Detektei Lessing

 

Auch Engel sterben einsam

 

 

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„So, wie Sie heute Morgen dreinschauen, Chef, war es gestern Abend sicher wieder spät“, mutmaßte Trude mit zielsicherem Blick und einer gradlinigen Offenheit, die ich in ganz besonderer Weise an ihr schätzte. Sie kniff das rechte Auge zu und fixierte mich mit dem linken so genau, wie es ein anderer selbst mit drei Augen nicht vermocht hätte. „Eine Observation?“, fragte sie lauernd. Ich setzte die Tasse mit dem darin verbliebenen Schluck Kaffee auf dem Frühstückstisch ab und schmunzelte. „Der Kaffee ist ausgezeichnet. Genau das Richtige, um munter zu werden“, entgegnete ich ausweichend. „Glauben Sie mir Trude, wenn Sie alles so gut könnten wie das Kaffeekochen, hätte ich Sie in der vergangenen Nacht observiert.“

Meine Putzsekretärin bekam knallrote Wangen. Keine allergische Hautreaktion, wie ich inzwischen wusste, sondern einfach der Ausdruck ihrer gewissen Verlegenheit. „Nun hören Sie schon auf, Herr Lessing. Was wollten Sie denn mit einer alten Schabracke wie mir schon anfangen?“ Ich sah Trude verheißungsvoll an. „Sind es nicht die inneren Werte, auf die es im Leben ankommt?“

Ein zögerliches Klopfen an der Tür zu meiner Detektei entband Trude einer Antwort. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass ihr die Störung mehr als gelegen kam. Der Gleichklang ihres Seelenlebens schien reichlich durcheinander gewirbelt. Sie sprang förmlich von ihrem Stuhl auf, warf mir ein gequältes Lächeln zu und hastete aus der Küche. Ich wusste, dass ich nun für die Dauer von mindestens einem Monat vor ihren Fragen Ruhe hatte. Verschmitzt grinsend biss ich in mein Nutellabrötchen und dachte an die schönen Stunden, die gerade hinter mir lagen.

„Herr Lessing, würden Sie bitte gleich mal herüberkommen?“, drängte sich Trude schon wieder in meine Gedanken. „Eine mögliche Klientin. Es scheint dringend zu sein.“ Ich stieß einen gequälten Seufzer aus. „Ist es das nicht immer?“ Ich kippte den Rest meines Kaffees hastig herunter und putzte mir den Mund ab. „Ich komme.“ Trudes ordnende Hand nestelte noch schnell an meinem Hemdskragen herum, zupfte in ihrer mütterlichen Art hier ein wenig und auch da und öffnete mir schließlich die Tür zu ihrem Vorzimmer.

Vor dem Schreibtisch meiner Sekretärin tänzelte ungeduldig eine ungemein fesche Person in einem eleganten schwarzen Merkel-Kostüm. Ich musste unwillkürlich an Herrn Mitterand denken, der unsere Kanzlerin stets, in weltmännischer Art, mit einem Handkuss beglückte. Doch solche Noblesse wäre des Guten sicherlich zu viel gewesen. Abgesehen davon war ich zugegebenerweise etwas aus der Übung, was eine derartige Etikette betraf. Darüber hinaus wäre der Trauerflor, der von ihrem Hut herabhing und ihr Gesicht wie eine Gardine verschleierte, ohnehin im Weg gewesen. Ich beschränkte mich also auf den obligatorischen Handschlag.

„Lessing“, stellte ich mich knapp vor, dabei durch ein kurzes Nicken mit dem Kopf zumindest eine Verbeugung anzudeuten. Mehr war beim besten Willen nicht drin. Meine höfliche Geste hatte ihre Wirkung nicht verfehlt. Die potentielle Klientin nickte vornehm zurück. „Mittenwald.“ „Wenn ich Sie in mein Büro bitten darf?“ Ich öffnete die Tür und trat beiseite, um ihr den Vortritt zu lassen. Ich war mir nicht sicher, ob es ihr erhabenes Auftreten war oder das Geld, nachdem es plötzlich in meiner Detektei roch. Wie auch immer, in meiner Börse herrschte mal wieder Ebbe, weshalb ich die Schublade irgendwann erlernter Höflichkeiten so weit wie möglich aufgezogen hatte.

„Nehmen Sie bitte Platz, gnädige Frau. Wo drückt denn der …äh, ich meine, was kann ich für Sie tun?“

Anders als sonst achtete ich darauf, wie ich mich hinter meinem Schreibtisch niederließ. Die Gnädige schlug die Beine übereinander und sah sich um. „Nun, ich habe mich natürlich erkundigt. Ihr Ruf eilt Ihnen voraus, wie man so sagt.“ Ich fühlte mich geschmeichelt, obwohl es ebenso gut das Gegenteil hätte bedeuten können. „Ihr Vertrauen ehrt mich.“ „Es wird sich zeigen, ob Sie ihm gerecht werden können.“ Ups, die elegante Dame mit dem britischen Akzent ließ bislang ungeahnte Fassetten aufblitzen. „Ich werde bemüht sein, Sie nicht zu enttäuschen.“

Sie musterte mich mit den Augen einer Amazone inmitten eines Sklavenbazars. „Also schön, es geht um meine Schwester. Ich habe sie gestern beerdigt.“ „Mein herzliches Beileid“, entgegnete ich betroffen. „Das können Sie sich schenken! Meine Schwester und ich standen uns nicht sonderlich nahe.“ Ich enthielt mich jeden weiteren Kommentars. „Wie dem auch sei, ich bin davon überzeugt, dass Magda nicht das Opfer eines häuslichen Unfalls wurde.“ „Was veranlasst Sie zu dieser Annahme?“, fragte ich interessiert. „Magda wurde in ihrem Wohnzimmer neben einer umgestürzten Leiter gefunden. Es soll beim Aufhängen der Gardinen passiert sein. Angeblich hätte sie das Gleichgewicht verloren, sei mit der Leiter umgekippt und unglücklich in den Glastisch gefallen, wo sie schließlich verblutete. Sie wurde erst einen Tag später gefunden.“

Ich lehnte mich in meinen Drehstuhl zurück und machte ein zerknirschtes Gesicht. „Ich muss gestehen, dass sich bisher alles recht eindeutig anhört“, entgegnete ich abwartend. „Auf den ersten Blick scheint es zumindest so“, pflichtete sie mir bei. „Nur, dass meine Schwester niemals auf eine Leiter stieg. Sie litt an absoluter Höhenangst. Selbst die Vorstellung, auf einen einfachen Küchenhocker steigen zu müssen, hätte bei ihr einen Schwindelanfall ausgelöst. Nein, nein, auch wenn wir uns in den letzten Jahren nicht so nahe standen, ich kenne Magda. Sie hätte diese Angst niemals überwunden. Sie wurde ermordet, da bin ich mir sicher.“

Dieser Einwand hatte mich zumindest nachdenklich gemacht. Es musste herauszufinden sein, ob das Opfer wegen ihrer Dinophobie in psychologischer Behandlung war. „Was sagt denn die Polizei dazu?“ Die Klientin winkte vielsagend ab. „Die Spurenlage ließe keinen anderen Schluss als einen Unfall zu“, gab sie die Worte des für den Fall zuständigen Polizeibeamten wieder. „Der Fall wäre so klar wie das Wasser der Okertalsperre.“ „Und selbst darin hat man erst kürzlich einen Leichnam gefunden“, tat ich kopfschüttelnd kund. „Sie übernehmen den Fall?“, schlussfolgerte sie aus meinen Worten. Ich ließ mir mit meiner Antwort Zeit.

„Gehen wir einmal rein hypothetisch davon aus, Ihre Vermutung würde stimmen, dann stellt sich für mich natürlich die Frage, wer vom Tod Ihrer Schwester profitiert.“ Meine potentielle Auftraggeberin machte ein zerknirschtes Gesicht. „Da kann ich Ihnen leider auch nicht weiterhelfen. Nachdem ich vor 21 Jahren nach Kanada auswanderte, trennten sich unsere Wege. Bis zu meiner Benachrichtigung durch den Notar hatte ich keinerlei Kontakt zu Magda.“ „Wenn Sie und Ihre Schwester über einen so langen Zeitraum keinerlei Kontakt pflegten, kann es doch gut möglich sein, dass sie in der Zwischenzeit eine Therapie machte.“ Die potentielle Klientin wiegelte energisch ab. „Nie und nimmer! Es gibt Dinge, die sich niemals ändern.“ Ich nahm es erst einmal stillschweigend hin.

„War Ihre Schwester wohlhabend?“ Sie wog den Kopf hin und her. „So weit würde ich nicht gehen, aber Magda verstand es schon immer besser als ich mit Geld umzugehen. Sie wird ein gutes Auskommen gehabt haben.“ Das alles brachte mich nicht wirklich voran. „Gibt es weitere erbberechtigte Familienangehörige“, fragte ich ohne Umschweife. „Ja, Magda hat einen Sohn. Ich habe ihn auf der Beerdigung kennen gelernt.“

Ich notierte mir alles, dann blickte ich ihr neugierig in die Augen. Seit einigen Minuten schon brannte mir eine Frage auf den Lippen, von der ich nicht wusste, ob ich sie stellen sollte. Ich wollte nicht indiskret sein, andererseits brauchte ich jede Information, die ich bekommen konnte. Es ist schließlich mein Beruf, Fragen zu stellen. „Hatte Ihre Auswanderung etwas mit Ihrer Schwester zu tun?“ Ein mildes Lächeln zuckte über ihr Gesicht. „Ich habe mich schon gefragt, wann Sie mir diese Frage stellen und ich habe mich ebenso gefragt, ob ich sie Ihnen beantworten soll.“ Meine bequeme Sitzposition wechselte in eine eher angespannte Haltung. Diese Frau hatte ohne Zweifel einen Hang zur Dramaturgie.

„Bevor ich Ihnen meine Privatsphäre offenbare, möchte ich wissen, ob Sie den Fall übernehmen.“ „Also schön, ich werde der Sache auf den Grund gehen. Ich bekomme pro Tag dreihundert Euro plus Spesen.“ „Nee, nee“, schüttelte sie energisch den Kopf. „Wie Sie wissen, bin ich in Kanada zu Hause. Bei uns läuft es anders. Für den Fall, dass es sich tatsächlich um Mord handelt und Sie das Verbrechen aufklären, bekommen Sie zehntausend, wenn's es Unfall war, gehen Sie leer aus.“ Ich schnappte nach Luft. „Also, wenn es wider Erwarten doch ein Unfall war...?“ Sie lächelte mich tiefgründig an. „Das nennt man hüben wie drüben dann wohl Berufsrisiko.“ Ich überlegte einen Moment, bevor ich angesichts meiner angespannten Haushaltslage schließlich einwilligte.

 

-2-

 

Mein erster Weg in Sachen Magda Pullmann führte mich zu einem alten Bekannten. Bei wem sonst als bei Hauptkommissar Gunnar Kleinschmidt sollte der Fall über den Schreibtisch gegangen sein. Als ich sein Büro betrat, herrschte helle Aufregung. Seine Kollegen von der Kripo Goslar hatten um Amtshilfe ersucht. Soviel ich dem Telefongespräch entnehmen konnte, ging es um den mysteriösen Torsofund in der Okertalsperre. Ein höchst ungewöhnlicher Fall, der dieser Tage gerade durch die Presse ging.

„Was wollen Sie, Lessing“, empfing er mich denn auch recht barsch, nachdem er das Gespräch beendet hatte. „Haben Sie noch nie etwas von Diskretion gehört? Man verlässt den Raum, wenn jemand telefoniert, aber von Kinderstube haben Sie sicher noch nicht viel gehört.“ Ich hasste diesen arroganten Sack. „Warum tragen Sie eigentlich immer diesen albernen Deckel?“, provozierte er weiter.

„Nett, dass Sie sich einen Moment für mich Zeit nehmen“, ignorierte ich einfach seine Worte. „Was wollen Sie?“ „Soweit mir bekannt ist, haben Sie den Fall Magda Pullmann bearbeitet.“ „Offensichtlich hat sich die Schwester der Toten auch an Sie gewandt.“ Von einer Sekunde zur nächsten breitete sich ein gehässiges Grinsen über seine zerfurchten Züge und entstellten sein Gesicht zu einer spöttischen Fratze. „Sicherlich hat Ihnen diese Dame mit ihrer Mordtheorie in den Ohren gelegen. Wenn Sie mich fragen, leidet die Ärmste unter akutem Realitätsverlust. Ich habe ihr lang und breit erklärt, dass es nicht den geringsten Anhaltspunkt für ein Fremdverschulden gibt.“

Ich stülpte meinen Stetson gelassen über den Garderobenhaken und lächelte den arroganten Nervtöter herausfordernd an. „Wirklich keinen?“ Kleinschmidts wuchtiger Schnauzer wölbte sich zu beiden Seiten nach oben. Er hatte sofort verstanden, worauf ich abzielte. „Wenn Sie auf die angebliche Höhenangst der Verunfallten anspielen, muss ich Sie enttäuschen. Die Spurensicherung hat auf dem Haltebügel der Leiter die Fingerabdrücke des Opfers nachgewiesen. Jetzt frage ich Sie, wie sollen die Prints dort hingekommen sein, wenn Magda Pullmann Höhenangst hatte?“

Ich versuchte mir die Situation plastisch vor Augen zu führen. „Sie könnten beim Tragen der Leiter verursacht worden sein“, gab ich zu bedenken. „Nicht in der Weise, wie die Abdrücke angeordnet waren. Die Leute von der Kriminaltechnik haben die Szene in allen nur erdenklichen Variationen nachgestellt. Sie kamen immer wieder zu dem gleichen Ergebnis. Die Frau wollte eine Gardine aufhängen, lehnte sich zu weit zur Seite, verlor das Gleichgewicht und fiel mitsamt der Leiter in den Glastisch. Das splitternde Glas durchtrennte bei dem Sturz ihre Halsschlagader.“

Ich reagierte skeptisch. „Das muss doch gewaltig Lärm verursacht haben“, mutmaßte ich. „Das Opfer bewohnte zusammen mit ihrem Sohn ein eigenes Haus. Sie versuchte, sich offenbar noch zum Telefon zu schleppen. Ihre Blutspur zog sich durch die Scherben und über das Parkett. Sie muss sich auf dem Boden liegend Zentimeter um Zentimeter vorangekämpft haben. Etwa auf halbem Wege hat sie die Kraft verlassen. Die arme Frau verlor das Bewusstsein und verblutete jämmerlich.“

Für einen kurzen Moment zeigte sich Kleinschmidt betroffen. Ein Charakterzug, den er höchst selten aufblitzen ließ. „Sie sagten, Frau Pullmann habe mit ihrem Sohn zusammen gewohnt…“, überlegte ich laut. „Genau, der junge Mann war derjenige, der seine Mutter fand und den Notruf absetzte. Polizeioberkommissar Möller von der Dienststelle in Schöppenstedt war der Erste am Unfallort.“ „Zu diesem Zeitpunkt war Frau Pullman bereits tot…“, wähnte ich. „So ist es! Wie Sie sehen, Lessing, wurden bei der Klärung des Unfallherganges alle Eventualitäten berücksichtigt. Sie können es drehen und wenden wie Sie wollen. Magda Pullmann kam durch einen bedauerlichen Unfall ums Leben. Da müssen Sie sich Ihre Brötchen schon auf andere Weise verdienen.“

Es sprach tatsächlich alles für einen Unglücksfall und doch war da etwas in meiner Magengrube, das sich gegen eine solche Vorstellung sträubte. „Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen, Sie waren ja vorhin Zeuge, als man mich in einem tatsächlichen Mordfall um Unterstützung bat.“ Kleinschmidt erhob sich und mir blieb nichts anderes übrig, als seinem Beispiel zu folgen. „Eine letzte Frage noch, Herr Hauptkommissar“, wandte ich mich noch einmal zu ihm um, während ich meinen Stetson von der Garderobe angelte. „Was denn nun noch?“ „Wurde die Tote eigentlich obduziert?“ „Wozu? Der Sachverhalt ist eindeutig. Nennen Sie mir einen vernünftigen Grund, weshalb wir den Angehörigen weiteren Kummer zumuten sollten.“ „Ist es nicht unsere Pflicht, auch die letzte Unklarheit an einem Kapitalverbrechen auszuräumen?“ „Ich habe keinen Zweifel an einem Unfalltod.“

 

 

-3-

 

Ich musste mir ein genaueres Bild von den Eindrücken verschaffen, die am Tag des Unglücks am Ort des Geschehens vorherrschten. Da ich selber nicht dabei war, blieben mir nur die Aussagen von Zeugen. Der beste Zeuge war zweifellos der Beamte, der zuerst am vermeintlichen Tatort eintraf. Bislang hatte ich nicht persönlich mit Polizeioberkommissar Möller von der Schöppenstedter Polizei zu tun gehabt, aber nach allem, was ich bisher über ihn wusste, galt er als besonnener und gewissenhafter Dienststellenleiter.

Ich musste einige Zeit suchen, ehe ich das neu errichtete Dienststellengebäude auf dem Elm-Asse-Platz fand. Eine knappe Stunde musste ich mich gedulden, ehe der drahtige Mann mit dem vollen, von grauen Strähnen durchfurchte Haar und dem wuchtigen Schnauzer Zeit für mich hatte.

„Sie arbeiten also als privater Ermittler“, gab er mir meine Visitenkarte zurück. „Ich will Sie nicht lange aufhalten, es geht um den wahrscheinlichen Unglücksfall, dem Magda Pullman zum Opfer fiel. So weit mir bekannt ist, trafen Sie noch vor dem Notarzt am Ort des Geschehens ein.“ „Das ist richtig“, bestätigte er, „…aber was verstehen Sie unter einem wahrscheinlichen Unglücksort?“ „Nun, meine Klientin glaubt nicht an einen Unfall.“ Polizeioberkommissar Möller nahm seine Lesebrille ab und starrte sie gedankenverloren an, während er ihre Bügel immer wieder auf und zu klappte. „Und nun wollen Sie von mir wissen, wie ich darüber denke?“

Ein Blick von mir genügte, um seine Annahme zu bestätigen. „Ich will Ihnen nicht verhehlen, dass ich bereits mit Hauptkommissar Kleinschmidt gesprochen habe. Für ihn bestehen keinerlei Zweifel. Sehen Sie das genauso?“ Möller zögerte mit seiner Antwort. Er legte seine Brille vor sich auf die Schreibunterlage und holte tief Luft. „Ich kannte Magda schon seit unserer Schulzeit. Vielleicht fällt es mir deshalb schwerer als sonst. Sie verkörperte das, was man gemeinhin als einen barmherzigen und hilfsbereiten Menschen bezeichnet. Magda Pullmann arbeitete als Krankenschwester beim medizinischen Dienst und betreute eine ganze Reihe von alten und gebrechlichen Menschen in unserer Region. Menschen, für die sich sonst niemand mehr verantwortlich fühlte. Für die Alten war sie einfach nur der ‚Schöppenstedter Engel'“.

