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Krötenwanderung

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„Was haben die auf dem Amt gesagt?“, überfuhr ich Hilda, noch ehe sie die Wohnungstür hinter sich geschlossen hatte. „Nun lass mich doch erst einmal verschnaufen. Nimm mir lieber die Taschen ab, damit ich mich setzen kann.“ „Entschuldige.“ Ich hob die großen Basttasche, die wir von einer Einkaufstour aus Polen mitgebracht hatten, und den Jutebeutel auf den Küchentisch. Hilda ließ sich erschöpft auf einen der alten Holzstühle nieder, die um den Tisch herum gruppiert waren. „Irgendwann bringt mich diese elende Steintreppe noch um,“ jappte sie. „In der Kaufhalle in Grimma gab es endlich mal wieder Fleischkonserven.“

Hilda hasste dieses Theater. Ein Menge ihrer Zeit musste sie damit vergeuden, in irgendwelchen Schlangen anzustehen. Nie konnte sie das kochen, wonach uns gerade der Sinn stand. Nicht selten wartete sie vergebens. Von den Preisen, die für etwas Besonderes verlangt wurden, will ich gar nicht erst reden. Sicher, irgendwie bekam man irgendwann irgendwas, aber niemals gerade dann, wenn man es wirklich brauchte. Das war nicht nur bei Lebensmitteln und Dingen des täglichen Lebens so, auf dem Bau war es nichts anderes. Oft warteten wir tagelang, bis das bestellte Material endlich auf der Baustelle eintraf. Was dann kam, war oft von minderwertiger Qualität.

Hilda hatte sich erholt und war aufgestanden. Ich nahm ihr den Mantel ab und hing ihn in die Garderobe. Sie lächelte mir zu, während sie in ihrer Handtasche kramte. Endlich zog sie das Schreiben heraus, auf das sie so lange gewartet hatte. Sie hielt es triumphierend in die Höhe. Ihre Augen funkelten, hatten diesen strahlenden Glanz, den ich so sehr in ihnen liebte. Viel zu selten hatte ich sie in den letzten Jahren so glücklich erlebt.

„Stell dir vor, Gunther, ich habe den ganzen Mai zur Verfügung,“ trällerte Hilda, die Besuchserlaubnis dabei immer wieder überschwänglich abküssend. „Jetzt muss ich nur noch Adolf und Helga schreiben, damit sie mir antworten, wann ich sie besuchen kann.“ Ich freute mich mit ihr, der Parteisekretär ihres Kombinats hatte allem Anschein nach wahre Lobeshymnen auf sie geschrieben. Doch warum zum Teufel mussten so viele Jahre vergehen, bis sich die Geschwister wieder sehen konnten?

Letzten Monat war Hilda sechzig geworden. Jetzt war es dem Arbeiter und Bauernstaat egal, ob einer ihrer Rentner im Westen blieb. Rentner sind eben teuer. Schon viele waren diesen Weg gegangen, hatten ihrer Heimat den Rücken gekehrt und alle Zelte hinter sich abgebrochen. Dabei wollten die meisten unserer Bekannten nur mal sehen, wie es den anderen Deutschen dort drüben auf der anderen Seite des eisernen Vorhangs ging. Doch die Angst der Partei ließ nicht das winzigste Loch im Grenzzaun zu.

Während ich die Einkäufe in der Vorratskammer verstaute, holte sich Hilda einen Schreibblock und verfasste den Brief an ihren Bruder. Die Geschwister waren bereits als Kinder durch die Scheidung ihrer Eltern voneinander getrennt worden. Anfangs kam es noch zu regelmäßigen Besuchen, doch als Hildas Vater verstarb, flüchtete ihre Mutter zusammen mit Adolf, noch kurz vor dem Mauerbau über Berlin in den Westen.

Ich lernte Hilda erst nach dieser Zeit kennen. Um genau zu sein, erst nach ihrer gescheiterten Partnerschaft mit Paul Zeuchner, einem Schläger und Trinker, der sie und die gemeinsame Tochter Gabi eines Tages sitzen ließ und sich aus dem Staube machte. Doch von allem dem merkte man Hilda nicht das geringste an. Sie war schon immer eine Art Stehaufmännchen. Sie konnte aus jeder noch so verzwackten Situation das Beste herausholen. Dabei strahlte sie eine Zuversicht und Gelassenheit aus, um die ich sie beneidete. Obwohl sie zehn Jahre älter war als ich, dachten nicht wenige, es sei genau umgekehrt. Hilda, Gabi und ich saßen noch lange an diesem Abend zusammen, sprachen über Hildas baldige Reise in den Westen, sahen nebenbei, wie so oft, Westfernsehen und tranken zur Feier des Tages eine Flasche Rotkäppchen Sekt.

„Ich habe dem Brief an Adolf ein Bild von mir beigelegt, damit er mich überhaupt erkennt, wenn er mich am Bahnhof abholt,“ erklärte Schnuppe, wie ich Hilda in Anspielung auf ihre strahlenden Augen nannte. Wie zwei Sternschnuppen eben. „So lange schon habe ich mir ein Wiedersehen mit meinem Bruder gewünscht und nun, da dieser Wunsch bald wahr wird, habe ich fast schon wieder ein wenig Angst davor.“ Gabi und ich sahen uns ungläubig an. Ein solches Verhalten war mal wieder typisch für Hilda. Es war oft so, dass sie kurz vor Torschluss noch einen Rückzieher machte. „Ja, versteht ihr denn nicht?“, fragte sie, unsere Gesichter analysierend. „Ich habe Adolf über fünfundzwanzig Jahre nicht gesehen! Menschen verändern sich.“

Bevor ich antwortete, atmete ich erst einmal tief durch. „Hilda, ihr habt euch all die Jahre hindurch geschrieben. Nicht sehr oft, das gebe ich zu, aber der Kontakt riss nie zwischen euch ab.“ „Außerdem hat Onkel Adolf dich doch erst zu einem Besuch in Wolfenbüttel ermuntert,“ fügte Gabi hinzu. Dann lehnte sie sich seufzend gegen die Rückenlehne des Sofas und verdrehte die Augen. „Glaub mir, ich würde sonst was darum geben, wenn ich mit dir tauschen könnte. All die Geschäfte, die es dort gibt. Ich würde den ganzen Tag die schrägsten Klamotten anprobieren, an etlichen Parfüms schnuppern und von den exotischsten Früchten kosten.“ „Träum weiter, Kleines. Da musst du wahrscheinlich noch vierzig Jahre warten.“ Gabi verzog entnervt das Gesicht.

„Ihr meint also wirklich, ich sollte keine Bedenken haben?“, sinnierte Hilda. „Nein!“, sprachen Gabi und ich wie aus einem Mund. „Wenn du mit Adolf und seiner Familie nicht klar kommst, setzt du dich eben in den nächsten Zug und kommst nach Hause.“ Schnuppe schielte über den Rand ihrer Lesebrille und blickte mich verblüfft an. „Meinst du, das geht so einfach? Ich meine wegen der Fahrkarte und so.“ Ich zuckte mit den Achseln. „Warum denn nicht?“

„Mama, Paps, ich verstehe ehrlich gesagt überhaupt nicht, warum ihr hier irgendwelche Horrorszenarien an die Wand malt. Onkel Adolf war doch bislang immer nett zu uns. Denkt doch nur an die schönen Pakete, die wir zu Weihnachten und an euren Geburtstagen bekommen haben. Also, wirklich... Wenn er dich nicht wiedersehen wollte, hätte er dich doch gar nicht erst einzuladen brauchen.“ Schnuppe strich sich durch das immer noch volle aber schon leicht eingegraute Haar. „Du hast recht, Gabi, ich werde fahren!“

Die folgenden Wochen und Tage waren erfüllt mit ungeduldigem Warten. Während Gabi und ich in der Porzeline Geschirr bemalten, das für den Export in die Sowjetunion bestimmt war, fieberte Hilda täglich dem Eintreffen des Postzustellers entgegen. Es war bereits Mitte April, als endlich das so ersehnte Schreiben aus dem Westen kam. Als ich Hilda am Werkstor erblickte, ahnte ich, dass der Brief gekommen war, und als ich ihr breites Lächeln sah, wusste ich, was in ihm stand.

„Er ist endlich da!“, freute sie sich, mit dem Kuvert in der Hand überschwänglich herumwedelnd. „Adolf schreibt, ich könne kommen, wann ich will und so lange bleiben wie ich möchte. Gunther, mein Bruder freut sich genauso wie ich auf unser Wiedersehen.“ Schnuppe hatte sich bei mir eingehakt. Da war es wieder, dieses Strahlen in ihren Augen. „Hast du etwas anderes erwartet?“, fragte ich sie verblüfft. „Wenn Adolf nur halb so liebenswert ist, wie du von ihm erzählt hast, muss er sich einfach auf dich freuen.“

Gabi arbeitete in einer der hinteren Fertigungshallen, was zur Folge hatte, dass ich stets am Fabriktor auf sie warten musste. Das war auch heute nicht anders. Wie immer war sie wieder von etlichen Kolleginnen umringt. Ich sah sie zwar nicht, aber auf Grund ihres unverwechselbaren Ganges konnte ich ihre Hackenschuhe unter tausend anderer heraus hören. Hildas Tochter galt unter den Werktätigen ihrer Halle als äußerst beliebt. Ihre männlichen Kollegen umgaben sie, zu meinem Leidwesen, geradezu wie die Fliegen das Licht.

Es dauerte eine Weile, bis sich der schnatternde Pulk geballter Weiblichkeit auflöste und Gabi für uns sichtbar wurde. Hilda schüttelte befremdlich den Kopf und verdrehte die Augen. „Meine Güte, hattet ihr denn während der Arbeitszeit keine Möglichkeit, um euch zu unterhalten?“ „Doch, klar,“ entgegnete Gabi, während sie mir den üblichen Begrüßungskuss auf die Wange gab. „Aber nicht alle meine Freundinnen arbeiten in Halle drei. Was machst du übrigens hier?“ Hilda stützte empört ihre Hände in die Hüften. „Also, das ist ja...“ „Beruhig dich, Mutsch, war nur Spaß.“ Gabi zwinkerte mit dem Auge und gab auch Schnuppe einen Kuss zur Begrüßung.

„Der Brief von Onkel Adolf ist gekommen,“ erklärte Hilda. „Und, wann fährst du?“ Hilda löste ihren Blick von Gabi und sah mich fragend an. „Ich würde gerne schon am 3. Mai fahren. Wenn es mir dort gefällt und ich niemandem zur Last falle, könnte ich drei Wochen dort bleiben.“ Schnuppe schürzte verlegen die Lippen. „Das heißt, wenn ihr so lange ohne mich klar kommt?“ Ich sah Gabi skeptisch an, legte meine Stirn in Falten und räusperte mich. „Es wird sicherlich nicht einfach werden, aber ich denke, mit vereinten Kräften werden wir es hinbekommen.“ Schnuppe legte ihren Kopf schief und sah uns aus ihren zu einem schmalen Sehschlitz zusammengepressten Augen abwechselnd an. „Wollt ihr euch über mich lustig machen?“ Ich wusste, dass ein einziges falsches Wort nun Ärger bedeuten konnte. „Können wir jetzt endlich nach Hause gehen?“, fragte Gabi ungeduldig. „Mir hängt der Magen schon zwischen den Kniekehlen.“ Hilda legte erschrocken die Hand auf den Mund. „Himmel, ich habe in der Aufregung völlig das Kochen vergessen!“

Das war, soweit ich mich erinnern konnte, zum ersten Mal passiert. Zumindest brauchte ich mir nun keine Gedanken mehr um die richtige Antwort zu machen. „Halb so schlimm,“ bekundete ich. „Zur Feier des Tages lade ich euch heute Abend zum Essen ein.“ Dies war, abgesehen von unseren Urlaubsreisen an die Ostsee oder in eines der sozialistischen Bruderländer, zumindest unter der Woche, höchst selten. Hildas Bedenken wegen der unplanmäßigen Geldausgabe waren schnell zerstreut und so wurde es ein feucht fröhlicher Abend, bei dem Monika natürlich nicht fehlen durfte.

