sehr pünktlich zu Abend gegessen. Außerdem ist morgen mein erster Arbeitstag.“ „Ich drücke dir beide Daumen,“ rief mir Berta ins Treppenhaus hinunter.

Endlich ein Hoffnungsschimmer! Licht, in dem ich mich auf der Suche nach Emmi und meinem Sohn vortasten konnte. Plötzlich war ich wieder voller Enthusiasmus. Ich war mir sicher, Emmi wiederzufinden. Alles wollte ich dafür tun. Doch nun musste ich erst einmal in mein neues Heim und Geld verdienen. Auch auf dem Rückweg benutzte ich wieder den Zug. Mir gegenüber saß ein freundlicher, alter Herr, mit dem ich mich angeregt über die momentane politische Lage Deutschlands unterhielt. Viel wusste ich noch nicht über diese Dinge. Seit meiner Heimkehr hatte ich mich zwar aus der Zeitung über das Aktuellste informiert, aber im Großen machten mir andere, persönliche Probleme viel mehr zu schaffen. Der Herr stellte sich mir gerade als Studienrat Doktor Zeier vor, als unser Gespräch durch den Schaffner unterbrochen wurde. Der Aufforderung, unsere Fahrkarten vorzuzeigen, konnte er nicht nachkommen. Er suchte fieberhaft in seinen Taschen, konnte aber weder seine Fahrkarte noch seine Brieftasche darin finden. „Es ist mir furchtbar peinlich, junger Mann,“ stammelte er erregt, sich dem Kontrolleur zuwendend, „aber meine Börse ist nicht mehr da. Sie muss mir gestohlen worden sein!“ „Dann muss ich Sie leider in Wolfenbüttel der Bahnpolizei übergeben.“ „Bitte nur das nicht! Ich unterrichte am hiesigen Gymnasium. Stellen Sie sich den Skandal vor.“ Ich konnte den alten Mann nicht länger leiden sehen, und obwohl es mein letztes Geld war, griff ich ein. „Ist es in Anbetracht der Situation möglich, eine Karte nachzulösen?“ „Ich will mal nicht so sein und ein Auge zudrücken.“ Ich gab dem Schaffner die gewünschte Summe und die Angelegenheit war erledigt. „Wie kann ich Ihnen danken?“ „Gar nicht, ich war Ihnen gern gefällig.“ „Sagen Sie mir wenigstens Ihren Namen und die Adresse, damit ich Ihnen Ihr Geld zurück erstatten kann. Mein Name ist Menzel, Kurt Menzel und ich habe Ihnen gern ausgeholfen. Wir wollen es dabei belassen. Betrachten Sie sich auf dieser Fahrt bitte als mein Gast.“ „Nun gut, dann bleibt mir nur, mich bei Ihnen für ihre Großzügigkeit zu bedanken.“ Überdies rollte der Zug auch schon in den Wolfenbüttler Bahnhof ein. Wir stiegen aus und verabschiedeten uns. Dunkle Wolken waren inzwischen aufgezogen. Es schien, als müsse der Himmel jeden Moment aufreißen, um mit Millionen Litern reinsten Wassers auf Mutter Erde alles sauber zu waschen. Aber Petrus wartete mit seinem reinigenden Gewitter glücklicherweise, bis ich das schützende Dach meines Brotherrn erreicht hatte.

Schon im Flur begegnete mir Gerda. „Guten Abend Kurt, schön dass sie es noch trocken geschafft haben. Es gibt sicher gleich ein Unwetter.“ Sie sah in mein Gesicht, und erst nachdem sie darauf ein Lächeln bemerkt hatte, stellte sie ihre Frage: „Hatten Sie Erfolg?“ Ich empfand ihr Interesse als angenehm, vertröstete sie jedoch mit der Antwort auf später. Zunächst wollte ich die Schätze meiner Vergangenheit auf mein Zimmer bringen. Bis zum Essen war ohnehin nicht mehr viel Zeit. Etwas frisch machen und meine Gedanken ordnen wollte ich auch noch.

Beim Essen spürte ich, wie alle auf meinen Bericht warteten. Zu Beginn meiner Ausführungen tat ich mich noch etwas schwer. Schließlich war ich im Begriff, einen sehr privaten Bereich meines Lebens vor mehr oder weniger fremden Menschen auszubreiten. Das Schöne aber war, dass sich jeder der Anwesenden Gedanken über mein Problem zu machen schien. „Lieber Kurt, ich denke, Sie sind heute ein gutes Stück vorangekommen. Ich verspreche, Ihnen bei der Suche nach Ihrer Verlobten nach Kräften behilflich zu sein. Mit dem Namen besagter Verwandtschaft in Augsburg kann das Flüchtlingsamt sicher schon etwas in Erfahrung bringen. Gleich Morgen werde ich mich darum kümmern.“ „Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, sie sind alle so gut zu mir. Dabei kennen Sie mich doch erst ein paar Tage.“ „Ich helfe Ihnen, weil ich glaube, dass Sie es wert sind.“ „Ich werde Sie bestimmt nicht enttäuschen.“