Dem Mann hinter dem Schreibtisch war die Betroffenheit deutlich anzumerken. Der Tod seiner ehemaligen Mitschülerin schien ihm sehr nahe zu gehen. „Ich wüsste nicht, wer fähig wäre, einen solchen Menschen gewaltsam aus dem Leben zu reißen“, sprach er mit belegter Stimme. „Diese Frau hat ganz gewiss niemandem ein Leid zugefügt.“ „Meine Auftraggeberin sprach von Dinophobie.“ „Sie sprechen von Magdas Höhenangst?“ Ich nickte zustimmend. „Es ist Ihnen also bekannt, dass die Tote daran litt“, stellte ich fest. „Genau das ist ja der Punkt, über den ich nicht hinwegkomme.“ Möller rieb sich das Kinn. „Sie hatte diese Phobie, so lange ich denken kann.“ So ganz ließ sich der Einwand ihrer Schwester also doch nicht von der Hand weisen, überlegte ich. „Andererseits war sie aber auch eine sehr selbstbewusste Frau“, fuhr der Oberkommissar fort. „Vielleicht wollte sie ihre Angst überwinden und hat sich dabei einfach überschätzt.“

„Ist es möglich, einen Blick in die Untersuchungsprotokolle zu werfen?“, fragte ich höflich an, seine Antwort eigentlich schon erahnend. „Herr Lessing“, sagte der Beamte gedehnt, „…Sie wissen genauso gut wie ich, dass keiner Privatperson Akteneinblick gewährt werden darf.“ Ich seufzte geräuschvoll. Mein Gegenüber zog die oberste Schublade seines Schreibtischs auf und entnahm ihr eine Akte, die er vor sich aufschlug. „Sie müssen verstehen, dass ich da keine Ausnahmen machen darf.“ Ich verstand.

Polizeioberkommissar Möller erhob sich von seinem Drehstuhl. „Bitte entschuldigen Sie mich einen Augenblick, ich habe heute Morgen wohl etwas Falsches gegessen.“ Der Mann mit den zwei silbernen Sternen auf den Schulterklappen erhob sich. Es war nicht schwer zu erraten, aus welcher Richtung der Wind wehte. „Wenn Sie so lange warten wollen?“ „Kein Problem“, entgegnete ich gefällig. „Lassen Sie sich ruhig Zeit. Mit einer Magenkolik ist nicht zu spaßen.“ Sowie der Dienststellenleiter den Raum verlassen hatte, warf ich auch schon einen ersten Blick auf die Mappe, die er offen auf dem Tisch liegend zurückgelassen hatte. Es handelte sich tatsächlich um die betreffende Akte. Ich zögerte nicht eine Sekunde. Jeder Augenblick war jetzt kostbar. Ich zog meinen kleinen Digitalspion hervor und nahm Seite für Seite ins Visier. Mein Gedächtnis ist nicht schlecht, aber ein kurzer Blick reicht längst nicht aus, um jedes Detail abzulesen und schon gar nicht, um es sich zu merken.

Ich hatte meine Arbeit gerade beendet und wieder Platz genommen, als der Mann mit dem graumelierten Haar in sein Büro zurückkehrte. „Es tut mir Leid, wenn es etwas länger gedauert hat. Ich hoffe, Sie haben sich nicht allzu sehr gelangweilt.“ Er setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch und tat einen flüchtigen Blick auf die wie unberührt vor ihm liegende Akte. „Nun, hoffentlich konnte ich Ihnen weiter helfen.“ „Sagen wir mal so...“, entgegnete ich zweideutig, „...ich konnte mir ein Bild von der Sache machen.“ Möller erhob sich und streckte mir seine Hand entgegen. „Es freut mich, wenn Sie fanden, wonach Sie suchten.“ Auch ich erhob mich, um ihm meine Hand zu reichen.

Endlich mal ein Mann nach meinem Geschmack. Kein Paragraphenreiter, keiner von denen, die sich hinter Gesetzestexten und Anordnungen verstecken, um selbst keine Verantwortung übernehmen zu müssen. Es gab ihn also doch noch, den Beamten, der nicht in seinem Sessel klebte, während vor seinem Fenster die Realität der Gegenwart an ihm vorüber zog. Es war mir eine Freude, dem Mann die Hand zu schütteln und ich fragte mich, wie viel Druck von höherer Stelle wohl von Nöten war, um den Polizeioberkommissar zu bewegen, seine Ermittlungen im Fall Pullmann einzustellen. „Ich hoffe es“, bemerkte ich nachdenklich.

 

 

-4-

 

Das Haus in der ‚Neuen Straße' war nicht sonderlich weit von der Polizeidienststelle auf dem Elm-Asse-Platz entfernt und doch musste ich eine ganze Weile suchen, ehe ich das zweistöckige Fachwerkhaus gefunden hatte. Das Gebäude befand sich, soweit ich von der Straße aus sehen konnte, in einem ausgesprochen soliden Zustand. Hier war Altes mit viel Liebe zum Detail saniert worden. Mein Blick fiel auf die Fenster mit den niedlichen Butzenscheiben, wie ich sie aus der ‚Krummen Straße' in Wolfenbüttel her kannte. Obwohl neu und wärmeverglast, waren sie dem Stil des Hauses angepasst. Farbenfrohe Blumen in der Fensterbank und die schwungvoll drapierten Gardinen sorgten für ein geschmackvolles Gesamtbild.

Ich hatte mich mit der Schwester der Verstorbenen verabredet. In der Hoffnung, dass Irmela Mittendorf bereits eingetroffen war, drückte ich schließlich auf den Klingeldrücker, der sich neben einer Messingscheibe befand, in die der Name ‚Pullmann' kunstvoll eingearbeitet war. Kurz darauf öffnete mir ein recht schludrig wirkender junger Mann die Tür. Es konnte sich eigentlich nur um den Neffen meiner Auftraggeberin handeln.

„Was ist?“, fragte der von meinem Besuch sichtlich Genervte. „Mein Name ist Lessing“, stellte ich mich vor. „Ich bin hier mit Frau Mittendorf verabredet“, fügte ich hinzu und machte einen Schritt auf ihn zu. Der Typ rührte sich nicht, stand weiterhin im Türrahmen wie eine deutsche Eiche und starrte amüsiert grinsend auf meinen Stetson. „Ja und?“ Im ersten Moment ziemlich perplex, setzte ich den Schritt wieder zurück. „Ist Frau Mittendorf denn noch nicht da?“ Er drehte sich in den Flur und pfiff, woraufhin Sekunden später ein verlauster Köter neben ihm auftauchte. „Hast du Frau Mittendorf gesehen, Ramirez?“ Der Hund starrte zunächst ihn, dann mich an und fletschte schließlich die Zähne. „Wie Sie sehen, kann mein Hund weder Sie noch meine Tante leiden. Unter diesen Umständen ist es sicher besser, wenn Sie draußen warten.“ Mit diesen Worten schloss der Typ die Tür und ich fragte mich, wer von den beiden verlauster war – der Hund oder sein Herr.

Ein Blick auf meine Armbanduhr verriet, dass sich meine Klientin verspäten würde. Offensichtlich gingen die Uhren in Kanada nicht ganz so genau. Ich sah es ihr nach. Auch wenn der Kontakt zu ihrer Schwester nur noch aus dem Eintrag im Stammbuch der Familie bestand, so war die Situation sicherlich alles andere als einfach für sie.

Kaum, dass ich mich in meinen Skoda gesetzt hatte, hielt auch schon hinter mir ein Taxi. Meine Verabredung stieg aus und sah sich um. Sie wirkte gehetzt. Bevor auch ich meinen Wagen verließ, suchte ich den Blickkontakt zu ihr. Ich wollte mehr über diese Frau erfahren, wollte sie in einem Moment studieren, in dem sie sich unbeobachtet fühlte, um sie besser einschätzen zu können. Sie machte längst nicht mehr den couragierten Eindruck, den sie in meinem Büro hinterlassen hatte. Nachdem das Taxi davon gefahren war, überquerte sie die Straße. Sie schien aufgeregt. Immer wieder sah sie sich um, ohne ihr Umfeld wirklich wahr zu nehmen.

Eine Autohupe ertönte, Bremsen quietschten, ohne dass sie reagierte. Von rechts näherte sich die drohende Blechkarosse eines Tanklastzugs im nahezu ungebremsten Tempo. Selbst die dröhnende Posaune des Vierzigtonners schien sie ihrer Lethargie nicht zu entreißen. Nur noch wenige Meter trennte Irmela Mittendorf von der Hand des Todes, die ihre Finger bereits weit nach ihr auszustrecken schien. Ich fand jedoch, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt für einen Abtritt meiner Auftraggeberin war. Im letzten Augenblick entriss ich dem Tod die Beute und sicherte mir, zumindest fürs Erste, mein Honorar.

Völlig verstört, am ganzen Körper zitternd, lag sie in meinen Armen. Ihr schwarzer Hut tanzte im Windschatten hinter dem Brummi her. Etliche Meter weiter kam das Ungetüm schließlich zum Stehen. Der Fahrer sprang heraus und eilte zu uns. Er war ebenso bleich im Gesicht wie meine Klientin. „Mein Gott, Sie sind am Leben!“, rief er, sein Glück kaum fassend. Anerkennend schlug er mir auf die Schulter. „Wenn Sie nicht gewesen wären...“ Hinter uns staute sich der Verkehr. „Es ist nichts geschehen“, stammelte die Frau im schwarzen Kostüm. „Es war allein meine Schuld. Ich habe nicht aufgepasst. Wo ist mein Hut?“

Der Brummifahrer und ich sahen uns kopfschüttelnd an. „Sie stehen unter Schock“, sprach ich beruhigend auf sie ein. „Ich bringe Sie in das Haus Ihrer Schwester.“ Während der Fahrer den Hut meiner Klientin einfing, brachte ich sie erst einmal von der Straße. Ich werde nie begreifen, dass es Menschen gibt, die anstatt Hilfe zu leisten, bequem in ihren Wagen sitzen bleiben und obendrein auch noch ihre Pfoten an der Hupe haben. Dies sind Momente, in denen man den Glauben an die Menschheit verlieren kann.

„Kann ich noch etwas für Sie tun?“, fragte der Fahrer, während er mir den Hut reichte. „Ich denke, wir kommen klar“, nickte ich ihm dankbar zu. „Okay, wenn noch etwas sein sollte, wenden Sie sich an die Spedition Krug und fragen Sie einfach nach Mathias.“ „Ich danke Ihnen.“

Angelockt durch das Spektakel vor seiner Haustür, empfing uns der verlauste Neffe meiner Klientin bereits im Eingang. Er grinste unverhohlen und klatschte verzückt in die schmutzigen Hände. „War ein starker Auftritt, Meister.“ Mir kochte die Galle über. Anstatt zu helfen, lehnte er mit seiner tief sitzenden Hose, die nur durch Hosenträger am Herunterrutschen gehindert wurde, im Türrahmen und versperrte uns den Weg. „Halt endlich die Klappe und fass lieber mit an!“ Ich hatte offensichtlich die richtigen Worte gefunden, denn der Bursche löste sich, oh Wunder, von seinem Türrahmen und half seiner Tante.

Der Neffe ohne Namen, soll heißen, dass er sich mir noch nicht vorgestellt hatte, führte die Tante und mich in das Esszimmer. Nachdem wir meine noch immer recht angeschlagen wirkende Klientin auf einen der um den Esstisch gruppierten Stühle gesetzt hatten, bat sie um ein Glas Wasser. „Die Küche ist da hinten“, zeigte der Namenlose mit seinem ausgestreckten Arm auf einen Durchgang im hinteren Bereich des Raumes. „Ich muss mich um Ramirez kümmern.“ Stimmt, die zähnefletschende Flohquaste hatte ich bislang nicht sehr vermisst. Mein Weg in die Küche oder eher in das, was noch von ihr zu erkennen war, führte an einer breiten, zweigeteilten Schiebetür vorbei, die nicht ganz geschlossen war. Durch den Spalt konnte ich in einen weiteren Raum sehen, bei dem es sich wahrscheinlich um das Wohnzimmer handelte. Der Raum, in dem die Schwester meiner Klientin ums Leben gekommen war. Am liebsten hätte ich mir sofort ein Bild vom Ort des Geschehens gemacht, aber da war ja noch das Glas Wasser und meine starr drein blickende Auftraggeberin, um die ich mich zunächst kümmern musste.

Es war nicht leicht, in all dem Durcheinander, das in der Küche vorherrschte, ein unbenutztes Glas zu finden. In und auf der Spüle türmten sich bereits Berge von schmutzigem Geschirr. Auf dem Herd drängten sich Pfannen und Töpfe mit angetrockneten Essensresten. Überall lagen angebrochene Lebens-mittel herum. Eine geöffnete Fischdose schwamm in einer Pfütze aus Tomatensauce, daneben ein angefangenes Toastbrot. Leere Bierflaschen, ein überquälender Mülleimer und über allem eine übel riechende Dunstwolke durch die hunderte kleiner Schmeißfliegen ihre Bahnen zogen. Der erste Eindruck, den ich vom Sohn der Verstorbenen gewonnen hatte, bestätigte sich also in fataler Weise. Dieser junge Mann trauerte offensichtlich weniger um seine Mutter, als vielmehr um den Verlust seiner Putzfrau.

Ich sah zu, den Raum so schnell wie möglich wieder zu verlassen. Man will sich ja schließlich keine unbekannte Krankheit einfangen.

Irmela Mittendorf hatte sich inzwischen etwas von ihrem Schock erholt. Ihre Hand zitterte nur noch ein wenig, als sie das Wasserglas zum Mund führte. „Kann ich Sie einen Augenblick allein lassen? Ich würde mir gern den Ort ansehen, an dem Ihre Schwester ums Leben kam.“ „Gehen Sie ruhig, Herr Lessing. Es geht schon wieder.“

Erwartungsvoll schob ich die beiden Türhälften auseinander und betrat das Wohnzimmer. Hierin schien die Zeit nach dem Tod von Magda Pullmann stehen geblieben zu sein. Und das war wörtlich zu nehmen, wie mir ein Blick auf die Wanduhr über dem Fernseher verriet. Sie war um 18:22 Uhr stehen geblieben. Es geschehen die unheimlichsten Zufälle. Wie nicht anders erwartet, befand sich der Raum noch genau so, wie ihn Polizei und Spurensicherung hinterlassen hatten. Selbst die umgestürzte Leiter lag noch mitten im Raum. Überall auf dem Parkettboden verstreut lagen die Splitter des Glastisches. Die Ärmste musste mit ungeheurer Wucht in die Platte geknallt sein. Eine blutige Spur ihres Überlebenskampfes zog sich etwa zwei Meter weit in Richtung Tür, wo sie schließlich verblutete, wie mir die mit Kreide nachgezeichneten Konturen ihres Körpers und eine riesige Blutlache verrieten.

Ich versuchte so objektiv wie möglich zu sein, fotografierte jede Einzelheit, nahm jede Winzigkeit akribisch in meine Gedanken auf, um mir ein eigenes Bild des Ablaufs zu verschaffen. Vor meinem geistigen Auge lief so etwas wie ein Film ab, in dem ich das Geschehene rekonstruierte. Dabei feilte ich an jeder einzelnen Szene so lange herum, bis sie keine Unstimmigkeiten mehr aufwies und letztendlich in das Gesamtbild passte. Da ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht in die Fallakte der Polizei gesehen hatte, die fotografierten Seiten befanden sich noch in meiner Digitalkamera, musste ich nicht befürchten, dass der Eindruck, den ich gewann, in irgendeiner Weise vorgefasst sein konnte.

„Was machen Sie da?“, unterbrach mich die Stimme des Neffen inmitten meiner Fallanalyse. „Ich will nicht, dass sich irgendjemand in diesem Raum aufhält!“, blaffte er. Der Köter fletschte schon wieder die Zähne. Ich habe nicht die geringste Ahnung, weshalb es diese Viecher immer auf mich abgesehen haben. „Ich mache hier nur meine Arbeit und wenn Sie wissen wollen, wie Ihre Mutter tatsächlich ums Leben kam, lassen Sie mich hier in Ruhe meinen Job erledigen.“ „Was reden Sie da für eine gequirlte Scheiße, meine Mutter starb bei einem Unfall. Die Bullen haben alles abgecheckt, da gibt es nichts dran zu drehen. Und nun raus hier!“

Im Grunde war ich zu keinem anderen Ergebnis gekommen, doch so vehement, wie der Kerl auf einen Unfall bestand, wurde ich wieder skeptisch. Ich hielt es dennoch für ratsamer, seiner freundlichen Aufforderung derweil nachzukommen. Immerhin war er, zumindest bis zur Testamentseröffnung, der Hausherr und dem war Rechnung zu tragen.

„Tja, Frau Mittendorf, nach allem, was ich sah, muss ich Ihnen sagen, dass tatsächlich nichts auf ein Verbrechen hindeutet.“ Meine Klientin hielt ihren Kopf zwischen den Händen abgestützt. Sie atmete schwer, als sie ihre Augen in meine Richtung schlug. „Egal, worauf es hindeutet, meine Schwester wäre niemals auf eine Leiter gestiegen!“ Ich hatte das Gefühl, wir drehten uns im Kreis, aber ihr Einwand war nach wie vor nicht von der Hand zu weisen. „Du kennst meine Mutter doch überhaupt nicht mehr“, fuhr sie ihr Neffe an. „Du lebst seit über zwanzig Jahren in einem anderen Land. Ich wusste bis vor ein paar Tagen nicht mal, dass es dich gibt. Geh dahin, wo du hergekommen bist und lass uns hier in Ruhe!“

Irmela Mittendorf richtete sich auf. Sie sah ihren Neffen mit durchdringendem Blick in die Augen. „Was auch immer hier geschehen ist, Joshua, ich ruhe nicht eher, bis ich es herausgefunden habe.“ Na, der Name passte auf den Knaben wie die Faust aufs Auge , dachte ich mir, während ich mit meiner Auftraggeberin einen Bogen um den zähnefletschenden Köter machte und wir das Haus ihrer Kindheit verließen.

 

-5-

 

Ja, ja, die liebe Nachbarschaft. Sie hat mir selbst in Fällen schon oft weitergeholfen, die bis dato gerade-zu aussichtslos schienen. Man glaubt kaum, welche Einblicke die lieben Mitmenschen von unserem intimsten Privatleben gewinnen, wenn sie nur genug Zeit hinter ihren Fenstern verbringen können. Die Verstorbene schien von einer ganzen Schar interessierter Nachbarn umgeben. Ein Fundus für jeden Ermittler, wenn er sich denn die Mühe machte.

Agathe Lustig war ein besonders extrovertiertes Exemplar besagter Gattung. Wir kannten uns geschlagene drei Sätze, als ich auch schon meine Beine unter ihren Küchentisch streckte und eine Tasse wirklich kräftigen Kaffees zu mir nahm. Ich kam nicht dazu, ihr auch nur eine gezielte Frage zu stellen, stattdessen beschränkte ich mich darauf, ihrem Redefluss zu folgen.

