Detektei Lessing

 

Im Banne der Dämonen

 

 

zum 2. Buch aus der Serie:

 

Die Macht des Okkulten ist allgegenwärtig. Sie liegt in der Angst dessen begründet, was uns unerklärlich ist. Dies zu erforschen, übt auf viele Menschen einen faszinierenden Reiz aus. Dass sie sich auf ihrem Weg in das Unheimliche einer gewissen Gefahr aussetzen, wird den meisten erst klar, wenn es zu spät ist. Je tiefer sie in die Welt der Finsternis eintauchen, desto unberechenbarer werden die Mächte, die sie beeinflussen. Sie führt zur völligen Selbstaufgabe und zu absolutem Gehorsam.

Gerade bei jungen Menschen, die noch auf der Suche nach ihrer eigenen Identität sind, oder sich in ihrem Umfeld unverstanden fühlen, stößt der Reiz des Unbekannten und das Gefühl Teil einer Gruppe zu sein, auf fruchtbaren Boden.

Dieser Kriminalroman schildert in bedrückender Weise wie leicht es unsere Gesellschaft den Jüngern Satans macht, auch aus unserer Mitte ihre Mitglieder zu rekrutieren. Vielleicht sollten wir damit aufhören, ständig materiellen Dingen nachzujagen und uns endlich wieder mehr Zeit füreinander nehmen, um uns gegenseitig zuzuhören.

Der Wolfenbüttler Privatermittler Leopold Lessing muss dieses Mal Kopf und Krangen riskieren, um den Sohn seines Klienten aus den Fängen einer satanischen Sekte zu befreien. Wird er diesen ungewöhnlichen Auftrag zu einem guten Abschluss bringen? Wie kommt Leo mit seiner neuen Rolle als Privatdetektiv zurecht? Werden seine alten Freunde auch weiterhin zu ihm stehen? Lesen Sie einen Krimi, der auf beklemmende Weise erzählt, was schon morgen in Ihrer Nachbarschaft Realität sein könnte.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Detektei Lessing

 

Im Banne der Dämonen

 

 

 

-1-

 

„Was denn, nur eine Drei?“ Der streng schauende Mann verzog sein Gesicht, als habe er gerade in eine besonders saure Zitrone gebissen. „Und dann auch noch in Physik?“ Malte Borkmann schüttelte verständnislos den Kopf. „Wenn du in Mutters und meine Fußstapfen treten willst, kannst du dir eine solche Note aber nicht erlauben.“ Dustin kannte diesen Spruch auswendig. Er hing ihm zum Hals heraus, wie die Schule im Allgemeinen. Wäre es nach ihm gegangen, hätte er die Penne weit hinter sich gelassen und in der Autoreparaturwerkstatt seines Onkels eine Lehre begonnen, aber allein die Äußerung dieses Wunsches hätte seinen Vater auf die Palme getrieben. Ein solcher Beruf war seines Standes nicht würdig und somit auch für die Zukunft seines Sohnes völlig indiskutabel.

„Du willst doch Arzt werden?“, sah der Urologe lauernd über den Rand seiner Brille. Dustin wagte es nicht seinem Vater zu widersprechen. Das hatte er schon vor vielen Jahren aufgegeben. Der Siebzehnjährige war streng und äußerst konservativ erzogen worden. Er nickte seinem Vater schließlich wortlos zu. Die Miene seines alten Herrn hellte sich schlagartig auf. „Wenn du Nachhilfe brauchst, lass es mich wissen.“ Damit ließ der drahtige Endvierziger im Armanianzug seinen Sohn am Mittagstisch zurück. „Wir sehen uns heute Abend“, rief er seinem Jungen zu, bevor er seinen Notfallkoffer ergriff und aus der Villa stürmte. Genau so lief es beinahe an jedem Tag ab. Dustins Mutter hatte es noch nicht einmal geschafft, zum Essen daheim zu sein. Aber auch das war seit einigen Jahren nichts Außergewöhnliches mehr.

„Mach dir nichts daraus“, tröstete Rosita den schmächtigen Jungen, dessen Gesichtszüge weich und knabenhaft, fast schon feminin wirkten. „Deine Eltern lieben dich.“ Die Worte des spanischen Hausmädchens klangen wie Hohn in seinen Ohren. Die kleine zierliche Frau mit dem großen Herzen lebte seit vielen Jahren im Hause der Borkmanns. Für Dustin war sie so etwas wie die gute Tante. Die einzige Ansprechperson, die er hatte, um seinem Herzen Luft zu machen. „Glaubst du das wirklich, Rosita?“, entgegnete Dustin frustriert. Die Frau mit dem von Leid gezeichneten Gesicht sah den Jungen gutherzig an. „Glaube mir, sie lieben dich auf ihre ganz besondere Weise.“ „Hör auf!“, schrie er sie an. „Für die bin ich doch nichts anderes als ein notwendiges Übel.“ Rosita stemmte ihre Arme in die Hüften. „Jetzt gehst du aber entschieden zu weit.“ „Was willst du?“, herrschte er sie an. „Den Friedensnobelpreis? Ach ja, ich vergaß – du arbeitest ja für meine Erzeuger.“ „Dustin!“, fuhr die zierliche, aber temperamentvolle Andalusierin herum. „Ich kann verstehen, wenn du ein Problem mit deinen Eltern hast, aber ich verstehe nicht, dass du mich deswegen beleidigst.“

Dustin biss sich auf die Lippen. Ihm wurde schlagartig bewusst, dass er gerade etwas Dummes gesagt hatte. Rosita war nun wirklich die letzte, der er wehtun wollte. Er kämpfte mit seinem schlechten Gewissen und folgte ihr schließlich in die Küche. Dustin sah, wie die Spanierin ihm den Rücken zugedreht aus dem Fenster starrte. Er nahm allen Mut zusammen und trat hinter sie, dann ergriff er ihre Schultern und entschuldigte sich auf Spanisch, wie er es von klein auf tat, wann immer er etwas ausgefressen hatte. Er wusste, dass ihm Rosita dann nicht länger böse sein konnte.

 

-2-

 

Es war einer dieser ersten richtig warmen Junitage, die auf einen herrlichen Sommer hindeuteten. Isabelle hatte mich zu einem Einkaufsbummel durch die Wolfenbüttler Fußgängerzone überredet. Als wir endlich wieder durch die Glaspendeltüren eines großen Kaufhauses ins Freie traten, zerrten mindestens ein halbes Dutzend Tragetaschen an meinen Armen. „Es ist so schönes Wetter“, schnaufte ich, „und du schleppst mich von einem stickigen Laden in den nächsten.“ „Also schön“, verkündete Isabelle gedehnt, „wir können ja eine kleine Pause einlegen. Wie wäre es mit diesem Cafe?“ Meine Kollegin aus ehemaligen Kripozeiten deutete auf einige Tische, die sich fast gegenüber dem Ausgang befanden. Mir war's im Grunde egal, Hauptsache, ich konnte die Taschen irgendwo abstellen und mich einen Moment lang ausruhen.

„Du hattest Recht, hier lässt es sich wirklich sehr angenehm einkaufen.“ Ich war mir nicht sicher, ob ich nüchtern war, als ich Isabelle von der Vielfältigkeit des Wolfenbüttler Einzelhandels vorgeschwärmt hatte. Sei's drum, jetzt hatte ich den Salat. Die freundliche Bedienung schien mir den Frust jedenfalls anzumerken. Sie musterte mich aufmerksam, während sie nach unserer Bestellung fragte. Natürlich tat sie dies nicht eben offensichtlich, umso erschrockener stahl sie sich aus meinem Blick, als ich ihr zuzwinkerte. Von dieser Frau ging eine ganz besondere, erotische Ausstrahlung aus. Sie wirkte wie ein Aphrodisiakum auf mich, obwohl sie, schon wegen ihrer langen schwarzen Haare, äußerlich gar nicht mein Typ war. Dies hinderte mich jedoch nicht, ihr durch die offen stehende Tür nachzusehen, bis sie hinter dem Tresen verschwand.

„Na, na, na, wenn du schon hinterher gaffen musst, solltest du zumindest etwas diskreter dabei sein“, stutzte mich Isabelle mit pikiertem Blick zurecht. „Entschuldige, ich glaubte, die Frau im Zusammenhang mit einer Ermittlung zu kennen.“ Isabelle lächelte vielsagend. „Du hast schon besser geflunkert.“ Anstatt mich noch weiter in die Nesseln zu setzen, beschloss ich, die Situation für einen Gang zur Toilette zu nutzen. Auf dem Weg durch das Cafe fielen mir die kleinen Kunstwerke auf, die an den Wänden hingen. Stilvolle Malereien der Moderne wechselten mit grotesken Zeichnungen unbekannter Meister. In einem Regal lagen Taschenbücher eines hiesigen Krimiautors zum Verkauf.

„Hast du schon die Bilder gesehen?“, fragte ich Isabelle nach meiner Rückkehr. Meine Ex kramte in ihrem Rucksack herum, ohne auch nur für einen Moment davon abzulassen. „Was für Bilder?“, kam es eher beiläufig über ihre Lippen. „Verzeihen Sie, aber sprechen Sie von den Malereien, die wir hier im Rahmen unserer kleinen Ausstellung unseren Gästen näher bringen wollen?“, mischte sich die Bedienung in unser Gespräch. „Ich wusste gar nicht, dass es in unserer Stadt so etwas wie ein Künstlercafe gibt.“ „Oh ja, von Zeit zu Zeit stellt die Chefin sogar große Teile des Cafés für eine Vernissage zur Verfügung und an jedem dritten Donnerstag im Monat lesen heimische Autoren aus ihren eigenen Werken.“

Die Schwarzhaarige setzte die bestellten Cappuccinos ab. Isabelle unterbrach ihre Suche kurzfristig. Ihre Aufmerksamkeit galt nun den Blicken, die ich der Bedienung zuwarf. Als ich ihr Interesse bemerkte, machte ich mir ein Spaß daraus, der freundlichen Aphrodite ein charmantes Augenzwinkern zuzuwerfen. Ich deutete ihr bizarres Lächeln als eine Einladung, meine Balzversuche fortzusetzen. Der Schmerz, den ich kurz darauf an meinem Schienbein verspürte, holte mich allerdings ebenso schnell wieder in die Realität zurück. Meine kleine Intrige hatte also seine Wirkung nicht verfehlt.

„Was kramst du da eigentlich die ganze Zeit in deinem Rucksack herum?“, fragte ich nun meinerseits reichlich genervt. „Ich suche nach einer Diskette, die mir Jogi für dich mitgegeben hat. Du wüsstest dann schon Bescheid, meinte er.“ Ich zog irritiert meine Stirn in Falten. „Die hätte er mir doch auch heute Abend mitbringen können. So eilig war es nun auch wieder nicht.“ „Ach so ja, hätte ich fast vergessen, aber Jogi kann dich nicht in die Lindenhalle begleiten.“ Ich fiel aus allen Wolken. „Aber ich habe doch schon die Karten für das Basketballspiel besorgt.“ „Ihm ist wohl irgendetwas wichtiges dazwischen gekommen“, strahlte Isabelle, den Datenträger triumphierend zwischen ihren Fingern balancierend. „Ich habe doch gewusst, dass ich das Ding eingesteckt habe.“ Ihr Gesichtsausdruck wechselte schlagartig in eine Mischung aus Neugier und gespieltem Desinteresse. „Was ist eigentlich darauf?“

„Dann musst du eben mit“, ignorierte ich ihre Frage. „Unmöglich, heute Abend bin ich ausgebucht. Und ehrlich gesagt gehört so ein Basketballspiel nicht unbedingt zu den Dingen, denen ich sonderlich viel abgewinnen könnte.“ „Aber die Dukes spielen richtig gut“, erwiderte ich enthusiastisch. „Du wolltest mir noch sagen, was auf der Diskette ist.“ „So, wollte ich das? Ich sage es dir, wenn du mich heute Abend begleitest.“ Isabelle winkte lächelnd ab. So neugierig bin ich nun auch nicht.“ „Schade, dann muss ich halt jemand anderes fragen.“ „Sieht ganz so aus“, entgegnete meine Ex mit unschuldsvoller Mine.

Irgendwie lief es an diesem Tag nicht wirklich gut für mich, doch davon wollte ich mich nicht unterkriegen lassen. Während ich die Leute beobachtete, die an uns vorbei durch die Glastüren des Kaufhauses hasteten, dachte ich an meinen aktuellen Fall. Wahrlich keine große Sache, aber sie brachte das nötige Geld, um meine laufenden Unkosten zu decken. Immerhin war ich der Brötchengeber einer Sekretärin, die eigentlich eine Putzfrau war. Hört sich merkwürdig an? Warten Sie, bis ich Ihnen Trude vorstelle.

„Was hast du eigentlich gerade am laufen?“, zerriss Isabelle die Monotonie meiner Gedanken. „Eine untreue Ehefrau“, antwortete ich gequält. „Hört sich nicht gerade spannend an.“ „Ist es auch nicht“, gab ich unumwunden zu. „Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen“, fügte ich altklug hinzu. „Es ist das, was du wolltest, also beschwere dich nicht. Du weißt doch, bei der Kripo ist auch nicht alles Zuckerschlecken.“ „Schon gut, schon gut, ich hab's mir ja so ausgesucht.“ Etwas geknickt winkte ich meiner neuen Lieblingsbedienung. „Zahlen bitte.“ Ein unwiderstehliches Lächeln wogte mir entgegen. „Ich hoffe, der Cappuccino hat Ihnen geschmeckt.“ „Der Keks war wohl schon ein bisschen älter“, stichelte Isabelle. Ich reichte ihr einen Geldschein. „Sagen Sie mal“, unterbrach ich den bevorstehenden Schlagabtausch. „Sie haben wohl nicht zufällig Interesse an einem Basketballspiel heute Abend? Ich hätte da nämlich zwei Karten...“ „Bislang eigentlich nicht“, wog sie den Kopf nachdenklich, „aber andererseits“, zwinkerte sie mir zu, während sie gleichzeitig einen triumphierenden Blich in Isabelles Richtung abfeuerte, „bin ich immer dafür, alles Neue auszuprobieren.“

Wenn Blicke töten könnten, wäre ich sicherlich noch in der gleichen Sekunde leblos in meinem Stuhl zusammengesunken. Isabelle entfachte in ihren Augen ein Feuerwerk, wie es tausend Stangen Dynamit nicht vermocht hätten. „Ich habe gegen 19 Uhr Feierabend. Wenn Ihnen das nicht zu spät ist?“ „Wunderbar, das Spiel beginnt eine Stunde später. Ich hole Sie hier ab.“ „Ich freue mich, dann bis heute Abend.“ Sie steckte das Portemonnaie ein, ging einige Tische weiter, um eine Bestellung aufzunehmen. Meine faszinierten Blicke begleiteten sie, bis ich durch einen neuerlichen Schmerz in meinem Schienbein davon abgelenkt wurde.

„Sag mal, bist du jetzt vollends durchgeknallt?“, ereiferte sich meine Begleitung. „Du sitzt hier mit mir am Tisch und besitzt die Unverfrorenheit, dich mit der nächstbesten Tussi zu verabreden?“ Isabelle schüttelte mit dem Kopf. „Das ist ja wohl das Letzte!“ Ich stieß einen langen Seufzer aus. Typisch Frau , dachte ich „Was willst du eigentlich? Habe ich dich nicht zuerst gefragt, ob du mich begleiten willst?“ „Ja schon, aber...“ Ich ließ mich nicht aus der Ruhe bringen. „Sollte ich die Karten etwa verfallen lassen?“ „Du weißt genau, dass ich mitgegangen wäre.“ Mir war's, als würde mir jemand den Stuhl unter dem Hintern wegziehen. Meine Gedanken stürzten ins Bodenlose. Da war sie wieder, diese weibliche Logik, von der ich auch nach Jahren intensivstem Studium nicht die geringste Ahnung hatte. Wie soll Mann wissen, wenn Frau das Gegenteil von dem meint, was sie sagt?