Unsre Moni war das inzwischen vierjährige Produkt Gabis unglücklicher Liebe zu einem vietnamesischen Gastarbeiter. Der ehrenwerte Dong Hui hatte nach langem Hin und Her mit den Behörden in die Heimat zurückkehren müssen. Viele Tränen waren deswegen vergossen worden. Ja, Gabi hatte sogar die Absicht, ihn nach Vietnam zu begleiten. Eines Tages war Dong jedoch bei Nacht und Nebel ohne Gabi und die gemeinsame Tochter verschwunden. Woraufhin es noch mehr Tränen gab. Zwei Jahre war dies inzwischen her. Die Wogen hatten sich geglättet und für Gabi war ein neues Leben angebrochen. Es war also kein Wunder, dass Moni und Gabi unzertrennlich waren. Gabi hatte die Kleine noch nie für mehr als zwei Stunden allein gelassen. Natürlich fanden Hilda und ich diese Innigkeit übertrieben, aber was sollten wir dagegen tun?

Es war nicht mehr als eine kleine Sitzecke, die wir uns gleich neben dem Kelleraufgang zum Innenhof des alten Mehrfamilienhauses zurecht gemacht hatten. Am liebsten saßen wir hier mit nicht mehr als dem schwachen Licht einer Kerze auf dem Tisch, oder sogar in völliger Dunkelheit. So sah man wenigstens nichts von der Tristesse der anderen Häuser, die den Hof umgaben. Natürlich wusste ich von den bettlakengroßen Flächen, an denen sich der Putz von den Hauswänden gelöst hatte. Die rotbraunen Ziegelsteine waren den Unbilden der Witterung ebenso ungeschützt preisgegeben, wie die ungestrichenen Fensterläden. Selbst im Schlaf verfolgte mich noch das allgegenwärtige Einheitsgrau der Fassaden. Aber hier, in dieser, unserer eigenen kleinen Welt, war wenigstens, von der Dunkelheit umhüllt, alles so, wie wir es uns erträumten.

Gabi war bereits mit Moni nach oben gegangen, um sie ins Bett zu bringen. Ich hatte Hilda und mir ein Bier aus dem Keller geholt und ließ mich neben ihr nieder. „Da!“ Hilda zeigte mit dem ausgestreckten Arm in den tiefschwarzen Nachthimmel über Colditz. „Hast du sie auch gesehen?“ Ich hatte nichts gesehen, was nicht weiter verwunderlich war, denn ich war mit meinen Gedanken ganz woanders. „Nein, was denn?“ „Na, die Sternschnuppe natürlich!“ Als ich zum Himmel empor blickte, konnte ich durch die Wolkenfetzen das Blinken eines Flugzeugs sehen. Es war sicherlich im Anflug auf den Flughafen Halle-Leipzig. „Ich weiß schon, was ich mir wünsche.“ Natürlich wollte ich ihr den Spaß nicht verderben. Vielleicht würde ihr Wunsch ja tatsächlich in Erfüllung gehen.

Hilda ergriff meine Hand, schloss die Augen und ich fühlte förmlich, an was sie dachte. Sie war mir dabei so nahe gekommen, dass ich ihr Zittern spürte. Obwohl bereits Ende April, war es am späten Abend schon recht kühl. Ich legte Hilda meine Jacke über und zog sie noch dichter an mich heran, um sie mit meinem Körper wärmen zu können. „Was hast du dir gewünscht?“, fragte ich neugierig. „Aber...“ Schnuppe legte ihren Zeigefinger auf meine Lippen. „Wenn es in Erfüllung gehen soll, darf man es doch nicht sagen.“

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Die Tage bis zu Hildas Abfahrt in den Westen zogen sich wie russisches Kaugummi. Nämlich gar nicht, sie rissen förmlich ab. Schnuppe hatte eine Liste in die Küche gehängt, auf der jeder von uns drei Kleinigkeiten aufschreiben durfte, die ihm am Herzen lagen, die es aber bei uns nicht gab. Natürlich kannten wir all die schönen, bunten Dinge, für die in der Werbung des Westfernsehens Reklame gemacht wurde, wen wundert es da, dass eigentlich jeder von uns mindestens eines dieser Produkte eingetragen hatte. Moni wünschte sich Filzstifte, eine Barbiepuppe und eine große Tafel lila Schokolade. Gabi brauchte Perlonstrumpfhosen, Schminke und unbedingt sexy Unterwäsche. Meine Wünsche beschränkten sich auf ein Päckchen Rasierklingen von Wilkinson und einen Akkubohrschrauber, für den ich sogar an unser Sparbuch gegangen war.

Gabis ewiger Jugendfreund, Andreas König, hatte uns mit dem Wartburg seines Vaters nach Leipzig gefahren. So brauchte Hilda in Grimma nicht umsteigen und der zweistündige Aufenthalt in Leipzig blieb ihr auch erspart. Der Interzonenzug hielt auf dem letzten Gleis. An jeder Ecke standen Uniformierte der Transpo, wie die Genossen der Transportpolizei im Volksmund liebevoll genannt wurden. Aber auch die ominösen Herren in den grauen Anzügen tauchten überall auf. Typen, von denen jeder wusste, dass sie der Stasi angehörten. Als wir an ihnen vorbeigingen, beschlich uns jedes Mal ein unangenehmes Gefühl. So, als habe man etwas ausgefressen. Ich konnte mich nie an diesen Zustand der allgegenwärtigen Kontrolle gewöhnen.

Der Zug stand bereits und einige Leute, vornehmlich ältere, waren dabei einzusteigen. Auf den Hinweistafeln über dem Bahngleis waren Magdeburg, Marienborn und schließlich Braunschweig als Zielbahnhof ausgewiesen. Gleiches stand auf den Karten, die in den Einschubkästen auf der Außenwand des Zuges steckten. Ich hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Ein dummer Gedanke spukte unaufhaltsam durch meinen Kopf. Ich kann nicht einmal sagen, warum ich überhaupt auf eine solch absurde Idee kam, aber er brannte sich in meinem Hirn fest und ließ sich nicht vertreiben. Was war, wenn Schnuppe nicht wieder zurück kam?

Gabi und Andreas verabschiedeten sich auf dem Bahnsteig von Hilda. Zwei Uniformierte vom Zoll betraten den Zug unmittelbar vor uns. Ich trug Hildas schweren Koffer bis ins Abteil und hob ihn in das Gepäckfach. Die Fensterplätze waren bereits von zwei älteren Damen besetzt, die uns freundlich entgegenlächelten. Sie sahen beide nicht so aus, als wäre dies ihre erste Fahrt in den Westen. Wieder holte mich dieser Gedanke ein. Ich starrte Hilda ins Gesicht. Unsere Blicke trafen sich. Beinahe ängstlich suchte ich in ihren Augen nach einer Antwort. Was ich sah, war das aufgeregte Funkeln darin. Aber auch etwas Angst vor dem, was sie in einigen Stunden erwarten würde. Wir umarmten uns, wie wir es schon so oft zum Abschied taten und doch war mir, als sei es dieses mal etwas anderes.

„Du musst gehen, sonst schaffst du es nicht mehr rechtzeitig nach draußen,“ mahnte sie. „Na und?“, winkte ich ab. „Dann fahre ich eben mit.“ „Nichts würde ich mir sehnlicher wünschen,“ seufzte sie, während wir uns voneinander lösten. Ich wandte mich zum Gehen, hielt inne und drehte mich noch einmal zu ihr zurück. Entgegen meiner sonstigen Gewohnheiten zog ich sie noch einmal in meine Arme und küsste sie. Schnuppe sah mich verstört an. Ein leichtes Purpur legte sich über ihre Züge. „Ich muss schon sagen, du bist doch immer noch für eine Überraschung gut.“ Die alten Damen schienen die unerwartete Einlage als durchaus gelungen zu betrachten. Ich hatte das Gefühl, sie würden uns nun noch freundlicher als zuvor begegnen. „Pass auf dich auf, Schnuppe und komm gesund zurück,“ mahnte ich sie zur Besonnenheit. Dann küsste ich sie nochmals auf die Stirn und verließ das Abteil.

Ich begab mich zu Gabi und Andreas, die sich vor das von Hilda geöffnete Fenster gestellt hatten. „Vergesst die Blumen nicht zu gießen,“ hörte ich Schnuppe sagen. „Halte die Wohnung sauber und hilf Gunther in der Küche.“ Gabi versprach es zum xten Male. Der Schaffner schlug die Türen zu und wir reichten einander die Hände, um uns zu verabschieden. Ein schriller Pfiff ertönte und der Zug rollte langsam an. Unsere Hände schienen aneinander zu kleben, meine Beine folgten ihnen „Kümmert euch um Isolde und Manfred,“ bat sie mich und ich sah etwas Feuchtes in ihren Augen schimmern. Ich selbst brachte kein einziges Wort heraus.

Der Zug wurde schneller und unsere Hände lösten sich. Irgendwann blieb ich auf dem Bahnsteig stehen und ich sah dem Zug nach. Sah Schnuppes Hand winken, sah ihr nach, bis ich nur noch die Rücklichter des Zuges erkennen konnte. Und doch war mein Blick die ganze Zeit über nur nach innen gerichtet. Allmählich kam ich zu mir und drehte mich nach Gabi und Andreas um. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich bis ganz ans Ende des Bahnsteigs gelaufen war. Während ich schweren Schrittes zurückschlich, dachte ich an jenen Abend zurück, als wir auf der Bank saßen und Hilda sich etwas wünschte. In diesem Augenblick hätte ich zu gern gewusst, was es war.

Obwohl Hilda nun wahrlich kein kleines Kind mehr war und gewiss besser auf sich aufpassen konnte als ich auf mich, machte ich mir Gedanken über ihr Wohlergehen. Mehr als ein halbes Dutzend mal war sie all die wichtigen Papiere von der Pass und Meldestelle des VPKA, dem Kreisamt der Volkspolizei durchgegangen, die sie für den Besuch im Westen benötigte. Trotzdem ließ mich das Gefühl nicht los, dass Hilda irgend etwas wichtiges vergessen hatte. Gabi und Andreas hingegen schienen sich nicht die geringsten Gedanken zu machen. Sie scherzten und kicherten während der ganzen Heimfahrt derart ausgelassen, dass ich mich einmal mehr fragte, weshalb sie sich nicht zusammen taten.

Die beiden kannten sich bereits seit ihrer gemeinsamen Schulzeit. Spielten quasi zusammen im Sandkasten, beinahe so, als seien sie Bruder und Schwester. Aber vielleicht war es ja genau das, weshalb sie nicht mehr für einander empfanden. Ein tiefes Schlagloch riss mich abrupt aus meinen Gedanken. Der Wartburg geriet ins Schlingern. Andreas trat das Bremspedal bis auf das Bodenblech durch. Gabi und ich klammerten uns irgendwo fest. Andi versuchte den Wagen abzufangen, riss das Steuer einige Male herum, um ihn auf diese Weise abzufangen. Doch er musste schließlich, genau wie Gabi und ich, hilflos mit ansehen, wie der Wartburg seitlich ausbrach und der Wagen direkt auf eine wuchtige Eiche zuschoss.

Es gab einen heftigen Ruck, Blech knirschte und verformte sich unter der Wucht des Aufpralls. Ich wurde nach vorn geschleudert und in den Sicherheitsgurt gepresst. Gabis Schreie drangen wie durch einen dichten Nebel zu mir. Alles ging derart schnell, dass ich nichts für sie tun konnte. Der Gurt riss mich in den Sitz zurück. Mein Kopf schlug mir in den Nacken und in meiner Brust brannte ein heftiger Schmerz. Als ich wieder zu mir kam, sah ich eine dichte Rauchwolke über dem Kühler aufsteigen. Die Eiche hatte sich ein beträchtliches Stück weit in die Motorhaube gebohrt. Andreas saß benommen neben mir und kam erst langsam wieder zu sich. Er schien sich, zumindest auf den ersten Blick, äußerlich nichts getan zu haben. Im nächsten Augenblick sah ich jedoch, wie Gabi reglos in den Gurten der Rücksitzbank hing.

