Detektei Lessing

 

Grenzenlose Gier

 

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Es war noch früh am Morgen. Die Uhrzeit war gerade auf die ungeliebte Sommerzeit umgestellt worden. Mühsam quälte sich die Zeitungsausträgerin Babette Peters mit ihrem Fahrrad die Fümmelser Straße hinauf. Sie fluchte innerlich, weil ihr der Wind ungestüm entgegenblies und den Regen immer wieder in das Gesicht peitschte.

Sie fluchte nicht allein des Wetters wegen, im Grunde war dies ihr geringstes Problem, sie fluchte, weil ihr das Schicksal ein ums andere Mal übel mitgespielt hatte. So sehr sie sich auch bemühte, die täglichen Herausforderungen des Lebens zu meistern, so sehr schien das Pech an ihr haften zu bleiben.

Babette dachte an ihre gescheiterte Ehe und sie dachte an Tobias, ihren zehnjährigen Sohn, der seit seinem dritten Lebensjahr an einem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom litt. Sie stutzte, eigentlich war sie es, die darunter litt. Als Tobi vier Jahre alt war und allmählich klar wurde, was seine Krankheit eigentlich mit sich brachte, hielt es Robert nicht mehr aus und er packte seine Koffer, um sich, wie er sagte, eine kurze Auszeit zu nehmen. Er räumte das Konto ab, kündigte seinen Job und lies sie auf einem Berg von Schulden sitzen. Anfangs glaubte sie, Robert wäre etwas zugestoßen, doch mit jedem Tag der ohne eine Nachricht von ihm verging, erlosch auch die Hoffnung auf seine Rückkehr und der Glaube daran es könnte alles wieder wie früher werden.

Mit Robert war das Thema Männer gänzlich für sie erledigt. Sie hatte lange gebraucht, bis sie ihren Weg gefunden hatte, aber heute war sie stolz darauf, es allein geschafft zu haben. Auch wenn dieser Weg, so wie an diesem Morgen bei Wind und Wetter sehr beschwerlich war. Umso energischer trat die gelernte Friseuse nun in die Pedale, denn sie wollte wieder zu Hause sein, bevor Tobias aufwachte.

Dort, wo die Straße ‚Am Brüggeberge‘ wegen eines seichten Baches einen Schlenker macht, stellte sie wie gewohnt das Fahrrad mit dem kleinen Anhänger ab, griff sich einige Zeitungen und begab sich zum ersten der drei Häuser, die sie von dieser Stelle aus bediente. Als sie den Eingang des zweiten Gebäudes ansteuerte, blitzte im grellen Lichtschein ihrer Taschenlampe plötzlich etwas im Gebüsch auf. Ihre Neugier trieb sie an, genauer nachzusehen. Mit jedem Schritt, dem sie sich dem Ufer des Baches näherte, schälten sich hinter einem Busch mehr und mehr die Konturen eines menschlichen Körpers aus der Dunkelheit, bis sie letztendlich auf einen leblosen Mann starrte.

Bevor sie sich zu ihm hinunterbückte, sah sie sich nach allen Seiten um, doch weit und breit war weder etwas zu sehen noch etwas zu hören. „Hallo, was ist mit Ihnen? Brauchen Sie Hilfe?“ Doch der Mann reagierte nicht. Zögerlich ging sie in die Knie, streckte ihre Hand aus und stupste ihn an. „Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“ Auch jetzt rührte sich der Mann nicht. Zitternd suchte sie nach seinem Puls, spürte ihn jedoch nicht. Sie sah das viele Blut und wich entsetzt zurück. Panik machte sich in ihr breit, gewann mehr und mehr die Oberhand, ließ kaum noch einen logischen Gedanken zu. Ihr eigener Pulsschlag stieg mit der Erkenntnis einen Toten gefunden zu haben. Bestürzt griff sie in ihre Tasche, zog das Handy heraus und wählte die Notrufnummer der Polizei.

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis der erste Streifenwagen eintraf. Fast zeitgleich stoppte auch ein Rettungswagen. „Na dann zeigen Sie uns doch mal den Toten“, grinste einer der Beamten. Offenbar glaubte er eher an eine Schnapsleiche als an ein Verbrechen. „Gleich da vorn im Gebüsch“, deutete Babette mit ihrem ausgestreckten Arm auf die Stelle an der sie den vermeintlich Toten gefunden hatte. Polizeihauptmeister Gero Blank und sein Kollege Justus Kramer begaben sich an das Ufer des Baches und staunten nicht schlecht, als sie den leblosen Körper im Strauchwerk eines Busches erblickten. Als sich der dienstältere zu ihm hinunterbeugte und eine klaffende Platzwunde am Hinterkopf des Mannes entdeckte, war auch ihm klar, dass es sich nicht um einen Betrunkenen handelte.

Die eilig herbeigewinkten Rettungssanitäter erkannten den Ernst der Lage und orderten einen Notarzt zum Einsatzort. Während sie mit den lebenserhaltenden Maßnahmen begannen, sperrten die Polizeibeamten den Fundort des Verletzten weiträumig ab und forderten ihrerseits Unterstützung durch den Kriminaldauerdienst an. Wenn es sich tatsächlich um ein Verbrechen handelte, mussten eventuell vorhandene Spuren, die zur Aufklärung der Tat beitragen konnten, gesichert werden.

Bizarr anmutendes Blaulichtgewitter zerriss die Morgendämmerung, tauchte tief über die Straße wabernde Regenwolken immer wieder, nur für die Dauer eines Wimpernschlags, in ein gespenstisches Licht. Ein Licht, welches die Anwohner aus ihren Betten schreckte und an den Ort des Geschehens lockte. Sie sahen, wie es Notarzt und Sanitätern gelang, den Unbekannten zu stabilisieren und ihn im RTW abzutransportieren. Ihre Neugier steigerte sich weiter, als Kriminalpolizei und Spurensicherung eintrafen und ihre Ermittlungen aufnahmen.

„Oberkommissar Sinner“, stellte sich der ermittelnde Beamte vor. „Mein Kollege, Kommissar Schubert. Sie fanden den Mann also.“ „Ja, ich trage hier morgens die Zeitungen aus. Ich habe ihn nur durch Zufall entdeckt. Irgendetwas blitzte im Schein meiner Taschenlampe auf und da habe ich genauer hingesehen.“ „Sie haben dem Mann aller Wahrscheinlichkeit nach das Leben gerettet“, würdigte Oberkommissar Sinner das Verhalten der Zeugin. „Fiel Ihnen sonst irgendetwas auf? Eine Person, die sich entfernte, ein Auto, was davonfuhr, oder kam Ihnen etwas verdächtig vor?“ Babette Peters überlegte fieberhaft, schüttelte jedoch mit dem nächsten Atemzug den Kopf. „Nein, da war nichts.“ Schubert reichte ihr seine Visitenkarte. „Falls Ihnen doch noch etwas einfällt, lassen Sie es mich bitte wissen. Ansonsten darf ich Sie bitten, heute Nachmittag in die Polizeidienststelle an der ‚Lindener Straße‘ zu kommen, um Ihre Aussage zu Protokoll zu geben.“ „Kann ich dann jetzt gehen?“ „Wenn Ihre Personalien bereits durch einen Kollegen aufgenommen wurden, steht dem nichts im Wege.“ Die Zeitungsausträgerin nickte. „Gut, dann also bis heute Nachmittag.“

„Was meinst du, handelt es sich um einen Raubüberfall?“ „Es sieht zumindest danach aus. Der Kollege Blank fand weder eine Geldbörse noch einen Autoschlüssel bei dem Verletzten. Die Art seiner Verletzung lässt laut Notarzt auf einen Schlag mit einem stumpfen Gegenstand schließen. Da sich die Wunde am Hinterkopf befindet, deutet alles darauf hin, dass ihm der Schlag rücklings beigebracht wurde.“ „Wenn er es nicht schaffen sollte, haben wir den klassischen Raubmord“, sinnierte Schubert. „Nun, so weit sind wir ja noch nicht.“ „Ich frage mich die ganze Zeit, was der Mann hier wollte. Der muss doch aus einem der angrenzenden Häuser gekommen sein“, überlegte Schubert weiter. „Das würde zumindest Sinn machen“, pflichtete ihm Sinner bei. „Dann wollen wir doch mal hören, was die werten Kollegen bislang herausfanden.“

„Wir haben Fotos vom Opfer gemacht und sie den Leuten gezeigt, die sich nach und nach hier einfanden“, erklärte Blank. „Leider sind die Fotos aus der einzig möglichen Perspektive nicht so gut geworden. Zumindest erkannte niemand das Opfer.“ Polizeihauptmeister Blank zückte die Dienstkamera und zeigte Sinner die erstellten Fotos. „Die sind wirklich nicht so pralle, aber da der Verletzte bereits vor unserem Eintreffen ins Krankenhaus transportiert wurde, sind sie besser als nichts.“

„Okay, wir brauchen Ausdrucke von den Fotos, um sie den Anwohnern zu zeigen. Bitte kümmern Sie sich darum, Schubert. Ich werde inzwischen ins Krankenhaus fahren und sehen, ob ich das Opfer schon befragen kann.“ „Können wir dann Feierabend machen? Unsere Nachtschicht ist längst vorbei“, erkundigte sich Blank. „Was? Ach so, ja natürlich.“

Es war bereits die dritte Haustür, an der Kommissar Schubert nun schon sein Glück versuchte. Endlich öffnete jemand und fragte nach dem Grund für seinen Besuch. Der Beamte zeigte seinen Dienstausweis und fragte, ob der jungen Frau etwas aufgefallen war. Die ungeduldigen Schreie eines Babys ließen der Befragten keine Ruhe. „Ach bitte, kommen Sie doch herein, Tristan zeigt leider wenig Verständnis, wenn er sein Frühstück mit Unterbrechungen bekommt.“ „Ja natürlich, es ist doch schön, wenn der Kleine einen gesegneten Appetit hat.“

Schubert folgte der jungen Mutter bis ins Wohnzimmer, wo Tristan in seinem Laufställchen zwischengeparkt war. „Ich hoffe, es stört Sie nicht, wenn ich weiter stille.“ „Äh, ich könnte auch später…“, genierte sich der Kommissar. „Ist doch alles ganz normal, oder?“ Ehe sich Schubert versah, befand er sich mitten in der Raubtierfütterung. „Äh, ja natürlich.“ Zurückhaltend wie er nun einmal war, suchten seine Blicke nach anderen Fixpunkten, um dennoch immer wieder zu ihrem Ursprungsort zurückzukehren.