 


-3-

 

„Ich möchte dich nach der Stunde sprechen“, sagte Frau Doktor Schrader, während sie Dustin die Lateinarbeit reichte. Er nickte wortlos, nahm die Klausur entgegen und ließ sie ohne einen Blick darauf zu werfen in seiner Tasche verschwinden. Verdammt, er hatte doch geübt, hatte Stunden damit zugebracht, den trocknen Stoff herunterzuwürgen. Warum konnte er sich das Gelernte nicht merken? Das unerträgliche Gefühl, schon wieder versagt zu haben, schnürte ihm die Kehle zu, nahm ihm die Luft zum atmen. In seinem Körper schienen sich sämtlichen Eingeweide zu einem einzigen Kloß zu verkrampfen. Die Gedanken an seine Eltern verstärkten die Übelkeit, die unaufhaltsam in ihm emporkochte. Die Vorwürfe seines Vaters klangen ihm schon im Ohr. Ausgerechnet Latein, damit stand und fiel seine gesamte Zukunft als Mediziner.

Ein stechender Schmerz in der Seite riss ihn aus den Gedanken. Der Ellenbogen seines Tischnachbarn hatte ein dankbares Ziel gefunden. „Loser“, höhnte der Typ neben ihm. „Mit so einem Hasenhirn wie dir muss man den Tisch teilen“, warf er Dustin zu. „Der ist doch die totale Niete“, griff ein anderer seiner Mitschüler den Faden auf. „Wenn er wenigstens beim Sport was auf dem Kasten hätte, aber selbst dort ist der Kerl so plätsche wie ein Schmachti.“ Dustin versuchte die Worte der anderen zu ignorieren, doch schlagartig kam die Übelkeit wieder in ihm hoch. Er hielt sich die Hand vor dem Mund, sprang auf und rannte zur Tür, doch noch bevor er sie erreichen konnte, schoss es ihm aus Mund und Nase. Während er die Klasse verließ, johlten ihm seine Mitschüler triumphierend nach.

Dustin rannte zur Toilette, hielt den Kopf unter den Wasserhahn und wusch sich. Tränen rannen über seine Wangen. Niemals zuvor hatte er sich derart blamiert. Um nichts in der Welt wollte er zurück in die Klasse. Er schämte sich. In diesem Moment wäre er am liebsten in das nächste Mauseloch gekrochen, oder besser noch, tot umgefallen. Das wäre ohnehin das Beste, dachte er, dann würde er niemanden mehr enttäuschen.

Es läutete zur Pause. Schüler betraten die Toilette, benutzten die Kabinen neben ihm, machten ihre Faxen, ließen Rauchschwaden aufsteigen und verschwanden mit dem Schrillen der Stundenglocke. Dustin registrierte all dies, ohne sich der Ohnmacht, in der er sich befand, eigentlich bewusst zu werden. Wieder vernahm er das Klappen der Tür. Jemand betrat den Raum. Er hörte seinen Namen und schreckte aus der geistigen Abwesenheit, in welche er sich geflüchtet hatte.

„Dustin? Bist du noch hier?“ Wenn ihn nicht alles täuschte, war es die Stimme Robert Wagners, den alle nur Grufti nannten, weil er stets in schwarzen Klamotten herumlief. Ein Einzelgänger, genau wie er. Nur, dass Robert diesen Weg selbst gewählt hatte. Warum gerade er gekommen war, um nach ihm zu sehen, wunderte den Jungen in der Kabine. „Was willst du?“, meldete sich Dustin zögerlich. „Bist du okay?“ „Ja, ja, es geht mir blendend“, verkündete er sarkastisch. „Am liebsten würde ich im Erdboden versinken, aber ansonsten bin ich total happy.“ Robert klopfte an die Tür der Kabine. „Willst du da drinnen auf deine Rente warten?“ „Witzbold“, entgegnete Dustin und entriegelte die Tür. „Hat dich die Schrader geschickt?“ „Mich braucht niemand zu schicken.“ Dustin wunderte sich. „Was willst du dann hier?“ „Das sagte ich bereits“, entgegnete der Junge in der schwarzen Kutte genervt. „Ich wollte nach dir sehen.“ Dustin rümpfte ungläubig die Nase. „Was soll das, du hast dich doch sonst nicht für mich interessiert.“ „Ich denke, du brauchst einen Freund“, befand sein Gegenüber. „Und der willst ausgerechnet du sein?“ Nicht ich allein, aber die Gemeinschaft, der ich angehöre.“ „Das hat mir gerade noch gefehlt“, winkte Dustin verächtlich ab. „Lass mich bloß mit diesem Gruftischeiß in Ruhe!“ „Schade, ich dachte, dass gerade du keine Vorurteile gegenüber Andersdenkenden hegst.“ Dustin verdrehte die Augen. „Das mache ich auch nicht, aber...“ „Dann komm doch einfach mal mit und sieh dir an, was bei uns so abgeht“, schnitt ihm Robert das Wort ab. „Oder traust du dich nicht?“ „Quatsch“, widersprach Dustin energisch. „Also gut, damit du siehst, dass ich nichts gegen euch habe, werde ich dich auf einem eurer Treffen begleiten.“ Robert zeigte sich zufrieden. „Okay, dann bis heute Abend um zehn. Ich hole dich zu Hause ab.“ Dustin hob abwehrend die Hand und schüttelte energisch den Kopf. „Nee, nur das nicht! Da, wo ich wohne, wärst du das Ereignis des Jahres. Ich würde vorschlagen, wir treffen uns an der Stange.“ „Wo?“, fragte Robert irritiert. „Fußgängerzone ‚Eiscafe Roma‘, alles klar?“ Der Grufti nickte. „Dann also bis heute Abend, um zehn.“

-4-

 

Der gemeinsame Einkaufsbummel an Isabelles Seite fand ein unerwartetes, aber jähes Ende. Sie vertrat den Standpunkt, dass ich auch den Nachmittag mit der Bedienung aus Florean´s Coffee Shop verbringen sollte, wo ich mich doch sowieso für den Abend mit ihr verabredet hatte. Ihre von mir nicht ganz unbedacht hervorgerufene Reaktion zeigte, dass da wohl doch noch mehr als einfache Freundschaft im Spiel war. Den Preis der Erkenntnis musste ich trotzdem erst einmal zahlen. Klar, dass ich nicht bis zum Abend in jenem Cafe herumsitzen wollte, daher entschloss ich, mich erst einmal im Büro sehen zu lassen.

Die schrille Stimme meiner vom Arbeitsamt subventionierten Vorzimmerdame, die eigentlich eine Putzfrau war, konnte ich bereits durch das weit offen stehende Fenster meines Büros vernehmen. Ich stellte den Wagen links zur Fahrtrichtung, an der Rückseite des Hotels Antoinette ab, überquerte den alten Weg und stieß mit einer jungen Frau zusammen, die mehr als hastig aus der Tür des Wohn und Geschäftshauses herausstürmte. Ihr Gesicht war so bleich, als sei ihr der Leibhaftige selbst auf dem Fersen. Die auffällige Krokodillederhandtasche flog in hohem Bogen auf die Straße. „Können Sie nicht aufpassen!“, fauchte sie mich an. Ich entschuldigte mich, ohne mir einer Schuld bewusst zu sein. Und wieder einmal mehr galt der Grundsatz: Wer schreit, bekommt Recht. Zu diesem Zeitpunkt glaubte ich noch, dass mich an jenem Tag nichts mehr erschüttern konnte. Ein Irrtum, wie sich noch herausstellen sollte.

„So eine dumme Gans!“, ereiferte sich Trude. Zornesröte hatte ihr den Touch eines heftigen Sonnenbrandes ins Gesicht gezaubert. „Was bildet die sich eigentlich ein?“ „Ja, um Himmels Willen, was ist denn geschehen?“, versuchte ich Licht ins Dunkel zu bringen. „Kommt hier herein und behauptet, ich sei nur ein Irrtum.“ Ich verstand noch immer Bahnhof. „Sie sprechen von der Rothaarigen mit der Krokohandtasche?“ „Na, von wem denn sonst? Diese Furie kam hier hereingeschneit und bildet sich ein, sie könne sich mit ihrem breiten Hintern auf meinen Platz setzen.“ Mir gefiel dieser Hintern, aber das behielt ich lieber für mich. Warum unnötig Öl ins Feuer gießen? In Trude brannte es auch so schon lichterloh.

„Sie sind doch mit mir zufrieden – oder?“ Ich sah mich im Vorzimmer meiner Putzsekretärin um und nickte zögerlich. Es hatte Wochen gedauert, bis ich in ihrem Chaos so etwas wie ein System entdecken konnte, es würde wahrscheinlich Monate dauern, um diesen gordischen Knoten zu entwirren. Sei's drum, Trude kam klar und das war für mich momentan das Wichtigste. „Offensichtlich sind die im Arbeitsamt inzwischen über meine Akte gestolpert und haben bemerkt, dass ich gar keine Sekretärin bin.“ „Das muss wohl so sein“, stimmte ich zu, „denn ohne weiteres fällt dies dort sicher nicht auf.“ „Und nun?“, fragte Trude betreten. „Keine Angst“, beruhigte ich sie. „Wenn so manches auch noch nicht so ist, wie ich es gern hätte, so muss ich doch einräumen, dass Ihr Kaffee für vieles entschädigt.“ Trude strahlte über das ganze Gesicht. „Wenn Sie mich behalten, werde ich bestimmt alles daran setzen, damit Sie mit mir zufrieden sind.“ Ich legte meine Hände auf ihre Schultern und lächelte. „Was sollte ich denn ohne Sie machen. Hier würde sicherlich alles zusammenbrechen.“

Meine Putzsekretärin freute sich geradezu überschwänglich. Sie machte einen Satz nach vorn, verschlang mich in ihren Armen und herzte mich. „Ist das wirklich Ihr Ernst?“ Ich nickte heftig, jeden Gedanken an etwas Gegenteiliges weit von mir schiebend. „Sie werden es ganz bestimmt nicht bereuen.“ Irgendwie empfand ich so etwas wie Verantwortung für diese Frau. Eine Art Fürsorgepflicht, die wohl jeder Arbeitgeber haben sollte, aber angesichts zunehmender Profitgier heutzutage nicht mehr sehr verbreitet, ja geradezu unmodern geworden ist. Ich empfand die Dankbarkeit, die mir Trude entgegenbrachte, jedenfalls als Ansporn, dieser Verantwortung auch in Zukunft gerecht zu werden.

„Na, dann können wir ja nur noch hoffen, dass genügend Aufträge hereinkommen, um unser kleines Unternehmen am Laufen zu halten.“ Trudes freudiger Gesichtsausdruck wandelte sich schlagartig in ein zerknirschtes Knittern. Sie zog die Lade des Karteischranks auf und schob bedeutungsvoll die wenigen Hängeordner, die sich darin befanden hin und her. „Sieht mau aus, Chef. Offensichtlich hat niemand mehr ein Problem.“ „Es ist wohl eher wahrscheinlicher, dass nur wenige wissen, wie gut ich diese Probleme lösen könnte.“ „Werbung, Chef! Was wir brauchen ist Publicity.“ Ich sah Trude überrascht an. „Wissen Sie noch, wie viel Resonanz die Eröffnungsanzeige in der Braunschweiger Zeitung brachte?“ „Ja sicher, aber ich kann doch nicht jedes Wochenende eine Annonce schalten. Wenn man gute Arbeit abliefert, wird sich das auch von Mund zu Mund verbreiten.“ Trude wog nachdenklich den Kopf. „Natürlich, Mundpropaganda ist sicherlich die beste Werbung, aber vorher bedarf es genügend glücklicher Kunden, die ihre Zufriedenheit auch weitertragen.“

„Also schön“, folgte ich ihr in ihrer Meinung. „Dann machen wir jetzt aber auch Nägel mit Köpfen. Sie werden sich einen richtig guten Werbeslogan ausdenken und mit der BZ alles klar machen. Ich setzte mich inzwischen an den Computer und bastele ein Werbeportal für das Internet aus. Es wäre doch gelacht, wenn sich die Aufträge dann nicht bis unter die Decke stapeln.“ Trude war begeistert. „Wenn es fürs Erste etwas weniger wäre, ist es mir auch recht“, relativierte sie augenzwinkernd. Die Gute ahnte gar nicht, wie Recht sie hatte. Mir stand das Wasser bereits in Brusthöhe, aber das brauchte ich ihr ja nicht unbedingt auf die Nase binden.

 

-5-

 

Dustin war an diesem Abend früher als sonst auf sein Zimmer gegangen. Eigentlich war's egal, aufgefallen wär's ohnehin niemandem. Während seine Mutter auf einer Vernissage in Braunschweig weilte, saß sein Vater wieder einmal hinter seinem Schreibtisch und arbeitete. Nicht mal Rosita war an diesem Abend zu Hause. Sie hatte ihren freien Tag und war mit ihrem Freund unterwegs. Wem sollte es also auffallen, als Dustin gegen 21 Uhr das Haus verließ? Er wusste, dass niemand nach ihm sehen würde, das taten seine Eltern schon seit Jahren nicht mehr und ebenso wenig würde es auffallen, wenn sein Mofa nicht in der Doppelgarage stehen würde. Er musste einzig darauf achten, die alte Klapperkiste nicht zu früh anzutreten, weil ihn ansonsten das laute Geknatter des kaputten Auspuffs verraten hätte.

Je näher er schließlich der City kam, desto mehr Betrieb herrschte in den Straßen. Die vielen Kneipen und Restaurants waren gut besucht. Aus den Biergärten quoll zünftige Musik, die er selbst bei laufendem Motor unter seinem Helm noch vernahm. Er stellte sein Mofa in der Okerstraße, direkt an der Stange ab, wie der Treffpunkt am Eiscafe Roma unter den Gymnasiasten genannt wurde. Er wunderte sich ein wenig darüber, dass die vielen Tische des Cafes selbst zu dieser Zeit noch gut besetzt waren. Andererseits war der Abend mild und das Wochenende stand vor der Tür, was sicherlich so manchen ins Freie gelockt hatte.

Dustin sah auf seine Armbanduhr. 21.30 Uhr, noch genug Zeit, um sich ein wenig zu setzten. Er nahm also einen der gerade frei werdenden Tische in Beschlag und bestellte eine Cola. Immer wieder dachte er daran, dass Treffen mit dem Grufti platzen zu lassen. Ein wenig skurril fand er das Ganze schon. Nicht dass er Angst gehabt hätte, aber die Gedanken an all die merkwürdigen Dinge, die er von den Gothics gehört hatte, ließen doch ein mulmiges Gefühl in ihm aufkommen. Er war unsicher, das Richtige zu tun, doch schließlich überwog die Neugier.