„Mein Güte, Gabi!“, rief ich besogt. „Was ist mit dir?“ Die Angst um sie ließ mich meine eigenen Schmerzen vergessen. Gabi antwortete nicht. Irgendwie gelang es mir, meinen Gurt zu lösen. Die Tür klemmte. Ich warf mich dagegen und bekam sie schließlich auf. All das war so unwirklich, lief so irreal ab, wie in einem schlechten Film. Die Fondtür ließ sich ohne Probleme öffnen. „Gabi, um Himmels willen, was ist mit dir?“, hörte ich mich sagen. Ich beugte mich über sie, tastete nach ihrem Puls und atmete erleichtert auf, als ich ihn spürte.

Auch Andreas schien sich wieder soweit gefangen, dass er allein aussteigen konnte. Gott sei dank schlug nun auch Gabi die Augen auf. „Tut dir etwas weh?“, fragte ich, während ich ihr behutsam dabei half, sich aufzurichten. „Mein Kopf,“ stammelte sie. „Mein Kopf tut entsetzlich weh.“ Auf ihrer Stirn zeichnete sich allmählich eine Druckstelle ab. Sie musste bei dem Aufprall mit dem Kopf irgendwo gegen gestoßen sein. Ich schnallte sie ab und half ihr den Wagen zu verlassen. Andreas unterstützte mich dabei. Er schien nicht weniger um Gabi besorgt als ich.

Nach und nach trafen andere Kraftfahrer ein, die sich unser annahmen und die Polizei alarmierten. Obwohl wir großes Glück hatten und keinerlei ernsthafte Verletzungen davon trugen, brachte uns die schnelle medizinische Hilfe ins Kreiskrankenhaus nach Grimma. Nach eingehenden Untersuchungen war klar, dass es Gabi mit einer leichten Gehirnerschütterung noch am schlimmsten erwischt hatte. Während Andreas und ich das Krankenhaus mit einer Halskrause verlassen konnten, wurde sie zur Beobachtung dort behalten.

Andi hatte bereits vom Krankenhaus aus in der Firma seines Vaters angerufen. Fritz fuhr gerade mit dem Firmenwagen vor, als wir hinaus ins Freie traten. Fritz König betrieb zusammen mit seinem Sohn eine kleine Installateurfirma. Wir kannten uns bereits seit der Schulzeit und waren über all die Jahre immer in Kontakt geblieben, wenn gleich es auch nie zu so etwas wie einer Freundschaft gereicht hatte.

„Meine Güte, euch hat es ja doch ziemlich heftig erwischt,“ keuchte er erregt, als er unsere Halskrausen sah. Er stockte und sog die Luft scharf ein. „Ist euch wirklich nichts passiert?“ Andreas hatte ihn am Telefon beruhigt und ihm gesagt, dass er sich keine Sorgen machen brauchte. „Was ist mit Gabi?“, fragte er nachdem wir Platz genommen hatten. „Sie hat eine leichte Gehirnerschütterung,“ erklärte ich. „Sie muss bis morgen unter Beobachtung bleiben. Es wäre schön, wenn du mich erst einmal nach Hause fahren könntest, Monika ist bei der Nachbarin und wartet.“ Ich seufzte nachdenklich. „Ich weiß noch gar nicht, wie ich es ihr erklären soll.“ Fritz startete den betagten Framo und wir holperten Richtung Colditz. „Ich habe den Wagen auf der Fahrt zum Krankenhaus noch gesehen,“ erklärte Fritz etwas wehmütig. Die Leute von der Vopo haben dafür gesorgt, dass der Wagen abgeschleppt wurde. Da, wo er stand, behinderte er schließlich den Verkehr. Glücklicherweise war Bolle mit den Arbeiten betraut worden. Er wird den Wagen in seine Werkstatt nach Hausdorf bringen.“ Ich atmete erleichtert auf. Bolle war in etwa der selbe Jahrgang wie Fritz und ich, was zur Folge hatte, dass er gemeinsam mit uns bei den jungen Pionieren war. Wenn es eines gab, was wir in jener Zeit gelernt hatten, dann war es zusammenzuhalten. „Ich werde mich natürlich an den Reparaturkosten beteiligen,“ versprach ich. Ich machte ein zerknittertes Gesicht. „Das heißt, wenn der Wagen kein Totalschaden ist.“ „Da mach dir mal keine Sorgen, Gunther. Du kennst doch Bolle. Der hat doch bislang alles wieder hinbekommen und ein paar Dellen mehr oder weniger in der Karre, machen den Kohl auch nicht mehr fett. Wichtig ist einzig und allein, dass euch nichts weiter geschehen ist. Außerdem ist dies eine gute Gelegenheit, um moderne Rollgurte einzubauen. Die alten Riemen gingen mir inzwischen ziemlich auf die Nerven.“ Fritz presste sich in den alten Gurt des Framo und tat so, als hinge er mit seinem Oberkörper in dem Geschirr eines Fallschirms. „Nicht mal ans Handschuhfach kommst du, ohne dich vorher abzuschnallen,“ feixte er. „Vielleicht sollte ich hier auch gleich noch welche davon einbauen lassen.“

Wenngleich Fritz während unserer gemeinsamen Schulzeit nicht gerade einer von meinen besten Freunden war, so muss ich sagen, dass er sich in den letzten Jahren doch sehr zu seinem Vorteil verändert hatte. War es in jungen Jahren seine Überheblichkeit, störte ich mich, nachdem er die Firma seines Vaters übernommen hatte, am Parteibuch, das er inzwischen in der Schreibtischlade hatte. Trotzdem war ich mir auch damals schon nicht zu schade, um gelegentlich kleinere, sagen wir einmal, Gefälligkeitsarbeiten auszuführen, die er mir von seiner Kundschaft vermittelte. Bei einem dieser außerplanmäßigen Arbeitseinsätze hatte ich Hilda kennen gelernt. Aber dies ist eine andere Geschichte, von der ich später erzählen werde.

Fritz hielt direkt an der Pforte zum Hof, um mich aussteigen zu lassen. „Lieb von euch,“ bedankte ich mich, während ich von der schmalen Pritsche des Dreisitzers, auf das holprige Kopfsteinpflaster der Ernst Thälmann Straße glitt. „Bitte, lasst mich wissen, was die Reparatur kosten wird.“ Fritz winkte ab. „Mach dir keine Gedanken, bleibt doch eh alles in der Familie.“ Ich warf die schwere Blechtür ins Schloss und stakste über die Straße auf den Hof zu. Ich muss mit meiner Halskrause wohl ziemlich dämlich ausgeschaut haben, denn Monika begann wider erwarten sofort zu lachen, als sie mich bemerkte. Unsere Nachbarin Isolde Ruhland erkannte natürlich sofort, dass mein Aufzug keine Kostümierung war und kam ebenfalls an die Pforte gelaufen.

„Um Himmels Willen, Gunther, was ist denn ...?“ Ich bedeutete ihr, in dem ich meinen Zeigefinger über die Lippen legte, dass sie kein weiteres Wort sagen sollte. Glücklicherweise verstand sie sofort, was ich ihr sagen wollte. Monika nahm an, dass es sich um einen Spaß handelte. Ich wollte es dabei belassen. „Das sieht aber lustig aus, Opa,“ hüpfte der kleine Wirbelwind aufgedreht um mich herum. „Hat sich Mama auch verkleidet?“ Ich kniete mich zu ihr hinab und nahm sie in den Arm. „Mama kommt heute nicht mehr. Wir beiden Hübschen werden uns mit Micky zusammen einen gaaanz tollen Abend machen.“ Darf ich dann auch länger aufbleiben?“, kokettierte sie abwartend. „Mal sehen, was das Sandmännchen dazu sagt.“ „Och, das hat bestimmt nichts dagegen,“ sprach sie voller Überzeugung und hüpfte vergnügt zurück zu ihrem Dreirad zurück.

Endlich hatte ich Gelegenheit, in Ruhe mit Isolde zu reden. Sie war schon ganz blass um die Nase. Sicherlich hatte sich die Gute bereits das Allerschlimmste zusammengereimt. Wir setzten uns in die Sitzecke neben der Kellertreppe und ich berichtete ihr, was vorgefallen war.

Isolde war eine einfache, gute Frau, die ihr Leben lang hart gearbeitet hatte. Ich kannte sie eigentlich gar nicht anders als in ihrer Kittelschürze. Sogar Sonntags wollte sie nicht darauf verzichten. Vom Frühjahr bis weit in den Herbst trug sie dazu ihre Klapperlatschen, die sie bereits ankündigten, wenn weit und breit noch gar nichts von ihr zu sehen war. Sie hatte wahrlich kein leichtes Los zu tragen. Seitdem sich ihr Heinz vor einigen Jahren zu Tode gesoffen hatte, stand sie mit Manfred alleine da. Manfred war Isoldes geistig behinderter Sohn. Ihren Sonnenschein nannte sie den etwa zwei Zentner schweren Jungen, der mit seinen 28 Jahren schon längst kein kleiner Junge mehr war. Manfred war zwar verhaltensgestört, aber gewiss kein Kind von Traurigkeit. Manchmal fragte ich mich, wie sie diesem, zugegeben gutmütigen Fleischberg immer wieder dazu brachte genau das zu tun, was sie von ihm verlangte. Denn genau wie jeder andere Mann in seinem Alter erlebte er Gefühle und hatte Bedürfnisse.

Die Frau mit den hart gezeichneten Gesichtszügen tippte sich nachdenklich über die Lippen. „Soll ich die Monika so lange bei uns drüben behalten, bis die Gabi wieder nach Hause kommt?“, bat sie sich sofort in ihrer hilfsbereiten Art an. Vielleicht wäre es das Beste gewesen, aber ich wusste, dass Gabi mir böse gewesen wäre, wenn ich zugestimmt hätte. Davon abgesehen, hatte auch ich wegen Manfred so meine Bedenken. Wenn ich auch nicht glauben wollte, dass irgend etwas geschehen könnte, ließ der Gedanke daran bereits ein mulmiges Gefühl in mir aufsteigen.

„Das ist wirklich sehr lieb gemeint von dir, Isolde, aber Micky kommt heute Nachmittag von seiner Klassenfahrt zurück. Du weißt doch, wie gern er sich um die Kleine kümmert.“ Isolde schürzte die Lippen. „Er ist ein sehr stolzer Onkel. Ihr könnt froh sein, dass euch der liebe Gott einen solchen Sohn geschenkt hat.“ Ich lehnte mich zufrieden gegen die Bank. Monika dabei immer im Blickfeld. „Das sind wir auch,“ versicherte ich ihr zustimmend. „Das sind wir auch.“

Micky war von klein auf ein unproblematisches Kind. Er hatte uns, mit seinen vierzehn Jahren, bislang nichts als Freude bereitet. Nie war ein böses Wort über seine Lippen gekommen, nie hatte er sich mit anderen geprügelt oder war sonst in irgendeiner Form unangenehm aufgefallen. Trotzdem war er kein Einzelgänger und der Typ, den man als Streber bezeichnen würde. Michael war hoch aufgewachsen und von kräftiger Statue. Er hatte ein markantes Gesicht und trug sein Haar in kurzen Stoppeln. Durch seine ruhige besonnene Art zog er die Mädchen an, wie das Licht die Motten.