„In den frühen Morgenstunden des heutigen Tages geschah unweit Ihres Hauses ein Raubüberfall.“ Schubert stutzte und ergänzte seine Einlassung. „Zumindest gehen wir nach derzeitigem Ermittlungsstand davon aus.“ Tristan schmatzte genüsslich. „Das ist ja entsetzlich! Wer wurde denn überfallen?“ „Tja, das wüssten wir auch gern. Der Mann hatte leider keinerlei Papiere mehr bei sich. Ich hätte da allerdings ein Foto, welches ich Ihnen gern zeigen würde.“ „Dann lassen Sie mal sehen.“ „Ich möchte nicht stören.“ „Nur zu, im Gegensatz zu Tristan beiße ich nicht.“

Schubert bekam knallrote Ohren. „Also wenn Sie dann mal schauen wollen“, sagte er, während er neben sie trat und sich krampfhaft auf das Foto konzentrierte. „Nein, den habe ich hier noch nie gesehen.“ „Was ist mit Ihrem Ehemann, könnte der etwas gesehen haben?“ Jennifer Mahler schürzte die Lippen. „Schon möglich, Sascha verlässt sehr zeitig das Haus, um zur Arbeit zu fahren. Er kommt allerdings erst übermorgen wieder heim.“ „Montage?“, hakte Schubert nach. „Nein, Sascha ist Vertreter im Außendienst.“ „Was ist mit Ihren Nachbarn?“, erkundigte sich der Kommissar. „Sie waren bislang die einzige, die ich antraf.“

„So mein Schatz, das war es dann fürs Erste“, ging die junge Mutter zunächst nicht auf Schuberts Frage ein, zog sich ohne viel Federlesen wieder an und legte den Säugling an ihre Schulter. „Alles sehr fleißige Leute hier“, entgegnete sie schließlich, während sie Tristan behutsam auf den Rücken klopfte. „Die meisten sind tagsüber arbeiten. Mehr als eine Handvoll Nachbarn sind um diese Zeit nicht daheim. Vielleicht in der ‚Untere Dorfstraße‘, da wohnen viele Rentner.“ „Danke für den Tipp.“ „Schon merkwürdig, aber irgendwo muss der Mann ja hergekommen sein.“ Der Kommissar erhob sich, Tristan tat ein stimmgewaltiges Bäuerchen und kotzte seiner Mama freudig glucksend in das Dekolleté. „Ich finde allein hinaus“, ergriff Schubert die Flucht.

Nachdem sich der Kommissar einigermaßen von dem Schreck erholt hatte, schickte er sich an, auch in der weitläufigeren Nachbarschaft nachzufragen. Doch überall dort, wo er jemanden antraf hörte er das gleiche. Niemand kannte den Unbekannten, oder hatte ihn auch nur gesehen. Da die Kollegen von der Spurensicherung außer einigen Schuhabdrücken und einer Zigarettenkippe am Fundort nichts gefunden hatten, was eine schnelle Aufklärung des Falles erwarten ließ, kehrte der Kommissar noch während des Vormittags in die Dienststelle zurück.

„Kann es sein, dass du ebenso erfolglos warst wie ich?“, wähnte Sinner bereits aufgrund des Gesichtsausdrucks seines Kollegen. „Ich fahre nachher noch mal nach Fümmelse. Die meisten Nachbarn waren noch auf Arbeit. Wie war es bei dir?“ „Unser Unbekannter wurde operiert. Der Aussage des behandelnden Arztes nach erlitt das Opfer einen Schädelbruch. Ein paar Minuten später und wir hätten jetzt tatsächlich einen Mordfall zu klären. Die Ärzte haben ihn in ein künstliches Koma gelegt. Es ist keineswegs sicher, dass er wieder aufwacht. Falls sich Gehirnwasser bildet und sich ein Aneurysma bildet, kann dies irreparabel Schäden hervorrufen. Wenn er wieder aufwacht, kann es gut sein, dass er sich an nichts erinnern kann.“

Schubert lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück und holte tief Luft um sie anschließend wieder geräuschvoll auszustoßen. „Zumindest können wir davon ausgehen, dass unser Unbekannter nicht dort wohnt, wo wir ihn auffanden. Was ist mit der Zigarettenkippe? Konnte die Spusi daran DNA fähiges Material sichern?“ Oberkommissar Sinner zuckte mit den Achseln. „Läuft noch.“ „Was ist mit dem Tatwerkzeug?“ „Bei der Operation wurde Baumrinde in der Wunde gefunden“, erklärte Sinner. „Dann ist er also mit einem Knüppel niedergeschlagen worden“, schlussfolgerte Schubert. „Aller Wahrscheinlichkeit nach. Allerdings wurde die Tatwaffe nicht gefunden.“ „Wäre ich der Täter, hätte ich das Teil in den angrenzenden Bach geworfen. Ist denn schon sicher, dass der Fundort auch der Tatort ist?“, erkundigte sich Schubert. „Derzeit deutet zumindest alles darauf hin.“

Schubert verschränkte nachdenklich die Hände im Nacken. „Ich frage mich, was den Mann zu dieser Zeit an diesen Ort trieb.“ Im nächsten Moment hatte er die junge Frau wieder vor Augen. Wenn die Szene mit ihrem Baby auch völlig natürlich war, so mutete sie doch etwas skurril auf ihn. „Vielleicht haben wir es ja mit einem Liebhaber zu tun, der das Haus seiner Geliebten, von deren Nachbarn ungesehen, verlassen wollte?“, lächelte Schubert süffisant. „Gut möglich“, stimmte Sinner zu. „Vielleicht handelt es sich aber auch um einen Zeugen, der etwas beobachtete.“ „Von dieser Warte aus habe ich es noch gar nicht gesehen“, räumte der Kommissar nachdenklich ein. „Solange wir nicht wissen, mit wem wir es zu tun haben, können wir nichts ausschließen“, gab Sinner zu bedenken. „Wenn man es genau nimmt, könnte unser Unbekannter selbst ein Täter sein.“

Schubert verzog ungläubig das Gesicht. „Na ja, das kann ich mir eher weniger vorstellen. Ich bleibe da lieber bei meiner Idee des Liebhabers. Klingt irgendwie romantischer.“ Sinner verdrehte die Augen. „Wann hatten wir es in unserem Job jemals mit Romantik zu tun?“ Schubert nickte seufzend. „Wie auch immer, ich schlage vor, wir fahren jetzt zum Asia Mann, stärken uns dort und fahren dann gemeinsam nach Fümmelse, um die restlichen Nachbarn zu befragen.“ „Deine Ideen sind die besten.“ „Ich weiß, Kai, deswegen bin ich Chef und du Harry.“ „Ich habe verstanden“, grinste Schubert. „Dann fahre ich schon mal den Wagen vor.“

-2-

„Also Trude, wirklich. Ich kann Ihr Gehalt doch nicht jedes Mal erhöhen, wenn wir einen Fall erfolgreich abgeschlossen haben.“ „Aber Herr Stellmacher hat doch sogar noch eine ordentliche Prämie draufgelegt“, ließ sich meine Putzsekretärin nicht beirren. „Ich weiß nicht, ob es Sinn macht, wenn die Finanzbearbeitung der Detektei durch Ihre Hände geht“, seufzte ich. „Eine Gehaltserhöhung kommt nicht in Frage, aber in Anbetracht der Tatsache, dass Sie einen nicht unerheblichen Anteil an der Aufklärung des Falles hatten, biete ich Ihnen eine einmalige Bonuszahlung an.“ „Wie viel?“, reduzierte sich Trudes Konversation auf das Wesentliche. „Nun ja, ich würde sagen…“ „Das doppelte!“, schnitt mir die gute Seele das Wort ab, „Aber Sie wissen doch noch gar nicht, welche Summe ich nennen wollte.“ „Das macht nichts, Chef. Davon das Doppelte.“ Diese Diskussion lief in eine für mich sehr kostspielige Richtung. „Also schön, sagen wir zweihundert.“ „Und für Axel dieselbe Summe!“ „Sie machen mich arm“, seufzte ich angeschlagen. „Also schön, aber dann möchte ich mindestens ein halbes Jahr nichts mehr in dieser Hinsicht von Ihnen hören.“ „Gemacht!“ Ein Händedruck besiegelte den Deal.

„So, meine Liebe und nun zum aktuellen Tagesgeschehen. Wie weit sind Sie bezüglich der Einbruchsserie gekommen? Hat sich die Versicherung endlich gemeldet?“ „Ich habe alle in Frage kommenden Einbrüche in Thiede und Steterburg bezüglich etwaiger Gemeinsamkeiten verglichen. Außer, dass sich die Tatorte in der Nähe zur Autobahn befinden und sich die Opfer zur fraglichen Zeit außer Haus befanden, konnte ich kein spezielles Schema erkennen. Die Geschädigten bevorzugen größtenteils unterschiedliche Versicherungen, beauftragen, abgesehen vom Schornstein-feger, verschiedene Handwerksfirmen und gehen ungleichen Freizeitaktivitäten nach.“ „Das alles lässt darauf schließen, dass es sich bei den Tätern aller Wahrscheinlichkeit nach um eine organisierte Einbrecherbande handelt“, mutmaßte ich. „Die fallen wie die Heuschrecken über die angrenzende Autobahn ein, plündern alles was nicht niet- und nagelfest ist und verlassen das gebrandschatzte Land ebenso schnell wieder, wie sie gekommen sind.“

„Das alles muss doch richtig gut ausbaldowert sein“, merkte Trude nachdenklich an. „Das ist es auch“, bestätigte ich die Schlussfolgerung meiner Putzsekretärin. „Wochen bevor die eigentlichen Einbrecher kommen, wird eine Vorhut geschickt, die über Tage hinweg das Verhalten ihrer potentiellen Opfer bis ins kleinste Detail auskundschaften. Die erstellen eine Liste, nach der sich die Einbruchstrupps richten.“ „Das ist irgendwie gruselig“, schüttelte sich Trude. „Und unsere Polizei ist machtlos.“ „Nicht ganz. Zurzeit wird gerade ein Computerprogramm getestet, das in der Lage sein soll, potentielle Einbruchsorte bereits vor Durchführung der Tat zu benennen.“ Trude sah mich ungläubig an. „Na klar und Bea setzt ihren nächsten Haufen direkt vor den Eingang zum Museum.“ „Auch wenn es sich utopisch anhört, ich habe Sie da nicht verulkt. Es gibt tatsächlich ein solches Softwareprogramm. Allerdings wird es wohl noch eine Weile dauern, bis dies ein zuverlässiges Mittel gegen Einbrüche sein wird.“ „Man stelle sich mal vor, die Polizei ist schon vor Ort und empfängt die Gangster mit Handschellen.“

„Wie auch immer, solange uns die Versicherung die Bilder für den Schmuck nicht übermittelt, können wir die Kostbarkeiten auch nicht wiederbeschaffen.“ Trude lächelte nachdenklich. „Das Vertrauen in die Fähigkeiten der Polizei hält sich seitens der Versicherungen offenbar in Grenzen.“ „So dürfen Sie das nicht sehen, Trude. Unsere Ermittlungen konzentrieren sich eher auf den Verbleib des Diebesgutes, die Polizei ist eher bemüht, die Straftat aufzuklären. Hinzu kommt die Art und Weise, in der ermittelt wird. Die Polizei muss das Gesetz penibel einhalten, als privater Ermittler kann man den einen oder anderen Paragraphen schon mal etwas dehnen.“ „Im Grunde gar nicht so dumm“, schürzte Trude die Lippen. „Wenn die Fotos an alle Detekteien gehen, erhöht sich die Zahl der Ermittler und zahlen müssen sie ja eh nur für die Wiederbeschaffung des Schmucks.“ „Genauso ist es leider.“

„Apropos Bea. Könnten Sie sich durchringen, unseren Liebling heute Abend zu beaufsichtigen? Miriam hat Theaterkarten besorgt.“ „Was wird denn gegeben?“ Ich sah Trude verständnislos an. „Na wie immer, eine große Dose.“ Meine Putzsekretärin schüttelte den Kopf. „Ich meinte, was im Theater gezeigt wird.“ „Sagen Sie das doch gleich. Soviel ich weiß, spielen sie eine Komödie.“ „Oh wie schön, ich liebe das Theater.“ „Das wusste ich ja gar nicht.“ „Aber ja, ich habe früher keine Vorstellung ausgelassen.“ Ich staunte nicht schlecht. „Wie haben Sie sich das als Putze leisten können?“ Trude stemmte die Fäuste in die Hüften. „Erstens heißt es nicht Putze, sondern Reinigungskraft und zweitens kann man als Garderobiere schon mal einen Blick riskieren.“ „Offenbar gibt es so manche Episode in Ihrem Leben, von der Sie mir bislang nichts erzählten.“

Eine Tatsache, an der ich ganz sicher nichts ändern wollte. „Was ist, kümmern Sie sich um Bea?“ Trude seufzte. „Aber nur, weil ich nicht daran schuld sein will, wenn Sie sich mit Frau Herz wieder wegen Bea in die Flicken kriegen.“ „Ich fürchte, Sie haben da nicht so ganz Unrecht, meine Liebe.“ Auch wenn sich das Verständnis meiner Liebsten für die Situation etwas gebessert hatte, war ihr Vorschlag, Bea wieder ins Tierheim zu geben, noch immer nicht vom Tisch. Nach dem Tod von Edeltraut Stark konnte ich den Hund nicht einfach abschieben. Ganz zu schweigen von meinen Gefühlen zu Bea, war ich es ihr schlicht weg schuldig, mich um sie zu kümmern. Immerhin hatte sie mich aus dem Koma erweckt.