„Glauben Sie mir, Herr Detektiv, Magda war ein Engel.“ Es war bereits das zweite Mal, dass dieses Wort im Zusammenhang mit der Toten genannt wurde. „Sie war hilfsbereit, selbstlos und reinlich. So etwas gibt es heutzutage nur noch selten. Wissen Sie, Herr Detektiv, ich bin nicht mehr so gut zu Fuß. Das Rheuma plagt mich sehr. Wenn es mich mal wieder besonders schlimm erwischt hatte, brauchte ich nur bei Magda anrufen. Sie ließ sich nicht lange bitten, erledigte ohne zu Zögern meinen Einkauf und glauben Sie mir, Herr Detektiv, es stimmte jedes Mal auf Heller und Pfennig.“ Sie unterbrach sich nur, um in ein Stück Topfkuchen zu beißen. „Na, Herr Detektiv, Sie können doch sicher auch noch ein Stück vertragen.“ Ohne meine Antwort abzuwarten, legte sie nach und erzählte schmatzend weiter.

„Als Egon damals so schwer erkrankte, warf sie ihre Arbeit im Krankenhaus hin, um rund um die Uhr für ihn da zu sein.“ Egon?“, unterbrach ich sie. „Magdas verstorbener Mann“, erklärte sie. „Ein halbes Jahr später ging er von uns. Krebs, da war nichts mehr zu machen. Wenigstens konnte der Ärmste in Frieden sterben.“ Die redselige Frau bekreuzigte sich und holte Luft. „Wie lange ist das her?“, fragte ich, bevor sie zu einem neuerlichen Wortschwall ansetzen konnte. „Moment...“, sinnierte sie, „...wenn ich mich recht entsinne, war ihr nichtsnutziger Sohn gerade konfirmiert. Das müssen so sechs, sieben Jahre her sein. Magda fing daraufhin bei so einer privaten Pflegeagentur an. Am Anfang nur, weil ihr zu Hause die Decke auf den Kopf fiel. Magda war kein Mensch des Müßiggangs. Sie musste etwas um die Ohren haben. Nötig hatte sie es nämlich nicht, müssen Sie wissen, Herr Detektiv. Egon hatte sie gut versorgt zurückgelassen.“

Ein größeres Stück Kuchen verschwand in ihrem Mund. Meine Chance. „Den Sohn des Hauses habe ich bereits kennen gelernt“, bekundete ich, den Faden aufnehmend. Er fand seine Mutter erst, nachdem sie bereits länger als einen Tag lang tot in ihrem Wohnzimmer gelegen hatte.“ „Das ist wirklich schrecklich“, seufzte sie bestürzt.

„Was ist dieser Joshua eigentlich für ein Typ?“, fragte ich weiter „Hören Sie bloß auf, Herr Detektiv. Mit dem hat es Magda nicht leicht gehabt. In den Jahren, in denen eine feste Männerhand von Nöten gewesen wäre, um diesem Bengel die Flötentöne beizubringen, war Magda mit der Erziehung auf sich allein gestellt. Dieser Taugenichts nutzte ihre Gutmütigkeit schamlos aus. Stellen Sie sich vor, Herr Detektiv, seit er aus der Schule kam, hat dieses Faultier nicht einen einzigen Tag gearbeitet. Ständig bettelte er seine Mutter um Geld an, das er dann in der Spielhalle verprasste. Wenn Magda ihm nichts gab, bestahl er sie während sie schlief. Ich sage Ihnen, da gingen Typen ein und aus, da wurde mir manches Mal Angst und Bange.“

Die alte Frau schüttelte sich theatralisch. „Kennen Sie eigentlich die Schwester der Verstorbenen?“, fragte ich der Vollständigkeit halber. „Ich habe mein ganzes Leben in diesem Haus gelebt. Natürlich kenne ich Irmela. Die Schwestern sahen sich nicht nur sehr ähnlich, sie waren als Kinder auch ein Herz und eine Seele.“ „Weshalb änderte sich das?“, hakte ich nach. „Als Egon in ihrer beider Leben trat und alles durcheinander brachte“, erklärte sie schmunzelnd. „Sie müssen wissen, Herr Detektiv, dass Egon eigentlich Irmelas Bräutigam war. Die beiden wollten heiraten. Das Aufgebot war bereits bestellt und die Hochzeitsgäste eingeladen, als Magda mit ihm den Treuetest machte.“

Also das war der Grund für die Disharmonie, die meine Auftraggeberin bei ihrem Besuch in meiner Detektei andeutete. Kein Wunder, dass sie sich nach der geplatzten Hochzeit nach Kanada absetzte. Eigentlich alles andere als ein feiner Zug und eines Engels gewiss nicht würdig. Wenn ich's mir recht überlegte, im Grunde ein lupenreines Tatmotiv, was allerdings angesichts einer Zeitspanne von über zwanzig Jahren, die seither ins Land gegangen waren, wohl kaum noch ernsthaft in Erwägung zu ziehen war.

„Ja, ja, Magda war kein Kind von Traurigkeit. Sex war ein wichtiger Bestandteil ihres Lebens.“ Die alte Dame schielte lüstern über den Rand ihrer Brille und zwinkerte mir zu. „Wenn Sie verstehen, was ich meine, Herr Detektiv.“ Klar verstand ich, nur vorstellen konnte ich es mir nicht. „Jeder von uns hat eben seinen schwachen Punkt“, fügte sie lächelnd hinzu. „Egon ist sie aber stets treu geblieben und es hat auch ein gutes Jahr gedauert, bis sie eine neue Männerbekanntschaft einging. Dann allerdings ließ die Gute nichts mehr anbrennen. Wie sehr ich sie dafür beneidete“, sprach sie und tat einen tiefen Seufzer.

„Sie müssen wissen, Herr Detektiv, es kommt nicht mehr ganz so häufig vor, dass ich Besuch von einem Herrn bekomme und noch dazu von einem so stattlichen. Da ist es doch wohl nicht verwunderlich, wenn man sich die guten alten Zeiten herbeisehnt.“ Ich fand, dass dies genau der richtige Zeitpunkt war, um mich aus dem Staube zu machen. Ehe sie mich ins Koma quatschen konnte, oder K-O-Tropfen in meinen Kaffee mischte, stand ich auf, bedankte mich für das Gespräch und die Gastfreundschaft, schnappte mir meinen Hut und kratzte die Kurve.

Während ich zurück nach Wolfenbüttel fuhr, um in meiner Detektei die Fotos von meiner Digitalkamera mit dem Rechner zu bearbeiten, dachte ich daran, wie es wohl sein würde, wenn ich alt war. Im Grunde konnte ich nur hoffen, dann ebenso agil zu sein wie die alte Dame, die ich gerade verlassen hatte. Immerhin war ich durch sie ein gutes Stück vorangekommen.

Zum einen gab es den Sohn der Verstorbenen, der offensichtlich gleich mehrere Krankheiten auf sich vereinigte. Zu einer permanenten Lustlosigkeit, die sich bereits zu innerer Fäulnis auswuchs, kamen Spielsucht und Kleptomanie. Die alte Dame hatte von finsteren Gestalten gesprochen, die sich am Haus ihrer Nachbarin herumtrieben. Ich vermutete in ihnen Gläubiger oder deren Eintreiber, die alte Spielschulden einfordern wollten.

Zum anderen war von Männergeschichten die Rede. Offensichtlich nahmen es selbst ‚Engel' nicht immer ganz so genau mit der Befriedigung ihrer Gelüste. Ich musste mehr über diese dunkle Seite der Verstorbenen in Erfahrung bringen, denn eine derartige Schwäche endet nicht selten in einem Desaster. Gerade heutzutage, wo die scheinbare Anonymität des Internets dem User eine gewisse Sicherheit vorgaukelt, häufen sich die Fälle von Missbrauch und Schlimmerem. Die Frage war nur, wie ich an eventuell vorhandene Aufzeichnungen des Opfers gelangen sollte. Ein Tagebuch wäre ein Glücksfall, doch damit konnte ich nicht rechnen.

 

 

-6-

 

Es war bereits später Nachmittag. Während ich mit der Vergrößerung der Digitalfotos, ihrem Ausdruck und der abschließenden Auswertung beschäftigt war, plagte sich Trude mit dem Telefon. Ihre Aufgabe bestand darin herauszufinden, bei welchem der Kranken- und Pflegedienste Magda Pullmann gearbeitet hatte. Da solche Agenturen nach der Einführung der Pflegeversicherung wie Pilze aus dem Boden geschossen waren, dachte ich mit Grauen an die nächste Telefonrechnung. Doch die war momentan noch weit weg.

In diesem Augenblick galt meine Aufmerksamkeit nur dem Bericht der Spurensicherung und den Fotos, die beim Auffinden der Toten gemacht wurden. Verdammt, irgendetwas stimmte auf diesen Fotos nicht. Je länger ich sie betrachtete, desto mehr setzte sich diese Überzeugung in mir durch. Es war das unbestimmte Gefühl, dass etwas auf den Bildern nicht der Realität entsprach, nur dass ich nicht sagen konnte, was es war.

„Ich hab sie!“, kam Trude freudestrahlend in mein Büro gestürmt. Mir entglitt vor Schreck die leere Druckerpatrone. Die schwarzen Spritzer auf dem Fußboden und an meinen Schuhen deuteten darauf hin, dass sich wohl noch ein Rest Tinte darin befunden hatte. „Oh Entschuldigung, Chef.“ Ich seufzte wie jemand, dem man gerade das Lieblingsspielzeug kaputt gemacht hatte. „Sie war beim Pflegedienst ‚Engelhardt' angestellt.“ Trude griff in ihre Kittelschürze, holte ein Papiertuch hervor, spuckte zweimal darauf und bückte sich, um mir zunächst die Tinte vom Schuh und schließlich vom Fußboden zu wischen. „Sehen Sie, Chef, alles halb so schlimm.“ Ich nahm ihren Kopf zwischen beide Hände und küsste sie auf die Stirn. „Trude, Sie sind unbezahlbar!“ Meine Putzsekretärin starrte mich fragend an. „Auf glatten Flächen muss man's nur schnell genug wegwischen, dann bleibt nichts zurück. Eigentlich keine große Sache.“

„Ach, das meine ich doch gar nicht. Sie haben mich gerade auf eine Idee gebracht.“ Ich sah mir zunächst noch einmal die Fotos von der Spurensicherung genauer an. Dann verglich ich sie mit denen, die ich selbst gemacht hatte. Da, wo auf den Polizeiaufnahmen der Leichnam von Magda Pullman zu sehen war, befanden sich auf den von mir aufgenommenen Fotos nur noch die mit Kreide nachgezeichneten Konturen. Innerhalb dieses imaginären Körpers war auf dem Parkettboden ein eingetrockneter Fleck zu erkennen. Da die Verstorbene, den Erzählungen der Nachbarin zu Folge, eine sehr reinliche Frau war, konnte ich davon ausgehen, dass der Fleck erst kurz vor ihrem Sturz an diese Stelle geriet. Da die Scherben einer Kaffeetasse jedoch am entgegengesetzten Ende des Tisches lagen, musste es eine weitere Tasse gegeben haben, die ungefähr dort auf dem Tisch stand, wo der Fleck war. Sie war offensichtlich später entfernt worden.

Auch wenn dies nichts als Indizien waren, so konnte es durchaus möglich sein, dass zum Zeitpunkt des vermeintlichen Unfalls eine zweite Person anwesend war. Gesetz dem Fall, es war so, muss es für diese Person einen Grund gegeben haben, die Spuren ihrer Anwesenheit zu beseitigen. Selbst wenn es sich tatsächlich um einen Unfall gehandelt hatte, konnte ich nunmehr davon ausgehen, dass diese zweite Person den Tod von Magda Pullmann indirekt herbeiführte, indem sie die Sterbende allein zurückließ und ihr die Hilfe verweigerte. Allein der Gedanke an eine solche Skrupellosigkeit jagte mir einen Schauer über den Rücken.

Wenn ich ferner davon ausging, dass die Schwester meiner Auftraggeberin tatsächlich unter Höhenangst litt und deshalb auf keine Leiter stieg, konnte die vorgefundene Szene nur gestellt sein. Also doch kein Unfall? Kam es zu einer handfesten Auseinandersetzung, bei der die Verstorbene in den Glastisch geschubst worden war? Auch hier stellte sich wieder die Frage nach einem Unglücksfall, der zu einem Totschlag durch Unterlassen wurde oder sogar nach einem Mord, bei dem der Vorsatz noch nicht erkennbar war. Mir brummte der Schädel. Nun, ich bin kein Jurist, mein Job beschränkte sich darauf, die zweite Person zu finden. Alles Weitere lag nicht in meiner Hand.

„Wie sagten Sie war der Name des Pflegedienstes?“, fragte ich Trude, nachdem ich meine Gedanken halbwegs geordnet hatte. „Engelhardt“, entgegnete sie noch ganz unter dem Eindruck der gerade erhaltenen Belobigung. „Bei so vielen Engeln kann man glatt den Überblick verlieren.“ Trude sah mich verwundert an. Wie sollte sie auch wissen, dass man die Verstorbene allgemein hin als ‚Schöppenstedter Engel' bezeichnet hatte. „Wo finde ich diesen Pflegedienst?“ Trude sah auf die Uhr. „Heute werden Sie da sicherlich niemanden mehr antreffen. Ich war so frei, für Sie über die Dame in der Nothilfezentrale für morgen Vormittag einen Termin mit der Geschäftsleitung zu vereinbaren.“ Ich war beeindruckt.

Mitten hinein in diese Lobhudelei platzte Irmela Mittendorf. Meine Klientin schien recht aufgeregt zu sein, war geradezu außer Puste, was wohl weniger an den dreizehn Stufen lag, die sie hinaufsteigen musste, um in mein Büro zu gelangen, als vielmehr an der gerade bewältigten Testamentseröffnung. „Stellen Sie sich vor, Herr Lessing“ keuchte sie kopfschüttelnd. „Magda hat mir nichts als einen Brief hinterlassen. Nicht, dass ich auf eine Erbschaft angewiesen wäre“, begann sie zu weinen, „…aber wenigstens unser Elternhaus hätte sie mir doch…“ Sie konnte nicht weiter sprechen, die Enttäuschung über den erlittenen Verlust überwältigte sie. „Warum nur musste sie all die schönen Erinnerungen an unsere Kindheit in die Hände ihres Sohnes geben?“ Nach allem, was ich inzwischen über Joshua wusste, wunderte ich mich über dieses Vermächtnis.

„Haben Sie den Brief gelesen?“, erkundigte ich mich zögerlich bei meiner Auftraggeberin. Sie öffnete ihre Handtasche, nahm ein Päckchen Papiertaschentücher und den Brief heraus und reichte ihn mir. Bevor sie sich schnäuzte, bat sie mich, ihn zu öffnen. „Ich hatte einfach nicht den Mut, ihn zu lesen.“ Einerseits war es mir unangenehm, so tief in die Persönlichkeit der Verblichenen einzutauchen, andererseits half es mir, sie besser einzuschätzen.

„Meine geliebte Schwester,

 

ich weiß, wie weh ich dir tat, als ich dir Egon nahm und ich weiß, dass ich diese Schuld niemals aus der Welt schaffen kann, aber du sollst wissen, dass sie mich während meiner Ehe mit Egon wie ein Schatten verfolgte, mich niemals wirklich glücklich werden ließ. Meine Liebe zu dir war wie eine Last, von der ich mich niemals befreien konnte. Obwohl ich meinen Ehemann liebte und ihm stets eine gute Frau war, vermochte ich erst nach seinem Tod ohne ein schlechtes Gewissen an dich zu denken. Jetzt da du diesen Brief in deinen Händen hältst, bin ich Egon gefolgt, ohne mich mit dir ausgesprochen zu haben. Deshalb und weil ich damals nicht gegen das Schicksal ankämpfen konnte, bitte ich dich, mir zu verzeihen.

 

In Liebe, Magda“

 

Ich faltete den Brief wieder zusammen und steckte ihn zurück ins Kuvert. „Ein wirklich sehr ergreifender Brief“, befand ich beeindruckt. „Ich habe ihr doch schon längst verziehen“, seufzte Irmela Mittendorf, während sie sich vornehm die Nase abtupfte. „Letztendlich war ich sogar froh, dass alles so gekommen war. Ich habe zwar nie geheiratet, dafür aber ein äußerst erfülltes und angenehmes Leben.“ „Schade, dass Sie sich nie ausgesprochen haben, wenn ich so sagen darf.“ Meine Klientin nickte wortlos.

„Wenigstens kann ich mit Ihrer Hilfe dazu beitragen, dass ihr Mörder nicht ungeschoren davon kommt“, bekundete sie entschlossen. „Sie sprachen eingangs von der Haushälfte, die Ihr Neffe erben wird. Fällt ihm außer der Immobilie noch Barvermögen oder dergleichen zu?“ „Leider!“ Meine Klientin machte keinen Hehl daraus, dass Sie ihrem Neffen die Erbschaft missgönnte, aber genau dies fand ich glaubwürdig.

„Somit hat Ihr Neffe ein kristallklares Motiv für den Mord an Ihrer Schwester. Ich habe mittlerweile von der Spielleidenschaft Ihres Neffen gehört. Ein sehr kostspieliges Hobby. Vor allem dann, wenn man keiner geregelten Beschäftigung nachgeht.“ „Joshua ist arbeitslos?“ „Nicht nur das, offensichtlich hat der junge Mann noch nicht einen einzigen Tag seines Lebens mit Arbeit vergeudet.“ Die Frau im schwarzen Kostüm schüttelte fassungslos den Kopf. „Warum hat ihm Magda so etwas nur durchgehen lassen? Das passt gar nicht zu ihr. Sie müssen wissen, dass sie sich und anderen stets alles abverlangte.“ Ich legte meine Stirn in Falten. „Zwanzig Jahre sind eine lange Zeit, in der sich Menschen verändern.“ „Sicher“, seufzte sie berührt. „Sicher.“

„Ich erwähne es nur äußerst ungern, aber es deutet vieles darauf hin, dass Ihre Schwester nach dem Tod ihres Mannes…“. Ich zögerte, suchte nach einer geeigneten Formulierung. „…nun ja, sie wollte sich halt nicht für den Rest ihres Lebens in Keuschheit ergeben.“ Meine Klientin sah mich ungläubig an. „Sie sprechen von einem weiteren Mann in ihrem Leben?“ Ich sog den Atem geräuschvoll ein. „Es soll sich um mehrere Männer handeln.“ „Magda? Nein, niemals!“ Sie winkte entschieden ab. „Es muss sich um einen Irrtum handeln.“ Eine solche Reaktion hatte ich erwartet. „Ich stehe natürlich noch am Anfang meiner Ermittlungen, aber wenn Sie Ihre Schwester in dieser Hinsicht falsch einschätzen, käme Eifersucht als ein weiteres Tatmotiv in Frage.“ Meiner Klientin schien allein der Gedanke an ein derartiges Verhalten Ihrer Schwester derart abwegig zu sein, dass sie ihn einfach nicht ins Kalkül ziehen wollte. „Vergessen Sie bitte nicht, dass Sie Ihre Schwester eine sehr lange Zeit nicht gesehen haben. Ich verstehe, dass man es nur schwer akzeptieren kann, wenn sich ein geliebter Mensch offenbar so grundlegend verwandelt hat, aber wie ich bereits sagte: Menschen ändern sich.“

 

-7-

 

Obwohl ich nun schon vor mehr als zwei Monate in der neuen Wohnung eingezogen war und Trude wirklich sehr engagiert beim Einrichten geholfen hatte, fehlten immer noch einige Gegenstände und Kleidungsstücke, die mir sehr am Herzen gelegen hatten. Beispielsweise vermisste ich die alte Trapperjacke, die so super zum Stetson passte. Sie war wie von Erdboden verschwunden. Eigentlich konnte nur Isabelle dahinter stecken. Eine damalige Freundin und Beinahkatastrophe, weil um ein Haar auch Ehefrau, konnte das gute Stück ebenso wenig leiden wie meine Art zu Leben. Sicher war die Jacke ihrer Zwangsneurose, mein Leben von Grund auf umkrempeln zu müssen, zum Opfer gefallen.

