Detektei Lessing

 

Frohe Weihnachten

 

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„War wirklich eine tolle Idee. Auf diese Weise können wir uns endlich etwas näher kennen lernen“, bekundete Gerda Grothe. „Das ganze Jahr über begegnet man sich im Treppenhaus, im Waschkeller oder vor dem Haus und doch fällt dabei selten mehr als ein flüchtiges Hallo oder ein belangloser Satz über das Wetter.“ „So?“, lächelte Ewald Deutschmann süffisant. „Ich habe eher den Eindruck, dass sich einige in diesem Haus schon viel zu gut kennen.“ „Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht recht folgen“, entgegnete die Dame im pinkfarbenen Kostüm. „Wie ich sehe, amüsiert ihr euch prächtig“, unterbrach Hausmeister Pieper das Gespräch. „Ist es nicht eine prächtige Party? Ich finde Amelies Idee einfach prächtig. Ich bin schon mächtig gespannt, von wem ich beschenkt werde.“ Fräulein Grothe zupfte einen Fussel von ihrem Kostüm und hielt Ausschau. „Erwarten Sie Ihre Tochter?“, erkundigte sich Deutschmann lauernd. „Sie wollte eigentlich dabei sein. Sicher kommt sie wieder nicht aus der Bank. Sie wissen ja, wie das heutzutage ist als Auszubildende.“ „Ja, ja“, seufzte der smarte Sportlehrer zweideutig. „Den jungen Mädchen wird so manches abverlangt.“ „Wenn wenigstens alles vernünftig bezahlt würde“, stimmte der Hausmeister zu. „Da kann ich Ihnen nur beipflichten, Herr Pieper“, lachte Deutschmann, während er sich der gerade den Raum betretenden Irina Pawlawitsch zuwandte.

Mit ihr und ihrer Tochter Tatjana erschienen auch Amelie und Casimir von Laubenstein. Sie wurden von ihren Mietern freudig begrüßt. Kurz darauf traf auch der letzte Gast auf der kleinen Weihnachtsfeier im gemütlichen Festsaal des Hotel und Restaurants Forsthaus ein. Der Besitzer des Mehrfamilienhauses ‚Am Heller 27a', hielt eine kurze Willkommensrede, in der er sich mit einem Augenzwinkern für den pünktlichen Eingang der Mietzahlungen und den gepflegten Zustand der Wohnungen bedankte. Dann übergab er das Wort an seine Ehefrau.

„Wie Sie hoffentlich noch alle wissen, hatte ich bei der letzten Mieterversammlung angeregt, zu unserer diesjährigen Weihnachtsfeier kleine Präsente untereinander zu verschenken. Wie ich mit Freuden sehe, haben Sie alle eine Aufmerksamkeit mitgebracht. Ich schlage vor, uns jetzt über den Weihnachtsbraten herzumachen und anschließend die Geschenke anhand der gezogenen Namenszetteln zu überreichen.“

Freundlicher Beifall signalisierte eine breite Zustimmung. Die zehnköpfige Mieterschar ließ sich dies kein zweites Mal sagen. Man speiste und trank, bis nichts mehr in die Bäuche passte. Ermattet, aber zufrieden und wohl beleibt, lehnten sich die Gäste auf ihren Stühlen zurück. Die Konversation war auf dem Nullpunkt. Erst einmal Luft holen und einen Moment lang verschnaufen, war jetzt der allgemeine Tenor. Einige der Anwesenden fühlten sich auch eine Viertelstunde nach dem Essen geradezu vergewaltigt, als Amelie erneut das Wort ergriff und um die Verteilung der Geschenke bat.

So ganz uneigennützig war Amelie bei der Ziehung der Namen nicht zu Werke gegangen. Mit viel Geschick hatte sie sich den Zettel mit dem Namen des Sportlehrers zugespielt. Da niemand preisgeben durfte, wen er gezogen hatte, waren nun alle sehr gespannt. In den darauf folgenden Minuten herrschte in dem kleinen Festsaal ein freudig erregtes Treiben. Liebevoll verklebtes Geschenkpapier wurde achtlos zerrissen, erfreutes Ah wechselte mit ernüchterndem Oh. Edle Kugelschreiber, überflüssige Krawattennadeln, erlesene Weine, exquisite Pralinen, aber auch weniger freundlich gemeinte Geschenke wechselten den Besitzer. Nichtsdestotrotz herrschte eine ausgelassene Stimmung, bei der jeder der Anwesenden auf seine Kosten kam. Besonderes Highlight aber waren die erotischen Seidenshorts, die Ewald Deutschmann aus dem Geschenkpapier wickelte.

Der Sportlehrer knöpfte ganz langsam sein Hemd auf, streifte das gute Stück ganz langsam über die nackte, glatt rasierte Brust und legte sogleich einen geradezu animalischen Strip hin, bei dem kein Auge trocken blieb. Unter dem rhythmischen Klatschen der anderen, steigerte sich der Sechsunddreißigjährige zu ungeahnter Klasse, bis… ja, bis Casimir von Laubenstedt plötzlich und mit lautem Getöse hinter ihnen zusammenbrach.

Es dauerte einige Augenblicke, bis auch Ewald Deutschmann bemerkte, dass etwas Schreckliches geschehen war. Die euphorische Stimmung unter den Gästen schlug zunächst in gespanntes Abwarten, dann in eine beklemmende Stille und schließlich in blankes Entsetzen um.

Claudia Grothe kniete neben dem wie leblos daliegenden Körper des Vermieters und prüfte dessen Pulsschlag und seine Atmung. Als sie sich zu ihrer Mutter und den anderen umdrehte, stand der Ausdruck der Unfassbarkeit in ihren Augen. „Ich glaube, er ist tot.“ Amelie sackte dem halbnackten Sportlehrer in die Arme. „Quatsch“, entgegnete dieser und setzte seine Last auf einem der Stühle ab. Dann kniete auch er sich neben den Vermieter und legte sein Ohr über dessen Mund. „Er atmet tatsächlich nicht mehr. Einen Herzschlag kann ich ebenso wenig feststellen.“ „Wir müssen den Notarzt rufen“, rief Paul Pieper und stürzte durch die Tür hinaus in das Restaurant. „Ich werde es mit Mund zu Mund Beatmung versuchen.“ Deutschmann hob den Kopf und sah in die entsetzten Gesichter der Umherstehenden. „Claudia, helfen Sie mir bei der Herzmassage.“

„Wozu denn noch?“, entgegnete Martin Antonius, seines Zeichens Freiprediger und einer der ältesten Mieter in der 27. „Herr von Laubenstein ist tot, das sieht man doch“, fuhr er nicht gerade eben pietätvoll fort. „So seien Sie doch endlich still, das ist ja nicht auszuhalten“, ereiferte sich Tatjana Pawlawitsch. Die junge Frau war außer sich. „Ich habe beobachtet, wie er eine von den Pralinen aß und kurz darauf zusammenbrach. Stellt euch vor, er hat mir sogar eine angeboten. Mein Gott, wenn ich nicht so satt gewesen wäre…“

„Die Schachtel mit dem Konfekt muss sichergestellt werden“, bekundete Ewald Deutschmann

nachdenklich. „So, wie es aussieht, wurde Herr von Laubenstein damit vergiftet.“ „Mord?“, schreckte Irina Pawlawitsch entsetzt auf, während sie sich an ihre Tochter klammerte. „Wer hat ihm eigentlich die Pralinen geschenkt?“, fragte Martin Antonius wider besseres Wissen in die Runde. „Mein Mann!“, entgegnete die Frau des Hausmeisters. „Er hat mir den Zettel mit dem Namen gezeigt. Davon abgesehen habe ich ihm das Konfekt besorgt. Sie sehen also, dass es unmöglich die Pralinen gewesen sein können, oder wollen Sie behaupten, ich hätte die Süßigkeit vergiftet?“ Die Anwesenden gerieten ins Tuscheln. „Das hat ja niemand behauptet“, beruhigte Tatjana Pawlawitsch. „Vielleicht sollten wir erst einmal auf den Arzt warten.“