„Haben Sie sich schon überlegt, ob Sie in die Twelkenmühle ziehen?“ „Ehrlich gesagt, schiebe ich die Entscheidung ein wenig vor mir her. Dieses Erbe ist eine Lebensaufgabe. Es bräuchte einen Verwalter, der handwerklich geschickt ist und Freude daran hätte, das Anwesen nach und nach wieder in Schuss zu bringen. Einerseits möchte ich das Vermächtnis von Frau Stark in Ehren halten, andererseits fürchte ich, dass es mir allein über den Kopf wachsen würde.“ „Wieso allein?“ „Miriam ist ein Stadtmensch. Sie würde einen Umzug nach Schöppenstedt nicht billigen.“

Trude schien angestrengt nachzudenken. „Ehrlich gesagt kann ich mir Frau Herz auch nicht so recht auf dem Lande vorstellen.“ „Tja, das Leben geht oft seltsame Wege. Wer hätte gedacht, dass ich einmal eine alte Mühle erben würde.“ „Vielleicht halten Sie mich ja für verrückt, aber möglicherweise war dieses Erbe ja ein Wink des Schicksals. Weshalb machen Sie aus dem Anwesen nicht ein Sozialprojekt für Obdachlose?“ Ich sah Trude an und hatte das Gefühl, dass diese Idee genau das war, was ich tief in meinem Innersten wollte. „Sie sind großartig!“ „Wie hoch, sagten Sie, war doch gleich die Prämie, die Sie mir zahlen wollten?“

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Seit dem vermeintlichen Raubüberfall in Fümmelse war mehr als eine Woche vergangen. Die Kommissare Schubert und Sinner waren von Haus zu Haus gegangen, hatten jeden Anwohner befragt und jede nur erdenkliche Variante durchgespielt. Ihre Bemühungen waren jedoch nicht von Erfolg gekrönt. Das Opfer selbst lag nach wie vor in einem Heilkoma und der Druck durch die Öffentlichkeit und letztendlich durch den verantwortlichen Staatsanwalt wurde zusehends größer. In dieser Situation war der Anruf des behandelnden Arztes aus dem Krankenhaus fast eine Erlösung für die Kommissare.

„Endlich!“, atmete Sinner auf, nachdem er das Telefonat mit dem Oberarzt beendet hatte. „Sie holen ihn jetzt aus dem Koma. Wenn wir wollen, können wir dabei sein.“ „Na dann nichts wie hin“, griff Schubert nach seiner Jacke. „Gemach, gemach, verehrter Kollege. Es kann sich noch über Stunden hinziehen, ehe der Patient wach und ansprechbar ist. Also nichts überstürzen, er läuft uns schon nicht davon.“

Wenig später trafen die Kommissare im Wolfenbütteler Klinikum ein. Anders als erwartet, war der Unbekannte bereits bei Bewusstsein. Erst nachdem die Kommissare dem Oberarzt versprochen hatten, äußerst sensibel zu sein und ihre Befragung auf wenige Minuten zu beschränken, durften sie das Krankenzimmer betreten. Sinner zeigte seinen Dienstausweis und stellte zunächst seinen Kollegen und dann sich selbst vor.

„Sie wurden offenbar das Opfer eines Raubüberfalls. Können Sie sich an irgendetwas erinnern?“ Der Unbekannte versuchte sich zu konzentrieren, doch offenbar litt er an starken Schmerzen. „Ich habe nicht die geringste Ahnung, was vorgefallen ist“, erklärte der Mann im Bett. „Was ist mit Ihrem Namen?“, hakte Schubert nach. „Können Sie sich wenigstens an den erinnern?“ Der Unbekannte überlegte angestrengt. „In meinem Kopf ist irgendwie alles leer.“ „Das ist ganz normal“, beruhigte ihn der Oberarzt. „Nach einem solch heftigen Schlag auf den Hinterkopf ist eine Amnesie keineswegs ungewöhnlich. Aber machen Sie sich keine Sorgen, in der Regel verschwindet sie nach einigen Tagen ganz von allein.“

„Also gut, das macht den Kohl jetzt auch nicht mehr fett. Am besten informieren Sie uns, sobald eine Veränderung eintritt.“ „Tja, meine Herren, ich hätte Ihnen gern etwas Erfreulicheres gesagt, aber Sie sehen ja selbst. Auch in der modernen Medizin gibt es immer noch Umstände und Begebenheiten, die uns Rätsel aufgeben.“ „Das ist bei uns im Prinzip nicht anders. Immerhin wurde die Technik in der Forensik und der Spurensicherung in den letzten Jahren um einige wichtige Details weiterentwickelt“, erklärte Sinner. „Leider nutzen die Täter mittlerweile ebenfalls jede technische Neuerung“, gab Schubert zu bedenken. „Es ist im Grunde ein gegenseitiges Wettrüsten.“

„Der Gesundheitszustand des Opfers lässt leider auch für die nächsten Tage keine entscheidende Veränderung erwarten“, schilderte der Oberkommissar dem Oberstaatsanwalt den eher bescheidenen Stand der Ermittlungen. „Das ist alles andere als befriedigend, Herr Sinner. Die Öffentlichkeit erwartet von uns eine zügige Aufklärung des Falles.“ „Dann sollten wir genau diese Öffentlichkeit nutzen, um zumindest die Identität des Opfers zu klären.“ Van der Waldt zog seine Lesebrille ab und klappte die Bügel nachdenklich zusammen, bevor er das Gestell vor sich auf dem Schreibtisch ablegte. „Was haben Sie sich vorgestellt?“

Das war die Chance des Oberkommissars. Ungewöhnliche Fälle und als solcher erschien ihm der Raubüberfall am Brüggeberge, erforderten ungewöhnliche Maßnahmen, um sie zu klären. Immerhin war Sinner bereits seit einigen Jahren Oberkommissar. Ein solcher Fall konnte ihm dabei behilflich sein, auf der Karriereleiter ein gutes Stück nach oben zu kommen.

„Die Kollegen in Hannover waren kürzlich sehr erfolgreich bei einigen Personenfahndungen, die sie über die sozialen Netzwerke veröffentlichten.“ „Sie wollen die Identität des Mannes über Facebook ermitteln?“, schien Van der Waldt der Idee eher skeptisch gegenüberzustehen. „Facebook, Twitter und vielleicht auch Instagram? Warum nicht? Wenn es der Sache dient.“ „Ich möchte, dass Sie zunächst alle anderen Möglichkeiten ausschöpfen?“ „Wir haben sein Foto durch die Gesichtserkennung gejagt, Vermisstenlisten gecheckt und eine erweiterte Abfrage über Inpol veranlasst. Alles vergebens.“ Der Oberstaatsanwalt hob die Brauen. „Vielleicht ist dies ja der Weg in die Zukunft, aber er sollte stets das letzte Mittel bleiben. Bitte schöpfen Sie zunächst alle herkömmlichen Mittel aus.“ Sinner sprang auf und verabschiedete sich von Van der Waldt. „Ich halte es ohnehin für sinnvoll, wenn Sie vorher die Kollegen in Hannover kontaktieren. Vielleicht können Sie deren Erfahrungen nutzen.“ „Sie können sich voll und ganz auf mich verlassen, Herr Oberstaatsanwalt.“

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„Was nutzt es, wenn ich lebe, aber nicht weiß, wer ich bin?“ „Sie dürfen sich nicht unter Druck setzen“, entgegnete die Krankenschwester. „Sie müssen Geduld haben. Über kurz oder lang werden Sie sich wieder erinnern und dann wird sich auch Ihre Identität klären.“ „Und was ist, wenn sich dann herausstellt, dass ich etwas Schreckliches getan habe? Der Kommissar sprach von fremden Blut, welches an meiner Hose gefunden wurde.“ „Sie werden sehen, es wird eine ganz einfache Erklärung dafür geben“, beruhigte ihn die Krankenschwester. „Jetzt stecken Sie erst einmal alle Energie in Ihre Heilung, alles andere wird sich finden. Vergessen Sie nicht, dass Ihr Leben am seidenen Faden hing. Wenn Sie die Zeitungsausträgerin nicht gefunden hätte, gäbe es Sie heute nicht mehr.“

Der Unbekannte seufzte. „Sie haben ja Recht, ich darf nicht undankbar sein. Sowie ich wieder fit bin, werde ich mich bei der Frau bedanken.“ „Ich finde, das ist eine gute Idee.“ „Und bei Ihnen möchte ich mich auch bedanken. Es ist gut, dass Sie sich die Zeit für mich genommen und mir zugehört haben.“ „Das habe ich gern getan, aber nun muss ich Sie leider wieder verlassen. Die nächsten Patienten warten schon.“ „Schauen Sie nachher noch mal herein, Frau Rabe?“ „Ich versuche es, aber ich kann es nicht versprechen“, entgegnete die Krankenschwester. Der Patient sah der jungen Frau nach, als sie den Raum verließ. Er wusste nicht, wer und auch nicht, was er war, aber er wusste, dass er Sonja Rabe mochte und dass er sich zu ihr hingezogen fühlte. Da er selber keinen Ring trug, ging er davon aus, von niemandem vermisst zu werden.

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Für manchen mag es etwas ganz Besonderes sein, wenn er sich in Schlips und Kragen zwängt, um den Abend in edler Gesellschaft zu verbringen. Für mich ist es schlicht der Gang nach Canossa. Ich lud diese Last auf mich, um meiner Liebsten meine Opferbereitschaft zu demonstrieren. Bereits im Foyer wurde mir vor Augen geführt, dass Kleider eben keine Leute machen. Miriams Freunde und Bekannte aus der Wolfenbütteler Schickeria ließen keinen Zweifel daran, dass ich trotz Anzug keiner von ihnen war. Wollte ich auch gar nicht. Diese Leute waren nicht meine Welt und so sehr ich mich auch bemühte, ich passte einfach nicht in jene versnoppt, dekadente Gesellschaft.

Der dritte Gong war das Zeichen, nun endlich die Sektgläser zu leeren, die letzten unsinnigen Gespräche einzustellen und die Plätze einzunehmen. Während Miriam freie Sicht auf die Bühne hatte, nistete auf dem Platz vor mir ein Fasan. „Pardon, gnädige Frau, würde es Ihnen etwas ausmachen, für die Dauer der Veranstaltung den Hut abzunehmen?“ Die Dame reagierte nicht einmal. Im nächsten Moment wurde die stilvolle Beleuchtung des Theatersaals heruntergedimmt, der Fasan blieb, wo er war und ich schloss die Augen. Was sollte ich auch machen, von dem, was auf der Bühne geschah, bekam ich schließlich so gut wie nichts mit.