„Wann kommt denn die Mutti?“, unterbrach Monika unser Gespräch. „Die hat noch etwas sehr wichtiges zu erledigen. Wahrscheinlich werde ich sie zusammen mit Onkel Andreas morgen Nachmittag abholen.“ Monika war auf meine Knie geklettert und gab dem Pferd die Sporen. Ich ließ sie auf meinen Beinen auf und ab hopsen. „Ist die Mutti mit der Omi zusammen zu Onkel Anton gefahren?“, fragte sie unvermittelt. „Nein, du weißt doch, dass die Omi lange fort bleiben wird.“ Der kleine Wirbelwind legte den Kopf quer. „Wie lange?“ Wenn ich nicht aufpasste, geriet ich mit ihr in eines dieser nie enden wollenden Frage - Antwortspiele, an dessen Höhepunkt ich entweder entnervt das Feld räume, oder aber einen gewaltigen Brummschädel habe. „Aber Moni, das haben wir dir doch alles schon erklärt.“

Mit diesen Worten ließ ich unseren Sonnenschein auf meinen schräg gestellten Beinen zu Boden rutschen und erhob mich. „Bleibst du noch auf dem Hof?“, fragte ich Isolde mit hoffnungsvoller Stimme. Sie nickte mir lächelnd zu. „Das ist schön, dann gehe ich erst einmal nach oben und lege mich ein wenig hin. Der Unfall hat mich doch mehr mitgenommen, als ich es mir eingestehen wollte.“ „Geh ruhig, ich kümmere mich um Monika.“

Ziemlich matschig schob ich mich über die Steintreppe in den zweiten Stock. Die Parterrewohnung stand schon seit Jahren leer. In der ersten Etage lebte ein älteres Ehepaar. Ein Teil des Dachbodens hatte ich Gabi und Monika zu einer kleinen Mansardenwohnung ausgebaut. Eigentlich wäre unsere Wohnsituation gar nicht so schlecht gewesen, wenn ..., ja wenn diese verdammte Kurve nicht wäre. Nicht nur, dass es sich um Kopfsteinpflaster handelte, auf dem der Lärmpegel an manchen Tagen schier ins Unermessliche schnellte, die Kurve verlief auch noch zum Haus hin abschüssig. Was zur Folge hatte, dass die Geschwindigkeit mit der man sie fahren konnte oftmals überschätzt wurde. Das wiederum hatte zum Ergebnis, dass es dann und wann gehörig in der Hauswand krachte. Nach eben einem solchen Unfall mit einem Kleinlaster war die Wohnung im Parterre geräumt worden.

Während ich die letzten Stufen der Steinwendeltreppe emporstieg, bemerkte ich einen leichten Schwindel. Vor meinen Augen tanzten bunte Punkte. Ich musste mich für einige Momente am Geländer festhalten. Schließlich ging es wieder. Ich drückte die Wohnungstür auf und durchquerte die Küche. Im Wohnzimmer ließ ich mich schließlich in meinen Ohrensessel hinter dem Kachelofen fallen. Froh zu sitzen, legte ich die Beine auf den Schemel und lehnte mich zurück. Der letzte Gedanke, bevor ich in ein graues Nichts hinüber dämmerte, gehörte Schnuppe.

Ich saß neben Hilda. Draußen vor dem Fenster wischten Bäume, Strommasten und Felder vorbei. Sie hatte ihre Hand in der Meinen und lächelte mir glücklich zu. Ein monotones Pochen, welches entsteht, wenn ein Zug über die Nahtstellen eines Schienenstranges rollt, war wie Musik in meinen Ohren. Wir mussten kurz vor Marienborn sein, als mich ein heftiges Rütteln aus meinen Träumen riss. Ich wehrte mich, kämpfte dagegen an, wach zu werden. Hatte ich es doch beinah bis in den Westen geschafft.

„Opa! Opa, wach auf!“, rief ein feines Stimmchen, während etwas an meinem Ärmel herumzupfte. „Ach...,“ seufzte ich, zunächst aus einem Auge vorsichtig blinzelnd. „Ich hatte gerade einen sooo schönen Traum.“ „Ach Opa, du kannst jetzt nicht weiter schlafen. Micky ist wieder da.“ Ich runzelte ungläubig die Stirn und sah auf meine Uhr. Erschrocken stellte ich fest, dass ich länger als drei Stunden geschlafen hatte. Ehe ich mich erheben konnte, stand Michael auch schon vor mir. „Du solltest doch den Opa gar nicht wecken,“ schimpfte er sanftmütig. Moni zog den Kopf zwischen die Schultern und sah mich mit dem gleichen unschuldvollen Augenaufschlag an, wie Schnuppe es immer dann tat, wenn sie etwas von mir wollte.

„Ist schon gut, ich wollte gar nicht so lange schlafen.“ „Isolde hat mir von eurem ... ,“ begann Michael. Ich legte blitzschnell den Finger über meine Lippen und wischte mit dem Kopf in Monis Richtung. Micky begriff sofort, was ich mit meiner Geste sagen wollte und schluckte den Rest des Satzes hinunter. Gottlob hatte die Kleine schon wieder etwas anderes im Sinn. „Wie lange bist du schon da?“, fragte ich ihn. „Ungefähr zwei Stunden. Isolde ist schon nach Hause. Ich soll dir sagen, dass du ihr Bescheid geben sollst, wenn du sie brauchst.“ Ich nickte dankbar.

Micky und ich waren heilfroh, als es Abend war und wir Monika im Bett hatten. Nicht dass die Kleine stressig gewesen wäre, aber es ist schon sehr müßig, ständig Acht geben zu müssen, auf ihre Fragen nach Gabi nichts Unbedachtes zu antworten. Als ich die Tür zu ihrem Kinderzimmer hinter mir ins Schloss zog, war ich auf jeden Fall erleichtert. Für diese eine Nacht waren Michael und ich in Gabis kleine Wohnung nach oben gezogen. Für Monika sollte, soweit möglich, alles so sein, wie gewohnt. Falls sie jedoch aufwachen und nach Gabi rufen würde, war es besser, wenn wir in ihrer Nähe waren.

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„Warum hast du denn immer noch diese lustige Verkleidung um deinen Hals, Opa?“, erkundigte sich der kleine Wirbelwind am Frühstückstisch. Ich überlegte fieberhaft. Was sollte ich ihr antworten? Meine hilfesuchenden Blicke wanderten zu Micky hinüber. „Opa und Michael haben mit einander gewettet, wer seine Verkleidung länger umbehält,“ sprang er schließlich listig grinsend für mich in die Bresche. „Der Verlierer muss für jeden von uns einen Broiler bezahlen.“ „Au fein, ich mag Hähnchen am allerliebsten,“ klatschte Moni begeistert in die Hände. Ich legte meine Stirn in Falten und sah Micky scharf an. Innerlich schmunzelte ich über seine Finesse. Nicht nur das er mit seiner Ausrede die Situation rettete, er hatte Michael und mir damit in den nächsten Tagen sicherlich noch Tausend Verlegenheiten erspart.

Wie verabredet, holte mich Andi bereits am Vormittag des nächsten Tages zu Hause ab. Wir wollten Gabi aus dem Krankenhaus abholen. Für alle Fälle hatte ich vorsichtshalber eine Tasche mit den Dingen eingepackt, von denen ich annahm, dass Gabi sie brauchen würde, falls sie dort bleiben müsste. Um Moni brauchte ich mir keine Sorgen machen. Micky hatte sich schon des öfteren rührend um sie gekümmert.

Während wir mit dem Framo durch die Straßen von Colditz ratterten, mussten Andreas und ich mit unseren Halskrausen wie zwei Kosmonauten in ihrem Mondfahrzeug gewirkt haben. Am liebsten hätten wir uns die Dinger vom Hals gerissen. „Konnte Bolle schon etwas zu den Reparaturkosten sagen?“, fragte ich an genau der Stelle, an der wir tags zuvor den Unfall hatten. Als ich die Absplitterungen an der Eiche sah, füllte sich mein Hals mit einem dicken Kloß. Andreas schien es da nicht anders zu gehen. Ich hatte das Gefühl, als verfestigte sich sein Griff um das Lenkrad des Firmenwagens. Muskeln und Sehnen spannten sich an. „Einfach wird's nicht,“ antwortete er schließlich betreten. „Alles nur wegen eines dämlichen Schlaglochs.“ Andi schüttelte den Kopf. „Ich habe es aber auch wirklich erst viel zu spät gesehen.“ „Mach dich nicht verrückt, du konntest nichts dafür,“ versuchte ich ihn zu trösten. „Es ist nichts kaputt, was nicht wieder heile gemacht werden kann.“ Andreas strich sich nachdenklich durch das Haar, dann seufzte er. „Vater hat genau das gleiche gesagt. Hoffentlich können wir Gabi mit nach Hause nehmen.“

Bis wir auf den Parkplatz des Krankenhauses einbogen, saßen wir schweigend nebeneinander. „Meine Güte, was ist denn hier los?“, staunte ich Angesichts des überfüllten Platzes. „Heute ist Sonntag, da besuchen all die Berufstätigen ihre kranken Angehörigen.“ Vor uns wogte ein Meer von plastefarbenen Trabbis in Eierschale und schlüpferblau. Hier und da nur von einigen alten Mossis >Koseform von russischen Moskwitsch< unterbrochen, die wie versprenkelte Felsen aus der Gischt herausragten. Eigentlich ein Anblick, an den ich mich nach vierzig Jahren verordneten Geschmacks längst gewöhnt haben müsste.

Nach einer Weile geduldigen Wartens fanden wir schließlich ein geeignetes Plätzchen. Andi rangierte den unübersichtlichen Transporter gekonnt in die Lücke, stellte den Motor ab und griff hinter seinen Sitz. Ich staunte nicht schlecht, als er einen Strauß Blumen hervorzog. Er grinste verlegen, als er meinen Blick bemerkte. „Ist ja schließlich das Mindeste,“ stammelte er. Ich kniff ein Auge zusammen. „Habe ich etwas gesagt?“ Ich wusste, wieviel Gabi ihm bedeutete. So lange sich die beiden kannten, machte er sich Hoffnungen auf sie. Warum Gabi seine Zuneigung nicht im selben Umfang erwiderte, war mir ein Rätsel. Aber dies gehört sicherlich zu den unerklärlichen Besonderheiten, die die Spezies Frau zu dem machen, was sie für uns Männer sind. Ein Buch mit sieben Siegeln.

Weit kamen wir nicht. Gabi saß schon fix und fertig, zur Abfahrt bereit, in der Wartezone der Eingangshalle. Als sie uns sah sprang sie auf und eilte uns entgegen. „Wir können sofort los. Ich habe bereits sämtliche Formalitäten erledigt.“ Andreas und ich sahen uns verdutzt an. Kein Zweifel, Gabi war ihrer Mutter Tochter. „Sind die für mich?“, deutete sie auf den in buntem Papier eingewickelten Blumenstrauß. „Äh, ja,“ stammelte Andi und überreichte ihn ihr mehr als wortkarg. „Lieb von dir,“ quittierte sie. „Also, dann.“

Ich stand immer noch etwas verwundert da und wusste nicht so recht, was ich sagen sollte. „Aber ist denn alles in Ordnung bei dir?“, fragte ich erstaunt. „Na hör mal,“ stemmte sie entrüstet ihre Fäuste in die Hüften. Womit sie meine besorgte Nachfrage völlig anders interpretierte, als es von mir beabsichtigt war. „Aber, ich meinte doch...“ „Natürlich geht es mir gut!“, strahlte sie augenzwinkernd. „Ich soll mich zwar noch etwas schonen und in der kommenden Woche den Hausarzt aufsuchen, aber wie ihr seht, geht es mir gut. Ich atmete beruhigt auf.