Auch wenn ich schließlich die Suche nach der Trapperkluft aufgeben musste, weil ich sonst zu spät zu meiner Verabredung mit Jogi gekommen wäre, grämte mich dies nicht weiter. Immerhin war ich mit der Jacke auch Isabelle losgeworden und das allein war Trost genug, um über diesen Verlust hinwegzukommen.

Es war das erste Mal seit Monaten, dass ich meinen Freund und ehemaligen Kollegen, Hautkommissar Jürgen Wurzer von der Braunschweiger Kripo getroffen hatte. Eigentlich hatten wir uns bei meinem Ausscheiden bei der Kripo geschworen, den Kontakt zueinander nicht abreißen zu lassen, aber wie das nun einmal so ist im Leben, aus häufig wird nicht mehr ganz so oft, bis man sich schließlich nur noch selten sieht. Ob der Grund dafür in der Arbeit lag oder in irgendwelchen anderen Verpflichtungen, sei dahingestellt. Fakt war, dass wir uns immer mehr aus den Augen verloren.

Dieses Mal hatten wir uns im Augusta verabredet. Eine kleine gemütliche Kneipe am Herzogtore, dem Eingang zur ehemaligen Residenzstadt Wolfenbüttel. Der Grund für unsere Wahl lag in der Nähe zu meiner Wohnung begründet. Denn, wenn wir uns trafen, ging's mit unter auch schon mal recht heftig zur Sache. Nicht, dass es nicht auch ohne Alkohol gegangen wäre, aber ein gutes Tröpfchen lockert bekanntlich die Stimmung und trägt somit zu einem fröhlichen Abend bei.

„Was gibt's Neues bei der Braunschweiger Kripo?“, fragte ich meinen Freund wie immer zunächst nach seiner Arbeit. Der winkte nur genervt ab. „Wie immer, zu wenig Leute und viel zu viel Arbeit. Die Zeiten werden immer rauer. Die Menge der Straftaten geht zwar insgesamt zurück, aber die Gewalt nimmt immer mehr zu.“ „Ich hab's gerade erst in der Presse gelesen“, bekundete ich. „Manchmal schlagen die sich nur so zum Spaß die Köpfe ein“, seufzte Jogi frustriert. „Glaub mir, da verlierst du den Glauben an die Menschheit.“ Ich nickte zustimmend. „Ein solches Verhalten umschreibt die Presse dann immer nett mit der zunehmenden Verrohung unserer Gesellschaft.“ „Was willst du, hört sich doch viel besser an“, lachte ich zynisch.

„Na, du hast es da doch wesentlich besser als wir. „So, meinst du? Ich ermittle gerade in einem Fall, bei dem eine Frau in einen Glastisch fiel. Die Schwester glaubt, dass es sich um Mord handelt.“ „Und du?“, fragte Jogi gedehnt. Ich zog die Schulter nach oben. „Ich weiß nicht, es spricht einiges dafür, aber ebensoviel auch dagegen. Ich habe den Fall erst heute Morgen auf den Tisch bekommen, stehe also noch ganz am Anfang.“ „Hört sich interessant an, was sagen denn die Kollegen von der Kripo?“ „Mein spezieller Freund Kleinschmidt ist mal wieder mit der Sache betreut.“ „Ach je, ausgerechnet der“, entgegnete Jogi mitfühlend. „Er glaubt an einen Unfall“, erklärte ich. „Der Leichnam wurde nicht einmal obduziert.“ „Nun, das lässt sich ja noch nachholen“, verkündete Jogi mit dem Brustton der Überzeugung. „Das wird möglicherweise etwas schwierig“, relativierte ich seine Meinung. „Gestern war die Beerdigung.“ Jogis Stirn legte sich in Falten. „Das ist dumm, aber im Endeffekt nur ein Hindernis, welches es aus dem Weg zu räumen gilt.“ Ich machte ein eher skeptisches Gesicht. „Um die Staatsanwaltschaft von einer Exhumierung zu überzeugen, bedarf es handfester Beweise, die ich bislang noch nicht habe.“ Mein Freund stimmte mir zu. „In der Tat, bevor sich ein Jurist weit genug aus dem Fenster lehnt, muss er wissen, dass er weich fällt, wenn er das Gleichgewicht verliert.“ „Du hast es mal wieder auf den Punkt gebracht, Jogi. Aber lass uns von etwas anderem reden. Wie geht es Isa?“

Jogi musste lachen. „Ob ausgerechnet dieses Thema von erfreulicherer Natur ist, wage ich ernsthaft zu bezweifeln.“ „Ich habe sie schon eine kleine Ewigkeit nicht mehr gesehen.“ Mein Freund grinste amüsiert. „Du sprichst doch nicht etwa von eurem Streit auf dem Bohlweg?“ „Du weißt davon? „Klar, Isa hat tagelang von nichts anderem gesprochen. Wie konntest du ihr auch nur so wenig Beachtung schenken?“ „Ehrlich gesagt, war der Bau der Schlossarkaden interessanter als ihr Vortrag über Liebe und Ehe.“

Mein Freund stimmte mir nickend zu. „Übrigens habe ich mir das Center kürzlich angesehen. Architektonisch sicherlich beeindruckend, aber im Grunde gibt es dort nichts, was es nicht woanders auch gibt.“ „Mit dem Einkaufen ist das so eine Sache“, pflichtete ich ihm bei. „Am liebsten lasse ich Trude für mich einkaufen gehen, aber wenn es sich nicht vermeiden lässt, dann kaufe ich am liebsten in Wolfenbüttel ein, ganz ohne Stress und in aller Gemütlichkeit.“ Jogi rieb sich das Kinn. „Allmählich verstehe ich, warum du alles hingeworfen hast.“ „Wenn du auch eines Tages die Schnauze voll hast, kannst du gern bei mir anklingeln“, stellte ich ihm in Aussicht. „Einen guten Ermittler kann ich immer gebrauchen.“ „Darauf lass uns anstoßen.“

Wir stießen so oft an, dass ich nicht mehr weiß, wie ich nach Hause kam. Als ich am nächsten Morgen erwachte, hatte ich den Fuß meines Freundes unter der Nase. Der Traum von dem Mord in der Käserei war also nichts als ein Alptraum gewesen. Dafür waren die heftigen Klopfgeräusche an meiner Wohnungstür so authentisch wie nur möglich.

Noch nicht wieder so ganz unter den Lebenden, tat ich zunächst einen Blick durch den Spion. Ich erschrak geradezu, als ich meine Klientin vor der Tür stehen sah. Sie war in einem ganz erbärmlichen Zustand. Gerade als ich nach dem Schlüssel suchte, trommelte sie wieder gegen die Tür. Es hörte sich an, als dröhnten sämtliche Buschtrommeln des brasilianischen Regenwaldes durch meinen Flur. „Ja, ja, ich komme ja schon, aber hören Sie auf, gegen meine Tür zu hämmern!“, rief ich ihr ziemlich angekekst zu.

„Dem Himmel sei Dank, Sie sind zu Hause“, stürmte sie an mir vorbei in das Schlafzimmer. Jogi erschrak fast zu Tode, als er meine völlig überdreht wirkende Auftraggeberin unmittelbar vor seinem nackten Bauch erblickte. So aufgeregt wie die Dame war, dauerte es einige Sekunden, bis sie ihren Irrtum bemerkte und die Örtlichkeit wechselte. Unbeeindruckt davon hatte ich mich derweil in die Küche geschlichen, wo ich einen Krug Wasser in die Kaffeemaschine kippte und gerade die Filtertüte mit Pulver füllte.

„Haben Sie die Türklingel nicht gehört, Herr Lessing?“, überschlug sich ihre Stimme. Die funktionierte noch gar nicht, aber das fiel mir im Augenblick nicht ein. Stattdessen machte ich einen eher unaufgeräumten Eindruck, um es vorsichtig auszudrücken. „Ein Mann hat mich bis vor dieses Haus verfolgt“, stammelte sie. „Ich hatte solche Angst!“, bekundete sie, sich wie ein gehetztes Reh nach allen Seiten umschauend. „Ist die Klingel kaputt, Herr Lessing?“ „Beruhigen Sie sich erst einmal. Setzen Sie sich bitte in die Küche, der Kaffee läuft gerade durch. Ich sehe mal nach, ob der Typ noch draußen herumlungert. Schließen Sie die Tür und wenn ich zurückkomme, erzählen Sie mir in aller Ruhe, was eigentlich geschehen ist.“

Ohne weitere Zeit zu verschwenden, verließ ich die Wohnung, hastete durchs Treppenhaus und auf die Straße. Es war weit und breit kein Kerl zu sehen, dafür allerdings drei junge Frauen, die abrupt stehen blieben und mich konsterniert anstarrten. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich in Shorts vor ihnen stand. Eine sonderlich gute Figur gab ich wohl nicht ab, wie hätte ich ihr ausgelassenes Gelächter sonst interpretieren sollen? Ja, ja, dachte ich, wer den Schaden hat.. „Was gibt es da zu kichern. Ich gehe immer so aus“, tönte ich voller Überzeugung. „Ist der neueste Schrei aus Paris.“ Die Mädels sahen sich verdutzt an und begannen zu pfeifen. Ich machte eine gekonnte Verbeugung und verschwand im Hauseingang.

Geschlagene zehn Minuten später öffnete mir Jogi endlich die Tür. So lange klopfte ich nämlich gegen die selbige. „Gehst du immer so Brötchen holen?“, empfing er mich grinsend. Ich verdrehte die Augen und schob mich reichlich genervt an ihm vorbei. „Oh!“, vernahm ich einen spitzen Ausruf weiblichen Erstaunens. Meine Klientin hatte die Küchentür geöffnet und starrte abwechselnd auf Jogi und mich. „Ich wusste ja gar nicht, dass Sie schwul sind, Herr Lessing.“ Das war dann selbst für mich zu viel. „Haben Sie ein Problem damit?“, entgegnete ich gefrustet. Fast wäre meiner Auftraggeberin das Gebiss aus dem Mund gefallen, aber wenigstens hatte ich sie vorerst auf andere Gedanken gebracht. Ich brauchte eine Weile, um die Situation aufzuklären. Restlos überzeugt schien sie dennoch nicht.

„Wie sie wissen, bin ich im Hotel Kronprinz abgestiegen. Ich wollte einen Morgenspaziergang durch die ‚Krumme Straße' und das angrenzende Viertel unternehmen. Gerade dort hat sich in den letzten zwanzig Jahren so vieles verändert. Na, jedenfalls ist mir der Typ zum ersten Mal im Lustgarten aufgefallen. Eigentlich war der Mann gut gekleidet. Auch sonst machte er nicht den Eindruck, als führe er böses im Schilde.“ „Wann und vor allem wie kamen Sie denn darauf, dass er es auf Sie abgesehen hatte?“, versuchte ich ihre Schilderung auf den für mich relevanten Teil zu bringen.

„Ich habe dann die Harzstraße überquert, bin an der Hauptkirche vorbei, über den Kornmarkt und schließlich durch die Fußgängerzone, bis hinunter zur Volksbank. Er war die ganze Zeit da, klebte wie ein Schatten an mir. Es war beängstigend!“

„Führen Sie kein Handy mit sich, meine Nummer habe ich Ihnen doch gegeben?“, fragte ich nachdenklich. „Doch, aber – ich habe einfach nicht daran gedacht, Herr Lessing“, stammelte sie. „Also gut, er ist Ihnen also gefolgt“, fasste ich zusammen. „Sprach er Sie an, belästigte er Sie in irgendeiner Form?“ Irmela Mittendorf nickte. Kalter Schweiß stand auf ihrer Stirn. „Genau vor der Polizei – oder besser gesagt, vor der alten Villa am ‚Grünen Platz', in der sie vor zwanzig Jahren untergebracht war.“ „Ja, als die Kaserne an der ‚Lindener Straße' aufgelöst wurde, ist die Polizei umgezogen.“ „Das habe ich bemerkt, als ich dort Schutz suchen wollte“, erregte sich meine Klientin. „Wie ich bereits erzählte, sprach mich dieser Mensch an. Er fragte mich doch tatsächlich, ob ich mich mit ihm über Magda unterhalten wolle.“

Endlich schien die Geschichte interessant zu werden. „Er wusste also, wer Sie waren“, schlussfolgerte ich. „Hat er sich Ihnen vorgestellt?“ „Ich... ich weiß nicht, Herr Lessing“, stotterte sie. Ich verdrehte die Augen. „Als er in seine Jacketttasche griff, bin ich nur noch gelaufen. Er rief mir nach, ließ sich nicht abschütteln, bis ich mich schließlich in dieses Haus flüchtete.“ Ich versuchte mich in die Lage meiner Klientin zu versetzen. Immerhin war Magda Pullmann Ihrer Meinung nach ermordet worden. Kein Wunder also, wenn sie in jedem Unbekannten den vermeintlichen Mörder ihrer Schwester sah und die Emotionen in ihr daher sehr hoch kochten. Merkwürdig an der Sache war allerdings, dass der Unbekannte wusste, wer sie war.

„Wie sah der Mann denn aus?“, fragte Jogi, der sich während ihrer Schilderung im Hintergrund gehalten hatte. „Und Sie sind wirklich bei der Kripo?“, fragte meine Klientin sicherheitshalber nochmals nach. „Sie können es Herrn Lessing schon glauben. Wir waren viele Jahre lang Kollegen.“ „Entschuldigen Sie, aber ich weiß schon gar nicht mehr, was ich noch glauben soll“, seufzte sie. „Mir ginge es an Ihrer Stelle sicherlich ähnlich“, bekundete Jogi verständnisvoll. „Wirklich?“ „Aber ja. Versuchen Sie sich zu erinnern. Wie sah der Mann aus, der sie quer durch die Stadt verfolgte?“

Irmela Mittendorf konzentrierte sich. „Also, er hatte, wie schon gesagt, ein Jackett an. Es war grau, mit einem leicht betonten Karomuster. Dazu trug er eine schwarze Hose und schwarze Schnürschuh. Sehr elegant“, unterstrich sie. „Das haben Sie sehr gut beobachtet. Können Sie sich an sein Gesicht oder an die Farbe seiner Haare erinnern?“, hakte Jogi weiter nach. „Warten Sie.“ Auf der Stirn meiner Klientin bildeten sich tiefe Furchen. Sie schien angestrengt nachzudenken. „Ich glaube, er hatte brünettes Haar.“ „Brünett?“, wiederholte ich ungläubig. „Na ja, halt irgendwie braun“, relativierte sie. „Aber ein Gesicht hatte er, wie James Bond.“ Jogi und ich sahen uns skeptisch an. „Wie James Bond?“, wiederholte nun mein Exkollege. „Wie welcher?“, fügte ich hinzu, während ich mich einer gewissen Ironie in meiner Stimme nicht erwähren konnte. „Er sah aus wie Roger Moore.“

„Ich muss dann jetzt los“, kommentierte Jogi die ausgefallene Personenbeschreibung auf seine Weise. „Eigentlich hätte ich längst im Präsidium sein sollen. Du hältst mich doch auf dem Laufenden?“, spöttelte er in einem Unterton, der mir aus alten Zeiten nur allzu bekannt war. „Worauf du einen lassen kannst.“ Irmela Mittendorf starrte mich befremdlich an. „Ja, war es das jetzt?“ Jogi öffnete seine Arme, machte mit seinen Händen eine verzagte Bewegung. „So lange der Typ nicht zudringlich wird, kann die Polizei nichts machen. Vielleicht führte der Mann gar nichts Übles im Schilde, kannte Ihre Schwester und wollte sich einfach nur nett mit Ihnen unterhalten.“ Meine Klientin machte ein betrübtes Gesicht. „Sie haben Recht, ich hab's verpatzt. Nächstes Mal höre ich mir an, was der Mann will.“ Schließlich fügte sie noch hinzu: „Und dann habe ich einen Fotoapparat dabei, so viel ist sicher!“

Ich hatte längst meine eigene Theorie entwickelt. Der Unbekannte musste einer von Magda Pullmanns Männerbekanntschaften sein. Woher sollte er sonst wissen, dass meine Auftraggeberin die Schwester der Verstorbenen war?

 

 

-8-

 

Der Hilfs- und Pflegedienst ‚Engelhardt' befand sich in Sickte, einer der Samtgemeinden im Landkreis Wolfenbüttel. Bislang war mir der Ort nur von einigen Ausflügen her bekannt, bei denen Isabelle und ich ihn auf dem Weg in den Elm durchquert hatten. Außer dem Zwischenstopp an einem Kiosk an der Hauptstraße konnte ich mich lediglich an ein Cafe am Ortsausgang erinnern.

Kein Wunder also, dass ich auf der Suche nach der Adresse, die mir Trude aufgeschrieben hatte, einige Passanten nach dem Weg fragen musste. Sickte war erheblich größer, als zunächst von mir angenommen. Unweit der Haupt- und Realschule stieß ich endlich auf den ‚Kantorweg'. Eine kurze Stichstraße ohne Wendehammer. Ein freistehendes Schild neben einer Grundstückseinfahrt und ein weiteres an der Hauswand deutete auf den Hilfs- und Pflegedienst ‚Engelhardt' hin. Das Gebäude machte einen eher nüchternen, zweckmäßigen Eindruck.

Ich benutzte die Klingel unterhalb der Sprechanlage, um mich anzukündigen. Eine recht opportune Stimme machte mich auf meine Verspätung aufmerksam, bevor mir der Summer des Türöffners den Eintritt freigab. Bereits auf dem Flur wurde ich von einer äußerst stabilen Dame empfangen, die sich als die Chefin des Pflegedienstes zu erkennen gab. „Unser Termin läuft seit zehn Minuten. Da ich mich für nicht mehr als eine viertel Stunde für Sie frei machen konnte, sollten Sie Ihre Fragen stellen.“ Ich fühlte mich wie vor den Kopf geschlagen. „Hier auf dem Flur?“ „Mein Büro liegt in der ersten Etage, ein Weg von etwa zwei Minuten.“ „Äh, ja, na gut, von mir aus auch hier“, lenkte ich ein.