In der Pause verließ alles, was Rang und Namen hatte, den Saal, um sich mit dem Sektglas in der Hand gegenseitig zu beweihräuchern. Es erfordert einiges an Übung, um genau im richtigen Moment über Belangloses oder schlechte Witze mitzulachen. Wie anstrengend es sein kann, eine Person zu spielen, mit der man im Grunde so rein gar nichts gemein hat, wird einem erst dann so richtig bewusst, wenn sich das Spiel über Stunden hinzieht. Meine Hochachtung all den Schauspielern, die dies tagtäglich auf der Bühne in Szene setzen.

Nach der Pause wurde es interessanter. Der Fasan hatte allem Anschein nach zu tief ins Sektglas geschaut. Der Kopf der verehrten Dame hing nun zur Seite und der Fasan mit ihm. Der Blick auf die Bühne war nun endlich ungetrübt. Somit konnte ich zumindest den zweiten Teil eines wirklich guten Schauspiels genießen. Entgegen meiner Befürchtung lehnte Miriam die Einladung einiger ihrer versnobten Freunde ab, nach dem Theater noch irgendwo auf einen Absacker einzukehren. Offenbar hatte ich mein Stück weniger gut gespielt, als ich dachte. Wie sonst hätte sie bemerken können, wie unwohl ich mich in der Gesellschaft ihrer Freunde fühlte.

Entgegen unserer Gewohnheiten fuhren wir zu Miriam, wo wir uns mit einer Flasche alkoholfreies Bier auf dem Balkon niederließen. „Was ist los, Leopold? Hat dir das Stück nicht gefallen?“ „Du weißt, dass es das nicht war“, entgegnete ich ehrlich. „Ja, ich weiß. Es waren die Leute, mit denen wir im Theater zusammenstanden, nicht wahr?“ „Sorry, aber ich kann mit diesen Leuten nichts anfangen.“ Miriam sah mir tief in die Augen. „Sie müssen nicht zu deinen Freunden werden, aber sie gehören nun einmal zu meinem Leben.“ „Ich weiß nicht, ob ich diesbezüglich deine Erwartungen erfüllen kann. Es sind die Heucheleien und die Lügen, die sie im Grunde ständig von sich geben.“ „Ist unser Leben nicht eine einzige Lüge?“ „Es wird nicht besser, wenn man es so laufen lässt.“

„Apropos laufen lassen. Du wolltest dir wegen Bea und der Twelkenmühle Gedanken machen“, brachte Miriam unser Gespräch auf zwei Themen, die uns bereits seit einigen Wochen beschäftigten. „Was Edeltrauts Vermächtnis angeht, hat mich Trude auf eine glänzende Idee gebracht. Ich werde die Mühle zum Hauptbestandteil einer Stiftung für Obdachlose machen. Die Gebäude sollen nach und nach durch die Bewohner renoviert werden, um ihnen dann als Zuflucht und Begegnungsort zu dienen. Ich bin mir sicher, dass dies in Edeltrauts Sinn gewesen wäre.“ „Eine wirklich grandiose Idee“, lobte Miriam. „Ohne Unterstützung durch einen Sozialverband wird dir die Sache allerdings über den Kopf wachsen.“ „Das befürchte ich auch, deshalb werde ich mir vorher an kompetenter Stelle Hilfe holen.“ „Okay.“ „Was Bea angeht, soll ihr altes Zuhause auch ihr neues werden. So brauche ich sie nicht ins Tierheim geben und du kannst ganz beruhigt sein.“ „Auf den ersten Blick hört sich alles recht gut an, aber wer soll sich dort um den Hund und um das Management kümmern? Ein solches Projekt erfordert sicherlich einiges an logistischem Verständnis. Was wiederum einen gewissen Zeitaufwand erfordert.“

Miriam hatte den Nagel genau auf den Kopf getroffen. Da ich aus Zeitmangel nicht in der Lage war, mich dieser Herausforderung selbst zu stellen, brauchte ich eine Art kompetenten Hausmeister, der sich nach Möglichkeit auch noch in diesem Milieu auskennen sollte. „Ich hoffe, Axel für diese Aufgabe gewinnen zu können“, erklärte ich meiner Liebsten. „Axel wäre natürlich ideal. Was sagt er zu deinem Vorschlag?“ „Nichts, er weiß noch gar nichts davon“, entgegnete ich kleinlaut. „Du würdest einen loyalen Mitarbeiter verlieren.“ Ich schluckte trocken. „Ich weiß.“

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„Ich habe eine erfreuliche Nachricht für Sie“, erklärte der Oberarzt. „Ihre Genesung ist soweit fortgeschritten, dass wir Sie bereits übermorgen entlassen können.“ „Aber das geht doch nicht, Herr Doktor. Wo soll ich denn hin. Ich weiß doch noch nicht einmal, wie ich heiße.“ Der Oberarzt hob die Hände zu einer unschuldsvollen Geste. „Was ihre physische Gesundheit betrifft, gibt es keinen Grund, Sie länger hier zu behalten. Für die Psyche ist in unserem Haus Frau Doktor Freudenstein zuständig. Ich sprach natürlich schon mit ihr. Leider verfügt sie momentan über keinerlei freie Kapazitäten.“ „Aber das können Sie doch nicht machen“, entgegnete der Patient verzweifelt. „Glauben Sie mir, wenn es nach mir ginge... Mir sind da leider die Hände gebunden.“

Der Unbekannte sah dem Oberarzt wortlos nach, während er das Zimmer verließ. „Ich werde mir einfach etwas antun“, verkündete er in seiner Not. „Dann müssen die mich hierbehalten.“ Sonja Rabe hatte alles mitangehört. Sie wusste natürlich, unter welchem Druck der Oberarzt stand. Die Station war seit Wochen überbelegt. Neue dringendere Fälle waren zur Operation angemeldet. Für sie musste auf der Intensivstation Platz geschaffen werden. Auf der anderen Seite war da jedoch ein Mensch, der nichts für die Situation konnte, in der er sich befand. Man konnte ihn doch nicht ohne Geld und Unterkunft auf die Straße setzen.

„Wenn Sie wollen, können Sie für ein paar Tage bei mir wohnen. Ich habe keine große Wohnung, aber meine Couch ist ziemlich bequem“, bat ihm die Krankenschwester an. „Ich weiß nicht recht“, zögerte der Unbekannte, während er peinlich gerührt aus dem Fenster sah. „Sie haben sicherlich genug um die Ohren, da möchte ich Ihnen nicht auch noch zur Last fallen.“ „Okay, wenn Sie eine bessere Idee haben...“ Der Mann am Fenster wandte sich zu ihr. „Sie wissen, dass ich keine andere Lösung parat habe.“ „Dann ist die Sache jetzt geritzt. Machen Sie sich keine Sorgen, wir bringen Sie schon wieder zurück in die Spur Ihres Lebens.“

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„Der einzige Grund, weshalb sich bislang niemand auf unsere Suchanfrage in den sozialen Netzwerken meldete, könnte die Tatsache sein, dass unser unbekannter Freund nicht aus Deutschland stammt“, mutmaßte Schubert. „Falsch!“, widersprach Sinner seinem Kollegen. „Was, wenn das Foto, welches wir veröffentlichten, nicht seinem normalen Äußeren entspricht und ihn deshalb niemand erkannte?“ „Versteh ich nicht“, stutzte Schubert. „Als wir ihn fotografierten, hatte er eine Glatze.“ „Ja und?“ „Was, wenn ihm seine Haarpracht wegen der Operation entfernt wurde?“ „Ach du dicker Vater! Daran haben wir ja gar nicht gedacht“, griff sich der Kommissar an den Kopf. „Aber rasieren die nicht nur an der Stelle, an der sie operieren?“ „Genau dies sollten wir besser in Erfahrung bringen. Und zwar bevor uns der Staatsanwalt den Marsch bläst.“

„Gut, dass Sie vorbeikommen, Herr Oberkommissar. Ich hätte Sie sonst angerufen. Der Amnesie Patient wird morgen entlassen.“ „Wieso? Kann er sich wieder erinnern?“, horchte Schubert auf. „Das nicht, aber aus medizinischer Sicht ist er so weit hergestellt, dass zumindest physisch nichts dagegen spricht “, erklärte der Oberarzt. „Moment, da komme ich jetzt nicht ganz mit“, reagierte Sinner verblüfft. „Der Mann leidet immer noch unter einer Amnesie und Sie wollen ihn als gesund entlassen?“ „Ich will nicht, verehrter Herr Oberkommissar, ich muss! So banal es auf Sie wirken mag, ich brauche sein Bett.“ „Aber dann müssen Sie ihn doch in eine andere Klinik überweisen“, reagierte Schubert mit Unverständnis. „Keine Chance. Glauben Sie mir, ich habe alles versucht.“ Sinner und Schubert waren empört. „Und nun muss ich Sie leider verlassen, der nächste Patient wartet bereits auf mich.“

„Einen Augenblick noch bitte“, hielt ihn Sinner zurück. „Der eigentliche Grund für unseren Besuch bezieht sich auf die Frage, ob dem Patienten vor der Operation der Kopf geschoren wurde.“ „Wenn er Haare hatte, wurden sie ihm selbstverständlich entfernt.“ „Alle?“, hakte Schubert mit einigem Erstaunen nach. „Wir nahmen an, dass sich eine eventuelle Rasur nur auf die betreffende Stelle des Eingriffs begrenzt.“ „Normalerweise ist es auch so, aber in diesem speziellen Fall könnten möglicherweise alle Haare entfernt worden sein.“ „Wie ist das zu verstehen?“ „Sorry, meine Herren, aber ich muss jetzt wirklich weiter. Fragen Sie am besten eine von den Schwestern. Die kann ihnen sicherlich mehr dazu sagen.“

„Glauben Sie mir, ich habe alles versucht“, wiederholte Schubert die Worte des Mediziners. „Das kann er doch nicht machen“, schüttelte er ungläubig den Kopf. „Wir müssen sehen, ob wir eine Einrichtung finden, in der wir den Mann unterbringen können“, wandte sich Sinner bereits der Lösung des Problems zu. „Ich mag gar nicht zu ihm hineingehen“, seufzte Schubert. „Was sollen wir ihm antworten, wenn er uns fragt, wo er bleiben soll.“ „Es hilft alles nichts, da müssen wir jetzt durch.“

Als die Kommissare das Krankenzimmer betraten, stand der Unbekannte wie so oft in den vergangenen Tagen am Fenster und schaute gedankenverloren hinaus. „Ach, die Herren Kommissare“, begrüßte er die Kriminalbeamten. „Ich hoffe, Sie bringen gute Nachrichten.“ „Leider nicht“, griff Sinner den Faden auf. „Wir haben gehört, dass Sie bereits morgen entlassen werden.“ „Wie Sie sich denken können, war ich angesichts dieser Mitteilung ziemlich überrascht.“ „Uns ging es da nicht anders“, räumte Schubert ein. „Wir sind bemüht, bis zu Ihrer Entlassung eine Unterkunft zu finden“, versuchte der Oberkommissar die Situation etwas zu entschärfen. „Es gibt für solche Fälle sicherlich eine soziale Einrichtung oder einen Fond, der Sie finanziell unterstützt“, fügte Schubert hoffnungsvoll an.