Nach unerträglichem Warten trafen endlich der Notarzt und die Sanitäter ein. Claudia Grothe und Ewald Deutschmann stellten ihre Bemühungen erst ein, als der Notarzt bereits neben ihnen kniete. „Das haben Sie wirklich großartig gemacht“, lobte er, „wir übernehmen jetzt.“ Es dauerte nicht lange, bis der Arzt wieder den Kopf hob, sein Stethoskop zur Seite legte und ernüchternd mit dem Kopf schüttelte. „Da war leider nichts mehr zu machen.“ „Wer weiß, mit was der Ärmste vergiftet wurde?“, begann Gerda Grothe unvermittelt zu schluchzen. Die Frau im pinkfarbenen Kostüm hatte sich abseits der übrigen Gäste auf einen der Stühle gesetzt und der Dinge ausgeharrt. Umso betroffener schien sie nun. „Casimir wurde getötet.“

 

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„Wenn ich Sie richtig verstanden habe, waren Ihre Blicke, während Herr von Laubenstein zusammenbrach, auf Herrn Deutschmann gerichtet, der…“ Hauptkommissar Kleinschmidt stockte, um sich naserümpfend den breiten Schnauzer glatt zu streichen. „Der die Anwesenden mit einem Strip in seinen Bann zog.“ „Na ja, war halt ganz lustig, wie Ewald sein Geschenk präsentierte“, bemerkte Claudia Grothe. „Wer kam eigentlich auf die Idee mit den Geschenken?“, erkundigte sich Kommissar Tim Sinner. „Frau von Laubenstein“, entgegnete Paul Pieper, der zusammengesunken auf einem der Stühle kauerte. „Jeder von Ihnen hat also einen Zettel mit dem Namen desjenigen gezogen, den er auf dieser Feier beschenken sollte. Das ist doch so richtig?“, fasste Kleinschmidt zusammen. Die Anwesenden nickten. „Nun, es ist keineswegs sicher, dass Herr von Laubenstein das Opfer eines Mordes wurde und ebenso wenig, dass man den Ärmsten vergiftet hat, das wird erst die Obduktion ergeben, aber abgesehen davon, würde mich schon interessieren, wer von Ihnen dem Verstorbenen die Pralinen überreichte?“ Sämtliche Mieter starrten gebannt auf Paul Pieper. „Ich!“, gab der Hausmeister kleinlaut zu.

„Das ist doch alles dummes Zeug!“, ereiferte sich seine Frau, bevor der Hauptkommissar auch nur die kleinste Reaktion zeigen konnte. „Mein Mann kann keiner Fliege etwas zu Leide tun. Der ist ja sogar zu zaghaft, um einem Hausierer die Tür vor die Nase zu schlagen.“ Was nicht heißen sollte, dass sie nicht selber mit einer solchen Situation fertig geworden wäre. „Wie gesagt“, bekundete Kleinschmidt, während sich Kommissar Sinner eifrig Notizen machte. „Bislang sondieren mein Kollege und ich lediglich das Terrain. Das Konfekt werden wir selbstverständlich sicherstellen.“ „Hat jemand von Ihnen, unmittelbar nachdem Herr von Laubenstein zusammenbrach, den Raum verlassen?“, erkundigte sich Kleinschmidts jüngerer Kollege forschend. Wieder drehten sich die Anwesenden zum Hausmeister um. „Ich habe den Rettungsdienst alarmiert“, rechtfertigte sich Paul Pieper. „Aber hatte denn niemand von Ihnen ein Handy dabei?“ Die Mieter sahen sich nachdenklich an „Wäre es nicht schneller gegangen, wenn jemand sein Handy benutzt hätte?“ „Da hat in dem Moment wohl niemand von uns dran gedacht.“ „Was gewiss kein Vorwurf sein soll“, mischte sich Kleinschmidt wieder in die Befragung. „Dann können wir ja jetzt wohl endlich nach Hause gehen?“, fragte Martin Antonius ungeduldig. „Sofern Sie Kommissar Sinner Ihre Adressen gegeben haben“, entgegnete Kleinschmidt. „Wir werden uns in jedem Fall bei Ihnen melden.“

Während sich der Raum zusehends leerte, setzte sich der Hauptkommissar zu Paul Pieper. „Von Ihnen bräuchten wir allerdings noch die Fingerabdrücke.“ Der Hausmeister nickte betreten. „Laubenstein war nicht gerade das, was ich einen Freund nenne, aber deswegen bringe ich doch niemanden um.“ „Davon kann ja auch keine Rede sein, aber Sie haben nun einmal die aller Wahrscheinlichkeit nach vergifteten Pralinen überreicht.“ „Das kann ich nicht leugnen.“

 

-3-

 

„Also doch!“, fasste der Hauptkommissar nach dem Studium des Obduktionsberichtes kurz und knapp zusammen, als hätte er kein anderes Ergebnis erwartet. „Habe ich es dir nicht gleich gesagt?“ Kollege Sinner unterbrach seine Arbeit am Computer und horchte auf. „Mord?“, fragte er nicht weniger knapp. Kleinschmidt nickte. „Laut Befund ist das Opfer an Herzversagen gestorben. Hervorgerufen durch eine Digitalisvergiftung, die in hoher Dosis zu einer Extrasystonie und schließlich zu Herzkammer-flimmern und letztendlich zum Herzschlag führte.“ Der Hauptkommissar legte seine Stirn in Falten. „Das kapiert doch keine Sau! Vielleicht soll man auch noch Medizin studieren, um dieses Fachgequake in allgemein verständliche Worte zu übersetzen.“ „Digitalis wird aus der Fingerhut Pflanze gewonnen“, erklärte Sinner. „ Eigentlich ein sehr heilsames Herzstärkungsmittel, wenn es mit Meerzwiebeln, Maiglöckchen und Adonisröschen versetzt wird. Der Mann ist auf eine sehr ungewöhnliche Weise vergiftet worden.“ „Adonisröschen“, witzelte Kleinschmidt. „Ich glaub, ich spinne. Zumindest hat dieser Pieper Sinn für Humor.“

Sinner wandte sich wieder dem Computer zu. „Schauen wir doch mal nach, ob ich in meiner Zauberkiste irgendetwas finde, was uns in dieser Sache von Nutzen sein könnte. Wenn dieser Pieper tatsächlich seinen Chef vergiftet hat, sollte es einen Grund dafür geben.“ Kleinschmidt runzelte die Stirn. „Du weißt, was ich von diesen Kisten halte, ich verlasse mich lieber auf mein Näschen und die gute alte Ermittlungsarbeit. Ich werde inzwischen in den Heller fahren und den Mietern ein wenig auf den Zahn fühlen.

Der Kommissar verließ das Präsidium an der Lindener Straße. Eine einzige Frage war es, die ihn während der Fahrt zum Heller 27 beschäftigte: Warum nur war dieser Hausmeister ein derart hohes Risiko eingegangen? Kleinschmidt schüttelte nachdenklich den Kopf. Ihm musste doch klar gewesen sein, dass jeder Pathologe feststellen würde, auf welche Weise das Opfer ums Leben gekommen war. Immer wieder wog er Für und Wider miteinander ab. Noch hielt die logische Waage in seinem Hirn das Gleichgewicht, aber solange kein Motiv für eine solche Tat vorhanden war, musste auch für Paul Pieper die Unschuldsregel gelten.

Kleinschmidt parkte seinen Dienstwagen der Häuserzeile gegenüber und stieg aus. Bevor er die Straßenseite wechselte, fuhr sein Blick an der Fassade des in die Jahre gekommenen Mietshauses empor. Der viergeschossige Bau war optisch in einem eher tristen Zustand. Rechts und links des in der Mitte des Gebäudes befindlichen Treppenhauses befand sich je Stockwerk eine Wohnung. Was letztendlich auf sieben bis acht Parteien schließen ließ. Die ordentlichen Gardinen und die gepflegten Blumen auf den Fensterbänken ließen den Hauptkommissar auf einen soliden Mittelstand schließen. Kleinschmidt fiel auf, dass sich die Fenster im Obergeschoss rechts zumindest äußerlich von den anderen unterschieden. Er machte sich einen Spaß daraus, anhand seiner Menschenkenntnis und dem ersten Eindruck, den er am Tatort von den Anwesenden gewonnen hatte, die Wohnungen entsprechend zuzuordnen. Erst als er sich seiner Überzeugung sicher war, überquerte er die Straße und drückte seinen Finger auf die unterste der sieben Klingelknöpfe.

„Ja bitte?“, hallte eine raue Stimme aus dem Lautsprecher. Kleinschmidt war sich nicht sicher, ob es die Stimme eines Mannes oder einer Frau war. „Hier Hauptkommissar Kleinschmidt, ich müsste Sie dringend sprechen, Herr Pieper.“ „Mein Mann ist im Hof“, dröhnte es noch unfreundlicher zurück. „Sie müssen hinten rum gehen, ich habe gerade das Treppenhaus gewischt.“ Ein schlichtes Klicken signalisierte dem Ermittler, dass die Frau des Hausmeisters das Gespräch beendet hatte. Dumme Gans , dachte er sich wütend, während er nach dem Seiteneingang suchte. Da wird einem doch gleich wieder klar, weshalb man Junggeselle geblieben ist, wetterte er vor sich hin.