„Hallo, mein Freund“, vernahm er plötzlich die rauchige Stimme Roberts in seinem Rücken. Dustin spürte dessen kalte Hand auf seiner Schulter und ein eisiger Schauer ließ ihn zusammenfahren. „Schön, dass du Wort gehalten hast. Wenn du so weit bist, können wir los. Ich habe dich bereits angekündigt. Du hast großes Glück. Unsere Zusammenkunft steht in dieser Nacht unter einem günstigen Stern. Es wird dir gefallen, einer der unsrigen zu sein.“ Dustin stutzte. „Eigentlich wollte ich ja nur mal gucken.“ „So dachte ich auch einmal und nun kann ich mir ein anderes Leben schon gar nicht mehr vorstellen. Du wirst sehen, die Schriften Allister Crowleys werden dich genauso in ihren Bann ziehen, wie sie mich überzeugten.“

Dustin hatte keine Ahnung, wovon sein neuer Freund sprach, er machte sich stattdessen insgeheim über die Art lustig, wie er es tat und darüber, wie er gekleidet war. In der Schule war ihm das geschwollene Gequatsche nie sonderlich aufgefallen, aber vielleicht gehörte das ja einfach zu der Lebensweise, der sich diese Gruftis verschrieben hatten. Er schnappte sich seinen Helm und holte das Mofa. Ohne es zu starten, gingen sie gemeinsam die Herzogstraße hinauf, an den Krambuden vorbei, bis sie den Schlossplatz erreichten. „Wo wollen wir eigentlich hin?“, schnaufte Dustin, dem das Mofa allmählich zu schwer wurde. „Zu den Kasematten im Seeliger Park.“ „Trefft ihr euch immer dort?“ Robert schüttelte den Kopf. „Nein, das ist verschieden. Mal hier, mal dort.“

Dustin kannte den Seeliger Park nur von den Zeugnispartys, die dort am Ende eines jeden Schuljahres ausschweifend gefeiert wurden. An die letzte Fete konnte er sich besonders gut erinnern. Die Organisatoren hatten sogar einige Musikbands engagiert und der Alkohol floss in Strömen. Schon damals war seine Welt nicht mehr in Ordnung, aber da glaubte er noch, dass er die Welt allein aus den Angeln heben konnte. Doch das waren die Träume eines pubertierenden Teenagers, wie er heute wusste. Resignation und Lustlosigkeit bestimmten inzwischen sein Leben. Am schlimmsten aber war die Angst, in den strengen Augen seiner Eltern zu versagen.

Sie betraten den Park, liefen ein Stück weit den Weg in Richtung Villa und bogen schließlich nach rechts ab. Plötzlich sprangen zwei dunkle Gestalten aus dem Gebüsch. „Parole!“, rief einer der ganz in schwarz gekleideten Kapuzenmänner, während der zweite mit einer riesigen Sense beeindruckte. Er sah aus, wie der Leibhaftige persönlich. „Die Jünger Satans“, entgegnete Robert die rechte Hand zu zwei Hörnern geformt, gelassen in die Höhe haltend. „Passieren.“ Der Sensemann trat zur Seite und gab den Weg frei.

Kurz darauf hatten sie ihr Ziel erreicht. Im flackernden Licht eines Lagerfeuers waren kleine und große Schatten zu sehen, die in rhythmisch pulsierenden Bewegungen zu der Musik von Black-Metal über die felsige Kante oberhalb der Kasematten tanzten. Eine unwirkliche Szene, wie sie kein Horrorfilm besser wiedergegeben hätte. „Stell dein Mofa da drüben am Baum ab“, wies Robert seinen Begleiter an. Wenig später saßen sie im Gras neben anderen Kapuzenmännern und sahen den um das Feuer herum tanzenden Figuren zu. Was auf Dustin zunächst albern wirkte, stellte sich unter Roberts Erklärungen, als ein ritueller Tanz mit streng festgelegten Bewegungen heraus.

Während Dustin dem munteren Treiben interessiert zusah, machten sonderbar schmeckende Getränke die Runde. Die skurrilen Gestalten hatten sich inzwischen ihrer Kutten entledigt. Unter den dunklen Leinen waren einige recht attraktive Mädchen zum Vorschein gekommen, die sich nun wie in Trance neben dem Feuer räkelten. Auch Dustin wurde von einem sonderbaren aber sehr wohligen, angenehmen Gefühl beseelt, welches sich nicht in Worte fassen ließ, welches in ihm wie eine Droge wirkte, von der er nicht genug bekommen konnte. Eines der Mädchen sprang auf, riss sich die Kleider vom Leib und tanzte, wie Gott es geschaffen hatte, in aufreizenden Posen um das Feuer herum. Die übrigen Mädchen folgten ihr. Am liebsten wäre Dustin aufgesprungen und ihrem Beispiel gefolgt, doch dazu kam es nicht mehr, denn urplötzlich erstarb die Musik und ein Mann trat in den flackernden Schein des Feuers.

„Hört mich an, meine Brüder und Schwestern. Unter uns ist ein Neuankömmling.“ Heftiges Johlen unter den Zuhörern bekräftigte die Worte des Redners. „Er hat sich entschlossen, an unserer Seite den Weg durch die Finsternis zur wahren Macht zu gehen. Seine ausgestreckte Hand deutete mit einem Henkelkreuz auf Dustin. Wieder zerriss lautes Johlen die Stille der Nacht. „Bringt die Opfergabe!“, rief der Mann, dessen schwarze Kapuze genau wie die der anderen bis weit in das Gesicht gezogen war. Während die Zuhörer abermals in tosendes Johlen verfielen, trug einer der Getreuen ein schwarzes Kaninchen heran. Ein anderer hielt zwei Lüster mit brennenden Kerzen in Menschengestalt. Schließlich wurde dem Redner ein Kelch mit der Aufschrift ‚Nebel‘ gereicht. „Dog si nataS, “ sprach er. Die Masse grölte. Der Kapuzenmann zog einen Dolch unter seiner Kutte hervor und schnitt dem Kaninchen die Kehle durch.

Nichts war mehr wie es war. Dustin wusste nicht, was mit ihm geschah, aber er schrie genau wie die anderen, jubelte dem makaberen Treiben voller Inbrunst zu. War er überhaupt noch er selbst? War es möglich, dass ein Mensch binnen weniger Minuten seine sämtlichen Ideale verleugnete? Offensichtlich war es das, denn als der Meister ihn rief, erhob er sich ohne Zögern aus der Gruppe der Zuhörer und folgte seinem Zeichen.

Der Meister bedeutete ihm den Kelch zu nehmen, dann ergriff er Dustins Hand und führte sie unter die Kehle des Tieres, auf dass sich der Kelch bis zum Rand hin mit dem Blut füllte. Tim meseid Knurt tsriw ud uz menie red Regnüj Snatas . Trink!“

Ungläubig starrte Dustin auf den Kelch, dann in die Runde der Maskierten, die ihn vehement anfeuerten, schließlich auf den Mann mit dem Dolch. „Trink!“ Dustin betete, um endlich aus dem unwirklichen Traum zu erwachen, doch es war niemand da, der ihn an der Hand ergriff, um mit ihm aus dieser Welt des Horrors zu entfliehen. Im Gegenteil, die Hand, in der er den Kelch trug, nahm ihren unabänderlichen Weg zu seinem Mund. So sehr es ihm auch widerstrebte, so wenig schien er der Kraft des Bösen entgegensetzen zu können. Der Kelch berührte seinen Mund, warmes Blut benetzte seine Lippen, der süßliche Geschmack des Lebens kroch über seine Zunge und quoll dickflüssig durch seinen Hals. Je mehr er trank, desto mehr verfiel er in einen Rausch. Anfängliches Würgegefühl hatte sich gegeben. Er setzte erst ab, als der Kelch vollends geleert war. Blut verklebte seinen Oberlippenbart. Er wischte es mit dem Handrücken ab.

„Du hast den ersten Teil der Prüfung bestanden“, lobte ihn der Meister. „Der zweite Teil wird zeigen, ob du der Jünger Satans würdig bist.“ Dustin konnte den Worten des Kapuzenmannes längst nicht mehr folgen, verstand nicht den Sinn, der hinter ihnen lag. Der Mann in der schwarzen Kutte gab ein Zeichen und wieder erklang die Musik der Satansrocker. Eines der Mädchen trat in das flackernde Licht des Feuers und begann erneut zu tanzen. Diesmal allerdings konzentrierte sie sich ausschließlich auf Dustin, der fasziniert zusah, wie sie die Kutte in rhythmisch kreisenden, tanzenden Bewegungen langsam über ihre nackten Schultern zu Boden sinken ließ.

Auch jetzt verfielen die Jünger wieder in ihr tosendes Johlen, feuerten das inzwischen nackte Mädchen und ihr neues Mitglied vehement an. Derart getrieben, von der Musik und den herausfordernden Gesten der Tanzenden verführt, griff der unschuldige Adam nach der verbotenen Frucht, der sich vor seinen Augen verführerisch dahin schlängelnden Schlange. Für Dustin war das, was mit ihm geschah, nicht mehr als ein Film, den er nicht anders als ein Zuschauer mehr oder weniger unbeteiligt verfolgte. Es war, als stünde er vor einer riesigen Glasscheibe und betrachtete, wie sich sein bisheriges Leben, umgeben von dunklen Nebelschwaden, in eine unbekannte Ebene hin verflüchtigte.

Er sah, wie die schwarzhaarige Schlange ihr Opfer umgarnte, wie sie es mit sich in den Staub der Erde und in ihren heftig zuckenden Schoß hinunter zog. Und er sah, wie aus dem Jungen, den alle noch für einen Knaben hielten, ein Jünger Satans wurde.

 


-6-

 

Den ganzen Nachmittag hatte ich mich mit dem Computer herumgeschlagen, herausgekommen war nichts als eine Menge unbrauchbares Zeug. Irgendwann hatte ich schließlich völlig entnervt aufgegeben. Mein Werbeportal zur großen weiten Welt des new economy musste jemand anderer erstellen. Ich jedenfalls war mit meinem Können gegen eine virtuelle Wand gefahren – und das mit Vollgas.

Als ich mich endlich dazu entschloss, wieder den angenehmeren Dingen des Lebens zuzuwenden, war es bereits kurz nach sechs. Trude hatte sich längst in den Feierabend verabschiedet und die schwarzhaarige Bedienung aus Florean´s Coffee Shop tat dies ebenfalls in weniger als einer Stunde. Ich dachte an Isabelle und daran, ob ich meine Verabredung einfach platzen lassen sollte, aber dann fragte ich mich, warum ich meiner Ex gegenüber ein schlechtes Gewissen haben sollte. Schließlich hatte ich zwei Karten zu einem Basketballspiel der Wolfenbüttler Dukes und wollte einfach nicht allein hingehen. Das aus der anfänglich nicht ganz ernst gemeinten Einladung eine Verabredung wurde, lag letztendlich auch an Isabelle.

Zeit, um noch lange darüber nachzudenken, blieb mir nun nicht mehr, wenn ich die nette Bedienung nicht verpassen wollte. Ich baute mich also in der Küche auf, um mich meiner nicht mehr ganz so frischen Garderobe zu entledigen und mich mittels Spüle so gut zu säubern, wie es eben ohne eine Dusche möglich war. Es war nicht das erste Mal, dass ich in diesem Zusammenhang von einer Wohnung träumte, aber das lag noch in weiter Ferne. In einer der fünf Umzugskartons, die noch immer unangetastet in einer Ecke des Raums übereinander getürmt waren, musste der legere Ausgehanzug sein, mit dem ich einige Jahre zuvor Isabelle herumbekommen hatte. Während ich danach suchte, blickte ich immer wieder skeptisch zur Uhr.

Schließlich fand ich ihn. Zugegeben, das gute Stück hatte seine besten Jahre wohl bereits hinter sich, aber in dem Gedränge vor der Lindenhalle und später auf der Tribüne würde es sicherlich niemandem auffallen. Die paar Falten, da war ich mir sicher, würden sich während der Fahrt in die City schon glätten. Und wenn nicht hatte ich zumindest meinen guten Willen gezeigt.

Pünktlich um acht stand ich mit meinem braunen Filzschlapphut in der Hand vor Florean´s Coffee Shop, um mir und meinem Wort treu zu bleiben. Ehrlich, bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich keinerlei Absichten in meinem Hinterkopf. Klar, war ich neugierig auf die Lady, aber an mehr als einen netten Abend mit interessanten Gesprächen dachte ich dabei wirklich nicht.

„Hallo, ich bin Gisi, kommen Sie doch herein. Sie wollen sicher Moni abholen. Sie zieht sich nur noch schnell um.“ Monika war also ihr Name, dachte ich mir, während ich ihr freundlich lächelnd die Hand entgegenstreckte. „Leopold“, entgegnete ich, „aber Sie können gern Leo sagen.“ „Möchten Sie etwas trinken, bis Moni fertig ist?“ „Danke, nett von Ihnen, aber dafür reicht die Zeit leider nicht mehr. Das Spiel beginnt in einer Viertelstunde.“ Ich sah mehr aus Verlegenheit als aus Zeitnot nervös auf meine Uhr, aber irgendwie kam ich mir vor, als wäre ich der Schüler einer Tanzschule und holte gerade mein Mädchen zum Abschlussball ab.

Nun, das Warten hatte sich gelohnt. In Zivil sah meine Verabredung geradezu bombastisch aus. „Schön, dass Sie Wort gehalten haben“, lächelte sie mir entgegen. „Ehrlich gesagt hatte ich nicht damit gerechnet.“ Ich reichte ihr die Rose. Sie roch daran und warf mir einen wohltuenden Blick zu. „Dann freut es mich um so mehr, wenn ich für all diejenigen meiner Spezies etwas gerade rücken konnte, die es gewohnt sind, ihr Wort zu halten.“ Ich biss mir auf die Zunge. Was für einen Unsinn gab ich da von mir? Wenn der erste Eindruck bei ihr zählte, hatte ich gerade eine Leuchtrakete zum Mars abgefeuert. Kommandant dieses Raumschiffes war ich höchstpersönlich. Ich versuchte die Zündschnur mit einem gequälten Lächeln zu ersticken, aber ihr Blick sagte alles.

„So ihr beiden, dann macht euch mal auf den Weg“, schob uns Gisi zur Tür hinaus, „sonst kommt ihr tatsächlich noch zu spät.“ Etwas unsicher schaute ich in die Augen meiner Begleiterin und wusste, dass sie bereit war, mir eine weitere Chance zu geben. Ich rückte also meinen Stetson zurecht und bot ihr meinen Arm an. Monika zog es vor, einen gewissen Abstand zu halten. Bei dieser Gelegenheit bemerkte ich, wie ihre skeptischen Blicke mein Jackett musterten. In mir kam ein Gefühl auf, welches sicherlich jeder von uns schon erlebt haben dürfte: das Gefühl, am liebsten in einem Mauseloch zu verschwinden.

Es kam jedoch noch dicker. Ausgerechnet jetzt verweigerte mein in die Jahre gekommener Ascona den Dienst. So sehr ich ihm auch zuredete, er wollte einfach nicht anspringen. „Entschuldige, aber vielleicht liegt es ja am Zündverteiler. Ab und an stellt er sich ein wenig stur.“ Ich stieg also aus und klappte die Motorhaube hoch. Monikas verdrehte Augen konnte ich selbst durch die spiegelnde Windschutzscheibe noch erkennen. Ich nahm es mit einem Grinsen. Gottlob fand ich ein altes Papiertaschentuch in einem der Jacketttaschen, um das Innere des Zündverteilers auszuwischen. Irgendwie sammelte sich darin neuerdings Feuchtigkeit. „So“, strahlte ich zuversichtlich, während ich mich auf den Fahrersitz schwang. „Das müsste es gewesen sein.“ Ein kurzes Leiern und der Motor sprang an. Endlich ein anerkennender Blick. Wie gut so etwas tun kann. Ich schloss die Motorhaube und das Unternehmen Basketball konnte in das zweite Drittel gehen.

Auch die sonst übliche Parkplatzsuche stellte mich diesmal vor keine Herausforderung. Ich stellte den Wagen gegenüber der Lindenhalle, auf dem Gelände einer Großküchenfabrik ab. Der unmittelbar auf dem Parkplatz ansässige Imbisspavillon verursachte mir da schon erheblich mehr Bauchkneifen. Immerhin war da nur eine Bratwurst, die ich mir gegen Mittag, quasi im Vorbeigehen einverleibt hatte. Doch an meinem Hunger ließ sich zumindest im Augenblick nichts mehr ändern. In wenigen Minuten begann das Spiel und wir waren noch nicht einmal in der Halle, geschweige denn auf unserem Platz.