„Abgesehen von der finanziellen Unterstützung ist eine Suche nach einer vorrübergehenden Bleibe nicht nötig“, überraschte der Unbekannte die Kommissare. „Ich komme zunächst bei Frau Rabe unter.“ „Bei wem?“, hakte Schubert erstaunt nach. „Frau Rabe ist Krankenschwester und hat mich während meines Aufenthaltes hier betreut. Abgesehen davon gehe ich eigentlich davon aus, dass sich schon bald jemand bei Ihnen meldet, der mein Foto erkennt.“ „Genau das ist unser Problem“, musste Schubert auch die Hoffnung des Unbekannten relativieren. „Bislang hat sich niemand bei uns gemeldet. Wir gehen inzwischen davon aus, dass Sie in Ihrem bisherigen Leben keine Glatze trugen. Somit wird Sie auf dem veröffentlichten Foto auch niemand erkennen.“

„Tja, da kann ich Ihnen auch nicht weiterhelfen. Es kommt mir zwar so vor, als war es schon immer so, aber eventuell kann Ihnen Frau Rabe mehr dazu sagen. Sie hat mich von Anfang an betreut. Ich kann ja mal nach ihr klingeln.“ „Ja, tun Sie das“, nickte ihm Sinner zu. Einige Augenblicke später betrat die Krankenschwester den Raum.

„Schubert, mein Kollege Oberkommissar Sinner“, stellte der Kommissar sich und seinen Vorgesetzten vor. „Ihr Angebot, dem Patienten vorübergehend Gastfreundschaft zu gewähren, ist sehr großzügig“, lobte Sinner. „Falls seine Amnesie länger anhalten sollte, werden wir uns um eine andere Unterkunft bemühen.“ „Um Ihren Gast auch weiterhin erreichen zu können, benötigen wir allerdings noch Ihre Adresse und die Telefonnummer“, zückte Schubert seinen Notizblock. „Moment, ich gebe Ihnen meine Karte.“ „Die Kommissare wollen wissen, ob ich bei meiner Einlieferung eine Glatze hatte“, erklärte der Unbekannte. „Die Aufnahmen am Tatort waren leider nicht sehr aussagekräftig“, fügte Sinner hinzu.

„Seine Haare waren vom Blut völlig verklebt. Da die OP in aller Eile vorbereitet werden musste, habe ich mich für eine Vollrasur entschieden.“ Schubert sah seinen Kollegen mit einiger Ernüchterung an. „Vielleicht sollten wir einige Perücken besorgen und das Fotoshooting wiederholen?“ „Welche Farbe hatten seine Haare?“ „Schwarz! Ich habe mich noch gefragt, ob er wohl ein Südländer sei.“ „Gut, das war es dann für den Moment. Wir besorgen einige entsprechende Perücken und melden uns dann bei Ihnen, um ein aussagekräftigeres Foto von Ihnen zu machen.“

„Weshalb hattest du es denn plötzlich so eilig?“, erkundigte sich Schubert auf dem Weg zum Parkplatz. „Dir ist hoffentlich klar, dass wir die Nachbarschaft rund um den Tatort noch einmal mit dem neuen Foto befragen müssen.“ „Stimmt, daran habe ich noch gar nicht gedacht. Zu blöd aber auch, dass wir erst am Tatort eintrafen, nachdem der Verletzte ins Krankenhaus abtransportiert war.“ „Immerhin war der Kollege von der Schutzpolizei so umsichtig und hat ein Foto geschossen. Ansonsten hätten wir überhaupt nichts gehabt.“ Schubert zuckte mit den Achseln. „Na ja, gebracht hat es im Endeffekt auch nichts.“

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„Machen Sie sich bitte keine Umstände. Sie haben schon so viel für mich getan.“ „Wollen wir nicht endlich mit dem blöden Sie aufhören? Ich bin Sonja.“ „Ja gern, aber wie willst du mich dann nennen?“ „Wie wäre es mit Knut?“ „So wie dieser Bär damals in dem Zoo?“ Sonja lachte. „Den hatte ich zwar nicht unbedingt auf dem Schirm, aber warum nicht?“ „Alt ist der zwar nicht gerade geworden, aber wenn ich dir damit eine Freude machen kann, gern.“ „Gut, dann bleibt's dabei. Was möchte Knut denn gern zu Abend essen?“ „Fisch, oder was isst so ein Polarbär sonst?“ „Okay, ich hätte da noch Fischstäbchen im Gefrierschrank.“ Knut rieb sich den Bauch. „Mein Leibgericht.“

Nachdem Patient und Krankenschwester ihr erstes Essen in der kleinen Wohnung eingenommen hatten, half ihr der Unbekannte dabei, den Tisch abzuräumen und das Geschirr zu spülen. „Was mache ich nur, wenn mich auf den neuen Fotos auch niemand erkennt?“ „Fürs Erste kannst du hier wohnen. Alles Weitere wird sich finden.“ „Das ist wirklich mehr als großzügig von dir, aber das meinte ich eigentlich nicht. Wer bin ich wirklich? Wie kam das fremde Blut an meine Hose? Verstehst du, was ich meine? Womöglich habe ich etwas Schlimmes getan.“ Sonja schüttelte energisch den Kopf. „Nein, das hast du ganz sicher nicht. Ich habe eine gute Menschenkenntnis. Du bist ganz gewiss niemand, der einem anderen Menschen etwas Böses antun könnte.“

„Wahrscheinlich hast du Recht, aber die Ungewissheit, dass es eben nicht so sein könnte, macht mich wahnsinnig. Ich kann einfach nicht hier herumsitzen und darauf warten, irgendwann von irgendjemanden wiedererkannt zu werden.“ „Ja aber was willst du denn unternehmen?“ „Zunächst würde ich mich gern bei der Zeitungszustellerin bedanken“, erklärte Knut. „Bei der Gelegenheit könnte sie mir den Ort zeigen, an dem ich gefunden wurde. Vielleicht kann ich mich dort wieder an alles erinnern?“ Sonja hatte schon öfter davon gelesen, dass Patienten mit Gedächtnisverlust durch die Konfrontation mit der Vergangenheit ihr Gedächtnis zurückerhalten hatten. „Ein Versuch ist es wert.“

Nachdem Sonja über das Verteilzentrum der Zeitung die Adresse von Knuts Lebensretterin erhalten hatte, standen sie und ihr Logiergast am frühen Abend vor der Wohnungstür der alleinerziehenden Mutter und klingelten. Als Babette Peters kurz darauf vor ihnen stand, brachte sie kein einziges Wort heraus. Sie starrte den Mann, den sie für tot gehalten hatte, betroffen an. „Dürfen wir reinkommen?“, unterbrach die Krankenschwester die merkwürdig anmutende Szene. „Ja natürlich“, besann sich die Friseuse. „Entschuldigen Sie. Kommen Sie bitte herein.“

„Wir wollen Ihnen keine Umstände machen“, ergriff Knut das Wort. „Ich wollte mich gern bei Ihnen bedanken.“ „Aber ich bitte Sie, ich habe doch gar nichts getan.“ „Oh doch, Sie haben mir das Leben gerettet.“ Babette winkte ab. „Ich habe nur die Polizei gerufen.“ „Der Kommissar sagte, Sie haben mich eigentlich nur zufällig gefunden.“ „Ja, so war es. Ich sah nur etwas aufblitzen. Als ich nachsah, entdeckte ich Sie im Gebüsch. Oh Gott, ich dachte wirklich, Sie seien tot.“ „Na ja, viel hat nicht gefehlt“, lächelte Knut gequält. „Dass Sie überhaupt schon wieder hier vor mir stehen können, erscheint mir wie ein Wunder.“

„Im Grunde ist es das auch“, pflichtete Sonja ihr bei. „Ich hätte eine große Bitte“, brachte Knut das Gespräch auf ein weiteres Anliegen für seinen Besuch. „Ob Sie mir wohl die Stelle zeigen könnten, an der Sie mich fanden? Durch den Schlag auf den Kopf habe ich leider mein Gedächtnis verloren. Ich habe die Hoffnung, dass es möglicherweise zurückkehrt, wenn ich mich der Situation stelle.“ Babette Peters sah dem Mann an Sonjas Seite skeptisch in die Augen. „Und Sie können sich an nichts erinnern?“ „Nein.“

Im gleichen Moment öffnete jemand von außen die Wohnungstür und trat ein. „Das ist Tobias, mein Sohn.“ „Wer sind die Leute?“, hakte der Junge nach, ohne die Gäste seiner Mutter zu begrüßen. „Dies ist der Herr, von dem ich dir erzählte.“ „Cool, kann ich die Wunde mal sehen?“ Knut war für einen Moment sprachlos. „Nein, das kannst du nicht!“, antwortete seine Mutter energisch. „Schade.“ Womit er sich auch schon Sonja zuwandte. „Und die da?“ Die Angesprochene hatte genügend Erfahrung, um die Krankheit des Jungen sofort zu erkennen. „Ich bin Krankenschwester und begleite den Herrn, dem deine Mutter das Leben gerettet hat.“

„Kann ich noch zu Martin rüber?“, verlor er das Interesse an Sonja ebenso schnell wieder, wie er es gefunden hatte. In Anbetracht der Bitte, nochmals an den Ort des Geschehens zurückzukehren, willigte sie ein. „Eine Stunde und nicht eine Minute länger! Wir haben uns verstanden?“ „Klaro.“ Während ihr Sprössling davonrauschte, griff Babette nach ihrer Taschenlampe und den Wohnungsschlüsseln. „Die Stelle ist ziemlich düster.“ Knut nickte. „Wir fahren mit meinem Wagen“, erklärte Sonja. Babette setzte sich nach vorn, um den Weg besser erklären zu können.

„Ich finde es mehr als bewundernswert, wie Sie diese enorme Belastung, allein mit Ihrem Jungen hinbekommen“, zeugte Sonja Anerkennung. „Es ist gewiss nicht immer leicht.“ „Davon können Sie ausgehen“, stimmte Babette zu. „Es gibt Tage, da will man am liebsten alles hinschmeißen, aber dann gibt es Momente, die ich um nichts auf der Welt missen möchte." „So lange es solche Augenblicke gibt, lohnt es sich zu leben“, philosophierte Knut.

„Halten Sie bitte hier“, deutete Babette auf einige Häuser, die von der rechten Straßenseite aus etwas nach hinten gebaut waren. „Dort drüben ist es.“ „Die Gegend sagt mir absolut nichts“, seufzte Knut, während er sich nach allen Seiten umsah. Eine gewisse Enttäuschung machte sich in ihm breit. „Steigen wir erst einmal aus“, schlug Sonja vor. „Es ist noch viel zu früh, um die Flinte schon ins Korn zu werfen.“ „Hier stelle ich immer das Fahrrad mit den Zeitungen ab“, erklärte Babette, „…bevor ich dann die drei umliegenden Häuser bediene.“ „Gewiss kein leichtes Brot“, befand Sonja. „Es scheint ja nicht immer die Sonne“, lächelte Babette.