Während ich meine erste Frage formulierte, sah sie bereits zum dritten Mal auf ihre Armbanduhr. Angesichts der Hektik, die diese Frau verbreitete, fragte ich mich, wie sie es geschafft hatte, eine solche Menge Speck anzusetzen. „Wie Sie sicherlich bereits von meiner Sekretärin wissen, recherchiere ich wegen des Todes von Magda Pullmann.“ „Nach allem, was ich von der Polizei erfuhr, handelte es sich um einen Haushaltsunfall. Was bitte schön gibt es da noch zu ermitteln?“ „Mein Klient glaubt nicht an einen Unfall“, erwiderte ich knapp. „Ich benötige eine Liste mit Namen und Adressen der Leute, die von der Verstorbenen betreut wurden.“

Frau Engelhardt brach unvermittelt in schallendes Gelächter aus. „Klar“, prustete sie, während sie sich die Freudentränen aus den Augen wischte. „Klar gebe ich Ihnen die Liste meiner Kunden.“ Die Farbe ihres Gesichtes wechselte ebenso schlagartig wie ihre Stimmlage. „Damit Sie noch heute mit der Liste zur Konkurrenz laufen und ich morgen meinen Laden zusperren kann! Das Geschäft mit der Gesundheit ist knallhart, da ist sich jeder selbst der Nächste.“

Inzwischen waren wir an ihrem Büro angelangt. Die Frau an meiner Seite schnaufte angesichts der Treppenstufen, die wir gerade hinaufgestiegen waren. Ich sah sie mit einem schiefen Grinsen an. „Was glauben Sie, wie knallhart dieses Geschäft erst für Sie wird, wenn so ein gemeiner Mensch anonym bei der Finanzbehörde anruft und Dinge behauptet, die vielleicht gar nicht wahr sind.“ „Wollen Sie mir drohen?“ Ich griff mir in unschuldig theatralischer Geste an die Brust. „Gute Frau, so etwas würde ich mir nie erlauben. Ich appelliere lediglich an Ihre Unterstützung bei der Aufklärung eines möglichen Verbrechens.“

Die mir verbliebenen fünf Minuten waren längst abgelaufen, ohne dass die wuchtige Dame hinter dem wuchtigen Schreibtisch ein weiteres Mal zur Uhr gesehen hätte. Es fiel ihr sichtlich schwer, als sie die obere Schublade des Karteikartenschrankes aufzog und mir die erbetene Namensliste reichte. „Ich hoffe, Sie vergessen nicht, wer Ihnen weiter half.“ Ich zwinkerte ihr zu. „Wenn ich eines Tages mal nicht mehr so kann, wie ich gern möchte, werde ich mich vertrauensvoll an Sie wenden.“

Klar hatte ich noch etliche Fragen, doch alles, was mir diese Dame erzählen würde, wäre nichts als das geschönte Gequatsche einer auf den guten Ruf ihrer Firma bedachten Geschäftsfrau gewesen. Abgesehen davon mache ich mir gern mein eigenes Bild. Ich nahm mir also die Liste vor und begann damit die Namen nacheinander abzuarbeiten. Ganz oben auf der Liste stand die Adresse einer Frau aus Winnigstedt. Edeltraut Döring bewohnte eine Wohnung in der Schulstraße. Da ich auch hier wieder viel zu viel Zeit mit der Suche nach der angegebenen Adresse vergeudete, beschloss ich, so wie ich wieder flüssig war, mir ein Navigationsgerät zuzulegen.

Das Mehrfamilienhaus in der Schulstraße 8 ließ auf einen ehemaligen Resthof schließen. Die einstigen Stallungen waren aufwendig zu Wohnzwecken umgebaut worden. Da, wo wahrscheinlich noch vor wenigen Jahren die Traktoren gewaschen wurden, waren jetzt eine anziehende Grünfläche und einige Parkplätze angelegt. Im Grunde ein geeignetes Ambiente für ein Alten und Seniorenheim.

Edeltraut Döring unterhielt ihre Wohnung im Hochparterre des herrschaftlichen Haupthauses, in dem sicherlich einmal die Familie des Großbauern wohnte. Gehörte sie am Ende zu jener Gutsfamilie? Wenige Minuten später wusste ich bestens über die Geschichte des Hofes und seiner ehemaligen Bewohner Bescheid.

Die alte Dame saß mir in ihrem Rollstuhl gegenüber. Über ihren Schoß hatte sie eine Decke gezogen und ihre Füße steckten in Filzpantoffeln, wie ich vor Jahren einmal welche aus der Ostzone bekommen hatte. Die waren richtig gut, wie ich mich in diesem Moment erinnern konnte. „Es ist wirklich sehr schade, dass Frau Pullmann nicht mehr zu mir kommen kann“, erzählte sie traurig in abgeschwächt plattdeutscher Mundart. „Tja, leider. Sie haben ja sicherlich erfahren, dass Frau Pullmann bei einem tragischen Unfall ums Leben kam.“ „Ja, ja, s' trifft eben immer die Verkehrten. Sie war so eine freundliche und zuvorkommende Person. Ganz anders als das junge Ding, die sie mir jetzt schicken. Magda hatte immer etwas Zeit für ein kleines Schwätzchen. Mein Sohn, der Lothar, mochte sie auch sehr gern.“

Ich wurde hellhörig. „Lebt Ihr Sohn auch hier?“, hakte ich nach. „I wo, früher einmal, als er noch für den Bauer arbeitete, aber das ist ja vorbei, seitdem der Hof verkauft wurde. Der Lothar lebt jetzt in der Stadt und kommt mich nur noch gelegentlich besuchen.“ „Ach so, dann hat er Frau Pullmann also zufällig hier getroffen“, forschte ich nach. „Ja, ja.“ „Die Zwei wären sicherlich ein schönes Paar geworden“, schoss ich ins Blaue. „I wo, der Lothar ist doch glücklich verheiratet. Der Lothar ist ein guter Junge.“

„Kommen Sie denn hier so ganz allein zurecht?“, wechselte ich das Thema, während ich auf den Rollstuhl deutete. „Ich kann noch mit meinen Krücken laufen“, erklärte sie. „Es wird zwar von Tag zu Tag mühseliger, aber so lange es geht… Meine Einkäufe erledigt der Pflegedienst und ab und an fahre ich ja auch mit meinem Sohn in die Stadt.“ „Sicher um die Enkel zu besuchen“, mutmaßte ich. Die alte Frau sah traurig auf ihre von harter Arbeit zerfurchten Hände. „Gisela wollte nie Kinder, obwohl Lothar…“ Sie unterbrach sich, starrte mich nachdenklich an und kniff die Augen zusammen. „Warum wollen Sie das eigentlich alles wissen?“ „Ich arbeite für die Schwester von Frau Pullmann. Sie glaubt nicht an einen Unfall.“ „Ja, aber wie soll sie denn sonst ums Leben gekommen sein?“, fragte die Frau im Rollstuhl nach einigen Augenblicken intensiven Nachdenkens. „Genau das will ich herausfinden. Deswegen bin ich hier und frage nach Menschen, die Frau Pullman kannten.“

Edeltraut Döring machte ein betretenes Gesicht. „Sie erzählte manchmal von einem neuen Freund, den sie hatte. Ein offenbar sehr kultivierter gut situierter Herr.“ Sie dachte angestrengt nach. „Komisch, da fällt mir ein, in letzter Zeit erzählte sie gar nicht mehr von ihm.“ „Nannte sie vielleicht einen Namen?“ „Ich glaube, sie nannte ihn Robert – oder vielleicht Richard? Nein, jetzt weiß ich's, er hieß Rainer.“ „Der Nachname des Herrn wurde nicht genannt?“ Die alte Dame schüttelte betrübt den Kopf. „Nein, leider.“ Ich reichte ihr die Hand und erhob mich. „Sie haben mir sehr geholfen.“ Ich dankte ihr und verabschiedete mich. „Hoffentlich musste Magda nicht leiden. Ein solcher Mensch hat einen schmerzlosen Tod verdient“, rief mir die Frau im Rollstuhl nach. Es fragte sich nur, ob Magda Pullmann wirklich der gute Engel war, für den sie alle hielten.

Die nächste Adresse war ebenfalls in Winnigstedt. Ein gewisser Martin Walter in der Schöppenstedter Straße. Ein reizender alter Herr, der in den höchsten Tönen von Magda Pullman schwärmte und überaus traurig reagierte, als ich ihm von ihrem Tod erzählte.

 

-9-

 

„Hast du endlich die Kohle?“, fragte der Hüne in den Lederklamotten und dem Dreitagebart. „Aber ich habe euch doch gesagt, dass ihr euch noch ein paar Tage gedulden müsst“, beschwor Joshua die Kerle, die sich hinter und neben ihm an der Theke aufgebaut hatten. „Ihr bekommt das Geld mit Zinsen zurück. Ich gebe euch mein Wort.“ „Fragt sich nur, was das Wort eines verlausten Penners wert ist.“ „Der Boss meint jedenfalls, dass du ihn lange genug an der Nase herumgeführt hast“, mischte sich ein anderer Bursche in Springerstiefeln ein. „Irgendwann ist eben Schluss mit lustig.“

Joshua zog ein Fetzen Papier aus seiner Hosentasche und faltete es hastig auf. „Hier, seht her, dies ist die Abschrift eines Testamentes, in dem mich meine Mutter als Alleinerben einsetzt“, erklärte er mit bebender Stimme. „Es dauert noch ein paar Tage, bis ich die Kohle habe und dann bezahle ich meine Schulden.“ „Bla, bla, bla…“, entgegnete der Typ mit dem Dreitagebart gelangweilt. „Der Boss will aber nicht länger warten.“ Joshua zog kleinmütig die Schultern hoch. „Was soll ich machen?“ „Die Frage lautet wohl eher, was wir mit dir machen“, sagte ein Dritter, der sich bislang im Hintergrund gehalten hatte. Der eher unscheinbar wirkende Mann war in Schöppenstedt und Umgebung allgemein hin als Doktor Jekyll bekannt. Ein Ruf, den er sich durch zahlreiche, nicht ganz konventionelle Operationen erworben hatte.

Joshua wusste um diesen Ruf und es wurde ihm heiß und kalt, als er die Worte des seelenlosen Schlächters vernahm. Kalter Schweiß brach auf seiner Stirn aus und das Blut schoss ihm heiß in den Kopf. Er begann zu zittern und die Stimme versagte. „Bitte“, wimmerte er flehentlich, „wenn ihr mich verschont, werde ich euch einen Bonus zahlen, von dem der Boss nichts weiß.“ „Habt ihr das gehört, Leute? Dieser Schmarotzer will uns bestechen! Hast wohl noch nie etwas von Ganovenehre gehört?“, verhöhnten sie ihn. „Spätestens dafür bist du fällig“, erklärte Jekyll mit ruhiger, gnadenloser Stimme.

„Macht mit dem Kerl von mir aus was ihr wollt, aber schafft ihn vorher hinaus. Ich habe keine Lust, hinterher die Sauerei wegzuwischen“, forderte der Kneipenwirt seine illustren Gäste auf. „Mach dir nicht ins Hemd, so ein paar Spritzer Blut fallen in diesem Saustall doch gar nicht auf.“ Der Kneiper zeigte mit seinen Fingern eine ordinäre Geste. „Ihr müsst die Bullen ja nicht unbedingt mit der Nase draufstoßen. Wo wollt ihr euer Bier trinken, wenn sie mir den Laden dicht machen?“, gab er abschließend zu bedenken. Das machte schließlich Eindruck.

Der mit den Springerstiefeln packte Joshua am Kragen und schleifte ihn mit sich durch die Hintertür nach draußen in den Hof. Spätestens jetzt wurde ihm bewusst, dass auch sein Hund Ramirez nicht helfen konnte. Abgesehen davon, dass die Promenadenmischung ohnehin nicht viel hätte ausrichten können, hatte er ihn dummerweise vor der Kneipe angebunden.

„Ich will heute mal ausgesprochen großzügig zu dir sein“, sagte Doktor Jekyll spöttisch. „Du darfst dir einen Finger aussuchen.“ Joshua wurde übel. Die Erde schien sich unter ihm zu drehen. In seinen Beinen kribbelte es, als krabbelten Millionen kleiner Käfer unter der Haut. Selbst wenn er eine Entscheidung hätte treffen können, war er nicht im Stande, auch nur einen einzigen Laut über seine Lippen zu bringen. Stattdessen nutzte er einen Augenblick der Unachtsamkeit, um sich loszureißen. Er kam nicht weit. Schon das hohe, mit einem Vorhängeschloss gesicherte Tor aus Maschendraht stellte ein unüberwindliches Hindernis für ihn da.

Der Kerl mit dem Dreitagebart riss ihn am Hosenbund zurück, in den staubigen Dreck des Hinterhofes. Joshua schlug hart mit dem Kopf auf, trat einen winzigen Moment lang weg, um durch einen heftigen Schmerz im Rippenbogen in die Realität zurückgeholt zu werden. War dies sein Ende? Hatte er dafür alles riskiert, alles auf eine Karte gesetzt? Warum hatte sie seinem Drängen nach Geld auch nicht nachgegeben? Es ist das letzte Mal, hatte er ihr geschworen und doch war sie so hart und kalt geblieben wie ein Eisklotz. Verdammt, verdammt , schrie er in sich hinein. Längst keines klaren Gedankens mehr fähig, kroch er wie das niederste Lebewesen unter all denen, die nicht mehr als Ungeziefer waren. Seine Hände baten und bettelten, nestelten an Jekylls Schuhe, um ihm seine Demut darzulegen.

Doch der zeigte sich eher angewidert, was er dem Wurm sogleich mit einem Fußtritt demonstrierte. „Schafft mir diesen Speichellecker vom Leibe“, befahl er mit hasserfüllter Stimme. „Wenn ich einen Auftrag annehme, führe ich ihn auch aus.“ Von den beiden anderen Geldeintreibern in aufrechter Position gehalten, musste Joshua mit ansehen, wie sich der Schlächter in provokanter Ruhe seine Handschuhe anzog und sadistisch grinste. Joshua wollte fliehen, sich ein weiteres Mal herauswinden oder zumindest seine Hände zurückziehen, doch alle Kraft verpuffte angesichts der Gewalt, mit der er an seiner Flucht gehindert wurde.

Der Abgesandte des Teufels riss Joshuas Hand an sich, bog die Finger mit einem einzigen, heftigen Ruck nach hinten, so dass es in seiner Hand krachte. Unsäglicher Schmerz stach wie eine Lanze, welche unaufhörlich bis in seine Schulter nach oben getrieben wurde, durch seinen Arm. Niemals zuvor hatte er Schlimmeres ertragen müssen. Jetzt, da sie ihn losließen sackte er, wie eine aufblasbare Gummipuppe, der die Luft entwich, in sich zusammen und stürzte zu Boden. Das Letzte, welches er bewusst wahrnahm, waren die Springerstiefel, die wie ein Hammer in der Nierengegend einschlugen und der Schmerz, der sich in rasanter Geschwindigkeit über den gesamten Rücken ausbreitete. Dann wurde ihm schwarz vor Augen und er verlor das Bewusstsein.

 

 

-10-

 

Der freundliche alte Herr war sichtlich betroffen, als ich ihm von Magda Pullmanns Tod erzählte. Die neue Krankenpflegerin war seinen Fragen bislang ausgewichen. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn auch ich geschwiegen hätte, doch wie sollte ich ahnen, dass es den alten Mann derart mitnehmen würde? Eine verdrückte Träne rann über seine eingefallene Wange, blieb an seinem Kinn hängen, wo sie der alte Herr schließlich mit einer fahrigen Handbewegung fortwischte.

„Sie war ein von Gott gesandter Engel, der mir die letzten Tage meines Lebens wie einen schönen Traum erscheinen ließ“, sinnierte er, während sein trauriger Blick ins Leere wanderte. „Diese Frau hat mir die Freude, den Sinn für alles Schöne zurückgebracht. Sie half mir, den Schmerz meines Alters zu ertragen.“ Ein ganz eigentümliches Lächeln huschte über seine ermatteten Züge. „Sie hatte etwas an sich, Herr Lessing, dass ich nicht zu beschreiben vermag. Es war wie der Hauch meines Atems, den sie mir mit jedem ihrer Besuche auf ein Neues einflößte.“ Er wandte sich mir wieder zu. „Ich habe mich auf jeden ihrer Besuche gefreut, wie ein verliebter Teenager bei seiner ersten Verabredung.“

Ich hatte selten zuvor einen Nachruf gehört, der mir mehr unter die Haut gegangen war. Der Mann war durch die hingebungsvolle Pflege dieser Frau zu neuem Leben erweckt. Was würde nun aus ihm werden? „Ich habe sie geliebt“, kam es plötzlich über seine trockenen Lippen. Der Kloß in meinem Hals wuchs mit jeder Sekunde, in dem ich seine Verzweiflung mit ansehen musste. „Warum hat mir niemand etwas von ihrem Tod gesagt?“, fragte er mich mit zitternder Stimme. „Ich hätte sie so gern auf ihrem letzten Weg begleitet. Verstehen Sie, Herr Lessing? Ich wäre es ihr einfach schuldig gewesen.“ Ich verstand, und doch wäre ich in diesem Moment froh gewesen, wenn ich ihm die Nachricht nicht überbracht hätte.

„Haben Sie jemanden, der sich um Sie kümmert?“, fragte ich den alten Herrn, um ihn in seinem Schmerz nicht allein zurückzulassen. Er sah mich an, lachte bitter auf und schüttelte den Kopf. „Ja, ich habe eine Tochter. Sie ist so kalt und gefühllos wie ein Eisschrank.“ Ein Blick in seine Augen verriet mir die Enttäuschung, die ihn mit seinem eigenen Kind verband. „Sie findet nur dann den Weg zu mir, wenn sie mein Geld braucht.“ „Das tut mir Leid“, entgegnete ich betroffen. „Ihr Beruf hat sie hart gemacht“, erklärte er, nach so etwas wie einer Entschuldigung für seine Tochter suchend. „Sie ist Justizangestellte im Wolfenbütteler Gefängnis. Da hat sie es nur mit zerstörten Existenzen zu tun. Ein solcher Beruf ist nichts für eine Frau“, bekundete er in meinen Augen nach Zustimmung suchend. Vielleicht hatte der alte Mann Recht, vielleicht war dies aber auch die einzige Entschuldigung, die er für das Verhalten seiner Tochter gefunden hatte, deshalb hielt ich meine eigene Meinung zurück und stimmte ihm zu.

„Wenn Sie ein so persönliches Verhältnis mit Magda Pullmann hatten, sprachen Sie doch sicherlich auch über private Dinge.“ „Nun, Magda war erheblich jünger als ich und doch verband uns ein ähnliches Schicksal. Sie verlor ihren Ehemann, wie ich meine Frau, durch eine schwere Krankheit und ihr Sohn taugt ebenso wenig wie meine Tochter. Da gibt es genügend Berührungspunkte für eine ausgeprägte Konversation, das können Sie mir glauben.“ Das konnte ich mir vorstellen. „Hat sie Ihnen jemals von einem neuen Mann in ihrem Leben erzählt?“ Der Alte starrte mich erstaunt an. „Da gab es niemanden! Ich hatte Magda angeboten, nur noch für mich da zu sein. Als private Krankenschwester, Sie verstehen? Das Geld wäre kein Problem gewesen.“

Ich war überrascht. Mit einer solchen Wendung hatte ich nicht gerechnet. „Wie hat sie auf Ihren Vorschlag reagiert?“, fragte ich erwartungsvoll. „Sie wollte darüber nachdenken.“ „Und Ihre Tochter? Hatten Sie ihr davon erzählt?“ „Sicher.“ „Wie hat sie reagiert?“, hakte ich nach. „Nun ja“, entgegnete der alte Herr zögerlich. „Sie war nicht gerade erbaut von meiner Idee, aber sie wusste, dass sie die Letzte war, von der ich mich hätte umstimmen lassen.“ Er spürte, dass ich auf etwas Bestimmtes hinaus wollte. Seine struppigen Augenbrauen zogen sich nachdenklich zusammen.