Wir schafften es gerade noch rechtzeitig. Das Spiel der Wolfenbüttler Dukes begann mit ungewohnt vielen Fehlwürfen. Dementsprechend heftig war die Reaktion der Zuschauer. Man konnte kaum sein eigenes Wort verstehen, aber Monika schien es zu gefallen. Mit zunehmender Spielzeit wurden die Aktionen des Lokalmatadors flüssiger und das Match gewann an Dramatik. Korb um Korb holten die Herzöge auf, glichen schließlich aus und zogen mit einigen sehenswerten Treffern davon. Die Halle tobte und meine Begleitung auch.

Es war eine Freude, sie zu beobachten. Ich hatte selten einen Menschen getroffen, der sich mit solchem Enthusiasmus einer Sache hingab. Dass sie eigentlich nicht mein Typ war, spielte plötzlich gar keine Rolle mehr. Ich mochte ihre unbeschwerte Art, das Funkeln in ihren Augen und die Art, in der sie ihre Begeisterung zum Ausdruck brachte. All dies war ihr während ihrer Arbeit im Cafe nicht anzumerken gewesen. Es muss wohl ein Wink des Schicksals gewesen sein, dass ich sie trotzdem ansprach. Wie auch immer, hier und jetzt saßen wir nebeneinander auf der Tribüne und peitschten gemeinsam unser Team zum Sieg

Die Dukes siegten letztendlich knapp aber hochverdient, nicht zuletzt wegen unserer tatkräftigen Unterstützung, welche auch in Form einer La Ola durch die Ränge lief. Die Halle brodelte und der abschließende Dank der Herzöge an ihr Publikum brachte die Stimmung auf den Siedepunkt. Es lässt sich nur schwerlich sagen, ob es das Hochgefühl oder gegenseitige Sympathie war, welche uns dazu trieb, Hand in Hand aus der Halle und hinüber zum Parkplatz zu schlendern. Fakt ist, dass wir uns ein gutes Stück näher gekommen waren und dass dies ein Gefühl war, welches ich über einen längeren Zeitraum schmerzlich vermissen musste.

Genau in diesem Moment erinnerte mich das Knurren meines Magens daran, noch nichts gegessen zu haben. „Und jetzt lade ich dich ins ‚Cristallo' ein, “ verkündete ich voller Überschwang. „Du magst doch italienisch?“ Monika kniff nachdenklich ein Auge zusammen und sah mich schräg an. „Ja, mag ich, aber ich bin kein Püppchen, das du beeindrucken musst.“ Ich fiel aus allen Wolken. „Sind wir doch mal ehrlich. Dein Wagen hat seine besten Jahre weit hinter sich und dein Outfit ist nicht gerade up to date. Versteh mich bitte nicht falsch, aber so dicke hast du es doch wohl auch nicht. Von mir aus können wir auch in den Imbiss dort vorne gehen. Ich bin auch mit ein paar Pommes zufrieden.“

Ich war total von den Socken, wusste im ersten Moment gar nicht, was ich sagen sollte. Ganz offensichtlich hatte ich Moni völlig falsch eingeschätzt. Noch bevor ich mich zu irgendeiner Reaktion durchringen konnte, schnappte sie sich meine Hand und zog mich zum Imbiss hinüber. Manchmal kann keine Antwort genauso viel sagen wie tausend Worte. Ich beschloss den Mund zu halten und mich in die Hände meiner Begleitung, sprich in die meines Schicksals zu ergeben.

Anstatt einer Pizza Cristallo gab's einen Hamburger Marke Grillstation und ein Bier statt eines Vino Rosso. Trotzdem schmeckte es und wir hatten eine Menge Spaß dabei. Irgendwie war mit Moni alles ganz anders und vielleicht war es genau dies, was mich mehr und mehr an ihr faszinierte. Sie erzählte aus ihrem Leben und ich ihr von dem, was mich bewegte. Zwischen uns herrschte eine Vertrautheit, als kannten wir uns bereits eine Ewigkeit. Für mich war längst klar, dass dies nur der Anfang einer langen Freundschaft sein konnte.

 

-7-

 

Es war Mitternacht, als sie mich darum bat, sie nach Hause zu fahren. Ich hätte noch Stunden mit ihr plaudern können, aber zum einen schloss der Imbiss und zum anderen musste Moni am nächsten Morgen früh raus. In der Hoffnung auf ein Wiedersehen lenkte ich den Wagen also stadteinwärts am Stadtbad und dem Theater vorbei, bog verkehrswidrig in den Harztorwall und überquerte die Bahnhofstraße in Richtung Schloss. An der Feuerwehr bog ich links ab und in Höhe des Finanzamts wieder rechts in die Hospitalstraße. Dort wohnte Moni in einer der vielen restaurierten Fachwerkhäuser, die diesem Viertel einen ganz besonders beschaulichen Charme verliehen.

In Höhe der St. Johannis Kirche torkelte plötzlich ein junger Mann auf die Straße. Nur durch reaktionsschnelles Bremsen konnte ich einen Aufprall vermeiden. Der offensichtlich betrunkene Jugendliche verlor dennoch das Gleichgewicht und fiel mir direkt vor den Wagen. „Alles in Ordnung bei dir?“; fragte ich an Moni gewandt. „Ja, ja. Kümmere dich um den Jungen, mir geht's gut.“ Ich stieg aus und ließ meinen Blick rund um den Ort des Geschehens kreisen. Schließlich kann man nicht vorsichtig genug sein. So weit ich überschauen konnte, waren wir mit dem Jungen allein. Ich kniete mich neben ihn, fühlte seinen Puls, der mir deutlich überhöht schien und beugte mich schließlich dicht über seinen Mund, um seine Atmung zu prüfen. Sie war deutlich zu spüren. Abschließend warf ich einen Blick in seine Augen. Die Pupillen waren trübe, aber nicht blutunterlaufen. Meine Erfahrung sagte mir, dass der Knabe nicht betrunken, sondern bis unter die Haarspitzen zugekifft war.

Meine Begleitung war inzwischen ausgestiegen und beugte sich nun ebenfalls über den Jungen. „Kennst du den Knaben?“, fragte ich sie. „Vielleicht wohnt er hier in der Gegend?“ Monika schüttelte den Kopf. „Ich glaub nicht, zumindest habe ich ihn in diesem Viertel noch nicht gesehen.“ Ich sah mir den Jungen etwas genauer an. „Außer dem kleinen Kratzer am Kopf hat er wohl nichts abbekommen.“ „Was machst du?“, fragte mich Moni entgeistert, während ich den immer noch Bewusstlosen nach einer Geldbörse oder dergleichen abklopfte. „Ich suche nach irgend-etwas, was mir seine Identität verrät.“ „Was hast du denn vor?“ in seiner Gesäßtasche wurde ich schließlich fündig. „Ah hier, Dustin Borkmann, Roggenkamp 8a. Im Handschuhfach ist ein Stadtplan, bist du so lieb und schaust mal nach? Ich lade den Knaben inzwischen auf die Rückbank.“

Monika ließ sich nicht lange bitten. Obwohl das Bürschlein recht schmächtig war, ist es leichter, ein totes Ferkel zu tragen. „Du musst die Dr.-Heinrich-Jasper-Straße in Richtung Stöckheim fahren, bis rechts der Juliusweg abgeht. Der Roggenkamp ist die vierte Straße links.“ Monika hielt mir den Plan entgegen. „Ja, fährst du denn nicht mit?“, fragte ich erstaunt. „Sei mir nicht böse, aber es ist spät und wie gesagt, ich muss morgen schon früh raus.“ Ich versuchte meine Enttäuschung so gut es ging zu verbergen. Sollte dieser wundervolle Abend wirklich ein solch jähes Ende finden? „Sehen wir uns?“, fragte ich, als ob ich Angst vor ihrer Antwort hatte. „Ich bin ab elf im Cafe. Ich hoffe doch, dass du wenigstens auf einen Cappuccino vorbeikommst.“ Dann umarmte sie mich, gab mir einen Kuss auf die Wange, „danke für den tollen Abend“, und verschwand in der Haustür.

Ich blickte seufzend auf die Rücksitzbank meines Wagens und malte mir aus, welchen Verlauf der Abend möglicherweise genommen hätte, wenn mir das Früchtchen nicht vors Auto gelaufen wäre. Wie auch immer, es war müßig, etwas nachzutrauern, von dem ich nicht wusste, wie es ausgegangen wäre. So etwas nennt man eben Schicksal. Jetzt jedenfalls war erst einmal der Junge wichtiger. So wie er aussah, ging es ihm nicht besonders.

Als ich in meinen Wagen stieg, fiel mein Blick auf einige Fenster im zweiten Stockwerk, hinter denen gerade das Licht angeschaltet wurde. Die Gestalt meiner Cafehausbedienung wurde sichtbar. Sie zog die Gardine ein Stück weit zur Seite und winkte mir zu. Ich lächelte zurück und stieg schließlich ein. Während meiner Fahrt zum Roggenkamp dachte ich an eine Filmszene, in der die liebende Ehefrau mit dem Säugling auf dem Arm ihrem Mann auf dem Weg zur Arbeit nachwinkte. War es das, was ich wollte?“ Die Antwort blieb ich mir schuldig, denn auf der Rücksitzbank rührte sich etwas. Der junge Mann kam langsam wieder zu sich. Ich hatte mein Ziel fast erreicht, als er sich aufrichtete und reichlich benommen fragte, wer ich sei und wo er wäre.

„Ach du Scheiße, mir geht's vielleicht beschissen“, stöhnte er reichlich mitgenommen. „Wie komme ich überhaupt in diese Mühle?“ „Dank der guten Bremsen dieser Mühle brauche ich dich nicht ins Krankenhaus fahren. Du bist mir direkt vors Auto gelaufen.“ „Ich hab keinen blassen Schimmer, was überhaupt los war.“ „Na, dann solltest du dir mal schnell eine passende Ausrede einfallen lassen, du bist nämlich gleich zu Hause.“

Die Nummer 8a war alles andere als ein Siedlungshäuschen. Die Villa schloss eine ehemalige Baulücke zwischen mehreren kleineren Einfamilienhäusern. Die Mauer aus Bruchsandsteinen, die das Grundstück umgab, war etwa brusthoch und erlaubte somit einen relativ freien Blick auf das futuristisch anmutende Gebäude und die angrenzende Doppelgarage. Ich parkte den Wagen direkt vor dem schmiedeeisernen Tor der Einfahrt. „So, mein Junge, wir sind zu Hause. Kommst du jetzt alleine zurecht?“ „Klaro“, entgegnete das Häufchen Elend im Fond meines Wagens. Er stieß die Tür auf und kraxelte hinaus. Drei Schritte weit kam er, dann knickte er weg und landete auf dem Gehweg. Ich verdrehte die Augen und stieg aus. „Na, das wird wohl nichts. Am besten bringe ich dich bis zur Tür.“ Ich griff ihm unter die Arme und half ihm auf die Beine. Zum Dank übergab er sich auch noch über meinem Jackett.

„Verdammter Mist“, schimpfte ich. „Warum muss ausgerechnet mir so etwas immer wieder passieren?“ Mein junger Freund blieb mir, abgesehen von einigen Würgegeräuschen, eine Antwort schuldig. Aber im Grunde hatte ich meine Frage ja auch nicht an ihn gerichtet. Bevor ich meinen Daumen auf den Klingeldrücker presste, stieß ich noch einen tiefen Seufzer aus. Es sollte nicht der letzte in dieser Nacht bleiben.

Eine Weile tat sich gar nichts. In der Annahme, dass mein Läuten im Haus nicht gehört worden war, verlieh ich meiner Bitte um Einlass durch erneute Betätigung des Klingeldrückers den nötigen Nachdruck. Postum meldete sich eine reichlich ungehaltene Stimme über die Gegensprechanlage. „Wenn ihr nicht sofort die Kurve kratzt, rufe ich die Polizei!“ „Das hätte ich auch machen sollen, als ich Ihren Sohn auf der Straße fand“, entgegnete ich inzwischen nicht weniger mürrisch. „Meinen Sohn?“ „Sie sind doch Herr Borkmann, oder?“ „Moment.“ Widererwarten wurde der Türöffner auch jetzt noch nicht betätigt. Stattdessen beobachtete ich, wie im Obergeschoss des Hauses ein Licht aufflammte. Offensichtlich hatte der Vater des Knaben nicht die geringste Ahnung von den nächtlichen Aktivitäten seines Sohnes.

Nach weiteren zähfließenden Minuten nervigen Wartens, wurde endlich auch im Eingangsbereich der Villa und im Außenbereich die Beleuchtung eingeschaltet. Ich betrachtete das Summen des Türöffners als Aufforderung einzutreten. Die Haustür öffnete sich, als ich mit dem Jungen etwa auf halbem Wege war. Ein Mann und zwei Frauen, alle in Morgenmänteln, traten ins Freie. Während der Mann und die vermeintlich ältere der beiden Frauen im Eingang stehen blieb, eilte mir die Jüngere entgegen. „Maria, Mutter Gottes“, schlug sie theatralisch die Hände über dem Kopf zusammen. „Was ist mit dir, Dustin?“, fragte sie das wie leblos über meine Schulter hängende Etwas. „Er ist mir sozusagen vors Auto gefallen“, antwortete ich anstatt seiner. Die Schwarzhaarige legte den herunterbaumelnden Arm des Jungen über ihre Schulter und half mir, den immer noch völlig Zugedröhnten ins Haus zu schaffen.

Ich dachte mir meinen Teil, als wir mit dem Jungen im Schlepptau das wie angewurzelt dastehende Pärchen passierten. „Wohin mit dem jungen Mann?“, fragte ich die in der Tür stehenden, während wir die Empfangshalle betraten. „Wenn Sie so nett wären und ihn auf sein Zimmer bringen würden“, schlug die Dame mittleren Alters weniger vor, als sie es bestimmte. Ich war versucht ihr eine passende Antwort zu geben, verkniff sie mir aber letztendlich doch im Sinne des Jungen.

Während sich die attraktive Südländerin seiner annahm, sah ich mir sein Zimmer an. Bis auf die High Tech Ausstattung, die ich in solch geballter Form noch in keinem Jugendzimmer gesehen hatte, deutete nichts auf irgendeine Abnormität hin. Der Knabe schien ein ganz normales Teenagerdasein zu fristen. „Sind Sie bei den Borkmanns so etwas wie ein Hausmädchen?“ „Si, ich lebe seit fünfzehn Jahren bei der Familie. Dustin ist so wie mein eigenes Nino“, erklärte sie. „Wie mein eigenes Kind.“ „Kommt es öfter vor, dass Ihr Nino sich nachts herumtreibt?“ „Satánica, natürlich nicht, Dustin ist ein guter Junge. Er hat im Augenblick ein paar Schwierigkeiten“, erklärte sie, „aber hat die nicht jeder Bursche in seinem Alter?“, fügte sie entschuldigend hinzu. „Sicher, wenn so etwas nicht häufiger vorkommt, muss man nicht gleich das Schlimmste befürchten.“

Ich ließ das Hausmädchen allein zurück und begab mich wieder nach unten. Am Fuße der breiten Marmortreppe erwartete mich bereits der Hausherr. Er machte selbst in seinem Hausmantel noch eine honorige Figur. „Darf ich Sie noch einen Moment hereinbitten?“ Ich nickte ihm kurz zu und kam seiner Bitte nach. „Wenn ich Ihnen meine Frau vorstellen darf?“ Die wasserstoff-blonde Mittvierzigerin auf dem himmelblauen Sofa reichte mir die Hand. „Entschuldigen Sie meinen Aufzug, Herr…?“ „Lessing, Leopold Lessing, Privatermittler“, ergänzte ich. „Nehmen Sie doch Platz, Herr Lessing“, forderte sie mich auf. „Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“, erkundigte sich Dustins Vater. „Wenn ich Sie um ein Glas Mineralwasser bitten darf?“ „Also, ich brauche jetzt erst einmal einen Scotch. Du auch einen, Liebling?“ Frau Borkmann nickte ihrem Mann kaum merklich zu.