Knut sah sich inzwischen genauer um. „Herrgott noch mal!“, schlug er plötzlich wütend an den Stamm eines Baumes, „…was um Himmels Willen wollte ich hier?“ „Sie haben da drüben gelegen“, deutete Babette auf einen Busch, der unmittelbar neben einem Bach wuchs, der an dieser Stelle eine leichte Richtungsänderung vollzog. „Dass Sie ihn überhaupt sahen, grenzt an ein Wunder“, zollte Sonja Respekt. „Die Stelle ist ziemlich dicht bewachsen.“ „Jetzt, wo Sie es sagen… Irgendetwas blitzte im Schein meiner Taschenlampe, da habe ich einfach nachgesehen.“ „Gehen Sie bitte an die Stelle“, bat Sonja. Die junge Frau folgte der Bitte zögerlich. Die Erinnerung an jenen Morgen steckte ihr offenbar noch immer in den Gliedern. „Sie lagen hinter dem Busch hier.“ Sie deutete die Position seines Körpers an. „Der Kopf war nach hinten gekippt und lag zur Hälfte unter dem anderen Strauch. Als ich Ihren Puls fühlte, sah ich das viele Blut. Es war wirklich schrecklich. Ich nahm an, Sie seien tot.“

„Ich kenne diese Häuser nicht.“ Knut sah sich um. „Die ganze Gegend kommt mir so fremd vor. Wenn ich nur wüsste, was ich hier wollte.“ „Fanden Sie eigentlich heraus, was im Schein Ihrer Lampe aufgeblitzt hatte?“, erkundigte sich Sonja. „Nein, da habe ich in dem Moment auch nicht mehr dran gedacht.“ „Verständlich, aber interessiert hätte es mich schon“, grübelte die Krankenschwester. „Du hast doch alle deine Sachen bei der Entlassung aus der Klinik mitbekommen“, überlegte sie weiter. „Ja, sicher“, nickte Knut. „War irgendetwas dabei, was das Licht reflektiert haben könnte?“ „Ich weiß zwar nicht, weshalb das wichtig sein soll, aber lass mich mal darüber nachdenken.“

„Entschuldigen Sie, brauchen Sie mich noch?“, unterbrach Babette die Situation. „Ich müsste dann nach Hause. Sie haben ja mitbekommen, dass mein Sohn gleich daheim sein wird.“ „Ja, natürlich“, nickte Sonja eifrig. „Wir bringen Sie selbstverständlich wieder zurück.“ Kurz nachdem sich der Wagen wieder in Bewegung gesetzt hatte, gab es einen Augenblick, in dem Knut das Gefühl hatte, eines der Häuser würde ihm bekannt vorkommen. Da sich dieser Eindruck jedoch nicht vertiefte, tat er ihn schließlich als Trugschluss ab.

„Haben Sie vielen Dank für alles“, bedankte sich Knut bei seiner Lebensretterin. „Falls ich jemals herausbekomme, wer ich bin, werde ich mich nochmal bei Ihnen melden.“ „Ich wünsche Ihnen alles Gute“, entgegnete die Friseuse. „Hier ist meine Telefonnummer“, reichte Sonja ihre Karte. „Bitte rufen Sie an, wenn Ihnen noch etwas einfällt.“ „Das mache ich ganz bestimmt“, versprach Babette, während sich ihr Sohn auf einem Fahrrad näherte.

Es klopfte bereits zum wiederholten Mal an die Tür zum Büro 52 im zweiten Obergeschoss in der Dienststelle der Kriminalpolizei an der ‚Lindener Straße‘. Die Kommissare waren inmitten einer eifrigen Diskussion zum Thema Download. Daher waren ihnen das erste und auch das zweite Klopfen entgangen. Sonja ließ sich nicht erst bitten und öffnete schließlich ohne Aufforderung die Tür. „Guten Tag, die Herren Kommissare. Ich hoffe, wir kommen nicht ungelegen.“ „Hallo, Frau Rabe, Herr äh…“ „Brechen Sie sich keinen, ab Herr Schubert“, nahm der Angesprochene den unglücklichen Versuch des Kommissars zum Anlass, den Kriminalbeamten seinen Standbynamen mitzuteilen, wie er ihn scherzhaft nannte.

„Wieso ausgerechnet Knut?“, erkundigte sich Sinner mit nach oben gezogener Braue. „Hauptsache ist doch, das Kind hat einen Namen, oder?“, reagierte Knut genervt. „Haben sich inzwischen Leute gemeldet, die mich wiedererkennen?“ „Tja, so einfach ist das leider nicht. Bevor wir ihr richtiges Foto downloaden, müssen wir erst das falsche uploaden und genau darin besteht das Problem. Einmal im Netz, kann das erste, also falsche Foto, nur durch den Seitenbetreiber gelöscht werden. Bei Twitter und Instagram klappte das relativ reibungslos, bei Facebook Deutschland ist es leider problematischer. Wir können uns leider nur in Geduld üben.“

„Das verstehe ich nicht, Herr Sinner. Sie sind doch immerhin die Polizei“, stutzte die Krankenschwester. „Selbst uns sind da die Hände gebunden.“ „Gibt es denn sonst keinerlei Anhaltspunkte, die zu meiner Identifizierung führen?“, hakte Knut verzweifelt nach. „Glauben Sie mir, Herr Knut…“ Sinner lächelte. „Ein solcher Fall ist uns bislang auch noch nicht unter gekommen.“ „Es liegt weder eine Vermisstenanzeige noch ein Haftbefehl gegen Sie vor“, erklärte Schubert. „Sobald wir etwas wissen, melden wir uns“, vertröstete Sinner den Unbekannten.

„Das hat hier keinen Zweck“, flüsterte ihm Sonja zu und schob Knut aus dem Büro. „Wir kommen hier nicht weiter“, schüttelte die Krankenschwester ungläubig den Kopf. „Mir ist da eine interessante Alternative eingefallen.“ „Was für eine Alternative?“ „Ich kann mich an einen Komapatienten erinnern, der vor einigen Jahren in unserer Klinik lag. Wir hatten den Mann bereits aufgegeben, als ihn ein Hund zu neuem Leben erweckte.“ „Ja und, was hat das mit mir zu tun?“ „Nun wart´s doch mal ab. Der Typ ist Detektiv und zwar ein recht guter, wie ich kürzlich durch einen Bekannten erfuhr.“ „Das ist alles schön und gut, aber wovon soll ich einen Detektiv bezahlen? Ich habe nichts als die Klamotten, die ich auf dem Leibe trage.“ Sonja winkte ab. „Ich habe noch genug Geld aus dem Erbe meiner Eltern. So lange das Geld zinslos auf dem Sparbuch herumliegt, ist es zu nichts nutze.“

„Das kommt überhaupt nicht in Frage“, blockte Knut energisch ab. „Es ist schlimm genug, mich von dir aushalten zu lassen. Du weißt doch gar nicht, ob ich dir all das Geld jemals zurückzahlen kann.“ „Nennen wir es eine Investition in die Zukunft“, lächelte Sonja vielsagend. „In unsere Zukunft“, konkretisierte sie. Knut nahm ihre Hand. „Ist es nicht ein wenig zu früh, um Pläne zu machen?“ „Vielleicht, aber wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Morgen früh gehen wir zu diesem Detektiv.“

-9-

So brillant Trudes Idee von der Stiftung auch war, so schwierig war sie, in die Tat umzusetzen. War es anfangs meine Intension, eine eigene Stiftung mit Elisabeths Namen ins Leben zu rufen, war ich von diesem Gedanken schon bald wieder abgerückt. Es ist tatsächlich sehr kompliziert, in unserem Lande Gutes zu tun. Der Punkt ist offenbar, dass sich niemand vorstellen kann, dass es jemanden gibt, der uneigennützig etwas bewirken möchte. Egal bei welcher Institution oder auf welchem Amt ich anrief, stets bekam ich dieselben bürokratischen Antworten. Letztendlich bat ich meinen Freund Christoph Börner um Hilfe. In seiner Eigenschaft als Notar hatte er Elisabeths Vermächtnis aufgenommen und nach ihrem Tod an mich weitergegeben.

„Was hältst du von der Idee?“, erkundigte ich mich, nachdem ich ihm mein Vorhaben dargelegt hatte. „An sich eine wirklich lobenswerte Idee, die sich allerdings nur mit sehr viel Engagement in die Realität umsetzen lässt.“ „Jou, das habe ich bereits bemerkt“, konnte ich seine Befürchtung nur unterschreiben. „Wäre es denn überhaupt möglich, das Erbe in eine Stiftung einzubringen?“ „Seitens des Erblassers gab es keinerlei Einschränkungen darüber, in welcher Weise du mit deinem Erbe umgehst. Im Gegenteil, ich bin sicher, Frau Stahl wäre über eine solche Fügung sehr glücklich.“

Hin und hergerissen von alle dem, was in diesem Zusammenhang auf mich zukommen würde, wusste ich nun gar nicht mehr, was und vor allem wie ich die Sache auf den Weg bringen sollte. „Ich mache dir einen Vorschlag, Leopold“, erkannte Christoph meine Situation. „Ich werde mich in deinem Namen nach den Möglichkeiten erkundigen. Eines sage ich dir allerdings gleich, eine eigene Stiftung solltest du dir aus dem Kopf schlagen.“ „Wenn ich die Twelkenmühle in eine bereits bestehende Stiftung abgebe, dann möchte ich einerseits, dass Edeltrauts Name damit verbunden- und andererseits eine Nutzung für Obdachlose gewährleistet bleibt.“ Christoph wog nachdenklich den Kopf. „Mal sehen, was sich machen lässt.“

Eine Tasse Cappuccino und ein Hefestück später kehrte ich in meine Detektei zurück. „Ich habe Ihnen ein Puddingstück mitgebracht, Trudchen.“ „Gibt es etwas Besonderes? Soll ich Bea über Nacht nehmen oder weshalb versuchen Sie sonst Eindruck bei mir zu schinden?“ Ich reichte ihr die Papiertüte und schüttelte verärgert den Kopf. „Nichts von alledem, ich wollte einfach nur freundlich sein.“ „Sorry, aber so viel Freundlichkeit bin ich von Ihnen nicht unbedingt gewohnt.“

Ja. ja, das Leben ist ungerecht. Um nichts Falsches zu sagen, verzog ich mich in mein Büro. Auf dem Schreibtisch fand ich endlich Fotos und ein Dossier von der Versicherung, in dem die Schmuckstücke beschrieben waren, die jüngst bei einer Einbruchsserie in Thiede gestohlen worden waren. Bei der Wertangabe wurde mir direkt schwindelig. Es ist kaum zu glauben, was manche Leute an Schätzen zu Hause lagern. Ich war gerade vertieft in die Beschreibungen, als ich hörte, wie jemand die Detektei betrat. „Könnten Sie einige Minuten erübrigen?“, vernahm ich Trudes Stimme einige Momente später über die Sprechanlage. „Hier vorn sind zwei Herrschaften in einer dringlichen Angelegenheit.“ „Gut, ich komme.“

„Guten Tag, mein Name ist Lessing, was kann ich für Sie tun?“ „Sonja Rabe“, stellte sich die Frau vor. „Guten Tag“, beschränkte sich ihr Begleiter darauf, mir lediglich seine Hand zu geben. „Kaffee, Tee, ein Erfrischungsgetränk?“ „Oh ja, bitte einen Kaffee. Du auch, Knut?“ „Ja, gern“, nickte ihr Begleiter. „Ich nehme auch einen, Trude“, bat ich. „Am besten, wir gehen in mein Büro.“

„Zunächst möchte ich mich dafür bedanken, dass Sie sich so kurzfristig die Zeit für uns nehmen“, erklärte die Frau. „Wir kommen zu Ihnen, weil wir mit der Polizei unzufrieden sind.“ Ich stutzte. „Darf ich fragen, wo die Gründe dafür liegen?“ „Es geht um meinen Begleiter. Einen ehemaligen Patienten von meiner Station. Ich bin Krankenschwester, müssen Sie wissen“, erläuterte sie. „Ich habe durch einen Schlag auf den Hinterkopf mein Gedächtnis verloren“, ergriff Knut das Wort. „Ich habe keine Ahnung, wer oder was ich bin.“ „Seit dem Raubüberfall sind etwa drei Wochen vergangen“, fuhr Sonja Rabe fort. „In dieser Zeit haben die Herrn Kommissare nicht einmal die Identität meines Begleiters herausbekommen.“