„Gestatten Sie mir bitte eine abschließende Frage. Wird Ihre Hinterlassenschaft eines Tages auf Ihre Tochter übergehen?“ Der Alte sah mich an, als habe er mit genau dieser Frage gerechnet. Er zögerte mit seiner Antwort. Ich bemerkte, wie es hinter seinen grauen Schläfen rumorte. „Bis jetzt ist nichts anderes geplant.“ Ein unbestimmtes Gefühl sagte mir, dass dies nicht die richtige Antwort war. Die Art und Weise wie er es sagte, war eine andere, als die, in der er von Magda Pullmann zu mir gesprochen hatte.

„Ich möchte nicht unhöflich erscheinen, Herr Lessing, aber ich würde jetzt gern allein sein.“ Auch wenn ich ernste Bedenken gegen diesen Wunsch hegte, so blieb mir letztendlich nichts anderes übrig, als seiner Bitte nachzukommen. „Sind Sie sicher, dass ich Sie allein lassen kann?“, fragte ich wohl mehr, um mein eigenes Gewissen zu beruhigen. „Ich bin sicher nicht deswegen alt geworden, weil ich mich leicht ins Bockshorn jagen lasse“, erwiderte Martin Walter mit fester Stimme. Der Versuch, mir den harten Hund vorzuspielen, misslang gründlich.

 

 

-11-

 

Es war bereits tiefdunkle Nacht, als Joshua zu sich kam. Das Erste, was er wahrnahm, war der üble Gestank, der ihn umgab, was im Hinblick auf seine übliche Körperpflege recht beachtlich war. Völlig orientierungslos blickte er sich um. Erst der heftige Schmerz in seiner linken Hand ließ die Erinnerung in ihm wieder schemenhaft lebendig werden. Schlagartig sah er das hämische Grinsen seiner Widersacher vor sich und die entsetzlichen Gedanken holten ihn in die Realität zurück.

Angewidert schob er mit der rechten den Unrat beiseite, der über ihm lag. Ohne zu ahnen, wo er eigentlich war, richtete er seinen Oberkörper mühsam auf und prallte prompt mit dem Kopf gegen ein Blech. Vorsichtig tastete er seine Umgebung ab und erkannte schließlich, dass die Geldeintreiber ihn in einen Müllcontainer geworfen hatten. Joshua drückte gegen den Deckel, versuchte ihn nach oben aufzuklappen, doch zu seinem Entsetzen bewegte sich dieser nicht. Panik kam in ihm auf. Was war, wenn ihn die Müllabfuhr mitsamt dem Container in die Presse kippte?

Er zwang sich zur Ruhe, versuchte nachzudenken, kühlen Kopf zu bewahren. Schließlich drehte er sich auf den Bauch und stemmte sich mit Rücken und Schulter gegen den Deckel. Selbst die ungeheuren Schmerzen in seiner linken Hand konnten ihn nicht davon abhalten, seine ganze Kraft für einen letzten Versuch zu mobilisieren. Vergeblich, das Blech blieb stur, gab nur geringfügig nach. Zu wenig, um hindurchzuschlüpfen, aber zumindest so viel, um etwas frische Luft in die Moderbox zu lassen. Nach einigen vergeblichen Versuchen gelang es ihm sogar, ein Holzstück in den Spalt zu schieben.

Stunden vergingen, ehe er durch den schmalen Schlitz den Morgen ergrauen sah. Etliche Male hatte er sich zwischenzeitlich ausgemalt, wie er seine missliche Lage erklären sollte, wenn man ihn befreien würde. Eingefallen war ihm jedoch nichts, was auch nur im Mindesten plausibel klang. Wenigstens erkannte er bereits im ersten Licht des Tages, wohin man ihn gebracht hatte. Beruhigen konnte ihn dies allerdings auch nicht. Der Müllcontainer befand sich im hinteren Bereich eines Parkplatzes, der zu einem großen Einkaufszentrum gehörte. Nicht weiter als einen Steinwurf von seinem Elternhaus entfernt und doch so weit.

Die Morgenkühle und ein unsägliches Verlangen nach etwas Flüssigkeit machten ihm das Warten unerträglich, stellten seine Geduld auf eine harte Probe. Nie zuvor war er in eine vergleichbare Situation geraten. Wut kam in ihm auf und schließlich der Gedanke, für das, was er erleiden musste, bittere Rache zu nehmen.

Endlich sah er die ersten Wagen auf dem Parkplatz halten. Ausgerechnet der Filialleiter. Joshua hatte den Mann in keiner guten Erinnerung. Wegen ihm musste er einen Wochenendarrest absitzen. Er beschloss, sich ruhig zu verhalten und auf den nächsten Angestellten zu hoffen.

Der ließ nicht lange auf sich warten. Eine ihm unbekannte Frau parkte ihren Polo in weniger als zehn Metern Entfernung und stieg aus. Ideal, um sie auf sich aufmerksam zu machen. Zunächst zaghaft, dann schlug er lauter gegen das Blech. Die Frau sah sich suchend um, visierte schließlich den Container an und kam näher. „Hallo, ist da jemand?“, erkundigte sie sich zögerlich. „Bitte helfen Sie mir“, entgegnete Joshua flehentlich. „Ich bin überfallen und hier eingesperrt worden.“

Die Unbekannte schien ihm die Geschichte tatsächlich abzunehmen. Wie naiv die Weiber doch sind , wunderte er sich, während sie näher kam. „Das ist ja schrecklich, warten Sie, ich lasse Sie sofort heraus.“ Doch schon im nächsten Moment wurde klar, dass er noch länger auf seine Befreiung warten musste. „Es tut mir Leid, aber ich bekomme den Riegel nicht zurückgezogen.“ „Meine Güte“, haderte Joshua, „…nun stellen Sie sich doch nicht so dämlich an.“ „Ich werde meinen Chef zu Hilfe holen, der hat einen Schlüssel für den Container.“ „Nein!“, rief ihr der Gefangene vergeblich nach. Wütend schlug er seine Fäuste gegen das Blech und stieß noch mit derselben Sekunde einen markerschütternden Schrei aus. Seine Hand, er hatte die gebrochenen Finger vergessen.

Es vergingen weitere unendlich lange dauernde Minuten, bis seine Retterin mit dem Filialleiter im Schlepptau zurückkehrte. Doch selbst das war Joshua jetzt egal. Er wollte nur noch aus diesem verdammten Müllcontainer heraus und irgendetwas einwerfen, was ihn diese irrsinnigen Schmerzen vergessen ließ. „Hallo? Jetzt wird es nicht mehr lange dauern, bis Sie frei sind. Ich habe die Polizei bereits angerufen. Sie haben Glück, Herr Möller ist gerade in der Nähe. Er wird jeden Moment hier sein.“

Joshua konnte sein Glück kaum fassen. Der Obermufti vom Elm – Asse – Platz hatte ihm gerade noch gefehlt. Immer wenn er in Schwierigkeiten war, hatte er es diesem übereifrigen Bullen zu verdanken. Bei seiner letzten Begegnung mit diesem Vertreter staatlicher Monopolgewalt, hatte er sich seines gesamten Vorrats an Heroin unwiederbringlich entledigen müssen. Ausgerechnet der sollte ihn jetzt in dieser misslichen Lage sehen? „Nun machen Sie schon endlich auf!“, blaffte er den Filialleiter an. Der war jedoch nach wie vor damit beschäftigt, den Mechanismus des Rasterbügels mit dem Schlüssel zu entsichern.

„So haben Sie doch noch einen Augenblick Geduld, der Bügel scheint verbogen zu sein. Ich tu mein Möglichstes.“ Das war der Moment, in dem der Einsatzwagen von Oberkommissar Möller vorfuhr und sich Joshua am liebsten ganz unten unter all dem Müll verkrochen hätte. „Sie sind gleich frei“, versprach der Filialleiter. „Meine Mitarbeiterin hat einen Schraubenzieher geholt.“

Joshuas Freude, als Oberkommissar Möller und der Filialleiter den Deckel des Müllbehälters anhoben, hielt sich in Grenzen. Auch die Männer vor dem Container sahen sich verdutzt an. Fast hatte es den Anschein, als hätten sie den Deckel am liebsten wieder zugeschlagen. „Wer anders als du sollte auch in eine solche Situation geraten?“, schüttelte der Polizeibeamte verständnislos den Kopf. „Kannst du mir vielleicht mal verraten, wie du da reingekommen bist?“ „Freiwillig jedenfalls nicht!“, blaffte Joshua zurück. „Komm erst einmal da raus.“ „Meine Güte, wie das stinkt“, tönte der Filialleiter, die Nase rümpfend.

„Vorsichtig“, brüllte Joshua schmerzerfüllt. „Meine Hand ist gebrochen.“ Erst jetzt bemerkten die Männer seine blau angelaufene Hand. „Das sieht ja schlimm aus“, begutachtete Oberkommissar Möller die Verletzung. „Damit musst du auf jeden Fall ins Krankenhaus. Ich rufe sofort einen Rettungswagen und dann erzählst du mir erst einmal, was du in diesen Müllcontainer zu suchen hattest.“

Joshua hatte auf der Rücksitzbank des Streifenwagens Platz genommen und versuchte, seine Geschichte ein zweites Mal an den Mann zu bringen. Oberkommissar Möller kannte ihn lange genug, um zu wissen, wann er eines seiner Schauermärchen zum Besten gab. „Weißt du, Joshua, ich glaube dir kein einziges Wort.“ „Das ist Ihr Problem! So und nicht anders ging's ab. Egal, ob es Ihnen gefällt oder nicht, ich bleibe dabei.“

Der Dienststellenleiter setzte seine Lesebrille auf, um Joshuas Angaben zu Papier zu bringen. „Wie sahen denn die Männer aus, die dich überfallen haben?“ „Woher soll ich denn das wissen? Vielleicht war's dunkel! Die Feiglinge kamen von hinten und zogen mir eins über. Von da ab kann ich mich an nichts mehr erinnern. Als ich zu mir kam, war ich in dem verdammten Müllcontainer. Den Rest kennen Sie ja.“ „Allerdings“, bekundete Möller. „Hast du schon nachgesehen, ob dir etwas fehlt?“ „Was denken Sie denn? Das war das Erste, was ich gecheckt hab, als ich wieder zu mir kam!“ „Und?“, fragte der Mann auf dem Vordersitz ungeduldig. „Mein Portmonee. War aber nix drin!“ „Na, das ist doch mal eine Aussage, die ich dir mit ruhigem Gewissen glauben kann.“

 

 

-12-

 

Bis zum Nachmittag hatte ich zwei ältere Damen und drei pflegebedürftige Herren in Sickte und in Schöppenstedt aufgesucht. Zu hören bekam ich überall das Gleiche. Magda Pullmann galt als überaus zuverlässig, fleißig, von Grund auf ehrlich und freundlich. Sie war überall beliebt und sehr angesehen. Die Nachricht von ihrem Tod hatte überall Trauer und Bestürzung ausgelöst.

Es war ziemlich genau sechzehn Uhr, als mein Handy dudelte und ich den Wagen am rechten Fahrbahnrand anhielt.

„Er war wieder da!“, vernahm ich eine aufgeregte Stimme. Zunächst wusste ich gar nicht, mit wem ich eigentlich sprach. „Sie hatten Recht, der Mann war ein Bekannter meiner Schwester. Er hat mich auf der Beerdigung gesehen und er möchte sich heute Abend mit mir treffen. Bitte begleiten Sie mich, Herr Lessing.“ Natürlich wusste ich inzwischen, dass es sich bei der Anruferin um meine Klientin handelte. Ich hatte allerdings nicht damit gerechnet, dass sich der unbekannte Verfolger schon so bald wieder melden würde.

„Am besten beruhigen Sie sich erst einmal. Sind Sie zurzeit in Ihrem Hotel?“ „Ja, im Kronprinz.“ „Gut, bitte warten Sie dort auf mich, ich komme sofort zu Ihnen.“ Noch kannte ich den geheimnisvollen Unbekannten nicht, aber möglicherweise war dies ein Weg, mehr über die wahre Magda Pullmann herauszufinden. Dazu musste ich jedoch unbedingt mit meiner Klientin sprechen.

Wie von mir verlangt, wartete meine Auftraggeberin in der Bar des Hotels. Ein kleines, schummriges Lokal, ideal, um sich unbeobachtet zu unterhalten. „Danke, dass Sie so schnell gekommen sind“, empfing mich meine Auftraggeberin angesichts meines Erscheinens sichtlich erleichtert. Ich stülpte meinen Stetson über einen der Garderobenhaken und setzte mich zu ihr.

„Na, dann erzählen Sie mal der Reihe nach, wie es zu der Verabredung kam.“ Irmela Mittendorf schluckte trocken. „Ich habe alles so gemacht, wie Sie es mir rieten. Diesmal habe ich ihn gar nicht bemerkt. Wie aus dem Nichts stand er plötzlich vor mir. Ich erschrak fast zu Tode. Er hielt ein Bild von Magda in der Hand. Ein Bild aus unserer Kindheit. Ich konnte mich sofort wieder daran erinnern. Wie sollte er an das Bild gekommen sein, wenn er nicht ein guter Freund meiner Schwester gewesen war?“ „Erzählen Sie weiter“, forderte ich sie auf.

„Guten Tag, was darf ich Ihnen bringen?“, unterbrach uns die freundliche Stimme des Kellners. „Eine Tasse Kaffee“, bestellte ich. „Darf es für Sie auch noch etwas sein?“, fragte ich an meine Klientin gewandt. Die schüttelte nur den Kopf. „Es tut mir sehr Leid, aber wir haben nur Kännchen.“ So etwas hatte ich auch schon länger nicht mehr gehört. „Nein danke, das ist mir im Moment zu viel. Dann bringen Sie mir bitte ein Mineralwasser.“ Der Kellner nickte und verschwand.

„Wo waren wir stehen geblieben?“, fragte meine Klientin unsicher. „Sie haben mir von dem Bild erzählt.“ „Ach ja. Der Mann stellte sich mir als Lothar Kluge vor und erklärte, mit Magda durch eine tiefe Freundschaft verbunden gewesen zu sein.“ „Ich verstehe nur noch nicht, was der Mann eigentlich von Ihnen will.“ „Genau das will er mir heute Abend sagen, wenn wir uns treffen. Jedenfalls tat er sehr geheimnisvoll. Er kam mir nicht weniger nervös vor, als ich es war. Immer wieder sah er sich um. So, als wolle er auf keinen Fall mit mir zusammen gesehen werden.“

Ein in der Tat merkwürdiges Verhalten. „Wo soll dieses Treffen stattfinden?“, fragte ich skeptisch. „Ich wollte nicht zusagen, ehe ich mit Ihnen darüber gesprochen habe. Er ruft mich um achtzehn Uhr an.“ Endlich eine Situation, die man bestimmen und daher planen konnte. „Das haben Sie großartig gemacht“, lobte ich. „Das bedeutet, dass Sie den Ort Ihres Zusammentreffens auswählen werden. Ich werde Sie mit einem Mikrophon ausstatten und bereits vor Ihnen am vereinbarten Treffpunkt sein, um Ihr Gespräch mitzuhören und um gegebenenfalls eingreifen zu können.“

Meine Auftraggeberin zeigte sich um ein gehöriges Maß beruhigter. „Aber wo soll ich mich mit ihm treffen?“ Ich dachte einen Moment angestrengt nach. Im Hotel meiner Klientin wäre es für mich sicherlich von Vorteil gewesen, ich musste jedoch davon ausgehen, dass ihm dieser Vorschlag nicht behagte. Warum hätte er sich sonst vor dem Hotel postieren und die Schwester seiner verstorbenen Freundin quer durch die Stadt verfolgen sollen? Wer auch immer der Unbekannte war, er legte offensichtlich größten Wert auf Diskretion.

„Schlagen Sie ihm den Bayrischen Hof vor. Dort gibt es kleine versteckte Nischen, in denen man ungestört ist. Vor allem aber kann ich dort einen Tisch wählen, von dem aus ich Sie gut im Auge behalten kann, ohne selbst gesehen zu werden.“ „Ich bin so froh, mich an Sie gewandt zu haben“, zollte mir meine Klientin Anerkennung. „Ich auch“, entgegnete ich mit einem Schmunzeln auf den Lippen. Dass ich dabei an das in Aussicht gestellte Honorar dachte, war mir hoffentlich nicht anzumerken. Ein Blick zur Uhr verriet mir, dass bis zum Anruf des Mannes; der sich Lothar Kluge nannte, etwas mehr als eine halbe Stunde verblieb.

„Ich werde jetzt das nötige Equipment besorgen. Sie sind bitte so nett und ziehen sich etwas Bequemes an. Es sollte möglichst salopp sitzen, um Mikrophon und Sender problemlos darunter zu verbergen.“ Meine Auftraggeberin nickte zuversichtlich. „Das sollte kein großes Problem sein. Ich trage mit Vorliebe eine weit geschnittene Garderobe.“ „Was Ihnen hervorragend steht“, flattierte ich. „Herr Lessing, Sie sind ja ein Galant.“

Ich ließ ihre Bemerkung stehen, weil ich so etwas eher selten zu hören bekam. Noch bevor ich ins Auto stieg, rief ich in der Detektei an. Ich hatte Glück, Trude war noch im Büro. Ich bat sie, die benötigten Sachen zusammenzupacken und bereitzuhalten. Sie deutete an, etwas in Erfahrung gebracht zu haben, was unseren Fall betreffen konnte. Die gute Seele war wie ein Bluthund, den, wenn er erst einmal Fährte aufgenommen hat, nichts mehr von seinem Ziel abhalten kann.

Während ich schließlich das Equipment überprüfte, erzählte mir Trude von einem großen Discounter, der angeblich in Schöppenstedt auf der ‚Neuen Straße' nach einem geeigneten Grundstück suchte. Klar, dass ich dies sofort auf das Geburtshaus meiner Klientin bezog. Man hört schließlich nicht selten von so genannten Immobilienhaien, die sich solches Insiderwissen zu Nutze machen und mit dem nötigen Druck auf die Eigentümer adäquate Liegenschaften weit unter Wert an sich bringen, um sie dann an solvente Investoren teuer zu verkaufen.

„So, ich glaube ich habe alles“, nickte ich Trude zufrieden zu und schloss den Reißverschluss der Sporttasche. „Gut gemacht“, lobte ich sie. „An der Sache könnte tatsächlich was dran sein.“ Ich kniff ein Auge zusammen und fixierte sie mit dem anderen. „Woher haben Sie eigentlich diese Information?“ Trude machte mir die Geste nach. „Das wollen Sie nicht wirklich wissen.“ Ich verkniff mir jeglichen Kommentar. „Soll ich versuchen, mehr darüber herauszufinden?“ „Wenn Sie bei Ihren Recherchen nichts Verbotenes machen.“ „Neiiiin, wo denken Sie hin“, entgegnete sie gedehnt. Ich hob drohend den Zeigefinger. „Lassen Sie sich nicht vom lieben Gott erwischen.“

 

 

 

 

 

-13-

 

Meine Klientin war augenscheinlich nervös. Sie saß an dem Tisch, den ich ihr angedacht hatte und wartete gespannt auf das Erscheinen von Lothar Kluge. Das Telefonat war problemlos verlaufen. Der angebliche Freund ihrer Schwester hatte der Wahl des Treffpunktes zugestimmt, ohne Verdacht zu schöpfen. Ich hatte mich an einen Tisch gesetzt, der in einem anderen Raum stand, den Blick in den Nebenraum jedoch durch eine große Maueröffnung gestattete. Um nicht erkannt zu werden, hatte ich darauf geachtet, dass der Unbekannte mit dem Rücken zu mir saß.