„Wie hat Moni das Ganze aufgenommen?“, fragte sie besorgt. „Wir haben ihr nichts von dem Unfall gesagt. Sie glaubt, dass du bei einer Freundin übernachtet hast.“ Die Stirn meiner Stieftochter krauste sich. „Was hättest du ihr gesagt, wenn ich heute nicht entlassen worden wäre?“ Ich starrte sie fragend an. „Uns wäre sicherlich etwas eingefallen.“ „Neue Lügen, an dessen Ende doch die Wahrheit steht!“ „Glaubst du, dass es sinnvoll ist, einem vierjährigen Kind zu sagen, dass seine Mutter einen Verkehrsunfall hatte und im Krankenhaus liegt?“, mischte Andreas sich in das Gespräch. Ich war ihm dankbar für seine Unterstützung, doch Gabi sah dies anders. „Misch dich da bitte nicht ein! Hier geht es um meine Tochter und die erziehe ich und sonst niemand.“ Langsam wurde mir das Ganze zu dumm, schließlich hatte ich es gut gemeint. Monika war bis jetzt noch nie für mehr als ein paar Stunden von ihrer Mutter getrennt gewesen. Das, was Hilda und ich schon immer als sehr bedenklich angesehen hatten, hätte zu einer sehr heftigen Reaktion bei der Kleinen führen können. Kurz, ich war stinkig. „Bist du sicher, dass du bei dem Unfall nicht doch etwas abbekommen hast?“

Den Rest der Fahrt verbrachten wir mit Schweigen. An diesem Zustand änderte sich auch in den nächsten Tagen nichts. Ich versuchte Gabi so weit wie möglich aus dem Wege zu gehen. Da mich unser Hausarzt für eine Woche arbeitsunfähig schrieb, war dies nicht sonderlich schwierig. Ich blieb morgens extra so lange im Bett, bis Gabi mit der Kleinen das Haus verließ, um sie in die betriebseigene Krippe zu bringen. Bevor Michael zur Schule abrauschte, berichtete er mir dann stets, dass die Luft immer noch zum schneiden dick war. Weder Gabi noch ich waren bereit, auch nur einen Deut nachzugeben. Was nicht weiter verwunderlich ist, wenn zwei Sturköpfe aufeinandertreffen.

Am Freitag kam endlich die sehnsüchtig erwartete Nachricht von Schnuppe. Während ich das Kuvert öffnete, beschlich mich eine innere Unruhe. Wie ging es ihr? War sie in Wolfenbüttel gut aufgenommen worden? Ich konnte es kaum erwarten, die ersten Zeilen ihres Briefes gelesen zu haben. Doch mit jedem Wort, das ich las, entspannten sich meine Züge mehr und mehr. Hilda schrieb voller Euphorie und erzählte in den schillernsten Farben. Adolf und seine Frau kümmerten sich rührend, lasen Hilda buchstäblich jeden Wunsch von den Augen ab. Sie schrieb, dass alles noch viel bunter und ordentlicher sei, als wir es vom Fernsehen her kannten.

Auch die Kinder ihres Bruders und dessen Familien waren ihr auf Anhieb sympathisch. Sie wohnten alle in ein und derselben Straße. Fast an jedem Abend saßen sie gemütlich beisammen und tranken eine gute Flasche Wein. Dann erzählten sie von ihrem Leben im Westen, von ihrer Arbeit und davon, dass auch in der BRD nicht alles Gold war, was glänzte. Probleme, über die Schnuppe innerlich nur lächeln konnte.

Tagsüber bummelten Adolf und Helga meistens mit ihr durch die vielen Geschäfte und die wunderschöne Wolfenbüttler Altstadt mit den herrlich restaurierten Fachwerkhäusern. Sie saßen in den Straßencafés, tranken italienischen Capuccino und aßen Eis.

Ich freute mich für Hilda. Gleichzeitig wurde ich jedoch traurig. Warum konnten wir dies alles nicht gemeinsam erleben? Weshalb vertraute uns unser Staat nicht ein wenig mehr? Colditz war meine Heimat, ich konnte mir gar nicht vorstellen irgendwo anders zu leben. Wann immer ich das Bedürfnis hatte, wollte ich reisen können und zwar wohin ich es wollte. Nur einmal sehen, wie die Leute im anderen Teil Deutschlands lebten und dann wieder zurückkehren. Waren wir unmündige Kinder, denen man jede Entscheidung abnehmen musste? Sicherlich würde es nicht wenige geben, die im Westen blieben, aber ich war fest davon überzeugt, dass die weitaus größere Mehrheit hierher in ihre Heimat zurückkehrte, wenn man ihnen nur die Wahl ließe.

Weshalb sich die Bonzen der Partei gegen diese Wahrheit verschlossen, war mir ein Rätsel. Sie mussten doch merken, wie es in der Volksseele immer mehr brodelte. Die Menschen glaubten der Propaganda nicht mehr, die all das verteufelte, was durch heimliche Kanäle aus dem Westen zu uns herüberschwappte. Die vielen Versprechungen, mit denen man uns all die Jahre hingehalten hatte, liefen ins Leere. Die Situation in den Betrieben wurde zusehends schlechter. Jeder, der etwas Einblick hatte, wusste, dass die ach so sehr gepriesene Planerfüllung nichts anderes als Selbstbetrug war. Die Wahrheit war, dass in den Betrieben oftmals die Produktion ruhte, weil es mit der Versorgung und dem Nachschub von Rohstoffen nicht klappte. Es gab Tage, an denen ich ausschließlich damit beschäftigt war, all das im Werk zusammenzutragen, was ich zur Fertigung brauchte. Wenn ich dann am nächsten Morgen endlich mit meiner Arbeit beginnen wollte, war es oft so, dass all die mühsam organisierten Sachen wieder verschwunden waren. Und so war es nicht nur in meinem Betrieb, sondern überall, egal wohin man schaute.

Es war längst an der Zeit, etwas gegen diese Zustände zu unternehmen. Dass ich mit dieser Meinung nicht allein stand, sah man vor allem während der letzten Jahre in Polen. Was die Gewerkschaften dort innerhalb kürzester Zeit bewegt hatten, war mehr als eindrucksvoll. Natürlich gab es auch bei uns einige Gruppierungen, die in diese Richtung marschierten, aber zum einen konnten sie bislang noch nicht auf die gleiche Unterstützung in der breiten Masse vertrauen, zum anderen waren ihre Vorstellungen einer reformierten DDR zu unausgegoren.

Ich hatte das Gefühl, dass alle Augen Richtung Moskau gerichtet waren. Wie würde sich der Kreml verhalten, wenn sich die Lage in Polen zuspitzte? War die Zeit reif genug für eine Veränderung oder würde es den Polen ähnlich ergehen wie den Tschechen in der Ära Dubcek? Eines war jedoch klar, jeder kleine Erfolg von Solidarnosc war auch ein kleiner Sieg für uns. Aber es waren auch die Äußerungen des amerikanischen Präsidenten, Ronald Reagens, die mir Mut machten. Anlässlich einer in West-Berlin gehaltenen Rede hatte er Gorbatschow dazu aufforderte die Mauer endlich einzureißen.

Ich faltete Hildas Brief wieder sorgfältig zusammen und schob ihn in die Brusttasche meines Jacketts. Ein Blick zur Küchenuhr verriet mir, dass Andreas jeden Moment kommen müsste. Wir waren für etwa 11 Uhr verabredet, um gemeinsam in die Werkstatt von Bodo Hecht zu fahren. Der Wartburg war zwar noch nicht wieder in Stand gesetzt, aber immerhin zeichneten sich allmählich die Höhe der Reparaturkosten ab. Bolle hatte uns in diesem Zusammenhang ein interessantes Angebot gemacht, über das wir vor Ort mit ihm verhandeln wollten.

Ich zog die Haustür mit den beiden Glasscheiben in der oberen Füllung, hinter mir zu und steckte mir eine Juwel zwischen die Lippen. Das Benzinfeuerzeug flammte auf und ich inhalierte die erste Tabakwolke des Tages. Als leidenschaftlicher Raucher fiel es mir innerhalb unserer vier Wände nicht immer leicht, auf dieses Laster zu verzichten, aber dieses Zugeständnis war eins von den Dingen, die mir Hilda schon zu Beginn unserer Partnerschaft abgerungen hatte.

Vor dem Haus war noch nichts von Andi zu sehen. Ich ging die Straße einige Schritte abwärts, um etwas aus dem Kurvenbereich herauszukommen und ihm so ein besseres Halten zu ermöglichen. Es war noch relativ kühl. Eigentlich zu kalt für diese Jahreszeit und nun begann es auch noch zu nieseln. Ob das Wetter in Wolfenbüttel genauso schlecht war, schoss es mir durch den Kopf. Aber hatte Schnuppe nicht davon geschrieben, dass sie in den Straßencafés der Altstadt saßen und sich von den wärmenden Strahlen der Sonne verwöhnen ließen?

Der knatternde Framo, der in diesem Moment an der Bordsteinkante stoppte, riss mich aus meinen Gedanken. Zunächst las ich nur den schwarzen Schriftzug, der an der Seite des Kleinlasters prangte. „Fritz König und Sohn, Wasser und Sanitärinstallation“. Dann schwang die Beifahrertür auf und Andis lächelndes Gesicht wurde in der Öffnung sichtbar. „Hallo Gunther, du warst wohl gerade ganz weit weg?“ Er hatte mich ertappt. Ich lächelte etwas verlegen zurück und stieg zu ihm ins Fahrerhaus.

„Hast du schon etwas von Hilda gehört?“, fragte er, wohl den Grund für meine Gedankenverlorenheit erahnend. „Es geht ihr prima, ich soll alle schön grüßen.“ „Hast du mit ihr telefoniert?“, wollte es Andi genauer wissen. Auf diese Idee war ich noch gar nicht gekommen. „Du weißt doch die Nummer, oder?“ Ich nickte. Hilda hatte sie mir für den Notfall aufgeschrieben. „Ja klar,“ antwortete ich knapp. „Sie hat geschrieben.“ „Wenn du möchtest, nehme ich dich nachher mit zu uns. Vater hat sicher nichts dagegen, wenn du von uns aus telefonierst.“ „Danke, aber ich habe die Nummer leider nicht bei mir.“

Bolle machte uns tatsächlich ein interessantes Angebot. Er wollte die Fassade seines Hauses neu gekalkt haben. Darüber hinaus benötigte das Dach über seiner Werkstatt eine neue Regenrinne und die Reparaturgrube sollte neu ausgemauert werden. „Was die Regenrinne angeht, gibt es keine Probleme,“ gab ihm Andreas zu verstehen. „Bei den Maurerarbeiten können wir aber lediglich Handlangerarbeiten ausführen.“ Ich schlug Bolle vor, dafür meinen alten Freund Bernd Schüttau zu gewinnen. „Er trinkt zwar gerne mal einen,“ räumte ich ein, „aber bei der Arbeit ist er sehr zuverlässig.“ „Also gut, was über die Reparaturkosten hinaus geht, werden wir uns schon einig.“ Ich war froh, nicht an unsere Ersparnisse gehen zu müssen.

Schon am nächsten Morgen begannen wir mit den Arbeiten bei Bolle. Wie nicht anders zu erwarten, war Bernd mit von der Partie. Als er und Andi mich vor meiner Wohnung abholten, schlug mir aus dem Framo eine penetrante Dunstwolke entgegen. Wahrscheinlich hatte der Gute am Abend zuvor wieder heftig zugeschlagen.

Bernd und ich kannten uns schon viele Jahre. Das Problem seines Lebens hieß Emmi und war an die siebzig Jahre alt. Bernd wohnte mit seiner Mutter zusammen und die hatte nie zugelassen, dass ihr Sohn eine eigene Familie gründete. Nachdem sich ihr Ehemann bei Nacht und Nebel dünne gemacht hatte, sah sie ihn als eine Art Ersatzmann an. Über Jahre hinweg hatte es Bernd als seine Pflicht angesehen bei ihr zu bleiben. Als er endlich Begriff, dass er dabei sein eigenes Leben völlig vernachlässigte und aus dieser vermeintlichen Verantwortung ausbrechen wollte, erkannte er, dass es zu spät war. Er begann zu trinken und wurde zum Alkoholiker.