„Also, Herr Lessing“, wandte sie sich wieder an mich. „Mein Mann und ich sind erschüttert, unseren Jungen in einem derartigen Zustand zu sehen. Vorab möchten wir uns natürlich bei Ihnen bedanken.“ „Es würde uns natürlich interessieren, wo Sie meinen Sohn aufgegriffen haben“, schaltete sich nun auch der Mann mit den ergrauten Schläfen in das Gespräch ein. Ich nahm das Mineralwasser entgegen und leerte das Glas, ohne es einmal abzusetzen. Mir bereitete nicht nur das Wort ‚aufgegriffen' Unbehagen. Was waren das nur für Eltern, fragte ich mich. Ich verspürte weder Besorgnis noch den Wunsch, möglichst rasch nach ihrem Kind zu sehen. Allmählich verstand ich, was den Jungen dazu bewog seinen Verstand zu benebeln.

„Nun, wie ich der jungen Frau eingangs schon sagte, ist mir Ihr Sohn sozusagen vors Auto gelaufen. Es gelang mir gerade noch meinen Wagen rechtzeitig zum Stehen zu bekommen.“ „Wofür wir Ihnen sehr dankbar sind, Herr Lessing“, betonte der Herr des Hauses. „Ich kann mir nicht den geringsten Reim aus dem Verhalten meines Jungen machen. Er ist sonst eher introvertiert und mit Alkohol hat er eigentlich schon gleich gar nichts im Sinn.“ Ich überlegte einen Moment, ob ich schweigen sollte, immerhin ging mich die ganze Sache nichts weiter an, aber dann entschied ich mich, zum Wohle des Jungen, ihnen meine Vermutung mitzuteilen.

„Da muss ich Ihnen leider sagen, dass der Zustand Dustins wohl weniger auf einen übertriebenen Genuss von Alkohol als vielmehr auf den Konsum von Drogen zurückzuführen ist. Ich würde Ihnen daher dringend empfehlen, einen Arzt kommen zu lassen. Während mich der Mann mit dem Scotch fassungslos anstarrte, fuhr die Mutter des Jungen wie von der Tarantel gestochen in die Höhe. „Mein Gott, wenn das in die Öffentlichkeit gerät!“ Nun war ich wie vor den Kopf geschlagen. „Wir können uns auf Ihre Diskretion verlassen, Herr Lessing?“ Einen Moment lang fehlten mir die Worte. Der Name Borkmann war mir auf Anhieb nicht geläufig, aber der Reaktion der Eheleute nach, musste mindestens einer der beiden für den Landtag oder eine vergleichbare Position kandidieren.

„Das versteht sich wohl von selbst“, versprach ich, während ich mich aus dem Sessel erhob. Ich stellte das leere Wasserglas auf den Glastisch, um mich zu verabschieden. „Es ist spät und es war ein langer Tag. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen?“ Borkmann ergriff meine Hand und drückte sie. Sein Blick fiel auf den Fleck, der sich übel riechend auf meinem Jackett ausgebreitet hatte. „Sie hatten sicherlich Auslagen oder dergleichen. Außerdem würden meine Frau und ich uns gern für Ihre Bemühungen erkenntlich zeigen.“ Ich sah meinem Gegenüber mit festem Blick in die Augen: „Nein, ich habe gern geholfen und ich werde auch, ohne dass Sie mir etwas dafür bezahlen, nicht mit der Klingel durch die Stadt gehen!“

Der Mann im Hausmantel schien solche Worte nicht gewohnt zu sein, aber wenn ich mir in diesem Augenblick nicht wenigstens etwas Luft verschafft hätte, wäre ich sicherlich im nächsten Moment explodiert. Für was hielt sich der Kerl? Offensichtlich handelte es sich um jemanden, der sich einbildete, mit Geld alles regeln zu können. Lieber fraß ich den Kitt aus den Fenstern, als mich von so einem Typen schmieren zu lassen.

„Entschuldigen Sie, meine kleine Offerte war nicht böse gemeint, aber man stößt heutzutage immer seltener auf Menschen, denen Begriffe wie Ehre und Anstand noch etwas bedeuten.“ Es lag auf der Hand, warum das so war, aber das behielt ich lieber für mich. „Also schön, ich wünsche Ihnen und Dustin alles Gute. Vielleicht war er ja wirklich nur mal neugierig. Gehen Sie nicht zu hart mit ihm ins Gericht. Schließlich waren wir ja alle mal jung.“ „Ja, aber so etwas…“ Frau Borkmann schüttelte immer noch fassungslos den Kopf. „Der Junge weiß gar nicht, was er uns durch sein Verhalten antut.“ Darauf konnte selbst ich nichts mehr erwidern. Ich sah zu, dass ich an die frische Luft kam, und das lag in erster Linie sicher nicht an meinem übel riechenden Jackett.

 

-8-

 

Ich spürte jeden einzelnen Knochen in mir. Lange würde ich diesen Zustand sicher nicht mehr ertragen, da war ich mir sicher, doch solange ich nicht in die versprochene Wohnung konnte, die in vier bis sechs Wochen neben meinem Büro frei werden sollte, musste ich mit der Luftmatratze auskommen. Andererseits war ich froh, mir bis dato keine Gedanken über die zusätzliche Miete für diese Wohnung machen zu müssen. Die Garage, in der ich mein Mobiliar einstweilen untergestellt hatte, war um einiges günstiger. Ich raffte mich also auf und stakste in die Küche hinüber. Mein Lieblingsjackett baumelte über einer der Stuhllehnen. Es war fast trocken. Ich hatte es gleich, nachdem ich ins Büro kam, mit der Geschirrspülbürste abgeschrubbt und aufgehängt. Mit dem Ergebnis war ich zufrieden.

Weniger angetan war ich von dem Anblick, den mir das Innere meines Kühlschranks bot. Außer zwei Flaschen Bier, einem Becher Margarine und einem Joghurt herrschte darin nichts als gähnende Leere. Der Blick in mein Zwiebelleder trieb mir direkt Tränen in die Augen. Viel war auch dort nicht mehr drinnen, aber für ein ordentliches Frühstück reichte es noch. Ich nahm mir vor, mich erst einmal zu stärken und dann bei meiner Hausbank vorstellig zu werden. Schließlich war an jeder Ecke etwas von Krediten für Existenzgründer zu lesen. Möglicherweise gab es Zuschüsse, von denen ich bislang nichts wusste. Egal, was auch immer ich tat, angesichts meines knurrenden Magens musste ich etwas gegen den notorischen Geldmangel unternehmen.

Ich bin alles andere als der geborene Bittsteller, aber zwei Stunden später hatte ich wieder gut Lachen. Die freundliche Sachbearbeiterin hatte mir auf meinem Postkonto einen großzügigen Überbrückungskredit eingeräumt. Die Zinsen, die ich dafür zu zahlen hatte, waren allerdings ebenso großzügig bemessen. Nun ja, es war ja nicht für lange, beruhigte ich mich. Von nichts kommt eben auch nichts. Wie auch immer, für den Augenblick war ich froh, wieder flüssig zu sein. Damit dies auch so blieb, gab ich bei der Zeitung die nächste Annonce auf.

Nachdem ich mich endlich aufgerafft hatte, seit längerem liegen gebliebene Arbeiten zu erledigen, belohnte ich mich am Nachmittag mit einer Mußestunde in der Fußgängerzone. Es dürfte klar sein, wohin mich dabei der Weg führte. Monika lächelte, als sie sah, wie ich mich an einen der vor dem Cafe aufgestellten Tische setzte. Ich bin ein Mensch, der sich so oft es geht und so lange wie möglich im Freien aufhält. Sicher, drinnen hätte ich Moni bei der Arbeit beobachten und mir auf diese Weise ein Bild von ihr machen können, aber da ich mir aus eigener Erfahrung selber ungern bei der Arbeit über die Schulter schauen lasse, hielt ich es für angebrachter, weniger aufdringlich zu sein. Überdies spielte sich das wahre Leben ohnehin hier draußen ab.

Ich lehnte mich also in einen der bequemen Outdoorstühle zurück und ließ meine Seele baumeln. „ Schön , dass du gekommen bist.“ Die Frau, die meine Sinne inspirierte, beugte sich zu mir herab und gab mir einen Wangenkuss. „Es ist schön, dich zu sehen“, entgegnete ich mit demselben Funkeln in den Augen, wie ich es in den ihren bemerkte. „Möchtest du etwas trinken?“ „Gibt es etwas, das du mir besonders empfehlen könntest?“ Moni spitzte die Lippen. „Na, dann lass dich mal überraschen.“ Ich sah ihr erwartungsvoll nach, bis sie hinter dem spiegelnden Fensterglas verschwand.

Wie viel Betrieb für einen Samstagnachmittag noch immer in der Stadt herrschte. Obwohl die Marktbeschicker ihre Waren längst eingepackt hatten und die Stände abgebaut waren, strömten noch reichlich Leute durch die Kaskaden der Krambuden. Bei Theo, einem stadtbekannten Szenetreff am Durchgang zum kleinen Zimmerhof, standen auch jetzt noch Dutzende Studenten und Intellektuelle mit Biergläsern in den Händen und philosophierten über Dinge, die die Welt bewegen. Das ‚Alt Wolfenbüttel' ist wegen der niedrigen Decken und seiner schiefen Wände eine der urigsten Kneipen der Stadt. Selbst im tiefsten Winter lassen es sich besagte Leute nicht nehmen, zumindest an den Markttagen vor der Tür ihr Bierchen zu trinken. Am besten lässt sich die Stimmung dann mit der im Münchner Hofbräuhaus vergleichen.

Andere Leute, mit offensichtlich viel weniger Zeit hetzten an mir vorbei, waren in sich gekehrt, mit sich selbst beschäftigt, ohne den Blick auch nur für einen kleinen Augenmerk von ihrem Ziel abschweifen zu lassen. Die Wenigsten verweilten vor den Schaufensterscheiben, um sich die phantasievoll dekorierten Auslagen anzusehen, oder sich an einem der noch freien Tische neben mir niederzulassen. Schade , dachte ich, sie ahnen nicht, was ihnen entgeht. Nur bestrebt, ihren Zielen hinterherzujagen, merken sie nicht, wie das wahre Leben an ihnen vorüberzieht. Wenn sie aus ihrer Lethargie erwachen, ist es für die meisten zu spät.

Noch völlig in meinen Gedanken versunken, bemerkte ich beinahe nicht, dass mir Monika eine Spezialität des Hauses vorgesetzt hatte. „Oh, was ist das denn?“, staunte ich nicht schlecht über die dekorativ eindrucksvolle Kreation aus Schaum, Keks, Schokostreuseln und einem Fähnchen, auf dem das Wappen Wolfenbüttels zu sehen war. „Wir nennen es den Lessing Punsch“, verkündete Monika nicht ohne Stolz, „was allerdings weniger mit deinem Namen zu tun hat“, schmunzelte sie. „Ach, das habe ich mir fast gedacht. Wenn das Gebräu so lecker ist, wie es aussieht…“ „Ich hoffe, deinen Geschmack getroffen zu haben“, entgegnete Moni in gespannt verheißungsvoller Ungeduld. „Oh“, entgegnete ich überrascht. „Amaretto?“ „Vielleicht?“, wog sie geheimnisvoll ihre schwarzen Haare. „Betriebsgeheimnis.“ „Verstehe.“ „Aber nun erzähl mir doch bitte, was mit dem Jungen geschah? Seine Eltern haben sich doch sicher große Sorgen um ihn gemacht.“

Ich erzählte ihr mit einer gehörigen Portion Sarkasmus, um was sich die Borkmanns sorgten. Monika konnte kaum glauben, was sie hörte. „Ich weiß jetzt übrigens, warum mir der Name des Jungen so bekannt vorkam.“ Ich spitzte die Ohren. „Die Borkmanns betreiben auf der Dr.-Heinrich-Jasper-Straße eine Gemeinschaftspraxis für Urologie und Gynäkologie. Außerdem engagieren sie sich sehr stark in der Kommunalpolitik.“ „Aha“, entfuhr es mir, als hätte ich es schon immer gewusst. „Dachte ich es mir doch.“ Monika sah sich unruhig um. „Ich muss erst mal wieder was tun. Lauf mir aber nicht weg.“ Ein verschmitztes Lächeln huschte über mein Gesicht. „So schnell wirst du mich nicht mehr los.“

 

-9-

 

„Ist dir eigentlich klar, dass ich mir wegen dieser Scheiße mein Motorrad abschminken kann?“, fuhr Dustin seinen neuen Freund an. Der winkte gelassen ab. „Was sind schon ein paar weltliche Güter gegen die Kraft, die uns Satan verleihen wird, wenn er am jüngsten Tag aus dem Reich der Finsternis in unser aller Leben tritt. Nur wir, die Auserwählten, werden dann ein Teil der neuen Ordnung sein. Das Zeichen des umgedrehten Pentagramms wird ihm zeigen, wer für seine Sache kämpfte.“ Dustin hielt sich den Kopf. „Ich kann mich kaum mehr an Freitagnacht erinnern. Da waren die vielen verhüllten Gestalten, die um ein Feuer herum saßen und an ein paar Mädchen, die darum herum tanzten. Irgendjemand reichte mir etwas zu trinken, danach hab ich nen totalen Blackout.“ Robert machte ein ungläubiges Gesicht. „Du kannst dich wirklich nicht an deine Aufnahme in den Kreis der Jünger Satans erinnern?“ „Wenn ich es dir doch sage. Wenn ich zurückdenke, ist es, als taste ich mich durch dichten Nebel. Ich habe erst wieder eine Erinnerung an den Typen, der mich nach Hause brachte.“

Robert grinste breit. „Dann kannst du dich sicherlich auch nicht mehr an das Vereinigungsritual erinnern. Na, ist ja auch egal, jedenfalls bist du jetzt einer von uns.“ „Was für ein Ritual?“, wollte Dustin nun alles wissen. „Du hast es mit einer der satanischen Bräute getrieben, und ich sage dir, du warst ganz sicher voll bei der Sache.“ „Wie jetzt“, fragte Dustin irritiert. „Du meinst, ich hätte eines der Mädchen flach gelegt und du und deine komischen Freunde habt dabei zugesehen?“ „Es hat dich nicht gestört“, erwiderte Robert ölig grinsend. „Ihr seid doch krank. Dein ganzer komischer Verein gehört in die Klapse!“ „Und du mit uns. Vergiss nicht, du bist jetzt einer von uns“, mahnte Robert. „Das kannst du dir abschminken, ich bin doch nicht bekloppt! Ihr könnt mich zu nichts zwingen.“ Dustins falscher Freund deutete auf seine Halskette, an dem das Zeichen des umgedrehten Pentagramms befestigt war. „Glaubst du wirklich? Du hast die Aufnahmerituale vollzogen. Niemand hat dich dazu gezwungen. Du hast dich uns aus freien Stücken angeschlossen.“ „Gar nichts habe ich getan“, bestritt Dustin. „Es gibt ein Video. Du kannst dich gern überzeugen. Abgesehen davon gibt es nur eine Möglichkeit, deine Mitgliedschaft zu beenden…“ „Und?“, fragte Dustin genervt. „Dein Tod.“

Spätestens jetzt merkte der siebzehnjährige Gymnasialschüler, dass dies alles kein Spiel war. Schlagartig wurde ihm bewusst, welch großen Fehler er begangen hatte, doch wie sollte er nur wieder heile aus der Sache herauskommen? Seinen Eltern brauchte er damit nicht zu kommen. In ihrer Welt existierte das Böse ebenso wenig wie die Liebe zu ihm. Nein, er hatte sich die Suppe allein eingebrockt, nun musste er sie auch allein wieder auslöffeln. „Also gut“, sagte er schließlich, mit fester Stimme. „Wann ist unsere nächste Zusammenkunft?“ Robert schien den abrupten Sinneswandel seines Gegenübers eher skeptisch zu betrachten. Er war lange genug Mitglied der satanischen Jünger, um vorsichtig genug zu sein. „Ich werde dir rechtzeitig Bescheid geben.“ Damit drehte er sich um und ließ Dustin stehen.