Es war bereits fünf Minuten über die verabredete Zeit, als ihn der Ober an den Tisch meiner Klientin führte. Er ging ohne zu Zögern auf sie zu, ergriff ihre Hand und deutete einen Handkuss an. Wer immer der Kerl auch war, er hatte Stil. Der Ober zog den freien Stuhl zurück und wartete, bis sich der Mann im grauen Sakko gesetzt hatte. Dann reichte er seinen Gästen die Speisekarte und entfernte sich.

„Ganz nett hier“, sah sich der Mann um, der sich Lothar nannte. „Wie kommt es, dass sich jemand, der seit über zwanzig Jahren in Kanada lebt, so gut in Wolfenbüttel auskennt?“, fragte er erstaunt. „Magda und ich waren sonntags manchmal mit unseren Eltern zum Essen hier. Damals hieß das Gasthaus allerdings ‚Gildehof'.“ „Sie haben ein ausgesprochen gutes Gedächtnis“, befand er und fügte hinzu: „Wie Magda. Übrigens sehen Sie ihr sehr ähnlich.“

Endlich waren sie beim Thema angelangt. Ich muss zugeben, dass er sich dabei recht geschickt anstellte. Leider platzte der Ober ausgerechnet jetzt dazwischen.

„Haben Sie bereits gewählt?“, erkundigte er sich zurückhaltend. „Oh, ich muss gestehen, eigentlich gar keinen großen Appetit zu haben. Wenn's recht ist, nehme ich einen Salat.“ „Selbstverständlich, die Dame. Haben Sie an einen bestimmten gedacht?“ „Wenn es gemischten gibt…?“ „Aber gern. Einen gemischten Salat für die Dame“, wiederholte er fein, „…und was darf es für den Herren sein?“ „Ich nehme einen Leberkäse nach Art des Hauses und dazu einen trockenen Rotwein.“ „Den nehme ich auch“, pflichtete ihm meine Klientin bei. „Aber bitte sehr“, entgegnete der Ober und verschwand.

„Der Grund für meine Bitte, sich mit mir zu treffen, ist von etwas delikater Natur“, kam der Unbekannte jetzt ohne Umschweife zur Sache. „Wie Sie möglicherweise bereits erahnen, waren Magda und ich ein Paar.“ Er setzte ab, seufzte und sah meine Auftraggeberin aus verzweifelten Augen an. „Ich weiß gar nicht, wie ich mich Ihnen gegenüber erklären soll.“ „Ist es denn so schlimm?“, fragte meine Klientin aufmunternd. Ihr Gegenüber spielte nervös mit seinen Händen. „Eigentlich nicht“, entgegnete er ein weiteres Mal tief seufzend. „Ich bin verheiratet“, kam es schließlich stockend über seine Lippen. „Sehen Sie, war doch gar nicht so schlimm“, bestärkte ihn meine Auftraggeberin darin, fortzufahren.

„Nun ja“, druckste er weiter herum, „...es gibt einige Dinge in Ihrem Haus, die mir gehören und andere, die ich gern als Andenken behalten würde. Sie haben sich sicherlich schon über die ausgefallenen Spielzeuge gewundert.“ „Spielzeug?“, wiederholte Irmela Mittendorf verwundert. Mir schwante allmählich, warum sich der Typ so merkwürdig verhielt. „Äh, äh“, rang der Unbekannte nach den passenden Worten. „Ihre Schwester und ich hatten da unsere ganz eigenen Fantasien, wenn Sie verstehen, was ich meine.“

Na endlich war's raus, doch meine Klientin schien auch jetzt noch nicht zu begreifen. War diese weltoffene Kanadierin tatsächlich so prüde oder stellte sie sich nur unwissend. Mit einem gewissen Schmunzeln in den Mundwinkeln verfolgte ich ihren Dialog weiter. Plötzlich sprang sie auf wie jemand, dem gerade eine ungeheuerliche Beleidigung ins Gesicht geschleudert worden war. „Was wollen Sie mir eigentlich sagen!“ Sie holte tief Luft. „Dass sich meine Schwester zu perversen Spielchen hinreißen ließ?“ In ihren Augen funkelte es bedrohlich. „Auch wenn ich meine Schwester schon seit etlichen Jahren nicht mehr gesehen habe, aber zu solchen Abartigkeiten hätte sie sie niemals verleiten lassen.“

„So hören Sie doch“, versuchte sich der Unbekannte zu erklären. „Alles, um was ich Sie bitten möchte, ist Diskretion. Es wäre nicht auszudenken, wenn meine Frau davon erfahren würde.“ „Da sind Sie bei mir an der falschen Adresse. Die Hälfte des Hauses wurde meinem Neffen zugesprochen.“ Lothar Kluge sackte in sich zusammen und plumpste förmlich auf den Stuhl, der gottlob noch hinter ihm stand. „Das verstehe ich nicht! Nie und nimmer hätte Magda gewollt, dass ihr Elternhaus in die schmutzigen Pfoten dieses Nichtsnutz fällt.“ „Zumindest in sofern kann ich Ihnen zustimmen“, beruhigte sich meine Klientin ein Stück weit. „Soviel mir bekannt ist, wollte Magda ihr Testament ändern und Sie als ihre alleinige Erbin einsetzen“, fuhr der Geliebte der Verstorbenen fort. „Sie war von ihrem Sohn über alle Maßen enttäuscht.“

Das Gespräch schien interessant zu werden. Hatte Joshua am Ende seine eigene Mutter getötet, um der drohenden Enterbung zuvorzukommen? Ein Motiv war dies allemal. Meine Klientin lag also mit ihrem Verdacht keinesfalls daneben. Trippelnde Schritte kündigten den zurückkehrenden Ober an. Er brachte die bestellten Getränke und verschwand wieder. Ich horchte weiterhin angespannt zu.

„Tja, so ist das Leben“, seufzte Irmela Mittendorf. „Das Glück des einen ist das Unglück des anderen.“ „Sofern es sich tatsächlich um einen Unglücksfall handelt“, brachte es Lothar Kluge auf den Punkt. Er schüttelte fassungslos mit dem Kopf. „Oh Gott, oh Gott, wenn die Fotos in die Hände dieses Kretins fallen, wird er mich in der Öffentlichkeit damit bloßstellen.“ „Fotos?“, erschrak meine Klientin. „Was für Fotos?“ „Nun ja, wir haben uns gegenseitig fotografiert.“ „Doch wohl nicht bei diesen…“, erahnte meine Auftraggeberin das Schlimmste. „Leider doch. Meine Frau wird sich von mir trennen.“ Er griff sich an den Kopf, als wurde ihm die Tragweite seines Handelns erst in diesem Moment so richtig bewusst. „Mein Leben ist zu Ende!“

„Ich kenne meinen Neffen zwar nicht wirklich, aber so, wie ich ihn bislang erlebte, wird er nicht mit sich reden lassen“, mutmaßte Irmela Mittendorf. Kluge stutzte. „Es wird ihm ein besonderes Vergnügen sein, seine Mutter und mich mit Dreck zu bewerfen. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich spreche.“ Meine Klientin stellte ihm die Frage, die mir nicht weniger auf der Seele brannte. „Warum hasste der Junge seine Mutter so? Magda hat doch gewiss alles für ihn getan?“ „Soviel ich weiß, gab er ihr eine Mitschuld am Tod seines Vaters“, erklärte Kluge. „Was natürlich völlig aus der Luft gegriffen war. Ich für meinen Teil glaube, und das habe ich auch Magda gesagt, dass er dies nur deshalb behauptete, um seine Mutter moralisch zu erpressen.“

Ich befürchtete, dass er damit so ziemlich ins Schwarze traf. Ich war nur gespannt, wie er sein Problem mit den Fotos lösen wollte, denn bei all den ausgefallenen Spielchen, die er offenbar mit der Verstorbenen getrieben hatte, hielt ich ihn nicht für den Typ Mann, der tatenlos mit ansah, wie sein Leben ruiniert wurde.

„Wie lernten Sie und Magda sich eigentlich kennen?“, stellte meine Klientin die spezifischste aller Fragen, die aus dem Mund einer Frau kommen kann. „Das war leider nicht sonderlich aufregend“, begann Kluge frei von der Leber weg zu erzählen. „Magda kümmerte sich als Krankenpflegerin um meine Mutter.“ Ich wurde hellhörig. „Mein Name lautet eigentlich Döring.“ Jetzt fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Hatte mir nicht noch am Morgen eine Frau Döring von ihrem Sohn erzählt? Allerdings war sie der Ansicht gewesen, dass die Verstorbene ihren Freund Rainer nannte.

„Es muss doch eine Möglichkeit geben, an diese Fotos zu gelangen“, sinnierte er. „Vielleicht ließe sich Joshua auch zu einem Verkauf der Aufnahmen bewegen?“, überlegte meine Klientin. „Ich traue dem Bengel keinen Meter über den Weg. Wie ich den kenne, verkauft der mir die Bilder und macht sich anschließend einen Spaß daraus, sie trotzdem zu veröffentlichen.“ Irmela machte ein betrübtes Gesicht. „Sie kennen ihn offensichtlich besser als ich.“ „Schon möglich. Eins ist klar, wenn wir das Schlimmste abwenden wollen, müssen wir uns die Fotos dort holen, wo sie sind.“

Damit hatte der angebliche Lothar die Katze aus dem Sack gelassen. Noch etwas war mir aufgefallen. Zunächst wollte er die Sache allein bereinigen, doch als er bemerkte, dass meine Klientin darauf bedacht war, den Namen ihrer Schwester sauber zu halten, nahm er auch sie in die Pflicht.

„Nein, nein, da lassen Sie mich mal schön raus“, wich sie entschieden zurück, ohne dass ich eingreifen musste. „Wenn ich Sie gerade richtig verstanden habe, wollen Sie in mein Geburtshaus einbrechen, um an die Fotos zu gelangen. Mit so etwas will ich nichts zu tun haben.“ „Hätte ich mir ja denken können! Magda war da ganz anders. Kein Wunder, dass sich Egon für Ihre Schwester entschieden hatte.“ Was für eine Unverschämtheit. Es überraschte mich wie ruhig meine Klientin angesichts einer solchen Frechheit blieb.

 

 

-14-

 

„Ich weiß“, hechelte ich von links nach rechts über das Spielfeld. „Ich weiß, dass du es hasst, wenn ich dich bei unseren Verabredungen mit meinen Fällen langweile, aber diesmal liegt die Sache wirklich anders.“ Miriam traf den Hartgummiball genau auf den Punkt, was bedeutete, dass dieses Ding mit einer Affengeschwindigkeit von der Wand abprallte und genau auf mich zugerast kam. An ein Ausweichen war nicht mehr zu denken. Das Geschoss erwischte mich genau über den Augen und warf mich rücklings zu Boden. „Quatschen wir jetzt oder trainieren wir? Übrigens sagst du jedes Mal, dass es sich um etwas ganz Besonderes handelt.“

Staatsanwältin Miriam Herz reichte mir ihre Hand, um mir auf zu helfen. „Wenn es nicht so verdammt wichtig wäre, würde ich dich nicht belästigen“, entgegnete ich wütend über meine Unachtsamkeit. „Ach, jetzt ist der Herr auch noch beleidigt“, interpretierte Miriam meinen Gesichtsausdruck falsch. „Quatsch!“ Die drahtige Blondine tupfte sich mit einem Handtuch über die Stirn. „Also, nun frag schon.“ Einen Moment lang überlegte ich, ob ich in der Position war, in der sich gekränkte Eitelkeit mit männlichem Chauvinismus kreuzen lässt. Letztendlich entschied ich mich, ganz einfach mein Anliegen vorzubringen.

„Es geht um ein Grundstück in Schöppenstedt“, erklärte ich ihr, während ich zu einem erneuten Ballwechsel aufschlug. „Offenbar will sich dort ein namhafter Discounter an der ‚Neuen Straße' niederlassen.“ „Ist das nicht in der Nähe des Einkaufszentrums?“, fragte Miriam, dem Ball eine andere Richtung gebend. Die Murmel schlug über Eck, sprang auf den Boden und derart hoch wieder ab, dass ich Mühe hatte, ihn noch zurückzuschlagen. „Ja, genau“, bestätigte ich. „Soweit mir bekannt ist, hat besagter Discounter die Suche nach einem geeigneten Grundstück an die Wolfenbütteler Immobilienfirma ‚Imotax ' übertragen.“

Miriam schaute überrascht zu mir herüber. „Pass auf!“, rief ich ihr zu. Diesmal raste der Ball genau auf ihren Body zu. Nur ein Superreflex bewarte sie vor einem blauen Fleck. „Imotax, bist du sicher?“ „Weißt du etwas über diese Firma, was mir weiter helfen könnte?“ Der Hartgummiball hüpfte über das Spielfeld. „Imotax ist für uns keine Unbekannte. Ein gewisser Seiler ist dort Drahtzieher. Leider konnten wir ihm bislang nichts nachweisen. Du weißt schon, das Übliche halt. Entmietung durch Einschüchterung und Erpressung. So lange sich die Betroffenen nicht zur Wehr setzen, können wir nichts machen.“

Das hörte sich doch schon recht viel versprechend an. „Du meinst, wo kein Kläger, da kein Richter.“ „Genau, der Kerl ist schlüpfrig wie ein Aal und kalt wie eine Hundeschnauze.“ „Du meinst, der Herr würde auch härtere Geschütze aufzufahren, um sein Ziel zu erreichen?“ Miriam bückte sich nach dem Ball. „Nach allem, was ich bislang in meinen Unterlagen habe, ist dem Mann wohl so ziemlich jedes Mittel recht, um sein Ziel zu erreichen.“ Meine Trainingspartnerin schlug erneut auf. „Auch nicht vor Mord?“ Die Staatsanwältin sah ungläubig zu mir herüber. Der Ball klatschte an den Rahmen meines Squashschlägers und schnellte unkontrolliert zurück. „Mir ist nichts von einem Mord in Schöppenstedt bekannt“, sinnierte Miriam.

Bewundernswert, wie sie den Ball trotz seines flatterigen Flugs noch erwischte und mit Power zurückschlug „Kleinschmidt geht von einem Unglücksfall aus.“ „Du sprichst doch nicht etwa von der Sache Pullmann?“ „Doch!“, erwiderte ich, den Schläger gerade noch hinter den Ball bringend. „Du scheinst etwas aus der Übung zu sein“, feixte Miriam. „Das sieht nur so aus“, entgegnete ich, „...bislang mache ich mich nur warm.“ „Glaub mir, Leo, die Sache Pullmann ist so klar wie das Wasser in der Oker.“ „Meinst du an der Quelle oder an der Mündung?“

„Jetzt mal im Ernst, Leo“, kam Miriam nach Abschluss des Trainings noch einmal auf unser Gespräch zurück. Wir saßen inzwischen jenseits der Panoramaglasscheibe, hatten einen isotonischen Durstlöscher vor uns auf dem Tisch und sahen anderen zu, wie sie sich beim Squash zum Affen machten. „Wie kommst du darauf, die Imotax könnte etwas mit dem Tod dieser Frau zu tun haben und woher weißt du, dass sich in Schöppenstedt ein weiterer Discounter niederlassen will?“ „Ich habe halt eine tüchtige Sekretärin und die verfügt über zahlreiche bemerkenswerte Kontakte.“ „Willst du mich verscheißern? Das ist Insiderwissen, da kommt man nicht einfach so ran.“ „Trude ist auch nicht einfach nur eine Sekretärin“, entgegnete ich schmunzelnd. „Da hast du wohl Recht.“

„Wechseln wir noch die Lokalität?“, fragte ich etwas müde. „Ich denke, es ist Zeit“, entgegnete Miriam verschwörerisch, „...dass ich dir ein bisschen mehr von mir verrate.“ Ich sah die Frau, die ihre Hand auf die meine gelegt hatte, fragend an. „Wie meinst du das?“ „Wenn du nicht schon zu müde bist, könnten wir den Abend bei mir mit einem gemütlichen Glas Wein ausklingen lassen.“ „Ich gebe zu, du schaffst es immer wieder, mich zu überraschen.“ Miriam zwinkerte mir zu. „Das Leben steckt halt voller Überraschungen.“

Die Skyline der Stadt lag weit unter uns. Um genau zu sein, es waren acht Etagen. Die, bei den Wolfenbüttelern als Masttower bekannten Gebäude gehörten zu den höchsten Wolkenkratzern der Stadt. Miriams Wohnung befand sich direkt unter dem Dach. Ich erinnerte mich schmunzelnd an unseren ersten Abend und an die darauf folgende Nacht, als ich Miriam völlig betrunken ins Bett brachte und selbst mit dem Sofa vorlieb nahm. Seitdem waren mehr als sechs Monate vergangen und aus der damaligen Freundschaft war so etwas wie eine Beziehung geworden.

„Machst du schon mal auf?“, bat Miriam, mir die Flasche reichend. Während ich über die Brüstung des Balkons blickte und die Abenddämmerung betrachtete, hatte sie sich etwas Bequemeres angezogen. Ihre atemberaubenden Rundungen ließen mich nur vermuten, was sie unter dem wenigen verbarg, was sie noch anhatte. Miriam war eine äußerst attraktive Frau. Sie war sicher die mit Abstand hübscheste Staatsanwältin, die ich kannte. Die klirrenden Weingläser rissen mich jäh aus meinen Gedanken. Miriam füllte sie und reichte mir eines.

„Ich liebe diese Abende“, schwärmte sie mit sanfter Stimme, sich eng an mich schmiegend. Ich strich ihr gefühlvoll über den Rücken, umschlang ihre Taille und gab ihr das Gefühl von Geborgenheit. „Es geht mir genauso. Tausendmal siehst du die Sonne untergehen, erlebst, wie die Nacht den Tag verdrängt und doch ist es immer wieder einzigartig.“ „Man muss die Augen nur weit genug öffnen“, stimmte die Frau an meiner Seite ein.

„Der Wein ist ausgezeichnet“, lobte ich begeistert. „Ist vom Aldi“, entgegnete Miriam schmunzelnd. „Wie kommt es, dass ich bei dir nie weiß, wann du Spaß machst oder die Wahrheit sagst?“ „Kann die Wahrheit nicht auch gleichzeitig Spaß machen?“, entgegnete sie genüsslich. Angesichts solch tief greifender Sinnlichkeit verdrehte ich die Augen.

Irgendwann warf die hinter uns im lauen Wind flackernde Kerze keine Lichtreflexe mehr an die Balkonbrüstung und aus dem Aneinanderlehnen war ein zärtliches Umarmen geworden. Unsere Gläser standen auf dem Tisch und die Kerze war erloschen, als Miriam das Feuer der Liebe in mir entflammte. Jetzt wusste ich, was sie meinte, als sie versprach, mir etwas mehr von sich zu verraten. Bevor sie in meinen Armen einschlief, versprach sie, sich um die Imotax zu kümmern.