Es dauerte eine Weile, bis er den schmalen Weg neben dem angrenzenden Mehrfamilienhaus gefunden hatte. Wer hier mit dem Wagen fahren wollte, muss ausgezeichnet rangieren können , sinnierte er an seine eigene Kindheit zurückdenkend. Damals, als er noch mit seinen Eltern in Halberstadt lebte und der Kohlenmann auf einem ähnlich engen Weg in den Hinterhof gefahren kam. Ein leises Lächeln huschte über seine Züge, als er an das kleine Holzhäuschen dachte, mit dem ausgesägten Herz in der Tür. Bei der letzten Kohlelieferung war der alte DKW Kastenwagen auf dem vom Regen aufgeweichten Lehmboden ins Rutschen gekommen und dagegen gerutscht. Der alte Holzverschlag war mit lautem Getöse zusammengekracht, was zur Folge hatte, dass sich alle sechs im Hause lebenden Familien während der folgenden Wintermonate ein einziges Toilettenhäuschen teilen mussten, doch die waren gewiss nicht mit diesem Winter zu vergleichen, der ja gar nicht so recht in die Gänge kommen will.

Kleinschmidt war noch immer in seinen Gedanken versunken, als Paul Pieper unvermittelt vor ihm stand. „Wollen Sie zu mir?“, schreckte er den Hauptkommissar mehr oder weniger auf. „Wie – äh – ja“, stammelte der sonst so arrogant wirkende Mann mit dem Schnauzer verlegen. „Sie können sich ja denken, warum ich hier bin“, fasste sich der Kriminalbeamte sofort wieder. „Allerdings“, entgegnete Pieper mit feuchter Aussprache. Eine leichte Alkoholfahne waberte Kleinschmidt entgegen. „Es geht um Casimir“, brachte es der Hausmeister auf den Punkt. „Gott hab ihn selig“, fügte er sich bekreuzigend hinzu. „Sie sind katholisch?“, erkundigte sich der Hauptkommissar bedächtig. „Nein, aber kommen Sie doch erst einmal rein. Sieht so aus, als wolle es gleich wieder anfangen zu regnen.“

Paul Pieper wandte sich in Richtung Garten und stakste los. Kleinschmidt fiel auf, dass der etwa zwei Meter vor ihm gehende Hausmeister das rechte Bein nachzog. „Wie lange wohnen Sie schon in diesem Haus?“, fragte er ihn, während er ihm zu einem Verschlag folgte. Pieper zog wortlos die Schuppentür auf und verschwand darin. „Nun kommen Sie schon herein, Herr Hauptkommissar“, forderte er Kleinschmidt auf. „Wird ja ganz kalt hier drinnen.“ „Sofern man überhaupt von Kälte reden kann“, entgegnete der Kriminalbeamte. „Setzen Sie sich, hier sind wir ungestört.“ Ein betörender Duft von heißem Rum kroch dem Bärtigen in die Nase. Der Hausmeister öffnete unterdessen die quietschende Klappe eines alten gusseisernen Werkstattofens und legte ein Holzscheit nach. „Meine Olsche verirrt sich nur höchst selten hierher.“

„Also?“, nahm Kleinschmidt die Befragung wieder auf. Pieper griff in ein Schränkchen und nahm einen Becher heraus, der neben einem altertümlichen Mörser stand. Dann pustete den Staub ab und wandte sich wieder seinem Gast zu. „Wie wäre es mit einem guten Friesentee?“ Der Hauptkommissar nickte. „Also was?“, entgegnete Pieper schließlich, während er das Gefäß füllte. „Wie lange wohnen Sie schon in diesem Haus?“, wiederholte Kleinschmidt seine Frage. Der Tatzeuge reichte ihm den Becher und setzte sich auf einen Holzschemel. „Das müssen inzwischen bald zwanzig Jahre sein.“ „Wie standen Sie zu Herrn von Laubenstein?“ Pieper zuckte mit den Achseln. „Normal.“ „Was heißt normal?“, hakte der Hauptkommissar nach. „Na, wie man eben so zu seinem Chef steht. Casimir war schon ganz in Ordnung. Er hat nicht mit seinem Geld herumgeprotzt, war nicht viel anders als Sie und ich. Er hat so manches Mal auf Ihrem Platz da gesessen und wir haben von den guten alten Zeiten erzählt.“ Der Mann auf dem Schemel schüttelte betrübt den Kopf. „Aber damit ist es ja nun vorbei.“

„Tja, umso trauriger sind die Umstände, die zu seinem Tod führten. Die Obduktion hat nämlich inzwischen zweifelsfrei ergeben, dass Casimir von Laubenstein das Opfer eines Giftanschlags wurde. Das gleiche Gift wurde in den Pralinen nachgewiesen, die der Tote von Ihnen bekommen hatte.“ „Das habe ich mir schon gedacht“, entgegnete Pieper gefasst. „Ist das alles, was Sie dazu sagen?“ „Sie würden mir ohnehin nicht glauben, dass die Pralinen eigentlich für mich bestimmt waren.“ Kleinschmidt nahm einen kräftigen Schluck aus dem Becher und begann zu husten. „Wie soll ich das verstehen?“ „Der Hausmeister leerte seinen Becher und stand auf, um sich nachzuschenken. „Es ist ungefähr einer Woche her, als es an der Tür läutete. Ein Bote von irgend so einem Paketdienst gab ein Päckchen ab. Zunächst dachte ich, Sabine hätte sich mal wieder etwas bestellt, doch dann stellte ich fest, dass mein Name auf dem Päckchen stand. Ich öffnete es und fand genau diese Pralinen darin.“

Kleinschmidt sah sein Gegenüber naserümpfend an. „Hm, von wem kam das Paket?“ Pieper sah den Hauptkommissar seufzend an. „Ich weiß es nicht mehr. Irgend so eine Firma. Ich habe die Verpackung weggeworfen, weil ich annahm, es würde sich um eine Werbesendung handeln. Wegen Weihnachten – oder so.“ „Sie haben Recht, Herr Pieper, Ihre Geschichte klingt reichlich dünn.“ „Ich weiß, aber genauso war es. Wenn ich mir etwas aus Süßigkeiten machen würde, wäre ich jetzt tot.“ „Also schön“, strich sich Kleinschmidt nachdenklich durch den Schnauzer. „Gesetz den Fall, es war tatsächlich so, wer sollte einen Grund haben, Ihnen nach dem Leben zu trachten?“ Der Hausmeister ließ sich bedächtig auf seinem Schemel nieder und nahm einen weiteren Schluck aus dem frisch aufgefüllten Becher. „Genau das habe ich mich auch schon gefragt.“ Seine Stimme klang mittlerweile leicht verwaschen, seine Aussprache wurde zunehmend feuchter und in seinen Augen zeichnete sich ein zunehmender Glanz ab, aber seine Gehirnwindungen schienen nach wie vor logisch zu arbeiten. „Ich weiß es nicht.“

Kleinschmidt stellte den noch zur Hälfte gefüllten Becher Tee mit Rum – oder besser, Rum mit Tee – auf dem altertümlichen Küchentisch ab und erhob sich. „Nehmen Sie mich jetzt mit?“ fragte Pieper mit zittriger Stimme. „Nein, aber es wäre besser für Sie, wenn Sie sich an den Paketzusteller erinnern könnten, oder noch besser, wenn Sie die Verpackung wieder beschaffen könnten, in der Ihnen die Pralinen geschickt wurden.“ Der Befragte winkte ab. „Seit Casimirs Tod habe ich mir darüber das Hirn zermartert. Ich bin mir nicht mal sicher, an welchem Tag das verdammte Paket kam. Immer wieder muss ich daran denken, dass ich anstatt seiner jetzt tot sein könnte.“ „Was erst noch zu beweisen wäre“, schloss Kleinschmidt die Unterhaltung. Er stieß die etwas klemmende Tür auf und setzte einen Fuß ins Freie, von wo aus er sich noch einmal zu Pieper wandte.