Hilda und ich hatten es inzwischen aufgegeben, ihn zu einer Kur zu bewegen, denn Bernd war ein ausgesprochen sturer Hund. Immerhin bewirkte die Patenschaft, die ihm Gabi für Moni übertragen hatte, dass er sich in ihrer Nähe besonders beherrschte. Ja, es schien auf ihn geradezu eine belebende Wirkung zu haben. Überdies kam er auf diese Weise zumindest gelegentlich aus seinem Loch heraus. Und genau das war die Bruchbude auch, in der Bernd und Emmi hausten. Obwohl Maurer, hatte er an dem Haus seiner Eltern schon seit Jahren nichts mehr in Stand gehalten. „Auf was für einer Feier warst du denn gestern Abend?“, fragte ich ihn spitz. Bernd grinste mir schief ins Gesicht. „Muss man einen Grund haben, um das Leben ein wenig zu genießen?“ Ich schüttelte wortlos den Kopf. Jedes weitere Wort in dieser Richtung war überflüssig. Stattdessen wandte ich mich an Andi. „Wenn es möglich ist, würde ich nach dem Treffen bei Bolle gern auf dein Angebot von gestern zurückkommen. Andreas sah mich fragend an. „Ich habe die Telefonnummer dabei,“ ergänzte ich darauf hoffend, dass er sich entsann. „Ach so, klar kannst du nachher mit Hilda telefonieren.

Der Framo knatterte unterdessen über die Muldebrücke und ließ das Porzellanwerk links der Straße liegen. Rechts tauchte das Ausländerwohnheim auf, in dem Monis Vater einmal lebte. Ich dachte unwillkürlich an Gabis große Liebe, die damals ein derart jähes Ende fand. Die Kopfsteinpflasterstraße wand sich in engen Kurven weiter den Hausberg empor. Hausdorf ist ein kleiner Ortsteil von Colditz, der in idyllischer Lage weithin sichtbar über dem Muldetal thront. Man sagt, dass die Menschen hier allein aufgrund der herrlichen Aussicht um mindestens fünf Jahre älter werden. Nun, ich fand, dass Bolle auch nicht jünger aussah als ich. Dafür besaß er eindeutig mehr Organisationstalent als ich.

Bereits eine Woche später hatte er sämtliche von uns aufgelisteten Materialien besorgt. Gott allein weiß, wie er dies schaffen konnte. Diese zweite Woche ohne Hilda war erstaunlich unkompliziert und schnell vorüber gegangen. Ich arbeitete bereits seit einigen Tagen wieder in der Porzelliene und hatte mich auch mit Gabi ausgesprochen. Nachdem das Telefonat mit Hilda wegen eines technischen Defektes von Fritz aus nicht geklappt hatte, versuchte ich es zwei Tage später von dem Apparat eines Arbeitskollegen.

Schnuppe erzählte von einem Theaterbesuch, schwärmte von einer Einkaufstour nach Braunschweig und von Adolf und ihrer Schwägerin. Ich spürte mit jedem Wort wie zufrieden sie war. Natürlich vermied ich es ihr von unserem Unfall zu berichten. Sie sollte sich nicht unnötige Sorgen machen. Schließlich war die Sache ja auch glimpflich abgegangen. Ich würde ihr alles erzählen, wenn sie wieder zu Hause war. Jetzt war ich erst einmal glücklich ihre Stimme zu hören.

Am folgenden Wochenende begannen wir mit den Arbeiten bei Bolle. Sie zogen sich ohne größere Probleme bis zum Ende der darauf folgenden Woche hin. Natürlich konnten wir immer erst nach Feierabend schaffen gehen. Aber das war sowieso jeder einzelne von uns gewohnt. Wer etwas mehr als das Übliche wollte, musste dafür auch noch nach Feierabend, in einer der vielen Brigaden arbeiten gehen. Mit dem nötigen Kleingeld bekam man in den Delikat Läden oder auch vielerorts unter dem Ladentisch im Grunde alles. Das Problem war eben, dass es sich halt kaum jemand leisten konnte.

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Die letzte Woche bis zu Hildas Heimkehr verging wie im Fluge. Gabi und ich waren übereingekommen, dass ich mich aus Monikas Erziehung in Zukunft heraushalte. Natürlich war ich nicht immer mit ihren Entscheidungen einverstanden, was die Kleine betraf, aber Moni war Ihre Tochter und da gab es nichts dran zu rütteln.

Am vorletzten Abend waren Bernd, Andreas und ich mit den Arbeiten bei Bolle fertig und ich war an der Reihe, meine verlorene Wette einzulösen. Es war ja von vornherein klar, dass Moni mich als Ersten ohne die Halskrause erwischen musste, aber Dank Michaels genialen Einfalls, war ich zumindest bis zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in Erklärungsnöte geraten. Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals eine Wette lieber verloren zu haben. Bolle war es zwischenzeitlich gelungen, den Wartburg von Fritz wieder so gut hinzubekommen, dass man nicht einmal mehr erkennen konnte, dass der Wagen einmal einen Unfall hatte. Am meisten aber freute es mich, dass Hilda einen unbeschwerten Aufenthalt im Westen genießen konnte. Wir hatten noch zweimal miteinander telefoniert und obwohl sie mir darüber hinaus auch noch einen langen Brief geschrieben hatte, war ich froh, dass sie bald wieder daheim war. Also, genug Gründe mal wieder ein bisschen zu feiern. Während Gabi und Monika noch in der Küche damit beschäftigt waren, einen Salat zu zaubern, kümmerten wir Männer uns um die Getränke und um die Hähnchen.

„An was denkst du, Gunther?“, unterbrach mich Bernd. Ich rieb mir versonnen die Augen und bedachte ihn mit einem nichtssagenden Blick. „Warum nur muss man erst alt werden, um frei zu sein?“ „Weil ihnen dann egal ist, ob du drüben bleibst oder nicht,“ schaltete sich Andreas in unser Gespräch ein. Dass seine Antwort für niemanden von uns etwas neues war, lag auf der Hand. Doch warum nur hatten wir uns all die Jahre mit unserem Schicksal abgefunden? Erst jetzt, da sich in unseren sozialistischen Bruderländern etwas rührte, jetzt, da jeder spüren konnte, dass unser System zum Scheitern verurteilt war, begannen immer mehr Menschen die ganze Sache in Frage zu stellen und an den Grundpfeilern zu rütteln. Ich war nur einer von vielen kleinen Arbeitern, die stets ihr bestes gaben, um den Plan zu erfüllen. So wie ich wäre niemand auch nur ansatzweise auf die Idee gekommen all die Merkwürdigkeiten zu hinterfragen, die uns Tag für Tag begleiteten und die uns natürlich auffielen.

„Was ist denn dort so toll, wo die Oma ist?“, mischte sich nun auch Monika ein, die von uns unbemerkt heruntergekommen war und einige Wortfetzen unseres Gesprächs aufgeschnappt hatte. Eine Frage, dessen Antwort gut bedacht sein wollte, denn wenn die Kleine in der Krippe zu freizügig darüber plapperte, konnte es die Genossen von der Staatssicherheit auf den Plan rufen. „Es ist toll, dass die Omi dort ihren Bruder wiedersieht.“ Glücklicherweise gab sich Moni mit der Antwort zufrieden und widmete sich wieder ihrem Broiler.

Ich empfand es als äußerst traurig, dass man darauf achten musste, was im Beisein eines Kindes gesprochen wurde. Nicht selten wurden die Kleinen in Krippe und Schule ausgequetscht und oft genug waren ihre Eltern bei Nacht und Nebel von der Stasi zu einem Verhör abgeholt worden. Ja, es war sogar vorgekommen, dass Kinder ihre eigenen Eltern denunzierten. All das wurde uns früher als gehässige Propaganda des Westens verkauft, doch inzwischen wussten wir, dass all die Gerüchte der traurigen Realität entsprachen.

Wie immer, wenn es das Wetter zuließ, saßen wir in der gemütlichen Grillecke auf dem Hof. Eigentlich ging es uns gar nicht schlecht. Ich sah in die Runde. Andreas plauderte wie immer mit Gabi und Bernd öffnete gerade eine Flasche Union. Micky half Monika mit ihrem Hähnchen und rgendwie schienen sie alle zufrieden und doch fehlte hier etwas - Schnuppe!

Endlich war es so weit! Andreas hatte Gabi und mich in dem wieder heilen Wartburg zum Bahnhof nach Leipzig gefahren. Voller Ungeduld warteten wir auf dem Bahnsteig auf die Einfahrt des Interzonenzuges. Bereits zweimal schon war die Ankunft um jeweils 20 Minuten verschoben worden. Geduld ist eine von den Tugenden, die wir mit den Engländern gemein haben. Nur, dass die gern in der Schlange stehen.

Mit mehr als einer Stunde Verspätung und einigen Zigaretten, rollte der Zug schließlich doch in den Bahnhof ein. Angespannt hielt ich Ausschau, reckte meinen Hals so hoch wie es nur ging und endlich entdeckte ich meine Schnuppe. Sie hatte uns bereits ausgemacht und winkte aufgeregt. Ich kann kaum ausdrücken, was in mir vorging, aber es waren überwältigende Eindrücke von Glück, Zufriedenheit, Wärme und innerer Ruhe, wie ich sie seit Hildas Abfahrt nicht mehr erlebt hatte. Kurz, ich spürte, wie sehr ich sie liebte.

Immer wieder sah ich, während ich mich ihr durch die Massen näherte, das Lächeln, welches ich so sehr vermisst hatte. Dann endlich stand ich vor ihr, sah dieses Strahlen in ihren Augen und konnte nicht anders, als ihr einen innigen Kuss zu geben. Es müssen Minuten gewesen sein, die wir uns in den Armen lagen, auf dem Bahnsteig standen und nichts anderes taten, als uns wortlos fest zu halten. Grad so, als wollten wir einander niemals wieder los lassen. Erst als uns jemand anrempelte, wurde dieses innige Gefühl abrupt unterbrochen, welches uns in diesem Moment einander so nah brachte. Gabi stand direkt neben uns und grinste unverhohlen. Andi hatte sich etwas abseits gehalten und kam nun langsam näher.

„Ich hoffe, du hattest eine angenehme Reise,“ hieß er Hilda willkommen. Schnuppe und Gabi lagen sich noch in den Armen. Als sie auch Andreas begrüßt hatte, deutete ich auf die beiden Koffer und die Reisetasche, die neben ihr standen. „Warst du nicht mit nur einem Koffer und ohne Tasche losgefahren?“, fragte ich nachdenklich. „Das kann schon sein,“ antwortete Hilda gedehnt. „Trotzdem wäre es schön, wenn ihr alle Gepäckstücke mitnehmen würdet.“ Damit harkte sie sich bei Gabi ein und die beiden Frauen schlenderten in Richtung Treppenabgang davon.

Andreas schnappte sich in seinem jugendlichen Übermut die beiden Koffer. Er musste zweimal nachfassen, um sie von der Stelle zu bringen. Die Reisetasche hatte es nicht minder in sich. Gottlob konnten wir in der Unterführung einen der Kofferwagen ergattern. „Sag mal, hast du da Steine drinnen?“, fragte ich schnaubend, als wir die Damen eingeholt hatten. „Wir hätten mit dem Framo fahren sollen,“ witzelte Andi Hilda blieb unvermittelt stehen und sah sich aufgeschreckt nach allen Seiten um. „Ich würde noch mehr Theater machen, damit es auch der letzte Trapo >Transportpolizist< oder einer vom Zoll mitbekommt.“ Andi und ich sahen uns zerknirscht an. Hilda hatte natürlich Recht. Daran hatten wir beide nicht gedacht. Es lag ja schließlich auf der Hand, dass sie mehr in den Koffern hatte, als sie eigentlich haben sollte.

Letztendlich waren wir alle vier über die Maßen froh, als wir die Koffer unangetastet im Kofferraum des Wartburgs verstaut hatten. Von der Unbeschwertheit, die wir noch auf dem Weg durch die Unterführung zu Tage gelegt hatten, war nicht viel übrig geblieben. Mit der Gewissheit im Nacken, etwas Verbotenes zu tun, kam auch die Angst entdeckt zu werden. Immer wieder sahen wir uns gequält nach allen Seiten um. Eines wurde mir in diesen Minuten bewusst, zum Schmuggler war ich nicht geboren.