Der Rothaarige holte tief Luft. Es ging ihm alles andere als gut. Das Gefühl, eine Dummheit begangen zu haben, schnürte ihm die Kehle zu. Es war nicht wie sonst, wenn ihn sein schlechtes Gewissen plagte, weil er etwas ausgefressen hatte, dieses Mal schwang eine gehörige Portion Angst mit, die so drohend wie ein Damoklesschwert über ihm pendelte. Nach all dem Ärger, den er zwei Tage zuvor wegen dieser Dummheit bereits bekommen hatte, kam nun auch noch die Ratlosigkeit hinzu, die ihn befiel, weil er sich nicht zu helfen wusste. Wen konnte er um Rat fragen oder gar um Hilfe bitten? Freunde hatte er nicht, mit Rosita konnte er zwar reden, aber wie sollte sie ihm helfen? Zur Polizei konnte er schon wegen des angeblichen Videos nicht gehen. Wenn es tatsächlich so einen Mitschnitt gab, würde ihm niemand glauben, dass er nicht freiwillig mitgemacht hatte.

Eines stand für ihn fest, es mussten irgendwelche Drogen im Spiel gewesen sein. Warum sonst konnte er sich an nichts erinnern? Das Gefühl, nicht zu wissen, was an diesem Abend mit ihm geschah, nagte an ihm, fraß ihn innerlich auf. Er musste es herausfinden, auch wenn er dafür ein weiteres Risiko eingehen musste. Er würde sich noch einmal in die Höhle Satans wagen, aber diesmal würde er keinen einzigen Schluck trinken und auch sonst, im wahrsten Sinne des Wortes, höllisch darauf achten, was er zu sich nahm.

 

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Fünf Tage waren seit unserer ersten Verabredung vergangen. Monika und ich hatten uns seither tagtäglich in Florean´s Coffee Shop gesehen. Wir hatten uns, wie man so sagt, gegenseitig beschnüffelt. Je mehr ich dabei von ihr erfuhr, desto mehr gefiel mir diese Frau. Eine gegenseitige Sympathie war unverkennbar. An diesem Abend hatten wir uns zum Bowling im Entertainment-center verabredet. Es musste Jahre her sein, als ich meine letzte Kugel schob, aber das hielt mich natürlich nicht davon ab, Monikas Einladung nachzukommen. Überhaupt verhielt sie sich sehr geheimnisvoll. So bestand sie darauf, dass wir uns erst an der Bahn trafen. Ich konnte mir zwar keinen Reim daraus machen, ahnte aber, dass sie eine Überraschung für mich hatte.

Abgesehen von der überaus positiven Entwicklung meines Privatlebens, brachten diese Tage auch anderweitige Veränderun-gen mit sich. So meldete sich beispielsweise eine Dame der Bundesagentur für Arbeit bei mir. Sie erklärte mir, dass es einen bedauerlichen Fehler bei der Stellenzuordnung gegeben hatte. Der in meiner Detektei vakante Job einer Sekretärin sei offensichtlich falsch besetzt worden. Ich widersprach auf das Energischste und teilte der über alle maßen erstaunten Stellenmanagerin mit, wie zufrieden ich inzwischen mit meiner Putzsekretärin war. Die leider sehr unflexible Dame sprach von Trudes ungenügender Qualifikation und davon, dass man den Zuschuss zu ihrem Gehalt unter anderen Gesichtspunkten berechnet hatte. Was das heißen sollte, konnte ich mir an fünf Fingern ausrechnen. Jetzt wo Trude und ich endlich ein Team wurden, sollte ich zu Gunsten einer Anderen auf sie verzichten.

„Hören Sie, gute Frau. Wie Ihnen bekannt sein dürfte, wird der Zuschuss für Arbeitslose gezahlt, die auf Grund ihres Alters schwer vermittelbar sind. Frau Berlitz hat den Job bei mir angetreten, weil Sie einen Fehler gemacht haben. Sie hat sich trotz ihrer nicht vorhandenen Qualifikation gut eingearbeitet. Eine andere Sekretärin will ich nicht!“ „Aber…“ „Stellen Sie sich vor, die Ärmste erleidet wegen Ihres Fehlers einen Schock oder dergleichen und die Zeitungen bekommen Wind davon. Nein, nein, ich denke, wir sollten alles so belassen, wie es ist.“ Am anderen Ende der Leitung herrschte betretene Stille. Nur ein gelegentliches Seufzen verriet mir, dass die Verbindung nach wie vor bestand. „Also gut“, lenkte die Arbeitsmanagerin schließlich ein. „Wenn Sie darauf bestehen, soll es mir recht sein. Sie müssen schließlich sehen, wie Sie mit der Frau klar kommen. Für uns ist die Angelegenheit damit erledigt.“

Na also, mehr wollte ich doch gar nicht. Ich beendete das Gespräch, nicht ohne mich noch einmal für ihr freundliches Entgegenkommen zu bedanken. Meine Ansicht, dass der Bürokratismus in diesem Amt mit der Änderung des Namens nicht ab, sondern eher noch zugenommen hatte, behielt ich lieber für mich. Wichtig ist, was unter dem Strich herauskommt , dachte ich und damit konnte ich zufrieden sein. Irgendwie war mir Trude mit all ihrer Unordnung und den übrigen Macken ans Herz gewachsen. Vielleicht passten wir ja gerade deswegen so gut zueinander. Dass dies so war, bemerkte ich erst, als man unsere Zusammenarbeit beenden wollte. Manchmal bedarf es eben eines äußeren Anlasses, um zu erkennen, was wirklich zählt.

Ich fuhr also in dem Gefühl zum Entertainmentcenter, eine gute Tat vollbracht zu haben. Kein schlechtes Gefühl, wenn man bedenkt, dass gute Taten etwas aus der Mode gekommen sind. Ich war vielleicht auch ein wenig Stolz darauf, meine Fürsorgepflicht als Arbeitgeber, trotz einer gewissen Versuchung, nach-gekommen zu sein. Wenn ich auch zugeben muss, dass ich dann und wann die reizende Erscheinung der eigentlich richtigen Sekretärin vor meinem geistigen Auge sah. Aber was war schon die makellose Figur und das Fachwissen jener Dame, gegen die zuvorkommende Art meiner Putzsekretärin? Ich schüttelte den Kopf. War ich eigentlich noch ganz normal? Ich musste verrückt gewesen sein, das Angebot der freundlichen Sachbearbeiterin in der Arbeitsagentur abgelehnt zu haben.

Noch immer ganz in meinen konfusen Gedanken versunken, bemerkte ich plötzlich, keine zehn Meter von mir entfernt, meine Verabredung. Monika winkte mir von einem der Stehtische zu. Neben ihr entdeckte ich ein Mädchen, das offensichtlich zu ihr gehörte. Sie hatte langes schwarzes Haar, welches sie zu einem Zopf zusammengebunden hatte. Ich schätzte sie auf etwa vierzehn Jahre. Eine gewisse Ähnlichkeit mit Monika war nicht zu übersehen. Mein Großhirn hatte Schwierigkeiten, das, was ich sah, in ein adäquates Ergebnis umzusetzen. War sie etwa die angekündigte Überraschung?

Moni und ich begrüßten uns in der gewohnt herzlichen Art. „Das also ist Leo“, verkündete sie sich bei mir einhakend. Ich schob etwas verlegen meinen Stetson um einige Zentimeter nach links, nickte dem Mädchen mit meinem Sonntagslächeln zu und bugsierte meinen Hut im nächsten Moment wieder an seinen Ausgangspunkt zurück. Zu was für merkwürdigen Dingen sich man mitunter hinreißen lässt. Vor allem dann, wenn man einer Situation zugegeben etwas hilflos gegenübersteht. Das Mädchen streckte mir kess die Hand entgegen. „Und ich bin Suhela, Monikas Tochter.“ Obwohl meine Festplatte diesen Gedanken bereits als die wahrscheinlichste Variante an das Motherboard weitergegeben hatte, kam ich mir vor, wie vor den Stetson geschlagen.

„Ich dachte, es wird Zeit, dass ihr zwei euch mal kennen lernt“, erklärte Moni, als sei dies das Normalste von der Welt. „Also, wenn ich eine derart attraktive Tochter hätte“, schleimte ich, „hätte ich sie sicher nicht so lange hinter dem Berg gehalten.“ Während sich Suhela über mein Kompliment freute, schien Monika meinen kleinen Seitenhieb verstanden zu haben. „Ich finde es toll, dich endlich kennen zu lernen.“ „Eigentlich bist du gar nicht so verknöchert, wie ich dachte.“ „Suhela!“, entfuhr es ihrer Mutter. „Lass mal“, ging ich beschwichtigend dazwischen. „Ich schätze Ehrlichkeit. Warum soll deine Tochter nicht offen ihre Meinung sagen, zumal ich ja nicht schlecht dabei wegkomme.“ In der Hoffnung, ihr Herz im Sturm erobert zu haben, grinste ich die Kleine selbstgefällig an. „Eigentlich war ich noch gar nicht fertig“, grinste sie frech zurück. „Suhela!“ „Keine Angst, Mutsch. Ich halte ja schon die Klappe.“

Es bedarf im Grunde einer ganzen Menge, um mich sprachlos zu machen, aber in diesem Moment blieb selbst mir die Spucke weg. „Vielleicht sollten wir uns jetzt eine Bahn suchen und endlich ein paar Kugeln schieben“, versuchte die gestresste Mutter das allgemeine Interesse auf den eigentlichen Grund unseres Treffens zu lenken. Manchmal kann es sinnvoll sein, einer Sache nicht auf den Grund zu gehen, wenngleich ich zu gern gewusst hätte, wie das kleine Luder wirklich über mich dachte.

Nachdem wir endlich unsere Bahn zugewiesen und die speziellen Sportschuhe angezogen hatten, programmierte Suhela den Spiel-Monitor. Bemerkenswert, mit welcher Selbstverständlichkeit die jungen Leute mit der Computertechnik umgehen , dachte ich, während ich ihr zusah. Auch an den Bahnen, die links und rechts von uns waren, herrschte reger Betrieb. Das ‚Planet Bowling' war zu meiner Überraschung selbst an einem Wochentag gut besucht. Das Publikum war allerdings durchweg jünger als ich. Ich seufzte. Bei solchen Gelegenheiten wird einem immer deutlich vorgeführt, wie alt man ist. Egal , dachte ich trotzig, meinen Stetson zur Seite legend. Voller Sportsgeist spuckte ich in die Hände... „Na, dann wollen wir den Halbstarken doch mal zeigen, was ein richtiger Strike ist.“ ...nahm Anlauf, holte Schwung und setzte die Bowlingkugel krachend auf die Bahn. Zu blöd nur, dass ich meine Finger nicht aus den verdammten Löchern heraus-bekam. Ich schlug lang hin, rutschte ein Stück weit über das hochglanzpolierte Polyester und blieb unter dem Gelächter der übrigen Bowler reichlich deplaziert liegen. Wieder so eine Situation, in der ich verzweifelt nach einem Mauseloch suchte.

Die wahre Stärke eines Menschen zeigt sich darin, erlittene Rückschläge in Würde wegzustecken. Genau diesen Leitspruch schrieb ich mir auf die Stirn, als ich kurze Zeit später nach einer anderen Bowlingkugel mit größeren Löchern suchte. Jetzt aufzugeben war nicht meine Maxime. Während sich Moni nach meinem Sturz geradezu rührend um mich bemühte, bemerkte ich, wie peinlich meine Aktion für Suhela gewesen war. Es gab also einiges wieder gutzumachen. Vielleicht war es ja auch mein Stetson, den ich zuvor abgelegt hatte. Kurz entschlossen setzte ich ihn mir wieder auf und schwang die Kugel. Während sich Suhela die Hand vor Augen hielt und die herumstehenden Leute bei meinem Anblick wieder zu Lachen begannen, setzte ich die runde Hartgummikugel diesmal etwas gekonnter auf die Bahn. Gespannt sah ich ihr nach, hielt den Atem an, als sie sich dem Rand der Bahn näherte. Jetzt bloß keine Pumpe, dachte ich.

Irgendjemand da ganz oben drückte wohl beide Augen zu und gab der Kugel den nötigen Drall, um das Ziel im richtigen Winkel zu treffen. Ein Pin nach dem anderen kippte zur Seite, bis am Schluss nur noch einer wackelte. Um uns herum herrschte gespannte Ruhe. Ich nahm meinen Stetson ab und zwinkerte zur Decke und auch der letzte Kegel fiel. Die Menge kreischte, applaudierte, ein blonder Hüne schlug mir anerkennend auf die Schulter. Tja, dachte ich, auf Regen folgt Sonnenschein. Am schönsten aber war, dass mich Moni umarmte und mich vor all den Leuten küsste. Ein irres Gefühl, wenn du dich selbst an den Haaren – beziehungsweise am Stetson – aus der Sch... ziehst.

Je länger der Abend andauerte, desto besser lief es. Es sollte nicht der einzige Strike bleiben, den ich warf und nachdem ich kapiert hatte, dass ich nur ich selbst zu sein brauchte, kamen Suhela und ich immer besser miteinander klar. Ich nahm mir vor, Moni bei Gelegenheit nach dem ausgefallenen Namen ihrer Tochter zu befragen, doch dann verwarf ich diesen Gedanken wieder. Ich wollte ihr die Zeit geben, mir von sich aus etwas über Suhela zu erzählen. Was auch immer ihre Gründe waren, sie mir zunächst vorzuenthalten, und egal, was ich davon hielt, ich versuchte es zu respektieren.

 

-11-

 

„Wo schleppst du mich denn diesmal hin“, wollte Dustin von Robert wissen, während sie von der Hauptpost kommend die Oker entlang gingen. „Das wirst du noch früh genug sehen“; antwortete der schwarzhaarige Jünger barsch. In Höhe des Jugendzentrums hielt er Dustin plötzlich am Arm zurück und zog ihn mit sich die Böschung hinunter. „Was willst du denn hier ?“ „Frag nicht so viel.“ Robert schob einen Kanaldeckel zur Seite und bückte sich. Als er sich wieder aufrichtete, hielt er eine Plastiktüte in der Hand, aus der er zwei Gewänder hervorholte. Es waren solche, wie Dustin sie bereits vom ersten Treffen im Seeliger Park her kannte. „Zieh das an“, forderte Robert ihn auf. „Muss das sein?“, entgegnete Dustin widerwillig. „Es muss! Heute ist Mitsommernacht“, erklärte der Satanist. „Einer der höchsten okkulten Feiertage unserer Vereinigung. Du würdest Satan beleidigen, wenn du dich in dieser besonderen Nacht normaler Kleidung bedienst.“

Dustin traute seinen Ohren nicht. Hatte Robert andeuten wollen, dass der Teufel persönlich bei seinen Jüngern hereinschaut? Wie hatte er sich nur auf einen solchen Schwachsinn einlassen können? Koste es, was es wolle, er musste dieses verdammte Video in seinen Besitz bringen, sonst war alles verloren. „Ich sehe schon, es gibt noch viel für mich zu lernen“, sagte er schließlich. „Glaub mir, auch mir ging es damals nicht anders, als ich den Jüngern beitrat. Auch ich war voller Zweifel und Bedenken, aber die Brüder und Schwestern der Gemeinschaft haben mich davon überzeugt, dass es nur einen gibt, dem es sich lohnt zu dienen. Diese Nacht wird mich endgültig in den Kreis derjenigen Jünger bringen, die dem wahren Herrscher der Welt am nächsten stehen.“

Wie durchgeknallt musste einer sein, der solchen Schwachsinn von sich gab und offensichtlich auch noch daran glaubte , fragte sich Dustin, während er sich das Kapuzengewand über das blaue Hemd streifte. Weit konnte der geheimnisvolle Treffpunkt nicht mehr entfernt sein. Robert würde sicher nicht riskieren, auf dem Rest des Weges von vielen Leuten darin gesehen zu werden. Dustin sah sich um, aber außer dem Stadtbad, einer Tankstelle und einem Gebäude des Fernmeldeamtes war nichts zu sehen, was auf einen möglichen Versammlungsort hindeuten würde.