Trude brachte das Tablett mit dem Kaffee herein. „Geht es um den Raubüberfall in Fümmelse?“, mischte sich meine Putzsekretärin in die Unterhaltung ein. „Stellen Sie das Tablett bitte einfach ab, wir bedienen uns selbst.“ „Och, ich mache das schon“, entgegnete die gute Seele unbeeindruckt von meinen Blicken. „Eine Bekannte von mir kennt die Zeitungsausträgerin, die dem Opfer das Leben gerettet hat. Das waren Sie doch wohl nicht etwa?“ „Trude…“, sagte ich mit sehr gedehnter Stimme. „Sie haben schon Recht, ich war derjenige, der niedergeschlagen und beraubt wurde.“

„Schrecklich, einfach nur schrecklich“, murmelte Trude vor sich hin, während sie mein Büro verließ. „In was für einer Zeit leben wir eigentlich?“ „Entschuldigen Sie bitte“, war mir der Auftritt meiner Sekretärin unangenehm. „Solche Dinge nehmen die gute Seele immer besonders mit.“ „Ach, lassen Sie mal. Es ist mir allemal lieber, wenn jemand Herz zeigt, als wenn sich die Leute für nichts mehr interessieren“, reagierte die Krankenschwester gottlob verständnisvoll. „Der Kaffee schmeckt jedenfalls ausgezeichnet“, lobte der Mann an ihrer Seite. „Sie dürfen mich übrigens Knut nennen“, erklärte er. „Der Einfachheit halber.“

„Ich habe natürlich von dem Überfall gelesen, aber das Beste wird sein, wenn Sie mir das erzählen, was Ihnen bekannt ist.“ Knut begann mit einer knappen Schilderung der Ereignisse, wie er diese von Oberkommissar Sinner und dessen Kollege Kommissar Schubert erfahren hatte. Sonja Rabe vervollständigte seine Aussage um die Details, die ihm bislang unbekannt waren. „Nun, da wissen Sie ist in der Tat nicht viel“, fasste ich zusammen. „Wie Sie sich vorstellen können, liegt die Ungewissheit wie ein Fels auf meiner Brust. Seit ich aus dem Koma erwacht bin, zermarterte ich mir das Hirn, was ich an diesem Morgen in Fümmelse wollte und wie das fremde Blut an meine Hose kam.“

„Ich kann Sie besser verstehen, als Sie denken. Mir ist vor Jahren ähnliches passiert. Eigentlich müsste man sich noch schonen, aber da sind diese Fragen, die einen quälen und nach Beantwortung verlangen.“ Knut nickte mir bestätigend zu. „Genauso ist es, Sie sprechen mir aus der Seele. Würden Sie sich der Sache annehmen?“ „Ich stecke zwar gerade in einem anderen Fall, aber da mir Ihre Situation sehr nahegeht, würde ich ihre Angelegenheit parallel bearbeiten.“ „Ich muss Ihnen allerdings sagen, dass ich meine finanziellen Möglichkeiten zurzeit nicht abschätzen kann.“ „Das ist kein Problem“, schaltete sich Sonja Rabe ein. „Falls Knut mittellos sein sollte, komme ich für die Kosten auf.“ „Du weißt, dass mir eine solche Lösung unangenehm wäre“, bekundete Knut seinen Gewissenskonflikt. „Falls es nötig ist, kannst du es mir ja zurückzahlen.“

Mit dieser Lösung schien sich der Unbekannte zufrieden zu geben. Mir war letztendlich egal, von wem ich bezahlt wurde, Hauptsache die Kohle kam. „Also schön, dann werde ich sofort aktiv. Am besten zeigen Sie mir die Stelle, an der Sie aufgefunden wurden.“ „Wie, jetzt gleich?“ „Zeit ist Geld, nicht wahr?“, schielte ich über den Rand meiner Kaffeetasse. „Na, wenn das mal keine prompte Bedienung ist“, freute sich Sonja Rabe. Ich griff meinen Stetson vom Garderobenhaken und führte die Klienten aus dem Büro. „Ich bin für die nächsten zwei bis drei Stunden außer Haus“, verkündete ich Trude, die ich bei dem Verzehr ihres Puddingstücks überraschte. „Ist gut, Chef“, schmatzte sie.

Am Ort des Geschehens eingetroffen, ließ ich mir die Stelle zeigen, an der ihn die Zeitungszustellerin gefunden hatte. „Und Sie haben nicht die geringste Ahnung, was Sie hier oder in der Gegend wollten?“, hakte ich nochmals nach. Der Unbekannte schüttelte den Kopf. „Gut! Das heißt…, nicht gut! Momentan aber nun einmal nicht zu ändern. Ich werde mich nun hier im Viertel genauer umsehen. Dazu benötige ich ein Foto von Ihnen. Ist es okay, wenn ich gleich hier eins mit meinem Handy schieße?“ „Nur zu.“ Nachdem das Bild im Kasten war, schickte ich meine Klienten nach Hause.

Um mir ein vorbehaltloses Bild machen zu können, ist es unabdingbar, die Dinge aus einer neutralen Sicht zu sehen. Zu viele, möglicherweise voreingenommene Darstellungen verklären die Situation eventuell in einer Weise, die sich im Nachhinein nicht mehr revidieren lässt. Folglich ist es am besten, wenn man sich einen Tatort in aller Ruhe und am besten allein ansieht. Genau das tat ich nun, indem ich mir zunächst die unmittelbare und dann die weitere Umgebung genauer ansah. Auch wenn sich mein Blick hierbei auf das große Ganze konzentriert, sind es meistens Kleinigkeiten, die mich voranbringen.

So war es auch in diesem Fall. Um genau zu sein, war es eine prall gefüllte Zeitungsrolle, die mein Interesse weckte. Sie gehörte zu einem Haus, welches sich ein gutes Stück weiter in westlicher Richtung die Straße hinunter befand. Allem Anschein nach waren die Bewohner des Hauses bereits seit einiger Zeit nicht mehr zum Lesen gekommen. Da ich ohnehin die Nachbarschaft nach dem Raubüberfall befragen wollte, drückte ich meinen Daumen auf das Klingelschild neben der Haustür.

Ich war wenig überrascht, als niemand öffnete, denn durch das milchtrübe Glas in der Haustür waren die Kontouren einiger Briefe zu sehen, die durch den Briefschlitz eingeworfen waren und nun auf dem Flur lagen. Entweder befanden sich die Bewohner des Hauses im Urlaub, oder irgendetwas stimmte hier möglicherweise nicht. „Hallo Sie da, was machen Sie denn da?“, vernahm ich die Stimme einer aufmerksamen Nachbarin. Ich zückte meine Zulassung und stellte mich vor. „Sie kommen vergebens, Frau Eibel ist im Urlaub“, erklärte die Dame und setzte ihren Weg fort.

Da war die Erklärung, die ich bereits in Betracht gezogen hatte. Ein Blick auf die Zeitungen ließ mich jedoch wieder skeptisch werden. Sie waren von drei aufeinanderfolgenden Samstagen. Demnach war Frau Eibel also schon länger als drei Wochen im Urlaub. Ungewöhnlich, aber sicherlich nicht außergewöhnlich. Im Hinblick auf meinen Fall allerdings zu beachten. Ich erinnerte mich an die Zeitungszustellerin. Die Freundin einer Bekannten meiner Putzsekretärin. Ich hatte mir ihren Namen wohlweislich notiert. Vielleicht konnte sie mir weiterhelfen?

Nach einem Telefongespräch mit Trude wusste ich, wo Babette Peters tagsüber beschäftigt war. Was hielt mich also davon ab, sie an ihrem Arbeitsplatz aufzusuchen? Miriam lag mir ohnehin schon seit einigen Tagen damit in den Ohren, mir die Haare schneiden zu lassen.

„Guten Tag, der Herr“, begrüßte mich die junge Frau hinter dem Verkaufstresen. Ich nahm meinen Stetson ab und sah neugierig in die Runde. „Ein Haarschnitt gefällig?“ „Wie sind Sie denn darauf gekommen?“, witzelte ich lässig. „Wenn Sie nicht länger wie ein Werwolf herumlaufen wollen, wird es Zeit“, entgegnete sie schnippisch. Offenbar verstand die Lady keinen Spaß. „Bevorzugen Sie eine bestimmte Kollegin?“ „Frau Peters“, überraschte ich die Amazone. „Oh, da muss ich erst einmal schauen, ob Frau Peters frei ist.“ Einige Wimpernschläge später war klar, dass ich etwas warten musste.

„Darf ich fragen, weshalb Sie unbedingt von mir bedient werden möchten? Soweit ich mich erinnere, sind Sie bislang kein Kunde von mir.“ „Sie sind mir empfohlen worden.“ Nachdem ich Frau Peters mit umständlichen Worten geschildert hatte, welche Frisur sich einmal unter meiner Haarpracht verbarg, wurde mir erst einmal gehörig der Kopf gewaschen. „Nun, ich bin nicht allein wegen des Haarschnitts hier“, erklärte ich, während sie die Messer wetzte. „Es geht um den Herrn, dem Sie kürzlich bei Ihrer anderen Tätigkeit das Leben retteten. Ich weiß, dass er Sie gestern aufsuchte, um sich mit Ihrer Hilfe an das Geschehen zu erinnern. Da seine Rückkehr an den Ort des Überfalls nicht die erhoffte Wirkung hatte, bat er mich, die Recherchen in dieser Sache zu übernehmen.“

„Dann sind Sie ein Detektiv, nehme ich an“, schlussfolgerte die Friseuse. „Gut kombiniert. Ich habe mir den Tatort und natürlich auch die nähere Umgebung genauer angesehen. Dabei fiel mir auch das Haus, oder besser gesagt die Zeitungsrolle einer gewissen Frau Eibel auf.“ „Frau Eibel ist eine nette ältere Dame, der ich jeden Samstag die Zeitung bringe“, verriet Babette Peters. „Nun hat die besagte Dame die Zeitung aber schon seit drei Wochen nicht mehr ins Haus geholt und auf ihrem Flur häuft sich die Post.“ „Da kann ich Sie beruhigen, Frau Eibel wollte verreisen. Die Zeitung lässt sie sich trotzdem immer bringen.“ „Drei Wochen?“ „Das ist allerdings ungewöhnlich“, überlegte die Friseuse. „Soviel ich weiß, wollte sie nur zwei Wochen weg.“ „Gibt es denn keine Angehörigen, die während ihres Urlaubs nach dem Haus sehen?“, wunderte ich mich. „Da bin ich überfragt“, stutzte nun auch Babette Peters. „Sonst blieben die Zeitungen allerdings nie in der Rolle und ich glaube, sie sprach auch mal von einem Neffen, der sie ab und an besuchen würde.“ Ich wurde hellhörig. „Gesehen haben Sie diesen Neffen aber nicht?“ „Nein.“

Irgendwie passte alles zusammen. Was, wenn mein Klient der Neffe der alten Dame war und wie verabredet nach dem Haus sehen wollte? Möglicherweise war ihm auf dem Weg zu seiner Tante etwas aufgefallen und er wollte dem nachgehen. Vielleicht wurde er aber auch ganz einfach nur das Opfer eines Raubüberfalls? Die einzige Sache, die mich an meiner Theorie störte, war die Tatsache, dass die besagte Frau Eibel noch immer nicht aus ihrem Urlaub zurückgekehrt war. Ich musste mir das Haus unbedingt noch einmal genauer ansehen.