„Wenn Sie so fest davon überzeugt sind, dass Sie das eigentliche Ziel des Mörders waren, muss es in Ihrer Vergangenheit irgendwo einen dunklen Flecken geben. Denken Sie in Ruhe über meine Worte nach und wenn Sie eine Idee haben, lassen Sie es mich wissen. Der Hauptkommissar reichte Pieper seine Visitenkarte. „Ach ja und seien Sie auf der Hut, wenn Sie Recht haben, könnte es der Mörder ein zweites Mal versuchen.“ „Und wenn er dann mehr Erfolg hat?“, entgegnete Pieper entsetzt. „Dann kann ich Sie als Tatverdächtigen zumindest ausschließen.“

 

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„Na, haben deine Recherchen an dem elektronischen Zauberkasten irgendetwas Brauchbares zu Tage gefördert?“, erkundigte sich Kleinschmidt bei seinem Kollegen. Auf Sinners Gesicht spiegelte sich ein breites Lächeln wieder. „Sie strahlen ja wie ein Mondkalb während der Sonnenfinsternis. Nun rücken Sie schon raus mit Ihrer Neuigkeit, ehe Sie vor Genugtuung platzen.“ „Zunächst habe ich in der Vergangenheit von Casimir Laubenstein etwas genauer angesehen. Dabei bin ich auf eine Kandidatur für den Landtag gestoßen. Sinner tippte die Seite des Archivs der ehemaligen Wolfenbütteler Zeitung ein. Ich wollte wissen, wie die regionale Presse auf sein Vorhaben reagierte und stellte fest, dass der Mann gute Chancen hatte.“ „Und, was ist geschehen?“, hakte Kleinschmidt skeptisch nach. „Ich kann mich nicht an einen Landtagsabgeordneten mit dem Namen Laubenstein erinnern.“ „Kein Wunder, kurz vor Toresschluss hat er die letzte Wahlkampfkundgebung geschmissen. Was ihm seine Wähler ziemlich übel nahmen. Er blieb seiner Partei zwar treu, hielt sich jedoch bis zu seinem Tod eher im Hintergrund.“

Kleinschmidt schüttelte verständnislos den Kopf. „Ich durchforstete das Archiv der Wolfenbütteler Zeitung, ohne zunächst auf eine Erklärung zu stoßen. Wie Sie sich denken können, gab es deswegen einen ziemlichen Aufruhr. Die Presse überschlug sich förmlich.“ Kleinschmidt rümpfte die Nase, wie er es immer tat, wenn ihm etwas unklar war. „Möchte bloß wissen, was der Grund für sein Verhalten war. Einen Mann wie diesen Laubenstein wirft doch keine Lappalie aus der Bahn. Da muss schon etwas Außerordentliches vorgefallen sein“, mutmaßte der Mann mit dem Schnauzer.

Wieder flogen Sinners flinke Finger über die Tastatur des Rechners. Zugangspasswörter wechselten mit Zahlenkombinationen und immer wieder tauchte das weiße Pferd im roten Schild auf dem Monitor auf, welches den Stern der Niedersächsischen Polizei ziert. Schließlich präsentierte er Kleinschmidt seinen Fund mit breit geschwellter Brust. „Ich stieß eigentlich per Zufall unter der Rubrik ‚ungeklärter Schwerverbrechen' auf eine Vergewaltigung, bei der Pieper Zeuge war. Bei dem Versuch, der jungen Frau zur Hilfe zu kommen, flüchtete der Vergewaltiger und fuhr Pieper kurzerhand über den Haufen. Leider konnten weder Pieper noch die junge Frau den Täter ausreichend beschreiben. Wäre doch möglich, dass Pieper in jenem Mann, den Politiker Laubenstein erkannte und gegenüber der Polizei nur vorgab, den Täter nicht richtig gesehen zu haben, um auf diese Weise finanziell auszusorgen.“

Der Hauptkommissar schlug seinem jungen Kollegen anerkennend auf die Schulter. „Alle Achtung, ich weiß zwar nicht, wie Sie mit dieser elektronischen Zauberkiste klar kommen, aber offensichtlich haben Sie ein Händchen dafür.“ So viel Lob war Sinner nun wirklich nicht aus dem Munde seines Kollegen gewohnt. Bahnte sich hier am Ende doch noch eine kollegiale Partnerschaft an?

Kleinschmidt ging an die Tafel und nahm ein Stück Kreide zur Hand. „Zählen wir doch mal zusammen, was wir bislang haben.“ Da wäre zunächst die Pralinenschachtel, auf der sich, wie wir inzwischen wissen, ausschließlich die Fingerabdrücke von Pieper und dem Opfer befinden.“ Sinners Gesicht verzog sich zu einer schmerzverzerrten Grimasse, als der Hauptkommissar die Kreide quietschend über die Tafel zog. „Ein mögliches Motiv für die Tat könnte das Verbrechen sein, bei dem Piepers Bein steif blieb“, vervollständigte Sinner. „Möglich“, brütete Kleinschmidt. „Vorausgesetzt von Laubenstein war tatsächlich der Täter. Aber warum bringt Pieper den Mann erst zwanzig Jahre später um? Da stimmt irgendetwas nicht. Wenn Pieper ihn vergiftete, muss mehr dahinter stecken.“ „Dass er Laubenstein nicht anzeigte, kann nur eines bedeuten“, überlegte Kommissar Sinner. „Er hat ihn für seine Tat finanziell bluten lassen.“

„Was haben wir noch?“, überlegte Sinner. „Dieses Digitalis ist kein Gift, das man in jeder Apotheke bekommt“, sinnierte Kleinschmidt. „Wie ist er daran gelangt und woher wusste er, wie er es dosieren muss?“ „Auch da konnte ich etwas in Erfahrung bringen“, erklärte Sinner jovial. „Bis kurz vor dem Anschlag war Pieper in einer kleinen Chemiefabrik in Dorstadt angestellt.“ Der Kommissar durchwühlte einen Stoß Papiere, die sich in einer Plastikablage befanden. „Moment, ah ja, da ist es ja. Die Firma hieß Erben-Chemie. Hat die Produktion allerdings längst eingestellt. Wenn Sie mich fragen, brauchen wir doch nur noch eins und eins zusammenzählen.“ Der Hauptkommissar wog nachdenklich den Kopf. „Dennoch, das alles reicht mir noch nicht, um einen Haftbefehl zu beantragen“, wehrte er entschlossen ab, „aber es reicht, um bei der Staatsanwältin einen Durchsuchungsbeschluss für die Wohnung Pieper zu bekommen.“

 

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„Haben Sie denn nichts Besseres zu tun, als uns die Zeit zu stehlen?“, ereiferte sich Sabine Pieper, als sie dem Drängen des Hauptkommissars endlich nachgab und die Wohnungstür für die Polizeibeamten öffnete. Sinner hielt ihr ein amtliches Dokument unter die Nase und winkte einige Kollegen an sich und der perplexen Frau in der Kittelschürze vorbei. „Wie Sie zweifelsfrei erkennen können, handelt es sich um einen höchst richterlichen Durchsuchungsbeschluss“, erläuterte der Sinner.

Es dauerte einen Moment, ehe sich Sabine Pieper gefangen hatte. „Anstatt hier Ihre Show abzuziehen, sollten Sie lieber den wirklichen Mörder unseres armen Vermieters schnappen.“ Die resolute Frau stemmte die Fäuste in die Hüften. „Welchen Grund sollte mein Paul haben, den Laubenstein zu töten? So, wie es eben aussieht, werden wir hier die Stellung als Hausmeisterehepaar und obendrein auch noch die Wohnung verlieren. Okay, es war nichts Besonderes hier, aber wir hatten ein gesichertes Auskommen. Eine ganze Menge, wenn Sie sich diesen Versager von Ehemann genauer betrachten.“

Kleinschmidt verdrehte die Augen. Von dieser Furie konnte selbst er noch lernen. „Wenn Sie Ihren Mann nicht mehr lieben, verstehe ich nicht, weshalb Sie ihn nicht verlassen.“ Die bärbeißige Frau lachte zynisch auf. „Das habe ich mich in den letzten Jahren mehrfach gefragt, glauben Sie mir, aber sehen Sie mich doch an, der Lack ist ab, wie man so sagt. Dieser Pfennigfuchser schaffte nie genug Geld heran, um mir auch nur ein wenig mehr, als ein halbwegs erträgliches Leben zu bieten. Hockt den lieben langen Tag da draußen in seiner Hütte und hält Maulaffen feil anstatt anderwärtig ein wenig Geld hinzuzuverdienen.“