„Bleib stehen“, befahl Robert ihm unvermittelt. „Was ist?“, fragte Dustin überrascht. Sie standen unmittelbar vor dem Eingang zu einer ehemaligen Bahnunterführung, von der Dustin wusste, dass sie seit vielen Jahren baufällig und deshalb nicht mehr zu benutzen war. Ein auf der anderen Seite der Gleisanlagen gelegenes Chemiewerk hatte sie vor Jahren zumauern lassen. „He, was soll das?“, erwehrte sich Dustin, als Robert ihm die Kapuze über den Kopf stülpte. „Ich kann nichts mehr sehen.“ „Genau so soll es sein“, erwiderte Robert gelassen. „Du bist noch nicht so weit, dass wir dir blind vertrauen.“ „Aber... ich bin doch einer von euch“, bekräftigte Dustin. „Bis dahin fliest noch viel Wasser durch die Oker.“

Sie verließen den Weg. Dustin spürte, wie der Schotter unter seinen Schuhen in einen weicheren Boden überging. Gras streifte seine Beine. Die dünnen Zweige kleiner Sträucher zupften an der Kutte, versuchten ihn auf seinem Weg in die Dunkelheit zurückzuhalten, doch der schmächtige Junge wusste den Wink des Schicksals nicht zu deuten. Robert achtete akribisch darauf, dass Dustin nicht unter der Kapuze hervorschaute. Darüber hinaus hatte er nicht den direkten Weg zum Eingang genommen. Das wenige, was Dustin dennoch sah, konnte ihm keinen Anhaltspunkt geben. Irgendwann hatte er völlig die Orientierung verloren. Ja, er wusste nicht einmal mehr, wie weit sie gegangen waren.

„Parole“, vernahm er plötzlich Altbekanntes. Sie hatten ihr Ziel also erreicht. „Mittsommernacht“, entgegnete Robert. „Und der da?“, deutete der Wächter auf Dustin. „Ein Neuer.“ „Also schön, ihr könnt passieren.“ Einige Schritte weiter forderte Robert seinen Begleiter auf, den Kopf einzuziehen und sich zu bücken. Er führte Dustins Hände an eine Eisenstange, dann an eine weitere. Angst durchströmte seinen Körper. Eine Leiter, fuhr es ihm durch den Kopf. Kurz darauf stieg er einige Sprossen in die Tiefe, bevor er wieder festen Boden unter den Füßen verspürte.

Endlich nahm ihm Robert die Kapuze ab. Was er sah, war das grell flackernde Licht einer Fackel, die in einer Halterung an der Wand steckte. Sein Begleiter griff in eine am Boden stehende Kiste und nahm eine weitere Fackel heraus, die er ebenfalls entzündete. „Los, komm“, forderte er Dustin auf“, aber achte auf den glitschigen Boden.“ Im diffusen Licht der Fackeln, die aus einem in Öl getränkten Tuch bestanden, welches um einen Stock gewickelt war, erkannte Dustin ein Gewölbe. Die über ihren Köpfen zusammentreffenden Steine waren völlig mit Salpeter überzogen. Feuchtigkeit rann an ihnen herab und bildete auf dem Boden kleine Rinnsäle, die wiederum im Nichts versickerten. Die Luft war feucht und stickig.

Sie waren bereits ein gutes Stück gegangen, als Musik und lautes Stimmengewirr das Ende des Ganges ankündigten. Dustin konnte kaum glauben, was er sah. Vor ihnen tat sich ein riesiger Raum auf, der in seinen Ausmaßen der Turnhalle seiner Schule nahe kam. Mehr als zwei Dutzend Menschen saßen, von ihren Kutten umhüllt, auf Bänken, die im Halbkreis um einen Altar aufgebaut waren. Überwältigt von dem Anblick Hunderter brennender Kerzen, unzähliger glimmender Räucherstäbchen, die mit ihrem betörenden Rauch die feuchte Luft schwängerten, vermochte Dustin nicht ein einziges Wort herauszubringen. Immer wieder hob Robert die gehörnte Hand, um seine Brüder und Schwestern mit dem satanischen Zeichen zu begrüßen. Da saßen scheinbar ganz normale Menschen, denen Dustin ihr Treiben niemals angesehen hätte, wenn er ihnen auf der Straße, im Supermarkt oder sonst wo begegnet wäre. Keiner von denen wirkte auf ihn, als habe er nicht alle beisammen. Gottlob blickte er in kein bekanntes Gesicht.

„Setz dich“, befahl ihm Robert, „ich komme gleich zurück.“ „Wo willst du hin?“ „Der Meister erwartet mich“, erklärte er und verschwand hinter einem Vorhang, der sich neben dem Altar befand. Er war kaum verschwunden, als sich ein Mädchen mit langen roten Haaren neben ihn setzte. „Hallo Dustin“, begrüßte sie ihn mit einem Kuss auf die Wange. „Wer bist du und woher kennst du mich?“ Das Mädchen lächelte mild. „Was denn, du hast mich schon vergessen?“ Allmählich dämmerte es ihm. „Haben wir beide etwa...?“ „Wie schön, dann habe ich dich also doch beeindruckt.“ Sie reichte ihm einen mitgebrachten Becher und stieß mit dem ihren dagegen. „Es hat höllischen Spaß mit dir gemacht.“ Dustin sah verlegen zu Boden. Dann war es also doch wahr. Robert hatte nicht gelogen. „Trinken wir auf deine Befreiung von dem Joch, unter dem wir alle knechteten.“ Das Mädchen hob den Becher und prostete Dustin zu. „Was ist, schmeckt dir der Met nicht?“ „Doch, doch“, entgegnete er zögerlich. Es blieb ihm nichts anderes übrig, wenigstens so zu tun, als würde er von dem roten Zeug trinken, welches nach Alkohol roch und süßlich auf seiner Zunge klebte. Die Rothaarige erhob sich. Dustin atmete erleichtert auf. Sobald sie verschwunden war, konnte er das Zeug endlich ausspeien, doch weit gefehlt, das Mädchen kam näher, streichelte seine Wange und küsste ihn heiß und innig. „Wann immer du möchtest, Süßer.“ Um nicht aufzufliegen, blieb ihm nichts anderes übrig, als den Met hinunterschlucken, aber noch verspürte er keine Wirkung. Sicher hatte er das Mädchen verkannt. „Ja, aber hast du denn keinen Freund?“, fragte er sie schließlich, nicht einmal uninteressiert. Die Rothaarige lachte amüsiert. „Wir machen was uns gefällt und im Moment gefällst du mir.“

Der Satansrock der Death-Metal erstarb und der Vorhang neben dem Altar wurde zur Seite gedrückt. Der Mann, den alle Meister nannten, trat aus dem dahinter befindlichen Raum vor seine Brüder und Schwestern. „Ich grüße euch, Ihr Jünger Satans, des Herrschers der Finsternis und der Mächte des Bösen“, eröffnete der Mann, über dessen Kutte er als Einziger das Zeichen der Satanskirche trug. Ein doppeltes Kreuz, an dessen Fuß sich eine wagerechte Acht befindet. Dustin hatte es in der Satanischen Bibel gesehen, die ihm Robert gegeben hatte. „Wir grüßen dich, Meister“, antwortete die Gemeinschaft wie aus einer Kehle.

Der Mann hinter dem Altar griff nach einer der Fackeln und entfachte einen Ring aus Feuer, welches sich scheinbar aus dem blanken Boden nährte. Dustin konnte noch so genau hinschauen, alles was er sah, waren wild züngelnde Flammen, die direkt aus der Hölle zu kommen schienen. „Und nun tretet heran in den Kreis, der uns mit dem Herrn der Unterwelt verbindet und trinkt von seinem Blute, damit er sieht, dass ihr seine Kinder, die Kinder seines Zorns, sein Werkzeug seid, um schon bald wieder der legitime Herrscher der Welt zu sein.“ „Wir geloben ihm ewige Treue und wir geben für ihn unser Blut“, erwiderte die Masse und einer nach dem anderen erhob sich, um in den brennenden Kreis zu treten.

Dustin sah sich suchend um, suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit, um für einige Minuten zu verschwinden. Er ahnte, dass es sich bei dem Trunk, den der Meister das Blut Satans nannte, um das gleiche Zeug handelte, welches ihm schon im Seeliger Park die Sinne vernebelte. Er stand so unauffällig wie möglich auf und begab sich in den hinteren Teil, der von stämmigen Säulen getragenen Halle. Im Lichtschatten einer der Mauervorsprünge wollte er das Ritual abwarten. Wie sollte er ahnen, dass er gerade dort auf das rothaarige Mädchen stieß. „Du hast wohl nach mir gesucht?“, fragte sie von sich überzeugt. „Ja, ja“, stammelte Dustin, während er sich zu ihr auf den Boden setzte. Sie lehnten mit dem Rücken zur Wand und genauso fühlte er sich in diesem Moment, da sie begann, seine Hose zu öffnen. Sollte er es geschehen lassen? Sollte er sich der Lust hingeben, die ihn schon so oft in seinen Träumen verfolgte? Von der er sich in etlichen Nächten ausgemalt hatte, wie es wohl wäre – sein erstes Mal?

Ihre schlanken Finger griffen in seine Hose, sie beugte sich über ihn und er ließ es geschehen. Satanischer Rock setzte wieder ein, während sie über ihm kniete, doch für Dustin war es als jubilierten die Posaunen von Jericho. Das rothaarige Ungeheuer ritt auf seiner Hüfte, als sei der leibhaftige Teufel hinter ihr her. Dustins zu Fleisch gewordenen Lüste ließen ihn alles um sich herum vergessen. Ja, selbst der okkulte Ort, an dem er sich befand, trat aus seinem Bewusstsein. Jetzt zählte nur noch das Verlangen nach vermeintlicher Liebe, sich loszulassen, im freien Fall scheinbar schwerelos durch Zeit und Raum zu schweben und sich dabei uneingeschränkt hinzugeben. Wenn dies der Lohn war, war er bereit, den Preis dafür zu zahlen.

„He, ihr zwei, man sucht bereits nach euch“, schreckte sie einer der Brüder unvermittelt auf. „Ihr habt euch noch nicht am Ritual beteiligt.“ „Du siehst doch, dass wir beschäftigt waren“, zischte das Mädchen, welches sich Rebecca nannte. „Wir werden eben als Letzte in den Feuerkreis treten.“ „Ihr seid die Letzten!“ „Okay, wir kommen“, sagte sie knapp und erhob sich von Dustins Schenkeln, der noch immer ermattet mit dem Rücken an der Mauer lehnte. Irgendwie sträubte sich in ihm plötzlich nichts mehr. Er sah dem scheinbar Unvermeintlichen nun mit anderen Augen entgegen.

Nacheinander traten sie nun in den Feuerkreis. Zunächst die Rothaarige, die sich von den Flammen völlig unbeeindruckt zeigte. Sie kniete vor dem Meister nieder und ließ sich den Kelch mit dem, was der Mann mit dem satanischen Kreuz das Blut Satans nannte, an den Mund führen. Der Meister achtete darauf, dass sie den Kelch bis zum Grund leerte. Erst dann setzte er ihn wieder ab, griff in eine Schale und malte auf ihrer Stirn das umgedrehte Kreuz. Rebecca beugte sich nach vorn und küsste seine Füße, dann erhob sie sich wieder und trat rückwärts aus dem Kreis.

Dustin hatte jede Einzelheit genau beobachtet. Er war aufgeregt, hatte Angst davor, etwas falsch zu machen, doch nun gab es kein Zurück mehr. Der Meister bedeutete nun ihm , in den Kreis zu treten. Wie von einer unsichtbaren Hand geleitet, erhob er sich von der Bank, auf der er gesessen hatte und ging auf den Mann mit dem Kreuz zu. „Habe keine Angst vor dem Feuer“, sagte er Dustin zugewandt, „Die Kraft Satans wird dir nur dann gefährlich werden, wenn du dich seiner als unwürdig erweist und deine Loyalität nicht aufrichtig ist.“ Dustin nahm all seinen Mut zusammen und stieg durch die Flammen in den Kreis. „Nun denn, knie nieder und empfange Satans Blut.“ Noch immer am ganzen Körper zitternd, tat er was der Meister von ihm verlangte und leerte den Kelch. „Und nun das äußere Zeichen für unsere Gesinnung“, verkündete er, während seine Finger in die Schale griffen und mit blutgetränkter Asche das Kreuz auf Dustins Stirn malte. Abschließend küsste auch der schmächtige Junge die Füße des Meisters, dann erhob er sich Junge und trat ebenso wie zuvor Rebecca aus dem Feuerkreis, woraufhin die Flammen erloschen und das Ritual beendet war.

Schon als er sich auf der Bank neben Rebecca niederließ, spürte Dustin, wie eine unerklärliche Hitze in ihm aufstieg. Seine Lippen begannen zu zittern, merkwürdiges Kribbeln setzte in seinem Nacken ein, breitete sich über den gesamten Rücken aus und erfasste schließlich sogar seine Beine. Spürte er zum ersten Male die Macht des Satanischen? Wie in Stein gemeißelt klebte er auf der Bank und wagte es nicht, sich auch nur einen Millimeter zu bewegen. Mit starr nach vorn gerichtetem Blick verfolgte er, wie der Meister einen Dolch mit bloßer Hand direkt in ein Feuer hielt, welches aus einer Form entsprang, die aus sechs Sechsen bestand. Die Flammen schienen ihm dabei nicht das Geringste anzuhaben. „Dies soll unser Werkzeug sein, um dir unserem Herrn und Meister aller Meister zur heutigen Mitsommernacht die größte aller Opfergaben preiszugeben.“

Wieder wurde der Vorhang zur Seite geschoben. Diesmal traten Robert und ein älterer Mann in einem weißen Gewand aus dem Raum dahinter neben den Altar. Der alte Mann mit dem Vollbart verbeugte sich mehrmals vor den Brüdern und Schwestern, die auf den Bänken saßen und ihm zujubelten. Dustin fragte sich, was das Ganze sollte. Er selbst erholte sich langsam wieder, aber noch fiel es ihm schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Entweder der Bärtige war von Drogen betäubt oder aber er meinte, dass er sich in einem Theaterstück befände und die Jünger Satans seien sein Publikum.