Gabi, Moni, Hilda und ich hatten uns um den Küchentisch herum versammelt. Andreas war gleich, nachdem er uns zu Hause abgesetzt und die Koffer mit nach oben getragen hatte, weiter gefahren. Es lag eine prickelnde Spannung in der dunstigen Küchenluft. Noch lagen die Gepäckstücke ungeöffnet vor uns und Hilda verstand es trefflich, unsere Neugier durch ihre aufreizende Geduld weiter zu steigern. „Eigentlich könnte ich jetzt einen Kaffee vertragen,“ säuselte sie verschmitzt. „Gabi, koch der Mama einen Kaffee!“, befahl ich mit einem ironischen Unterton in der Stimme.

Hilda griff ihre Tochter am Arm und zog sie zu sich heran. „Warte!“ Dann löste sie die Schnallen an der Reisetasche und öffnete den Reisverschluss. „Hier,“ sagte sie, während sie ein Päckchen mit Bohnenkaffee hervorzauberte. Es trug einen Namen, den wir oft genug in der Werbung des Westfernsehens gesehen hatten. Manchmal hatte sich auch ein Pfund Kaffee in den Weihnachts- oder Geburtstagspaketen befunden, die wir von drüben bekommen hatten. Erst am heiligen Abend wurden diese Pakete geöffnet und es war in jedem Jahr wieder der eigentliche Höhepunkt des Festes. Natürlich wollten wir unseren lieben Verwandten im Westen in nichts nachstehen. Deshalb packten auch wir ihnen jedes Jahr zur Weihnachtszeit ein Paket mit selbstgebackener Christstolle, Leipziger Lebkuchen, Halorenkugeln, Räuchermännchen aus dem Fichtelgebirge und Nussknacker aus Thüringen. Irgendwann hatten sie uns dann geschrieben, dass sie nicht mehr wussten, wohin sie mit den vielen Nussknackern sollten. Von da an schickten wir Filzlatschen und Kittelschürzen in allen Farben und Variationen mit.

Als Gabi mit dem Kaffee zurückkam, hatte Hilda bereits die Tasche und den ersten Koffer ausgepackt. All die Mitbringsel lagen fein säuberlich gestapelt auf dem Küchentisch. Berge von Schokoladentafeln, Süßigkeiten, wie wir sie aus der Westwerbung kannten, weitere Päckchen mit Bohnenkaffee und Kakaopulver, Kugelschreiber, Schreibhefte, Filzmaler, drei elektronische Taschenrechner, drei kleine Handradios, zwei Walkman, diverse Musikkassetten, einige Konservendosen mit Südfrüchten, wie ich sie nie zuvor gesehen hatte, Saattüten, Perlonstrumpfhosen und, und, und. Als ich schon nicht mehr damit rechnete kramte sie auch noch den Akkubohrschrauber hervor, den ich unbedingt haben wollte. Hilda hatte ihn natürlich nicht vergessen.

„Meine Güte,“ staunte Gabi. „Wie hast du das alles nur hier her bekommen?“ „Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn dich der Zoll erwischt hätte,“ gab ich zu bedenken, während mir ein Schauer kalt den Rücken hinunterjagte. „Haben sie aber nicht,“ unterband Hilda jede weitere Diskussion schon im Ansatz. „Nun gib Ruhe.“ Ich wischte mir den imaginären Schweiß von der Stirn und betrachtete den vollgepackten Küchentisch. „Was willst du nur mit den vielen Paketen mit Filzschreibern und all den Strumpfhosen? Die brauchen wir doch im Leben nicht auf.“ Hilda zwinkerte mir zu. „Die werde ich mit etwas Gewinn unter unseren Bekannten verkaufen. Schließlich musste ich versprechen, ihnen diese Dinge mitzubringen. Es ist nur recht und billig, wenn wir ein paar Mark daran verdienen.“

Ich staunte nicht schlecht über Schnuppes ungewohnte Geschäftsgebaren. „Das ist das Prinzip der freien Marktwirtschaft,“ erklärte sie. „Die Nachfrage bestimmt den Preis.“ „Ich schluckte trocken. Sollten diese drei Wochen aus meiner Hilda einen Kapitalisten gemacht haben? „Ein paar von den Strumpfhosen hast du doch wohl hoffentlich auch für uns mitgebracht,“ warf Gabi schnippisch ein. Hilda vermied es, darauf zu antworten. Stattdessen öffnete sie den letzten bis dato noch verschlossenen Koffer. „So, nun bekommt jeder von euch, was er sich gewünscht hatte. Die Augen unserer Enkeltochter wurden mit jedem Teil größer, was ihre Oma nun aus dem dritten und letzten Koffer hervorholte. Sie hatte die Sachen, genau wie in den anderen beiden Gepäckstücken zwischen getragener Wäsche verstaut. Das dies im Fall einer Kontrolle wirklich ausgereicht hätte, um die Zollbeamten vor einem genauen Durchsuchen abzuschrecken, hielt ich für mehr als fraglich.

Wie dem auch sei, Monis Augen konnten nicht glauben, was sie sahen. Natürlich hatte sie die Oma äußerst großzügig bedacht. „Du bekommst von jedem eins,“ mahnte sie die Kleine. „Die Mami hebt alles andere für dich auf. Dann hast du später auch noch etwas davon.“ Monika nickte brav. Als Hilda gleich darauf ein kleines aufklappbares Schmink-köfferchen hervorholte, veränderte sich auch Gabis Gemütslage und die düsteren Falten auf ihrer Stirn hellten sich schlagartig auf. „Ist es das, was du dir vorgestellt hast?“, fragte Schnuppe erwartungsvoll an ihre Tochter gewandt. Gabi jappte nach Luft. Sie schien überwältigt. „Du musst verrückt sein, Mama. Das hat doch sicher ein Vermögen gekostet.“ Hilda winkte ab und stöberte erneut in ihrem Koffer.

Michael bemühte sich nichts anmerken zu lassen. Aber ich kannte meinen Sohn gut genug, um ihm eine gewisse Enttäuschung anzumerken. Auch Hilda war dies nicht verborgen geblieben. „Hier irgendwo muss doch... Ich hatte doch noch... Wo ist es denn.“ Schnuppe verstand es vortrefflich, die Spannung noch weiter anzuheizen. Ich hatte mich längst auf einem der Küchenstühle niedergelassen und betrachtete akribisch jedes einzelne Teil, welches ich aus dem Plastikkoffer meines Akkuschraubers hervorholte. „Ach, hier ist es ja!“ Alle Augenpaare starrten gebannt auf Hildas Hände. „Du hattest ja keinen besonderen Wunsch. Da habe ich mir selber ein paar Gedanken gemacht. Ich hoffe, ich habe mich für das Richtige entschieden.“ Sie zog eine Plastiktüte mit einem T-Shirt hervor. Micky sah sofort, was seine Mutter ihm mitgebracht hatte. Sein Mund stand weit offen, Tränen stiegen ihm in die Augen und noch ehe Gabi begriff, dass es sich bei dem Shirt um ein Trikot der BRD Fußballnationalmannschaft handelte, hatte Michael sie schon überschwänglich in seine Arme geschlossen, um sich bei ihr zu bedanken.

„Moment, da kommt doch noch etwas,“ setzte Hilda noch eins oben auf und reichte Micky eine kleine Plastikbox. Die Neugier der anderen war nicht kleiner, als die unseres Jungen. „Mensch, Sammelbilder sämtlicher Spieler,“ staunte er, als er den Inhalt der Schachtel erblickte. „Danke, Mama, danke! So etwas hat keiner von meinen Freunden.“ „Nun probier mal das Trikot an,“ unterbrach ihn Hilda in seiner Freude. „Ich hoffe, es passt. Da drüben gibt es nämlich ganz andere Größen als bei uns.“ Micky schluckte trocken. „Aber das kann ich doch nicht anziehen! So ein Trikot hängt man sich doch an die Wand.“ Hilda griff nach der Klarsichthülle und öffnete sie. „Quatsch! Wenn es an der Wand hängt, können es deine Freunde nicht sehen.“ Während sich Micky umzog, überreichte Hilda Monika zwei der mitgebrachten Kassetten. „Es sind Märchen darauf.“ Gabi sah ihre Mutter erstaunt an. „Moni hat doch gar keinen Recorder.“ „Oh, hatte ich euch die Walkmans noch nicht gegeben?“ Sie kramte auf dem Küchentisch herum und fand die Abspielgeräte schließlich unter einem Berg von anderen Verpackungen. „Hier, eins für Moni - ,“ sie wandte sich Micky zu, „- und eins für dich.“ „Das alles muss doch ein Vermögen gekostet haben!“, wand ich entsetzt ein. „Du wirst es nicht glauben, Gunther, aber ich habe sogar noch Geld wieder mit zurück gebracht. Diese Dinge sind drüben spottbillig.“ Ich verkniff das Gesicht. So ganz traute ich dem Braten noch nicht, immerhin kannte ich meine Schnuppe lange genug. Allein das Wort „spottbillig“ weckte in mir böse Erinnerungen an den Polenmarkt, auf dem sie schon so manches Schnäppchen machte, welches sich im Nachhinein als schlechte Imitation erwies.

„Na, schau mal in den Spiegel,“ freute sie sich. „Das Shirt steht dir ausgezeichnet!“ Micky trabte in das Badezimmer, das eigentlich nicht mehr als eine Nasszelle war. Das Klo befand sich im Treppenhaus, ein halbes Stockwerk tiefer, wo wir es uns bis zum Auszug der Lambrechts teilen mussten. Nun, man gewöhnt sich an alles. Die Wohnung war mit fünfzig Mark recht günstig, da nimmt man gern schon mal ein paar Unannehmlichkeiten in Kauf. Während Gabi die Pappschachtel aufriss und den Walkman startklar machte, hatte ich Schnuppe in meine Arme genommen. In mir wallte ein Gefühl, wie an Weihnachten und Ostern zusammen. Mickys strahlende Augen, als er aus dem Bad kam, ließen meine Gedanken an das viele Geld, welches Hilda im Westen ausgegeben haben mochte, wie eine Seifenblase zerplatzen. Die Kinder waren glücklich und ihre freudigen Gesichter ließen alle meine Bedenken nur noch kleinlich erscheinen.

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Der Alltag hatte uns schnell wieder eingeholt. Ich brauchte einige Tage, ehe ich Hilda den Unfall beichtete. Das schlechte Gewissen, ihr nicht schon während unserer Telefongespräche davon berichtet zu haben, drückte tagelang auf mein Gemüt. Natürlich nahm sie es mir übel, natürlich schimpfte sie deswegen mit mir, aber natürlich verstand sie auch, warum ich es tat.

Die Situation in der Porzelliene wurde immer schlechter. Wir bekamen kaum noch Rohmaterialien, um überhaupt noch fertigen zu können. Nicht mal die Farbe zum Bemalen der hochwertigeren Ware wurde geliefert. Unmut unter den Beschäftigten machte sich breit. Wir standen mehr oder weniger nur noch herum, räumten auf, setzten in Stand oder spielten Karten. Die Versorgungsmisere wurde immer prekärer. Daran konnte auch der ABI, der Arbeiter und Bauerninspektor, der für diese Probleme zuständig war, nichts ändern.

„Es kann doch nicht angehen, dass wir in den Betrieben stundenlang herumstehen und Däumchen drehen,“ schimpfte einer der Brigadeleiter. Ein anderer fügte hinzu, dass es in diesem Jahr sicher nichts mit der Planerfüllung werden würde. „Das ist doch noch gar nichts,“ meldete sich der Leiter einer Baubrigade zu Wort. „Wir müssen mitunter tagelang auf Steine warten. Und wenn sie dann endlich angeliefert werden, ist das Material so schlecht, dass es beim Abladen auseinander bricht.“ „Genossen, die Partei weiß um diese Probleme. Wir tun, was in unseren Kräften steht, um diese Dinge in den Griff zu bekommen.“ „Das sind doch alles nur hohle Phrasen!“, warf einer der Delegierten ein. „Die Situation wird von Monat zu Monat schlechter. Ich weiß schon gar nicht mehr, womit ich meine Brigade beschäftigen soll.“ Andere stimmten ihm zu.