„Kommen Sie doch bitte mal in das Bad herüber, Herr Hauptkommissar“, hörte Kleinschmidt die Stimme seines Kollegen durch die Wohnung tönen. Der Mann mit dem Schnauzer folgte Sinners Bitte nur allzu gerne. „Haben Sie etwas gefunden?“ „Ich bin kein Chemiker, aber mich soll der Affe lausen, wenn dies nicht Digitalis ist. Der prägnant bittere Geruch und die leicht gelbliche Farbe der Substanz deuten zumindest darauf hin.“ „Am besten lassen Sie das Zeugs sofort ins Labor schaffen, umso eher wissen wir, ob sich Ihr Verdacht bestätigt.“

Kleinschmidt verließ das Bad mit einem einerseits hochzufriedenen, andererseits eher bedrückenden Gesicht. Der biedere Hausmeister war ihm nicht unsympathisch. Vielleicht war es so etwas wie Mitleid, vielleicht war es aber auch seine langjährige Berufserfahrung und die Menschenkenntnis, die er sich während dieser Zeit angeeignet hatte und die nun von Paul Pieper das Bild eines aufrechten Mannes zeigten. Nachdenklich beobachtete er daher, wie seine Kollegen Raum für Raum genauestens unter die Lupe nahmen. An der letzten Tür stutzte er. „Wessen Zimmer ist dies?“, fragte er die Frau des Hausmeisters, die das Geschehen nach wie vor argwöhnisch beobachtete.

„Das ist Lianes Reich, wenn sie zu Hause ist.“ Der Hauptkommissar rieb sich seinen Schnauzer. „Sie haben eine Tochter?“ „Warum überrascht Sie das? Sehen Mütter Ihrem Verständnis nach anders aus?“ Kleinschmidt schluckte seine Antwort trocken hinunter. „Es ist nur, weil bislang keine Rede davon war.“ „Warum auch? Liane studiert in Marburg BWL. Sie ist nur gelegentlich daheim.“ Kleinschmidt deutete auf ein großes Foto, das in einem silberfarbenen Rahmen steckte. Es zeigte eine äußerst attraktive junge Frau auf einem gefällten Baumstamm sitzen. „Ist sie das?“ Ein warmes Lächeln zuckte über die sonst so frostigen Züge der Hausmeisterin. „Ja, das ist meine Liane.“ Kleinschmidt zog ein kleines Notizheftchen hervor. „Wann hat Sie Ihre Tochter zum letzten Mal besucht?“ „Wozu wollen Sie das wissen?“ „Reine Routine.“ „Dann geht es Sie auch nichts an!“ Der Hauptkommissar musste einige seiner Nerven mobilisieren, um sich zu beherrschen. Schließlich steckte er das Notizheft lächelnd ein und ließ es dabei bewenden.

„Wie war eigentlich Ihr Verhältnis zu Herrn von Laubenstein und seiner Gattin?“ Sabine Pieper kratzte sich nachdenklich unter dem Tafttuch, welches ihre Lockenwickler abdeckte. „Was heißt hier Verhältnis? Wir sind gut mit den Leuten ausgekommen. Das Geld war pünktlich auf dem Konto und zu Weihnachten gab's immer einen Präsentkorb, den Herr von Laubenstein persönlich bei uns hereinreichte. Aber damit ist es ja nun wohl auch vorbei.“

„Hier im Wohnzimmer sind wir fertig, Herr Hauptkommissar“, machte Sinner seinem Kollegen deutlich, die Hausmeisterin dort in aller Ruhe weiter befragen zu können. Kleinschmidt nahm sich seiner undankbaren Aufgabe eher widerwillig an. In der Gewissheit, dass ihm Sabine Pieper nicht von der Seite weichen würde, wechselte er die Örtlichkeit, um seinem Kollegen ein ungestörtes Arbeiten zu ermöglichen.

„Wie war das Verhältnis der übrigen Hausbewohner zu ihrem Vermieter?“, erkundigte sich der Mann mit dem Schnauzer in der Hoffnung, wenigstens dazu eine vernünftige Antwort zu erhalten. „Ich werde mich keinesfalls zu irgendwelchem Tratsch hinreißen lassen, aber in diesem Zusammenhang von Verhältnissen zu sprechen, trifft es schon eher.“ Der Hauptkommissar horchte auf. „Verstehe ich Sie richtig, dass Herr von Laubenstein zu einer der Hausbewohnerin eine Beziehung hatte?“ „Wer spricht denn von Herrn von Laubenstein? Nicht, dass Casimir ein Kostverächter gewesen wäre, aber abgesehen von seinem Geld hatte der doch nicht viel zu bieten – wenn Sie verstehen, was ich meine.“

Kleinschmidt verstand nur zu gut. „Welcher der Mieter durfte sich denn Aufmerksamkeit von Frau Laubenstein erfreuen?“ „Von mir wissen Sie aber nichts“, erbat sich die Hausmeisterin Diskretion. „Aber andererseits kann's mir ja eigentlich auch egal sein. In drei Monaten sind wir hier sowieso verschwunden.“ Sabine Pieper tuschelte hinter vorgehaltener Hand. Der Hauptkommissar musste schon genau hinhören, um sie zu verstehen. „Was für ein Falkennest?“, wiederholte er die Stirn runzelnd. „Psst“, ermahnte ihn die Frau in der Kittelschürze. „Der Deutschmann sitzt doch da oben wie in einem Horst und starrt den ganzen Tag auf die Straße hinunter, damit ihm ja keine Beute durch die Fänge geht.“ „Sie meinen, dieser Deutschmann unterhält gleich mehrere Beziehungen gleichzeitig?“ Die Hausmeisterin winkte mit großen Augen ab. „Ich könnte Ihnen da Sachen erzählen, da stünde Ihnen selbst der Schnauzer noch zu Berge.“

In diesem Moment betrat Kommissar Sinner mit einem Pappkarton das Wohnzimmer. „Wir sind fertig“, verkündete er. „Diese Sachen nehmen wir zu einer genaueren Untersuchung mit ins Präsidium.“ Er reichte Sabine Pieper eine Quittung. „Darauf sind alle Dinge vermerkt, die in dieser Kiste sind. Sie bekommen die Sachen später wieder.“ Die Frau mit den Lockenwicklern im Haar war entrüstet aufgesprungen. Sie baute sich im Türrahmen auf und versperrte Sinner den Weg nach draußen. „Dürfen Sie das überhaupt?“, fragte sie mit energischer Stimme. „Seien Sie versichert“, mischte sich Kleinschmidt in den drohenden Schlagabtausch.

„Also schön“, lenkte sie zähneknirschend ein. „Dann will ich aber auch überprüfen, ob tatsächlich alles auf der Quittung aufgeführt ist, was Sie da rausschleppen wollen.“ „Das ist Ihr gutes Recht.“

 

„Haben Sie noch etwas Interessantes gefunden?“, erkundigte sich Kleinschmidt wenig später auf der Fahrt zurück ins Präsidium. Sinner zeigte sich zufrieden. „Fotos, Bankunterlagen und ein Tagebuch der Tochter.“ „Ein Tagebuch?“, zeigte sich der Hauptkommissar beeindruckt. „Tagebücher sind für unsereins wahre Fundgruben. Obwohl ich darin jedes Mal mit gewissen Hemmungen lese.“ „Wenn Sie damit Probleme haben…“, bot sich Sinner an. „Nein, nein“, wiegelte Kleinschmidt ab, „da bin ich viel zu neugierig.“

„Halten Sie sich fest, Tim.“ Der Hauptkommissar setzte das quadratische Büchlein ab, welches in rotem Kunstleder gebunden und mit einem kleinen messingfarbenen Schloss versehen war. Seine behandschuhten Finger blätterten einige Seiten zurück. „Hören Sie sich das an: …als ich wegen der Wäsche im Keller war, ist es wieder geschehen. Dieses verdammte Schwein ist mir nachgegangen und er hat es wieder getan. Es war so ekelig und obwohl es kaum noch zu ertragen war, ließ ich es auch dieses Mal über mich ergehen. Was kann ich nur tun? Ich halte es nicht mehr aus. Sein ekeliger, nach Schweiß stinkender Körper, sein galliger Atem und das fiese Grinsen, wenn er meine Schenkel auseinanderdrückt und in mich eindringt, bestimmen meine Gedanken, verfolgen mich bis in meine Träume und machen mir das Leben zur Hölle. Er droht damit, Papa zu kündigen und uns aus der Wohnung zu werfen, wenn ich es jemanden erzähle. Vielleicht wird alles gut, wenn ich von zu Hause fortgehe?“

Kleinschmidt ließ das Buch sinken und schüttelte erschüttert mit dem Kopf. „Es liegt ja wohl auf der Hand, von wem hier die Rede ist!“ Sinner verzog das Gesicht, als habe er gerade in eine besonders saure Zitrone gebissen. „Hat sie ihren Peiniger mit Namen genannt?“ „Ich bin noch nicht durch, aber bislang vermied sie es.“ Der Kommissar seufzte. „Wir müssen mit der jungen Frau reden.“ Kleinschmidt nickte und las weiter.