„Und nun bedarf es einer noch unbefleckten Seele, um den Ritualdolch seiner Bestimmung zuzuführen“, verkündete der Meister, während er auf Dustin zeigte. Als würde er an unsichtbaren Fäden gezogen, sprang er, einer Marionette gleich, von der Bank auf und begab sich vor den Altar, vor dem er inne-hielt und niederkniete. „Erhebt euch von den Sitzen“, befahl der Meister der Schar seiner Gefolgsleute „...und sehet mit mir dem Tod ins Auge.“ „Dog si natas“, raunte die Menge. „Empfange nun den Dolch der toten Seelen, damit du ihn deinem Bruder zu seiner Bestimmung weitergeben kannst“, sagte der Meister bedeutungs-voll und legte ihn in Dustins weit geöffnete Hände.

Ein Ruck ging durch seinen Körper, als er die kalte Klinge in seinen Handflächen verspürte. Es war, als zöge eine übersinnliche Kraft einen Stöpsel aus seinem Leib und all das, was ihn in den letzten Minuten leitete, floss dahin und versickerte wie ein Rinnsal in der Erde. Er spürte die Kraft des Lebens, die wie ein frischer Wind in ihn zurückkehrte und seine Gedanken wurden klar. Es bestand kein Zweifel mehr, diese Wahnsinnigen wollten den alten Mann neben ihm tatsächlich ihrem Satan als Opfergabe bringen. Das durfte er nicht zulassen. Er musste etwas dagegen unternehmen und sei es auch das Letzte, was er in seinem ohnehin schon verkorksten Leben tat.

„Gepriesen seiest du, Satan!“, rief der Meister und kniete nieder. Alle anderen folgten seinem Beispiel. Das war Dustins Gelegenheit. Wenn er wirklich etwas unternehmen wollte, dann musste er in diesem Augenblick handeln. Den Dolch in der Hand, mit dem Mut der Verzweifelung und der Gewissheit, das Richtige zu tun, sprang er auf, riss den Kopf des niederknienden Meisters nach hinten und setzte ihm die Klinge an die Kehle. „Steh ganz langsam auf, wenn dir dein Leben lieb ist“, sagte Dustin mit fester Stimme, noch ehe die Jünger etwas bemerkten. Der Bärtige, der den Ernst seiner Lage noch immer nicht erfasst hatte, stand da und wusste nicht, wie ihm geschah. Robert war der Erste, der die neue Situation erfasste und sich aufrichtete. „Eine falsche Bewegung“, zischte ihn Dustin an und dein Meister ist die erste Opfergabe!“ Um seinen Worten die nötige Entschlossenheit zu vermitteln, drückte er seiner Geisel das Messer so straff an den Hals, dass dessen Haut leicht einritzte und nun ein feiner Faden Blut aus der Wunde sickerte.

„Tu, was er sagt“, befahl der Meister, „er wird der Rache Satans ohnehin nicht entgehen.“ „Los, alter Mann, geh durch den Vorhang in den Raum, durch den ihr gekommen seid!“ Dustin wunderte sich über sich selbst und er konnte kaum glauben, welche Macht er plötzlich ausübte. „Aber was ist mit der versprochenen Kiste Jägermeister?“ „Wenn du noch länger zögerst, kannst du mit Satan in der Hölle anstoßen.“ Der Bärtige hatte auch jetzt noch nicht verstanden, aber immerhin begriff er endlich, dass es gesünder für ihn war, dem Jungen zu vertrauen.

Allmählich hatten auch die übrigen Jünger bemerkt, was hinter dem Altar geschah. Zugedröhnt wie sie waren, stürmten einige nach vorn, um ihrem Meister zu helfen. „Wenn einer von euch seinen Kopf durch den Vorhang steckt, werde ich euren Oberguru auf direktem Weg in die Hölle schicken!“ „Tut, was er sagt, er meint es ernst“, beschwichtigte der Meister seine Jünger. Sie wichen nur widerwillig zurück, beobachteten jede Bewegung, die Dustin machte, bis er schließlich mit dem Alten und seiner Geisel hinter dem Vorhang verschwand.

Für den Moment befanden sie sich in vermeintlicher Sicherheit, doch hier konnten sie nicht bleiben. Schon bald würde die Wirkung seiner Drohung verpuffen und die Meute würde ihnen nachsetzen. Sie mussten irgendwie ins Freie gelangen, doch zu Dustins Entsetzen befand sich in diesem Raum weder ein Fenster noch ein Ausgang. „Und nun?“, grinste seine Geisel ölig. „Jetzt bist du mit deiner Weisheit am Ende.“ „Ehe ihr den Alten und mich umbringt, werde ich die Menschheit von dir befreien. Und wenn es das Letzte ist, was ich mache, das schwöre ich.“ „Du..., du meinst, die Brüder wollten mir wirklich ans Leder?“, begriff auch der Bärtige endlich den Ernst der Lage. „Hast du geglaubt, die führen hier ein Theaterstück auf, in dem du die Hauptrolle spielst?“ Der Alte sah betreten zu Boden. Dustin schüttelte den Kopf. „Du hast es wirklich geglaubt.“

 

-12-

 

„Schön, dass du mich abholst“, freute sich Monika, als ich kurz vor Feierabend das Cafe betrat. Bis auf ein verliebtes Pärchen, welches sich an einen der etwas abseits stehenden Tische zurückgezogen hatte, waren bereits alle Gäste gegangen. „Brauchst du noch lange?“, fragte ich, während ich Moni dabei beobachtete, wie sie mit einem Tuch die Kaffeelöffel auf Hochglanz brachte. „Ich glaube nicht, die beiden Turteltauben haben schon gezahlt.“ „Kann ich dir irgendwie behilflich sein?“ „Lieb von dir, aber ich bin ohnehin gleich soweit.“ Monika sortierte die Löffel ein und wandte sich den Gläsern zu. „Ich hatte dich eigentlich schon gestern erwartet.“ „Tja, hab's leider nicht mehr geschafft. Alle zwei Wochen treffen wir uns bei einem Freund zum Skat. Ist seit ein paar Jahren so Usus.“ Moni lächelte verständnisvoll. „Macht ja nichts, ich dachte ja nur…“ „Was dachtest du?“, hakte ich nach. „Ach nichts, schon gut.“ Ich ahnte, was sie meinte, ging aber nicht näher darauf ein. „Wie wäre es, wenn wir heute Abend ins Kino gehen?“, fragte ich stattdessen. Moni machte ein zerknirschtes Gesicht. „Daraus wird leider nichts. Ich habe Suhela versprochen, pünktlich nach Hause zu kommen. Der Freitagabend ist nämlich eigentlich unser Abend und nachdem ich ja schon letzte Woche mit dir zum Basketball war, kann ich sie heute nicht schon wieder versetzen.“ Das leuchtete mir ein. „Schade, aber andererseits finde ich es toll, wie du dich um deine Tochter bemühst.“

Das Pärchen war endlich aufgestanden und schlenderte nun dem Ausgang entgegen. „Tschüss“, rief der Kerl, der einen Body hatte wie ein Möbelpacker. Moni winkte zurück und marschierte mit dem Schlüssel hinter ihnen her, um die Tür abzuschließen. „So, jetzt nur noch die Kasse zählen und ab mit dem Geld in die Bombe.“ „Und dann?“, fragte ich ihre Antwort bereits erahnend. „Die werfe ich dann auf dem Heimweg ein“, sagte sie mit dem Ausdruck der Selbstverständlichkeit. „Das kann ja wohl nicht wahr sein! Was ist, wenn das jemand spitz kriegt und dich überfällt.“ Moni winkte erheitert ab. „Nun mach dir mal keine Sorgen. Zum einen weiß keiner, dass ich die Kassette bei mir habe und zum anderen werfe ich sie keine fünfzig Meter von hier in den Nachttresor. Es ist lieb von dir, aber du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen.“

Ich war anderer Ansicht, aber es war zwecklos sie überzeugen zu wollen. Wenn sich diese Frau etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte man sie nur schwer vom Gegenteil überzeugen. Dies war das Erste, was ich während unserer kurzen Bekanntschaft lernen musste. „Also schön“, sagte ich gedehnt, „ist es dir denn wenigstens Recht, wenn ich dich nach Hause fahre?“ Moni schürzte die Lippen. „Warum nicht?“ Sie kniff ein Auge zusammen und fügte hinzu: „Dir ist aber schon klar, dass ich dich nicht mit hereinbitten kann?“ „Ich hatte dich verstanden.“ „Also schön, dann ist es mir Recht.“

Wir schafften es gerade noch rechtzeitig, trocken zum Auto zu kommen. Als ich jedoch den Motor starten wollte, versagte mir mein guter, alter Ascona wieder einmal den Dienst. Langsam war es nicht nur lästig, sondern auch peinlich. Seufzend öffnete ich die Tür, um auszusteigen, doch Moni hielt mich zurück. „Du willst doch wohl da jetzt nicht hinaus, um in dieser dummen Verteilerkappe herumzuwischen. Wenn ich gegangen wäre, hätte ich mich auch irgendwo untergestellt.“ Ich lächelte dankbar. Der sintflutartige Regen prasselte wie ein einziger Trommelwirbel auf das Dach. Dicke Tropfen schlugen schaumige Blasen auf der Windschutzscheibe. Ein Mann mit einer Aktentasche hastete an uns vorbei. Einem anderen wurde beim Überqueren der Straße der Schirm aus der Hand gerissen. Moni und ich lachten herzhaft, als er dem in Richtung Parkhaus davon wirbelnden Regenschutz hinterher rannte.

„Du hast dich sicherlich gefragt, warum ich dir meine Tochter vorenthalten habe“, brachte sie plötzlich auf den Punkt, was ihr wohl schon die ganze Zeit über wie ein Fels auf der Seele gelastet hatte. „Nun ja, wir kennen uns noch nicht so lange und auch nicht so gut, dass ich ein Recht darauf gehabt hätte, aber etwas gewundert hat es mich schon.“ Die Frau auf dem Beifahrersitz sah mir tief in die Augen. „Ich wollte einfach erst einmal abwarten, ob und was sich da zwischen uns entwickelt. Eigentlich weiß ich auch jetzt noch nicht, wohin die Reise geht, aber ich bin zu der Einsicht gelangt, dass es sicherlich kein guter Start für uns wäre, wenn ich dir Suhela vorenthalte. Es gibt uns nur im Doppelpack.“ Ich habe zwar keine Übung im Umgang mit Teenagern, aber ich mag deine Tochter. Ich sehe da eigentlich keine großen Probleme.“

„Nachdem das zwischen uns geklärt ist, will ich dir nun deine zweite Frage beantworten.“ „Meine zweite Frage?“ Moni lächelte. „Sicher hast du dich schon gefragt, wie Suhela zu ihrem Namen kam.“ „Kannst du Gedanken lesen?“ „Kunststück, ihr Name ist in Deutschland nicht sehr verbreitet. Im Grunde fragt jeder Zweite.“ Ich legte meine Finger behutsam über ihre Lippen. „Monika, du musst es mir nicht sagen.“ In diesem Augenblick zuckten dicht über unseren Köpfen Blitze hinweg, erweckten die in Stein gemeißelten Gesichter hoch oben am Giebel des Zeughauses scheinbar zu neuem Leben. Moni fuhr erschrocken zusammen, suchte angstvoll Schutz in meiner Nähe. Ich weiß nicht, warum ich sie nicht küsste, ich strich ihr einfach nur durch ihr schwarzes Haar und sah sie zärtlich an.

Moni rückte wieder von mir ab. Hatte ich den alles entscheidenden Moment verpasst? Ich verstand mich selbst nicht mehr. Mit Monika schien alles anders. „Ich habe bis vor zwei Jahren in der Türkei gelebt. Mohamed und ich hatten in Deutschland geheiratet und waren fünf Jahre nach Suhelas Geburt in seine Heimat gegangen. Er wollte, dass seine Tochter in den Traditionen seiner Religion aufwächst. Zunächst ging auch noch alles gut…“ Monika schluckte bitter und drückte meine Hand. „Lass mich raten. Er wollte, dass du die Dschellabah trägst.“ „Das war nur der Anfang“, erzählte sie mit gedrückter Stimme. „Es war nicht Mohamed, der von Suhela und mir verlangte, nach dem Koran zu leben. Es war seine Familie, die ihn immer mehr gegen mich aufhetzte. Ich konnte machen, was ich wollte, nichts was ich tat, war ihnen recht.“

Ich bemerkte Tränen in ihren Augen, die sie zurückzuhalten versuchte. „Ihr müsst Schlimmes hinter euch haben“, sagte ich verständnisvoll, während ich ihre Tränen mit einem Taschentuch trocknete. „Vor mir ging es schon so vielen ähnlich und doch fiel ich auf die Beteuerungen herein, die mir Mohamed hier in Deutschland machte.“ Es war ihr deutlich anzumerken, wie schwer es ihr auch jetzt noch fiel, darüber zu reden. „Du brauchst mir nichts weiter zu sagen.“ „Eines Tages habe ich mir mein Kind geschnappt und mich mit ihr bei Nacht und Nebel wie eine Verbrecherin aus dem Haus geschlichen. Dass unsere Flucht gelang, kommt mir selbst zwei Jahre, nachdem wir wieder in Deutschland sind, wie ein Wunder vor.“ Ihre Schilderung war an Dramatik kaum zu überbieten. Ich hatte schon von vergleichbaren Fällen gehört, ja, sogar einen Film gesehen, der mir unter die Haut ging, aber wenn so etwas im direkten Umfeld geschieht, empfindet man dies als kaum vorstellbar.

„Er hat uns sogar hier in Deutschland noch nachgestellt. Suhela und ich mussten zweimal in eine andere Stadt ziehen. Seit etwa einem Jahr, also seitdem wir in Wolfenbüttel leben, haben wir Ruhe vor ihm. Vielleicht verstehst du jetzt, weshalb ich dir meine Tochter unterschlagen habe.“ Mehr als ein wortloses Nicken brachte ich nicht zustande. Für einige Augenblicke starrten wir einfach nur aus der teilweise beschlagenen Windschutzscheibe hinaus in den allmählich nachlassenden Regen. Es schien, als würde selbst der Himmel mit seinen Tränen Anteil an ihrem Schicksal nehmen. „Ich bin froh, dass sich Suhela in den letzten Monaten erholt hat und langsam wieder Vertrauen zu anderen Menschen findet. Sie hat ihre ganz eigene Art entwickelt, mit der Vergangenheit fertig zu werden. Auch wenn sie dir auf Anhieb eher robust vorkommt, in ihrem Inneren ist sie noch immer sehr verletzlich.“

Es war lange her, dass sich mir jemand in solcher Weise anvertraut hatte. Ich musste mir selber eingestehen, zumindest für den Moment mit der Situation überfordert gewesen zu sein. Vielleicht war es Intuition, die mich in diesem Augenblick dazu bewog, den Autoschlüssel im Zündschloss zu drehen, vielleicht aber auch einfach nur der Versuch dieser bedrückenden Stimmung zu entfliehen. Natürlich sprang der Wagen auch jetzt noch nicht an, aber da der Regen nachgelassen hatte, tat sich mir die Möglichkeit auf, der Enge der Situation auf diese Weise für einen Moment zu entkommen.

Einige Minuten später setzte ich Monika vor ihrer Wohnung in der Hospitalstraße ab. Während der kurzen Fahrt in die Juliusstadt

sprach keiner von uns ein Wort. Es herrschte eine eigentümliche, beklemmende Stille im Wagen. Als Monika schließlich die Tür öffnete, um auszusteigen, hielt ich sie sanft am Arm zurück und streichelte ihr über die Wange. „Ich werde dir und deiner Tochter niemals wehtun, das verspreche ich.“ Ihre geröteten Augen sahen mich dankbar an, dann wischte sie sich mit dem Taschentuch die Tränen ab und stieg aus. „Sehen wir uns?“, fragte sie mit bebender Stimme. „Wann immer es möglich ist.“

 

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Satan is God

 

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