 

 

-15-

 

Der Mann in dem Van hatte gewartet, bis auch das letzte Licht erloschen war. Der Mantel der Finsternis hatte die Häuser in der ‚Neuen Straße' längst bedeckt, als die dunkel gekleidete Gestalt das Fahrzeug verließ. Obwohl immer noch Lärm durch die Straßen drang, vermied er es, die Tür laut ins Schloss fallen zu lassen. Während er die Fahrbahn überquerte, holte er tief Luft, machte sich Mut, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Eigentlich würde er gar nicht einbrechen, schließlich hatte er ja von Magda einen Schlüssel zum Haus bekommen. Es war auch kein Diebstahl, weil er sich lediglich nehmen würde, was ohnehin sein Eigentum war.

Ausgerüstet mit einer Taschenlampe, Leckerlis für Ramirez und einem Leinenbeutel zum Verstauen der Fotos und der neckischen Spielsachen, huschte er, von niemandem bemerkt, in das Haus, in dem er wenige Tage zuvor noch so glücklich war. Der matte Schein seiner Taschenlampe und die Furcht in seinem Nacken zauberten skurrile Fantasiegebilde an die Wände. Es war ihm so, als würde ihn die Verstorbene auf Schritt und Tritt begleiten. Plötzlich blieb er wie vom Blitz getroffen stehen. Sein Blick starrte wie festgebrannt auf den Lichtkegel seiner Taschenlampe. Was er da direkt vor sich auf dem Fußboden sah, raubte ihm die Luft zum Atmen, ließ seine Augen feucht werden. Oh ja, wie sehr er diese Frau geliebt hatte. Alles hätte er für sie gegeben, nun war es zu spät. Er musste das festhalten, was ihm geblieben war, auch wenn es nicht mehr als eine Lüge war.

Er bückte sich, kniete nieder und streichelte über die Stelle, die mit Kreide umrissen war. Hier hatte sie gelegen, den letzten Hauch ihres Lebens vertan. An dieser Stelle war sie gestorben. Ein letztes Mal noch wollte er ganz nah bei ihr sein. Er vergaß, weshalb er eigentlich gekommen war, legte sich bäuchlings auf den Kreideschatten und umarmte die Liebe seines Lebens ein letztes Mal, um von ihr Abschied zu nehmen. Alles um ihn herum wurde unwichtig, war in diesem Moment ganz weit weg.

Lothar Kluge wusste nicht, wie lange er so gelegen hatte, als er schließlich zu sich zurückfand und sich erhob, aber jetzt, da er Abschied genommen hatte, war ihm leichter ums Herz. Der schwere Fels, den er seit der Beerdigung auf seiner Brust verspürt hatte und der riesige Kloß in seinem Hals, der ihm die Luft zum Atmen nahm, hatten sich aufgelöst. Jetzt konnte er seine Mission zu Ende führen.

Kluge wusste, wo Magda die Fotos und die übrigen Utensilien aufbewahrt hatte. Lautlos schlich er sich zur Kommode hinüber. Die unterste Schublade war's, er konnte sich erinnern. Hastig bückte er sich, zog sie auf und stieß dabei gegen den Servierwagen. Gläser kippten scheppernd um. Kluge wusste, dass es nun kein Zurück mehr gab. Zum Äußersten entschlossen, stopfte er alles, was er fand, in den mitgebrachten Beutel. Er wusste, dass ihm nur wenig Zeit blieb, bis Joshua die Treppe heruntergeeilt kam und seinen Hund auf ihn hetzen würde, doch das musste er in Kauf nehmen. Es ging nicht einfach nur um sein Leben, um seine Existenz, es ging ebenso um Magdas Ehre.

„Ist da jemand?“, hörte er auch schon Joshuas Stimme von oben durch das Treppenhaus schallen. Der Eindringling erhob sich. Er achtete peinlich darauf, jeglichen Lärm zu vermeiden, während er gleichzeitig nach dem Leckerchen für den verlausten Köter suchte. Wieder hallte Joshuas Stimme durch das Haus. Er war nur schwer zu verstehen, da das Bellen des Hundes lauter wurde und seine Stimme teilweise überlagerte. „Ihr bekommt das Geld! Gebt mir noch drei Tage.“ Konnte es sein, dass er für jemand anderen gehalten wurde oder hatte er falsch verstanden?

Kluge wagte nicht zu antworten. Von was für Geld war da die Rede? Ging es möglicherweise um die Summe, von der ihm Magda bei seinem letzten Besuch erzählt hatte? „Ich bekomme genug Geld, um alle meine Schulden zu bezahlen“, dröhnte Joshuas Stimme beschwörend. „Meine Mutter hat mir alles hinterlassen.“ Das Bellen des Hundes wurde giftiger. Offenbar hatte der nichtsnutzige Sohn seiner Geliebten nicht einmal den Schneid, seinen eigenen Köter unter Kontrolle zu halten. Kluge befand sich in der Zwickmühle. Entschied er sich, das Haus zu verlassen, musste er durch den Flur an der Treppe und damit auch an ihm vorbei. Blieb er wo er war, musste er damit rechnen, dass sich der Köter losriss und ihn angriff. Derart aufgebracht, würde sich der Hund sicherlich auch nicht durch ein Stück Fleisch besänftigen, welches er in der Hand hielt.

Sein Blick fiel auf die Fenster, die zur Straße zeigten. Hochparterre , schoss es ihm durch den Kopf. Das war der Ausweg! Sein Griff um den Leinenbeutel verstärkte sich. Er fuhr herum, setzte den ersten Schritt und wich erschrocken herum. Sein Fuß berührte die Kreidestriche, die Magdas fiktiven Körper umschlossen. Ein heißkalter Schauer jagte über seinen Rücken. Er riss sich zusammen, umging die Stelle und ließ sie auf dem Weg zum Fenster hinter sich. Er schob die noch immer halb heruntergerissene Gardine zur Seite. Von oben drangen die energischen Worte, mit denen Joshua den Hund unter Kotrolle zu halten versuchte.

Stand sie wirklich auf der Leiter , fragte er sich, während er den Store zur Seite schob und das Fenster öffnete. Blumentöpfe kippten von der Fensterbank, schlugen scheppernd auf den Fußboden, wo sie in Scherben zersprangen. Egal, bloß weg hier, dachte er sich und kletterte auf den Sims. Es folgte ein letzter forschender Blick auf die Straße, mit dem er sich überzeugen wollte, ob die Luft rein war. Muskeln und Sehnen spannten sich an. Kluge machte sich zum Sprung bereit und... verspürte einen heftigen Schmerz in der Wade. Die Töle hatte ihn erwischt und ließ nicht locker.

Pures Adrenalin durchströmte seinen Körper, ließ ihn herumfahren und unkontrolliert auf den Hund einschlagen. Ramirez jaulte auf. Kluge hatte ihn irgendwo am Kopf erwischt. Der Druck, mit dem sich die Zähne der Bestie in sein Bein gebohrt hatten, ließ nach, erschlaffte letztendlich völlig. Dies war der Moment, indem sich Kluge vom Fensterbrett abstieß, um kurz darauf auf dem Gehweg zu landen. Der Schmerz in seinem Bein war kaum auszuhalten. Am liebsten hätte er ihn laut herausgeschrieen, doch das war nicht möglich. Stattdessen musste er sich zusammenreißen und so schnell wie möglich zu seinem Auto gelangen.

Der Beutel! Er war nicht mehr in seiner Hand. Panisch sah er sich um, ohne ihn zu entdecken. Wo war der verdammte Beutel mit den Fotos? Kluge bemerkte die Taschenlampe in seiner Hand. Jetzt fiel ihm ein, dass er mit ihr nach dem Hund geschlagen hatte. Sie funktionierte noch. Er leuchtete seine Umgebung ab. Da! Das Gefühl der Erleichterung ließ den Schmerz in seinem Bein für kurze Zeit in den Hintergrund treten. Erst als er nach dem Beutel griff, kehrte der Schmerz mit aller Macht zurück.

 

 

-16-

 

Nun, ich bin nicht unbedingt der ideale Partner für eine feste Beziehung, aber ganz sicher hatte ich nichts dagegen einzuwenden, jeden Morgen so aufzuwachen. Den Duft von frischem Kaffee und knusprigen Brötchen in der Nase, fällt es wohl jedem leicht, selbst den schönsten Traum hinter sich zu lassen und die Augen aufzuschlagen. Miriam setzte das Tablett behutsam neben mir ab und küsste mir gefühlvoll über das Gesicht.

„Aufwachen“, flüsterte sie mir wohlig ins Ohr. „Wochenende ist erst morgen.“ „So etwas kann ich mir nicht leisten. Vielleicht sollte ich mich in eine wohlhabende Staatsanwältin verlieben, heiraten, ein oder am besten gleich mehrere Kinder zeugen und dann als Hausmann die Familie bekochen. Hättest du vielleicht Interesse?“ Miriam sah mich mitleidig an. „Wäre ja nicht schlecht, aber die Sache mit den Kindern solltest du dir dann doch noch mal überlegen. In deinem Alter übernimmt man sich leicht.“ „Es ist wie mit dem Wein“, setzte ich entgegen. „Ein guter Jahrgang entfaltet erst mit zunehmendem Alter seine ganze Kraft.“ „Und du bist wohl so ein Jahrgang?“, lachte sie.

Es war bereits zehn Uhr, als wir uns vor dem Masttower verabschiedeten und in unterschiedliche Richtungen davonfuhren. Miriam zum Gericht, wo es einen Fall von häuslicher Gewalt zu verhandeln galt und ich in mein Büro, um mit Trude den Tagesablauf zu besprechen. Ich war schon sehr gespannt, ob sie noch etwas über die Imotax in Erfahrung bringen konnte.

„Was ist denn hier los?“, fragte ich mehr als überrascht, als ich meine Nase durch die Tür zur Detektei schob und zwei mir unbekannte Damen in sterilen Schutzanzügen durch das Chaos in Trudes Vorzimmer wuseln sah. Ich schaute mich hastig nach ihr um. „Wo ist meine Sekretärin? Ist ihr etwas geschehen?“ „Nee, nee, alles in Ordnung“, hörte ich ihre Stimme aus der Küche herüber kommen. „Na Gott sei Dank“, fiel mir ein Stein vom Herzen. „Was um alles in der Welt ist denn hier passiert?“ „Wonach sieht es denn Ihrer Meinung nach aus?“, folgte Trude ein Mann, den ich ebenfalls nicht kannte.

„Riemenschneider, Einbruchsdezernat“, stellte er sich vor, während er in seiner Hand einen Ausweis aufblitzen ließ. „Als ich heute Morgen reinkam, traf mich fast der Schlag“, erzählte Trude. „Ich habe zunächst versucht, Sie zu erreichen, aber außer der Mailbox bekam ich keinen Anschluss.“ Ich griff mir an den Kopf. Verdammt, ich hatte das Handy am Abend zuvor abgestellt, um nicht gestört zu werden und am Morgen vergessen, es wieder anzuschalten. „Tut mir leid, Trude.“ „Macht ja nichts, ich habe dann halt die Polizei angerufen. Ich hoffe, das war in Ihrem Interesse, Chef?“ „Aber ja, natürlich. Wichtig ist nur, dass Ihnen nichts geschehen ist.“ „Nee, nee, wie gesagt, als ich kam, war keiner mehr hier.“

„Darf ich die traute Zweisamkeit einstweilen unterbrechen?“, erkundigte sich der Kommissar an Trude gewandt. „Haben Sie sich inzwischen einen Überblick verschafft, was gestohlen wurde?“ „Wie soll ich das, wo ich nichts anfassen darf. Sie sehen doch das Durcheinander hier. Es wird Tage dauern, bis ich mir einen Überblick verschafft habe.“ Wenn nicht Monate, dachte ich mit Grauen an die ersten Wochen meiner Detektei zurück. So unersetzlich Trude inzwischen für mich geworden war, mit der Ordnung tat sie sich auch jetzt noch schwer.

„Bis jetzt kann ich nur mit Bestimmtheit sagen, dass die beiden Computer und sämtliche Datenträger fehlen.“ „Ihre Sekretärin erzählte mir, dass Sie nebenan wohnen. Haben Sie denn nichts gehört?“ Ich machte ein betretenes Gesicht. „Tja, wie das eben so ist, ausgerechnet die vergangene Nacht habe ich auswärts zugebracht.“ „Woran arbeiten Sie zur Zeit?“, wollte Riemenschneider wissen. „Könnte es sein, dass Sie jemanden auf die Füße getreten sind?“ „Das Übliche“, log ich, „...nichts von Belang.“

Wie hätte ich dem Mann erklären sollen, dass sich meine Sekretärin in das Computersystem der Imotax eingehackt hatte. Überdies stellte dieser Gedanke lediglich eine Möglichkeit da. Wenn der Ursprung für den Einbruch in einer ganz anderen Richtung zu suchen war, würden die Immobilienhaie der Imotax durch die polizeilichen Untersuchungen nur gewarnt. Ich zog es deshalb also vor, Kommissar Riemenschneider im Unklaren zu lassen.

„Wo bewahren Sie Ihre Waffe auf, Herr Lessing?“ „Nebenan in meiner Wohnung“, entgegnete ich unruhig. „Ich würde gern einen Blick darauf werfen.“ Der Mann sprach mir aus der Seele. „Bitte folgen Sie mir.“

Die Tür zu meiner Wohnung schien unangetastet. Vielleicht hatte mich das fehlende Namensschild vor Schlimmerem bewahrt. Das Türschloss ließ sich normal öffnen und auch im Inneren der Wohnung war zumindest auf den ersten Blick nichts von einem Einbruch zu erkennen. Der kleine Tresor, den ich zum Aufbewahren meiner Waffen und der zugehörigen Munition verwandte, befand sich gut getarnt in meinem Schlafzimmer. Mir fiel ein Stein vom Herzen, als ich sah, dass er unversehrt war.

„Eine Walther P 38 Kaliber 9mm Luger und eine Heckler und Koch PSP 7, ebenfalls vom Kaliber 9mm“, begutachtete Riemenschneider fachkundig. „Ein hübsches Spielzeug. Welche der beiden Waffen bevorzugen Sie?“ „Nennen Sie es Sentimentalität, aber ich schwöre auf die Walther“, erklärte ich wohl wissentlich, dass die PSP 7 das technisch anspruchsvollere Modell ist. „Nun, Sie werden Ihre Gründe haben. Darf ich Sie jetzt um die Waffenbesitzkarten und um Ihre Lizenz als Privatermittler bitten.“ Ich hatte bereits darauf gewartet.

Selbstverständlich waren die Papiere in Ordnung und so dauerte es nicht mehr lange, bis die Damen der Spurensicherung und Riemenschneider mein Büro verlassen hatten. „So, jetzt koche ich uns erst einmal eine gute Tasse Kaffee und dann mache ich mich an die Arbeit“, erklärte Trude entschlossen. Sie krempelte sich die Ärmel hoch und spukte pathetisch in die Hände. Im gleichen Augenblick läutete das Telefon. „Wenigstens das haben sie hier gelassen“, rief ich bissig. Zehn Sekunden später wusste ich warum. „Wenn Sie nicht wollen, dass ihre Detektei in Rauch aufgeht, stecken Sie Ihre Schnüfflernase nicht mehr in unsere Angelegenheiten.“ Der Mann am Telefon hatte auch ohne einen Namen zu nennen, keinen Zweifel daran gelassen, mit wem ich es zu tun hatte. Als ich den Anrufer bat, etwas präziser zu werden, beendete er das Gespräch.

Offensichtlich hatte Trude mit ihren Recherchen in ein Wespennest gestochen. Leider war sie dabei zu unbedarft vorgegangen. Ich hatte nicht den leisesten Schimmer, wie diese Computerfreaks einen unerwünschten Besucher ihrer Datenbank lokalisieren konnten, dass sie es konnten, zeigten der Einbruch in die Detektei und der Anruf auf recht eindrucksvolle Weise. Es würde Wochen dauern, bis die Versicherung den Schaden ersetzt hatte. Ganz zu Schweigen von dem Verlust der auf den Computern abgespeicherten Daten.

„Diese Stümper“, grinste Trude, als sie das Tablett mit dem Kaffee herein trug. „Computer, Disketten und Discs haben sie mitgenommen, aber die externe Festplatte haben sie übersehen.“ Ich zeigte mich überrascht. „Wann haben Sie die letzte Datensicherung vorgenommen?“ „Sie werden es nicht glauben.“ Trude strahlte über das ganze Gesicht. „Gestern Abend! Es ist alles drauf.“ „Trude, ich könnte Sie knutschen.“ „Tun Sie sich keinen Zwang an, Chef.“

Das erneut läutende Telefon zwang mich, darauf zu verzichten. Miriam meldete sich am anderen Ende der Leitung. Sie kam ohne Umschweife zur Sache. „Ich habe mit dem Bauausschuss des Landkreises gesprochen. Du hast Recht, es liegt tatsächlich eine Anfrage eines großen Discounters vor, der in Schöppenstedt eine Filiale errichten will. Die Imotax ist beauftragt worden, ein adäquates Grundstück zu finden.“ Meine Vermutung war somit bestätigt. „Ein gewisser Harry Seidler zieht dort die Fäden“, erläuterte Miriam. „Wir hatten die Firma zwar schon des Öfteren im Visier, konnten Seidler bislang aber nichts nachweisen.“ „Dann wird's Zeit“, entgegnete ich zuversichtlich. „Sei vorsichtig, Leo, dieser Seidler ist in der Wahl seiner Mittel nicht gerade zimperlich.“ Konnte es sein, dass sich da jemand um mich sorgte? „Keine Angst, ich kann auf mich aufpassen.“

Der Drohanruf des vermeintlichen Einbrechers hatte mich auf den Fall erst so richtig heiß gemacht. Langsam nahm ich die Sache persönlich und dann kann auch ich zum Berserker werden. Ich wusste nur zu gut, dass ich dabei Gefühle und Emotionen außen vor lassen musste, dafür war ich Profi genug, aber ein wenig Wut im Bauch konnte sicher auch nicht schaden.

Bevor ich mich nun allerdings daran machte, die Imotax Stein für Stein abzutragen, musste ich die Informationen sichten, die Trude am Abend zuvor zusammengetragen hatte. „Jetzt mal Butter bei die Fische“, nahm ich meine Sekretärin zur Seite. „Wie um alles in der Welt sind Sie an diese Informationen gelangt?“ „Na ja, ich habe mich an Rosi erinnert. Die Gute putzt seit einiger Zeit bei der Imotax. Neulich erst hat sie mir erzählt, wie miserabel sie dort bezahlt wird. Na ja, ich habe ihr einen Strahlemann in Aussicht gestellt, wenn sie mir ein paar Informationen herüberfaxt.“ Nun wurde mir alles klar. „Der Datentransfer via Fax lässt sich relativ leicht rekonstruieren. Ich kann nur hoffen, dass man Ihrer Bekannten nicht auf die Schliche kommt.“ Trude winkte ab. „I wo, die Rosie lässt sich schon nicht erwischen. Und schon gar nicht, wenn sie noch einen Hunderter von mir zu bekommen hat.“

 

 

 

 

 

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