Nach einer Weile hob er wieder den Kopf. „Leider, das Mädchen musste so voller Angst gewesen sein, dass sie es nicht wagte, diesen Mistkerl beim Namen zu nennen. Es deutet jedoch alles darauf hin, dass es sich um Laubenstein handelt. Sie wird den Namen auch dann nicht preisgeben, wenn wir sie mit ihren Einträgen konfrontieren, weil sie ihren Vater dann noch mehr belasten würde.“ „Möglich“, entgegnete Sinner gedankenvoll.

„Wo genau haben Sie das Tagebuch gefunden?“, erkundigte sich der Hauptkommissar. „Es war hinter einer Sockelblende ihres Kleiderschranks versteckt. Wenn ich mich nicht mit der Hand an einem hervorstehenden Nagel geratscht hätte, wären wir nicht darauf gekommen.“ „Es ist also gut möglich, dass der Tatverdächtige gar nichts von dem Versteck und somit von diesem Tagebuch wusste“, spekulierte der Hauptkommissar. „Möglich.“

Kleinschmidt wählte die Nummer des Labors. „Wenn die Fingerabdrücke ihres Vaters auf dem Tagebuch sind, haben wir das bislang fehlende Motiv für den Mord“, schlussfolgerte er, überzeugt von seiner Überlegung. „Hallo, Marlis? Ich hätte da noch eine dringende Bitte, …“ Nachdem der Hauptkommissar sein Anliegen vorgetragen und den Hörer zufrieden aufgelegt hatte, erhob er sich und griff nach seiner Jacke. „Auf was warten Sie, Sinner? Schnappen Sie sich das Buch und dann los!“

 

-6-

 

Eigentlich hätte ich mich pausenlos zwicken müssen, um das zu glauben, was so fantastisch, wie aber auch gleichzeitig so beängstigend war. In einigen Tagen stand das Weihnachtsfest an und doch war es von den Temperaturen her noch immer mild genug, um an einem der Tische vor meinem Lieblingscafe zu sitzen. Nicht, dass es sich nur um ein paar Tage gehandelt hätte, nein, dieser Winter war eigentlich nichts anderes als ein fortwährender Herbst. Anstatt Schnee und Frost auf vereisten Straßen, blühten Rosenbüsche und Geranien. Auf den Baustellen der Stadt herrschte noch immer rege Betriebsamkeit. Selbst Enten und Schwäne im nahen Stadtpark befanden sich noch nicht in ihrem Winterquartier.

Wie fast alles im Leben hatte natürlich auch diese, eher angenehme Situation ihre Schattenseite. Schon sprach man von Klimaerwärmung, fürchtete das Abschmelzen der Polkappen und um das Ansteigen des Meeresspiegels. Katastrophenszenarien und das Ende unseres Planeten wurden heraufbeschworen. Alles Gegebenheiten, die schon seit Jahrzehnten bekannt sind, die aber immer dann gern aufgerollt werden, wenn sich eine untypische Wetterlage einstellt. Dabei weiß inzwischen jeder, dass sich so lange nichts daran ändern wird, wie Machthunger und die Gier nach Reichtum diese Welt beherrschen.

„Hallo Leopold“, riss mich die Stimme eines lieben Bekannten aus meinen philosophischen Gedanken. „Ich habe dich kürzlich in der Gazette bewundert. Alle Achtung, wie du dem armen Mann zu seinem Recht verholfen hast.“ Jannis spielte auf einen meiner letzten Fälle an, bei dem ich meinen Auftraggeber, einen ehemaligen Bauunternehmer, vor einer langjährigen Haftstrafe bewahren konnte.* „Ich versuche nur meinen Job zu machen“, erwiderte ich nicht ohne Stolz. „Lass mal, mein Freund“, legte der gebürtige Grieche seine Hand anerkennend auf meine Schulter, „sollte ich einmal in eine prekäre Situation geraten, werde ich mich ganz sicher an dich wenden.“ Ich sah etwas verlegen in seine gutherzigen Augen. „Du doch nicht, Jannis. Wer sollte schon etwas gegen dich haben?“ „Sag das nicht“, entgegnete der grauhaarige Mann, „der Zufall verbindet zuweilen auch Dinge, die nicht zusammen gehören.“

Der weise Grieche griff nach einem der Sitzkissen, die Anne neben der Eingangstür zu ihrem Cafe bereitgelegt hatte. „Ist es dir Recht, wenn ich mich etwas zu dir setze?“ „Natürlich, setz dich, Jannis.“ „Danke.“ Jannis gehörte schon seit vielen Jahren zu den Stammgästen des Klatschcafes. Er hatte schon den dritten Pächterwechsel miterlebt, war, wie man so sagt, zu einem Teil des Inventars geworden.

 

„Hallo Jannis“, begrüßte Anne den neuen Gast. „Das Übliche?“ Der Grieche nickte. „Arbeitest du gerade an einem Fall?“, fragte er interessiert. „An nichts Besonderem“, antwortete ich ausweichend. „Es geht um einen alten Bekannten von mir. Vielleicht kannst du ihm ja helfen?“ Ich sah meinen Tischnachbarn skeptisch an, konnte eine gewisse Neugier jedoch nicht verhehlen. „So, was für ein Problem hat dein Bekannter denn?“

Jannis begann etwas zögerlich von einem Mann zu berichten, der seiner Meinung nach keiner Fliege etwas zu Leide tun konnte und doch einen anderen Menschen vergiftet haben sollte. „Ein schweres Verbrechen, das deinem Bekannten da zur Last gelegt wird“, resümierte ich, nachdem ich mir die Geschichte bis zu Ende angehört hatte. Jannis schüttelte aufgeregt den Kopf. „Mein Bekannter sitzt seit gestern in Untersuchungshaft. Die Polizei ist von seiner Schuld überzeugt und nach allem, was ich von seiner Tochter hörte, glaubt ihm nicht mal sein eigener Anwalt.“

Anne brachte die bestellten Getränke. „Geht es um den Mord auf der Weihnachtsfeier?“, fragte ich Jannis direkt. Er nickte betreten. „Glaub mir, Paul ist nicht zu einer solchen Tat fähig.“ Ich stieß einen tiefen Seufzer aus. „Es müssen schon handfeste Beweise vorliegen, ehe die Polizei einen Tatverdächtigen vorläufig festnimmt und der Haftrichter die Untersuchungshaft anordnet“, erklärte ich, ohne meinem Tischnachbarn die letzten Hoffnungen nehmen zu wollen. „Abgesehen davon müsste ich, bevor ich tätig werden kann, einen Auftrag von deinem Bekannten oder wenigstens von dem Anwalt bekommen.“ „Und wenn ich dir diesen Auftrag erteile?“ „Wie stellst du dir das vor? Ich kann doch nicht einfach so mir nichts, dir nichts zu deinem Bekannten in die Zelle marschieren und mich als sein Ermittler vorstellen.“

Ich konnte deutlich erkennen, wie in Jannis eine Welt zusammenbrach. Der alte Grieche hatte offensichtlich große Hoffnungen in mich gesetzt. „Paul Pieper ist unschuldig!“, appellierte er ein letztes Mal an meinen Sinn für Gerechtigkeit. „Wenn du dich nicht für ihn einsetzt, wird er für etwas bestraft, das er nicht getan hat.“ Seine Worte klangen so eindringlich, dass mir gar keine andere Wahl blieb, ihm zumindest zuzusichern, mich in der Sache kundig zu machen. „Pauls Familie wohnt am Heller 27a. Er ist dort Hausmeister. Seine Frau kann dir sicher sagen, von welchem Anwalt Paul vertreten wird. Du kannst dich gern auf mich berufen.“ Ich seufzte wie jemand, dem gerade eine große Last auf den Buckel gepackt wurde.