„Genossen,“ ergriff der ABI erneut das Wort. „Wir werden eine Liste der Betriebe aufstellen, bei denen es in letzter Zeit zu Schwierigkeiten bei der Versorgung gekommen ist. Ich werde mein Möglichstes tun, um eure Probleme zu beseitigen.“ „Das hat man uns auf der letzten Versammlung auch schon versprochen!“, schallte es von hinten durch den Sitzungssaal. Ein Raunen ging durch die Reihen der Delegierten. Ich hatte unseren Brigadeführer zum ersten Mal zu einer solchen Versammlung begleitet und ich war über den Ton erstaunt, der in dem kleinen Saal des Kulturhauses herrschte.

„Geht es hier immer so aufgeregt zu?“, fragte ich Otto Luttner deshalb. Er erzählte mir hinter vorgehaltener Hand, dass sich die Parteifunktionäre schon gar nicht mehr bis an die Basis trauen würden, weil es jedes Mal unruhiger würde. „Es lässt sich eben keiner von uns mehr mit den üblichen Parolen hinhalten. Nichts von dem, was uns versprochenen wurde, ist eingetreten. Du kannst von morgens bis abends ackern und kommst trotzdem auf keinen grünen Zweig.“ Ich kannte Otto schon seit vielen Jahren und eigentlich hatte ich ihn bislang als recht linientreu eingeschätzt. Noch konnte ich mir keinen Reim auf seine ungewohnten Äußerungen machen, aber ich hielt mich instinktiv zurück.

Mit der Zeit bekam man eine feine Antenne für Situationen, bei denen es angebracht war, sich zurückzuhalten. In diesem Fall riet mir meine Empfangsanlage nicht auf Senden zu gehen. „Mit gemeinsamer, kollektiver Anstrengung werden wir auch dies überwinden,“ gab ich mich zuversichtlich. Was ich dachte, war etwas anderes. Otto war vierundsechzig und ich wusste, dass sie innerhalb des Betriebes einen Nachrücker für ihn suchten. Überdies war mir klar, dass mich Otto nicht ohne Hintergedanken zu der heutigen Versammlung mitgenommen hatte. Eigentlich wusste ich selbst nicht, ob ich die Position des Gruppenleiters anstreben sollte. Eine Entscheidung darüber hatte ich bislang aufgeschoben.

Wie so oft in den letzten Tagen saßen Schnuppe und ich in unserer lauschigen Ecke im Hinterhof unsres Hauses. Es war einer der vielen lauen Abende, die uns dieser Sommer bescherte. Die Sonne war bereits untergegangen und um uns herum schien vereinzelt künstliches Licht aus den Fenstern zu uns heraus. Abgesehen davon und der gemächlich vor sich hin züngelnden Flamme der Mückenkerze, saßen wir in wohltuender Dunkelheit und betrachteten, so, wie wir es häufig taten, den Nachthimmel. Ich erzählte Hilda von der Versammlung und von dem, was ich mir auf Grund dessen zusammen gereimt hatte.

„Ich weiß einfach nicht, wie ich mich verhalten soll,“ erklärte ich ihr. „Wenn ich ablehne, könnten sie es mir reaktionär auslegen. Nehme ich an, kämen wir in den Genuss einiger Privilegien, aber andererseits würden sich möglicherweise einige unserer Freunde von uns abwenden.“ Ich senkte nachdenklich den Kopf. „Ich weiß einfach nicht, was ich machen soll.“ Schnuppe legte mir eine Hand auf den Rücken und strich langsam darüber. „Wie auch immer du dich entscheidest, du sollst wissen, dass ich mit meinem Leben zufrieden bin. Natürlich wäre es schön, wenn du ein paar Mark mehr nach Hause bringen würdest und dann nach Feierabend nicht mehr los müsstest. Immerhin darfst du nicht vergessen, dass du auch älter wirst und etwas kürzer treten solltest. Andererseits dürfte es gerade jetzt nicht leicht sein deine Kollegen zu motivieren. Du musst dich nur einmal fragen, ob du wirklich so wenig Skrupel hast, um eine Brigade zu führen.“ Ich wusste, was Hilda damit meinte. Sie hatte genau das ausgesprochen, wovor ich am meisten zurückschreckte. Ich war kein Mensch, der andere führen konnte.

„Es ist mir egal, ob es eine Ehre ist zum Brigadier ernannt zu werden oder nicht. Ich werde ablehnen und damit basta!“ Obwohl sich Schnuppe große Mühe gab, sich nichts anmerken zu lassen, spürte ich, wie eine Last von ihr abfiel. „Du musst tun, was du für richtig hältst.“

Einige Wochen später wurde ich in das Büro des Parteisekretärs gebeten. Bernd war der Einzige mit dem ich, abgesehen von Hilda, über meine Vermutungen gesprochen hatte und doch wurde ich das Gefühl nicht los, dass mich meine Kollegen während der letzten Tage argwöhnisch beobachteten. Da ich keine schlafenden Hunde wecken wollte, ignorierte ich es.

„Guten Tag, Herr Mannsfeld,“ begrüßte mich der Genosse Parteisekretär. Otto Luttner saß in einem der anderen drehbaren Kunstledersessel daneben. Er wandte sich ebenfalls zu mir und erhob sich, um mich zu begrüßen. „Hallo Gunther, wie geht es dir?“, kam er freundlich lächelnd, mit ausgestreckter Hand auf mich zu. Der Genosse Parteisekretär bot mir den noch freien Drehsessel an und bestellte über die Sprechanlage Kaffee. „Sie trinken doch eine Tasse mit uns?“, fragte er abwartend. Ich hatte keinen Grund, seine Einladung auszuschlagen. Das Kneifen in meinem Magen hatte einen anderen Grund. Ich war nervös.

„Nun, wie mir der Genosse Luttner mitteilte, haben Sie ihn kürzlich zu einem Treffen der Brigadeführer begleitet. Da haben Sie ja schon mal einen kleinen Eindruck von der Arbeit eines Brigadiers bekommen. Wie ich hörte, ging es auf dieser Versammlung - sagen wir mal - etwas kontrovers zu. Was wir von der Partei durchaus begrüßen.“ Meine Gedanken dazu behielt ich lieber für mich. „Sie sehen also, mein lieber Herr Mannsfeld, unser System funktioniert besser, als es gewisse reaktionäre Kreise behaupten.“

Es klopfte. Seine weißhaarige Sekretärin brachte ein Tablett mit drei bereits eingeschenkten Tassen Kaffee herein und stellte es auf den runden Tisch, der den Mittelpunkt der kleinen Sitzecke bildete. Dann verließ sie den Raum genauso wortlos wie sie ihn betreten hatte. „Bitte, bedienen Sie sich,“ forderte uns der Parteisekretär auf, während er sich selber in den Drehsessel zurücklehnte und ein Päckchen F6 aus seiner Jackentasche hervorholte. „Rauchen Sie?“ Luttner und ich griffen zu. Nach einigen Minuten schwebte eine Wolke grauen Qualmes über der Sitzecke.

„Wie Sie sicherlich wissen, wird unser verehrter Genosse Luttner demnächst in den wohlverdienten Ruhestand gehen. Das heißt, dass seine Position als Brigadeführer neu zu besetzen wäre. Kollege Luttner hat sich in diesem Zusammenhang für Sie stark gemacht. Ihre Personalakte sagt nur das Beste über Sie aus und Ihr Einsatz für den Betrieb war stets vorbildlich.“ Er unterbrach sich kurz, um an seinem Kaffee zu nippen. Luttner rührte unterdessen schon den vierten Löffel Zucker in seine Tasse. Wahrscheinlich schmeckte ihm das braune Zeugs ebenso widerlich wie mir. Ich dachte an Hildas Worte: Wie auch immer du dich entscheidest, du sollst wissen, dass ich mit meinem Leben zufrieden bin .

„Es gibt da allerdings ein kleines Problem, verehrter Herr Mannsfeld,“ nahm der Genosse Parteisekretär das Gespräch wieder auf, indessen er sich bequem zurücklehnte. „Sie gehören bislang noch nicht der Partei an.“ Sein freundlicher Blick trug plötzlich etwas lauerndes in sich. „Aber das lässt sich ja ändern - nicht wahr?“ Für die Dauer einiger Wimpernschläge hatte ich an dem trocknen Kloß zu kämpfen, der sich in meinem Hals gebildet hatte. Luttner ließ irritiert den Kaffeelöffel sinken. Es schien, als habe er just in diesem Moment aufgegeben, die braune Brühe zu verfeinern.

Die Stirn des Genossen Parteisekretär krauste, sein Blick verfinsterte sich. „Nicht wahr?“, wiederholte er eindringlicher. Wie nur sollte ich dem Mann klar machen, dass ich keinen Wert auf die angebotene Position legte, ohne den Zorn der Partei auf mich zu ziehen? „Wie Sie sich ja wohl denken können, wäre es Ihrer Karriere eher zuträglich, wenn Sie der Partei beitreten würden.“ Seine Worte hingen wie ein Damoklesschwert über meinem Kopf. Ich hatte mir in den vergangenen Tagen einige Antworten zurechtgelegt, doch da wusste ich nicht, dass man mir auch eine Mitgliedschaft in der Partei nahe legen würde. Hatte ich nun überhaupt noch eine Wahl? Okay, wenn man Unauffälligkeit als Linientreue auslegt, konnte ich es nicht ändern, aber die Freiheit meiner Gedanken wollte ich mir nicht durch ein Parteiabzeichen nehmen lassen.

„Nein,“ presste ich zwischen den Lippen hervor. „Na also, ich wusste doch, dass Sie der geeignete Mann für uns sind.“ Die Miene des Genossen hellte sich wieder auf. Luttner atmete erleichtert aus. Ich schluckte den Rest des Kloßes hinunter, den ich noch immer in meinem Hals hatte und nahm einen zweiten Anlauf. „Ich fürchte, Sie haben mich missverstanden. Ich bin einfach nicht der Richtige für eine solche Aufgabe.“ Luttner ließ den Löffel fallen. „Das kann doch nicht dein Ernst sein,“ schrie er mich aufgeregt an. „Ich habe mich für dich stark gemacht und du fällst mir in den Rücken!“ „Es tut mir Leid, Otto, aber die Kollegen einsetzen, sie zurechtweisen, wenn sie Unsinn machen und obendrein so viel Verantwortung tragen...“ Ich winkte ab. „Das ist nichts für mich. Ich möchte einfach nur meiner Arbeit nachgehen und ansonsten meine Ruhe haben.“

Den Genossen Parteisekretär hielt es nicht länger in seinem Drehstuhl. Er war entsetzt aufgesprungen und durchmaß mit hektischen Schritten sein Büro. „Ein solches Verhalten ist mir ja noch nie unter gekommen,“ hörte ich ihn zischen. Genosse Luttner beschrieb Sie mir als couragierten Mitarbeiter und Verfechter unserer sozialistischen Ideale und nun dies.“ Er schüttelte verständnislos den Kopf. „Wenn dies ihr letztes Wort war, Kollege Mannsfeld, ist es wohl besser, wenn Sie jetzt wieder an Ihren Arbeitsplatz zurückkehren.“ Ich erhob mich, nickte mit dem Kopf und verließ schweigend das Büro. Auf dem Gang zum Treppenhaus hielt ich kurz inne und schloss für einen Augenblick die Augen. Heftiges Herzklopfen drohte mir förmlich den Brustkorb zu sprengen. Zweifel kamen in mir auf. Hoffentlich hatte ich wirklich das Richtige getan.