„Ist es so recht?“, riss mich die Friseuse aus meinen Gedanken. Sie hielt einen Spiegel in den Spiegel, um mir die Sicht auf meine Heckpartie zu bieten. Irgendwie hatte ich in diesem Moment so gar keinen Blick dafür übrig. „Oh ja, schön“, sprang ich auch schon auf. „Moment, ich muss Sie doch noch vom Cape befreien“, hielt sie mich an den Schultern zurück. „Ach so, ja, sorry.“ „Sie zahlen bitte an der Kasse bei meiner Kollegin.“ Bevor ich ging, gab ich ein ordentliches Trinkgeld.

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Gerade in meinem Beruf ist die Erfahrung, die die Jahre so mit sich bringen ein unverzichtbarer Schatz bei der Suche nach der Wahrheit. Sie kann aber auch ein Fluch sein. Denn immer dann, wenn ich mir aus einigen Indizien eine Handlungsfolge, einen Tathergang oder ein mögliches Szenario konstruiere, habe ich Bilder vor Augen, die mich oft bis in die Nacht verfolgen. In diesem Fall lag die Klärung der besagten Vorahnung nur wenige Kilometer von mir entfernt im Wolfenbütteler Stadtteil Fümmelse.

Das besagte Haus von Frau Eibel befand sich auf einem Eckgrundstück der Straße ‚Am Brüggeberge‘. Es war durch eine mannshohe Buchsbaumhecke umfriedet. Durch die Einfahrt war seit Jahren kein Auto mehr gerollt. Zwischen den grauen Waschbetonplatten, die vom Tor zur Garage führten, zwängte sich mittlerweile allerlei Grünzeug. Ich benutzte die Gartenpforte und ging über den Plattenweg zum Haus. Ein Blick in den Garten verriet mir, dass sich die alte Dame offensichtlich nach Kräften mühte, das nicht gerade kleine Grundstück sauber zu halten. Ich sah aber auch, dass ihr dies immer schwerer zu fallen schien.

Die Zeitungsrolle war immer noch mit den Zeitungen der vergangenen Wochen gefüllt. Auch jetzt tat sich auf mein Klingeln jenseits der Haustür nichts. Bevor ich mich auf die Rückseite des Gebäudes begab, sah ich mich nach allen Seiten um. Schließlich wollte ich der Polizei nicht als potentieller Einbrecher Rede und Antwort stehen müssen. Zunächst versuchte ich mir durch die erhöht liegenden Fenster im Parterre Einblick ins Innere des Hauses zu verschaffen. Blickdichte Gardinen nahmen mir jedoch jede Sicht. Was blieb, war die Kellertreppe. An der Tür angekommen, traute ich meinen Augen nicht. Sie war ganz offensichtlich aufgebrochen worden.

Da war sie wieder, die Situation, die jeder Privatermittler zu tiefst verabscheut. Einerseits ist man in einem solchen Fall dazu angehalten, die Polizei hinzuzurufen, andererseits ist da diese unbändige Neugier, die meine Kollegen und mich immer wieder nötigt, doch erst einmal weiterzugehen. Schließlich möchte man die ohnehin schon gestressten Ordnungshüter nicht unnütz bemühen.

Ich wurde förmlich in das Gebäude hineingesogen und mit jedem Schritt durch den Keller wurde die Anziehungskraft größer, die von dieser Ungewissheit verursacht wurde. Im Untergeschoss deutete nichts auf einen Einbruch hin. Entweder waren die Diebe gestört worden und hatten ihr Vorhaben daraufhin abgebrochen oder sie waren gezielt in das Erdgeschoss vorgedrungen. Da ich nicht damit rechnen musste, zu diesem Zeitpunkt noch einen Einbrecher anzutreffen, konnte ich darauf verzichten, meine Waffe zu ziehen. Ein guter Ermittler zieht seine Schusswaffe, wenn er sie braucht und nicht vorher. Zu schnell geschieht ein Unglück.

Als ich das Wohnzimmer betrat sah ich schließlich die Bescherung. Die Gangster hatten ganze Arbeit geleistet. Sie hatten sämtliche Schubladen aus den Schränken gerissen und deren Inhalt im Raum verstreut. Bilder waren von den Wänden abgenommen oder einfach heruntergerissen worden. Offenbar vermuteten sie einen Tresor dahinter. Als sie nichts fanden, müssen sie, der Verwüstung nach, ziemlich wütend gewesen sein. Ihre Spur führte mich durch die Küche, ein Handarbeitszimmer und das Bad ins Wohnzimmer. Ein Geruch, der mir während meiner Dienstjahre bei der Braunschweiger Kriminalpolizei ab und an begegnete, stieg mir auch jetzt in die Nase. Ich wusste sofort, dass meine schlimmsten Vorahnungen nur einige Atemzüge später tragische Realität werden würden.

Im Wohnzimmer fand ich die alte Frau schließlich. Sie saß erschlagen in ihrem Sessel. Die alte Frau muss sich verzweifelt gewehrt haben. Auf einer Decke, einem Kissen und dem Teppich vor dem Sessel befanden sich Blutspritzer. Die oder der Täter muss mit verabscheuungswürdiger Brutalität vorgegangen sein. Mein Blick fiel auf einen Bilderrahmen, der auf einem Schränkchen der alten Frau stand und als hätte ich es die ganze Zeit über schon geahnt, bestätigte sich nun meine Annahme. Auf dem Bild waren mein Klient und aller Voraussicht nach seine Tante in herzlicher Umarmung zu sehen.

Natürlich veränderte ich am Tatort nichts, berührte nichts und achtete darauf, wohin ich meine Füße setzte. Für die Spurensicherung war es von höchster Wichtigkeit, alles so vorzufinden, wie es der Täter oder der erste Zeuge hinterlassen hatte. Ein kontaminierter Tatort konnte die spätere Beweislage grundlegend verändern und womöglich zu einem komplett anderen Ergebnis führen. So müssen Ersthelfer oder Notärzte ihre Fingerabdrücke die DNA und eventuell Schuhabdrücke abgeben, damit sie im Zuge eines Ausschlussverfahrens nicht auf der Liste relevanter Spuren auftauchen.

„Herr Lessing mal wieder“, jubelte Oberkommissar Sinner. „Was verschafft mir denn diesmal das Vergnügen?“ „Als Vergnügen würde ich es nun nicht gerade bezeichnen, wenn man eine alte Frau mit eingeschlagenem Schädel in einem Sessel vorfindet.“ Sinner sah mich unwirsch an. „Sie wissen, dass ich es so nicht meinte.“ „Mein Auftraggeber ist aller Wahrscheinlichkeit nach der Neffe des Opfers.“ „Und der hat Sie hierhergeschickt?“, schlussfolgerte Sinner. „Ganz so war es nicht“, erklärte ich. „Mein Klient wusste bislang nicht, dass er möglicherweise der Neffe von Frau Eibel ist.“ Der Oberkommissar sah mich irritiert an. „Wie ist das zu verstehen?“ „Mein Auftraggeber hat bei einem Raubüberfall sein Gedächtnis verloren.“ Sinners Gesichtsfarbe veränderte sich schlagartig. „Lassen Sie mich raten. Der Überfall fand nur einige Meter von hier entfernt statt.“ Ich nickte.

„Dann wird mir nun natürlich allerhand klar“, bekundete er, während es hinter seinen Denkerfalten auffallen intensiv ratterte. „An der Kellertür gibt es Einbruchsspuren“, machte ich Sinner auf meine Beobachtung aufmerksam. „Ich werde meine Leute gleich darauf hinweisen. Im Übrigen drängt sich angesichts der Verwüstungen im Parterre ein Einbruch geradezu auf.“ „Vielleicht auch hier, so wie in Thiede der Beginn einer Serie?“, überlegte ich. „Gut möglich“, stimmte mir Sinner zu. „Haben Sie ihren Klienten schon von dem Tod seiner vermeintlichen Tante unterrichtet?“ „Nein, ich hielt es für sinnvoller, zunächst weitere Informationen zu sammeln, die meine Mutmaßung untermauern, dass es sich bei meinem Auftraggeber tatsächlich um den Neffen von Frau Eibel handelt. Abgesehen davon wollte ich ihm die Nachricht in Ihrem Beisein überbringen.“ „Gut, dann sollten wir doch mal einen Blick in die Unterlagen des Opfers werfen. Vielleicht werden wir ja fündig.“ „In diesem ganzen Durcheinander wäre das allerdings schon ein kleines Wunder“, stöhnte ich beim Anblick der Papiere, die auf dem Wohnzimmerparkett verstreut lagen.

„Es wäre allerdings nett von Ihnen, wenn ich dabei sein könnte, wenn Sie meinen Klienten die Nachricht vom Tod seiner Tante überbringen.“ „Also schön, ich will mal nicht so sein und ein Zeichen für unsere gute Zusammenarbeit setzen.“ Bei so viel Entgegenkommen war ich geradezu geplättet.

„Ich glaube, ich habe hier etwas gefunden“, lenkte Sinner meine Aufmerksamkeit auf einen Aktenordner, den er in seiner Hand hielt. „Wenn mich nicht alles täuscht, ist dies eine Testamentsabschrift.“ „Oh ja“, bestätigte ich. „Ich habe kürzlich erst mit so was zu tun gehabt. Lesen Sie doch mal vor.“ „Sie sind nicht hier und Sie stehen auch nicht neben mir und hören zu“, suggerierte mir der Oberkommissar. „Natürlich nicht“, hatte ich verstanden. „Bla, bla, bla…, vermache ich das Haus meinem geliebten Neffen Tristan Voigt.“ Somit brauchte ich mir zumindest keine Sorgen mehr über die Begleichung meines Honorars machen. „Sie hatten mal wieder ein gutes Näschen, Lessing.“ „Wie so oft, war es eine Kleinigkeit, die mich stutzig machte.“ „Darf ich fragen, was?“ „Die Zeitungsrolle“, entgegnete ich lächelnd. „Das müssen Sie mir unterwegs genauer erklären.“

Da Kommissar Schubert am Tatort verblieb und sich um die kriminaltechnische Untersuchung kümmerte, konnten Sinner und ich zur Adresse von Sonja Rabe fahren. Wir trafen meinen Klienten allein in der Wohnung an. Tristan Voigt alias Knut öffnete uns erstaunt die Wohnungstür. Er hatte ganz sicher nicht damit gerechnet, dass Sinner und ich gemeinsam vor der Tür stehen würden. „Frau Rabe ist im Dienst“, erklärte er, „…aber kommen Sie doch herein. Gibt es etwas Neues?“ „Es ist besser, wenn Sie sich setzen“, schlug der Oberkommissar vor. „Nun sagen Sie schon. Haben Sie etwas herausgefunden?“ „Wir kommen gerade vom Haus Ihrer Tante“, erläuterte Sinner. „Meiner Tante?“, wiederholte Tristan Voigt ungläubig die Worte des Oberkommissars. „Es gab einen Einbruch, bei dem Ihre Tante ums Leben kam.“ „Wie, was für ein Einbruch?“ „Ihr Name ist aller Wahrscheinlichkeit nach Tristan Voigt.“

Lessing 13 „Lessing lebt“

 

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