„Also schön, ich gehe der Sache nach, aber ob ich im Endeffekt für deinen Bekannten ermittle, entscheide ich erst dann, wenn ich die Fakten kenne und mit dem Tatverdächtigen gesprochen habe. Ich werde dir nichts versprechen.“ Jannis ergriff meine Hand. „Ich wusste, dass du ein anständiger Kerl bist. Danke!“

Ich trank meinen Cappuccino aus und zog meine Brieftasche, um unsere Getränke zu bezahlen. Jannis winkte energisch ab. „Du warst mein Gast!“ Wenn ich eines gelernt hatte, dann war es niemals der Einladung eines Griechen zu widersprechen. Ich griff also nach meinem Stetson, bedankte mich und setzte den Hut auf. „Du wirst von mir hören, Jannis.“

-7-

 

„Was wollen Sie?“, wurde ich reichlich rüde an der Sprechanlage empfangen. „Mein Name ist Lessing. Ich komme…“ „Wir geben keine Interviews mehr“, würgte mich die resolute Stimme ab. Ehe ich das Missverständnis aufklären konnte, war nur noch ein Rauschen zu hören. Ich legte den Daumen auf den Klingeldrücker und versuchte es ein weiteres Mal. „Verschwinden Sie endlich, sonst rufe ich…“ „Jannis schickt mich“, unterbrach ich das Gekeife aus dem Lautsprecher. „Jannis wer?“, quäkte die Person am anderen Ende. Ich nahm an, dass es sich um die Ehefrau von Paul Pieper handelte. Im selben Augenblick wurde mir bewusst, dass ich Jannis Nachnamen gar nicht kannte. „Ich meine den griechischen Freund Ihres Mannes“, sagte ich daher schnell. Die Antwort ließ auf sich warten. Für einen Moment lang war mir nicht klar, ob die Gute das Gespräch bereits wieder abgebrochen hatte. „Also schön“, krächzte es plötzlich aus dem Lautsprecher, „kommen sie herein.“

Die Wohnung der Familie befand sich im Parterre. Eine typische Hausmeisterwohnung, in der sich, wie ich von meinem Standort auf dem Flur aus erkennen konnte, keine großen Reichtümer angesammelt hatten. Unter dem Spiegel neben der Garderobe befand sich der obligatorische Werkzeugkasten und an einem der Haken hing ein grauer Kittel. Die Frau in der Schürze schloss die Wohnungstür hinter mir. „Also, was wollen Sie nun?“, kam sie ohne Umschweife zur Sache. Ich reichte ihr meine Karte. „Leopold Lessing, Privatdetektiv, Ermittlungen aller Art“, las sie mit gerunzelter Stirn. „Ja und?“, zuckte sie mit der Schulter und reichte mir die Karte zurück. „Wenn Sie glauben, dass mein Mann sie engagieren könnte, sind Sie schief gewickelt. Wir haben kein Geld für so etwas. Außerdem wird die Polizei früher oder später schon darauf kommen, dass Paul gar nicht fähig wäre, jemanden zu vergiften. Dazu fehlt ihm bei weitem der Schneid.“

Ich schluckte trocken. Wer eine solche Ehefrau an seiner Seite weiß, braucht seine Feinde nicht zu fürchten. Ich war mir nur noch nicht klar darüber, ob ich Paul Pieper tatsächlich einen Gefallen tat, wenn ich ihn aus dem Gefängnis holen sollte, um ihn in sein häusliches Eheglück zurückzubringen. Mir war jedoch klar, von dieser Zierde ihres Geschlechts keine Auskünfte zu erhalten, die mich in der Sache weiterbringen würden.

„Nun gut, vielleicht wären Sie dann so nett und würden mir den Namen des Anwalts geben, der Ihren Gatten vertritt?“ „Ich sagte doch gerade, dass wir uns keinen Schnüffler leisten können. Bestellen Sie Jannis einen schönen Gruß und er soll sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern. Sagen Sie ihm das!“ Irgendwie hatte ich das Gefühl, im falschen Film zu sein. War diese Frau überhaupt daran interessiert, ihren Ehemann vor einer langjährigen Haftstrafe zu bewahren? Ich wollte mich gerade empfehlen, als es an der Tür läutete. „Wäre nett, wenn Sie jetzt gehen würden, wie Sie sehen, habe ich zu tun.“

Die resolute Frau in der Kittelschürze griff nach dem Hörer der Sprechanlage, während sie gleichzeitig die Wohnungstür öffnete, um mich mit ihrer winkenden Hand hinauszukomplimentieren. Ich schob mich nur widerwillig in Richtung Treppenflur. Die Haustür wurde aufgedrückt und ein Mann in gelber Uniform trat in den Flur. Er machte vor den Briefkästen halt und verteilte die Post. Scheinbar zufällig rempelte ich den armen Mann dabei an, als er der Frau des Hausmeisters ihre Post übergeben wollte. Die Briefe fielen zu Boden. Zugegeben, die Chance, dass sich ein Brief der Kanzlei darunter befand, war verschwindend gering, aber wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Ich hatte Glück. Während ich mich nach den Briefen bückte, man ist ja gut erzogen, fiel mir der Brief einer Kanzlei Börner in die Hand. Bevor mir Frau Pieper das Kuvert aus der Hand reißen konnte, erkannte ich, dass sich das Büro des Anwaltes in der Stobenstraße befand.

 

Als ich meinen Wagen unweit besagter Straße abstellte und die wenigen Schritte, vom kleinen Zimmerhof her kommend, über die Brücke ging, fiel mir nicht nur ‚Klein Venedig' auf, wie die Flussidylle im Rücken der angrenzenden Fachwerkhäuser im Volksmund auch genannt wurde, sondern auch der Parkplatz zu meiner Rechten. Hier hatte während meiner Jugendzeit ein Haus gestanden, welches einem verheerenden Feuer zum Opfer gefallen war. Ich konnte mich noch genau erinnern, wie die Feuerwehr mehrere kleine Bündel über die Drehleiter aus der Ruine herausholte. Es waren die leblosen Körper dreier Kinder, die zusammen mit ihrer Mutter im hinteren Teil des Hauses gelebt hatten. Niemals werde ich diese Bilder vergessen.

 

Das Gebäude, in dem sich die Anwaltskanzlei befand, war in einem der bereits aufwendig sanierten Häuser untergebracht. In den letzten Jahren war man auch dazu übergegangen, die bis dato vernachlässigten Fachwerkbauten in den Nebenstraßen peu à peu ihrem historischen Vorbild gemäß zu restaurieren. Die Büros der Kanzlei Börner waren im Hochparterre untergebracht. Im Empfang saß eine freundliche Dame mit einer spektakulären Frisur. Das brünette Haar der jungen Frau musste offen länger als einen Meter gewesen sein, denn selbst ihre Hochsteckfrisur nahm gigantische Ausmaße an. Ich musste spontan an den Hals einer Giraffe denken.

„Guten Tag“, empfing sie mich gefällig lächelnd. „Was kann ich für Sie tun?“ „Mein Name ist Lessing.“ Ich schob ihr meine Visitenkarte entgegen. „Privatermittler?“, merkte sie auf. „Ich müsste Ihren Chef dringend sprechen. Es geht um einen seiner aktuellen Fälle.“ Sie musterte mich skeptisch. „Dann gehe ich wohl recht in der Annahme, dass Sie keinen Termin mit Doktor Börner haben?“ „Sie gehen richtig“, bestätigte ich ihre Vermutung. „Tja, dann muss ich Ihnen leider sagen, dass sich Herr Doktor Börner gerade in einer ebenfalls äußerst wichtigen Besprechung befindet.“

So leicht wollte ich mich dann doch nicht abwimmeln lassen. Ich startete daher einen letzten an Theatralik kaum zu überbietenden Versuch. „Ich hoffe, dass es Ihnen zeitlebens erspart bleibt, unschuldig im Gefängnis zu sitzen. Wissen Sie eigentlich, was so etwas es für einen sensiblen Menschen bedeuten kann?“ Ich ahmte einen verzweifelten Gesichtsausdruck nach und appellierte an ihre Menschlichkeit. „Ich fürchte, der Ärmste wird es nicht mehr lange durchstehen.“ Die junge Frau mit dem Storchennest auf dem Kopf starrte mich erschüttert an. „Sie…, Sie meinen er könnte sich etwas…?“ Sie wagte nicht weiter zu sprechen, weil ich bereits mit dem Kopf nickte. „Ich befürchte das Allerschlimmste.“ „Ich werde sehen, was ich für Sie tun kann. Um welche Angelegenheit geht es?“ „Es geht um die Sache Pieper.“ „Warten Sie bitte einen Augenblick.“

Nach kurzem Warten wurde ich in das Büro des Anwaltes geführt. Der nach meinem Geschmack noch sehr junge Anwalt erhob sich und kam hinter seinem Schreibtisch hervor, um mich mit ausgestreckter Hand zu begrüßen. „So sieht also der Mann aus, der als Erster meine Bastion im Sturm genommen hat.“ Ich hatte nicht mehr als ein schiefes Lächeln zu bieten. Offenbar war mir etwas nicht Alltägliches gelungen. „Meine Mitarbeiterin sagte mir, es handele sich um den Fall Pieper“, kam der Advokat ohne Umschweife zur Sache. „Nun, ich habe nicht viel Zeit, aber nehmen Sie doch Platz.“

Ich folgte seiner Aufforderung. „Es würde mich schon interessieren, wer Sie engagiert hat.“ Ich machte eine nichts sagende Handbewegung. „Keiner, Herr Pieper ist der Freund eines guten Freundes. Ich versprach ihm, mich der Sache anzunehmen.“ Börner sah mich befremdlich an. „Verstehe ich Sie recht? Sie kommen ohne irgendeinen Auftrag erhalten zu haben in meine Kanzlei und wollen Auskünfte von mir, die der anwaltlichen Schweigepflicht unterliegen?“ Ich nickte bejahend. „Verstehen Sie mich richtig, Herr Lessing, aber die Indizienlage ist derart erdrückend, dass ich für meinen Mandanten nur die Möglichkeit eines Geständnisses sehe, um das Gericht bei der Urteilsfindung ein wenig Milde zu stimmen.“

Jannis hatte Recht. Wenn sein Freund tatsächlich unschuldig war, brauchte er wirklich Hilfe und dies so schnell wie möglich. „Sie wissen, dass ich Herrn Pieper nur mit Erlaubnis des Untersuchungsrichters besuchen kann. Alles, was ich von Ihnen möchte, ist ein Termin bei Ihrem Mandanten.“ „So jemand wie Sie ist mir auch noch nicht unter gekommen, aber ich werde sehen, was ich für Sie tun kann.“ Ich reichte ihm meine Karte. „Sie können mich Tag und Nacht erreichen.“

 

-8-

 

Es gehört im Grunde zu meinen Prinzipien, Privates und Berufliches auseinander zu halten. Als ich jedoch bis zum Nachmittag des folgenden Tages nichts von Paul Piepers Anwalt gehört hatte, rief ich die auf meinem Handy eingespeicherte Nummer von Miriam Herz ab. Mit der attraktiven Staatsanwältin vom OLG in Braunschweig verband mich seit kurzem eine heiße Affäre. Da ich von Doktor Börner nichts mehr erwartete, war sie die einzige mir verbliebene Möglichkeit, um wenigstens mit dem Tatverdächtigen zu sprechen.

Bereits zwei Stunden nach meinem Anruf traf ich mich mit Miriam vor der Justizvollzugsanstalt am Ziegenmarkt. „Wenn mir die Sache nicht so am Herzen liegen würde…“, erklärte ich ihr, nachdem wir uns begrüßt hatten. „Mach dir keinen Kopf. Ich hatte ohnehin hier zu tun und der Richter war mir noch einen Gefallen schuldig. Gottlob arbeite ich gerade an einem anderen Fall, sonst hättest du mich in einen ernsten Gewissenskonflikt gestürzt.“ Ich sah Miriam irritiert an. „Du weißt, dass ich meine Fälle gern gewinne.“ Jetzt verstand ich. „Schön, dass du eine so hohe Meinung von mir hast.“

Miriam lächelte gedankenvoll. „Jetzt mal im Ernst, Leopold. Ich habe mir den Fall inzwischen etwas genauer angesehen. Hauptkommissar Kleinschmidt hat solide ermittelt und einige stichfeste Beweise gegen den Tatverdächtigen zusammengetragen. Die Indizienkette ist klar. Ich fürchte, da wirst selbst du dir die Zähne dran ausbeißen.“ Ich machte ein zerknirschtes Gesicht. „Wenn alles so klar ist, verstehe ich nicht, weshalb er die Tat nicht zugibt.“ Miriam zuckte mit den Schultern. „Er wäre nicht der Erste, der sich an einen letzten Strohhalm klammert.“

„Wie auch immer“, entgegnete ich trotzig, während Miriam ihren Finger auf die Klingel der Wache legte. „Irgendjemand muss sich doch für den armen Teufel einsetzen. Noch gilt in unserem Land schließlich der Grundsatz, dass jeder so lange als unschuldig zu gelten hat, bis er seiner Tat überführt und verurteilt ist.“ Der Summer ertönte. Miriam winkte ab und drückte die Tür auf. „Schön wär's ja. Ich will dir deinen Idealismus nicht nehmen, aber wenn du etwas genauer hinter die Fassade blickst, wirst du sehr schnell sehen, dass Justitia eben doch zuweilen auf einem Auge blind ist.“ Ich folgte ihr in den Flur, der beiderseits von großen Natursteinen eingefasst war. „Und gerade weil es so ist, muss es Menschen wie uns geben, die darauf achten, dass sie nicht auf beiden Augen blind ist.“

Ein Justizvollzugsbeamter begrüßte uns freundlich und nahm die Papiere entgegen, die meinen Besuch bei Paul Pieper legitimierten. Ein zweiter durchsuchte mich nach Waffen. „Wie schön, dass es immer noch solche Himmelsstürmer wie dich gibt“, fuhr Miriam fort, „die so voller Hingabe und Edelsinn dafür Sorge tragen, dass der Glaube an unsere Ideale nicht gänzlich verloren geht. Wach auf, Leo, die Realität sieht anders aus!“ Ich wusste, dass sie mit ihrer Meinung zu einem Großteil Recht hatte, aber wenn sie auch nur zu fünf Prozent daneben lag, lohnte es sich doch für diesen Rest zu kämpfen.

„Guten Tag, Herr Pieper. Mein Name ist Lessing, ich bin Privatermittler.“ „Was sagen Sie da? Hat Sie mein Rechtsanwalt engagiert? So etwas kann ich mir doch gar nicht leisten.“ „Nun machen Sie sich mal keine Sorgen über mein Honorar. Noch arbeite ich gar nicht für Sie und wenn, dann würden wir uns sicher einigen.“ Während er sich wieder etwas beruhigt setzte, bemerkte ich, wie er sein rechtes Bein stark nachzog. „Unser gemeinsamer Freund Jannis bat mich, mir Ihre Geschichte anzuhören. Offensichtlich ist er neben Ihrer Familie der Einzige, der von Ihrer Unschuld überzeugt ist.“ „Der Gute, aber ich weiß schon selbst nicht mehr, was ich eigentlich glauben soll.“

Der Mann war nur noch ein Schatten seiner selbst. Die wenigen Tage hinter Gitter hatten ihm bereits mächtig zugesetzt. Mir war sofort klar, dass er eine langjährige Haftstrafe nicht überleben würde. „Haben Sie Ihren Chef getötet?“, fragte ich gerade heraus. Auf diese Weise hatte ich während meiner Zeit als Kriminalbeamter schon so manchen hart gesottenen Ganoven überrascht. Die unterschiedlichsten Reaktionen hatte ich daraufhin erlebt, doch der Ausdruck in den Augen eines Unschuldigen war immer der Gleiche gewesen. Eine gewisse Ehrlichkeit lag in ihren Pupillen. Eine Geradheit, die ich nicht beschreiben konnte, die meine Erfahrung einfach so mit sich brachte.

Wie auch immer, Paul Pieper antwortete mit einem energischen Nein und mit dem Blick in seine Augen war für mich klar, dass der Mann unschuldig war. „Also schön, wenn Sie hier raus wollen, erzählen Sie mir haarklein, wie sich alles zutrug. Lassen Sie nichts weg, fügen Sie nichts hinzu und beschönigen Sie nichts. Vor allem aber, seien Sie ehrlich zu mir, denn nur dann kann ich Ihnen helfen.“

Der Tatverdächtige erzählte von der Weihnachtsfeier mit den übrigen Hausbewohnern und dem Besitzer, dem späteren Opfer, Casimir von Laubenstein. Er schilderte die Geschenkübergabe, schmunzelte sogar ein wenig, als er von dem Striptease des Sportlehrers berichtete. „Entgegen früherer Weihnachtsfeiern amüsierten sich sogar alle. Tja, und dann brach Laubenstein plötzlich zusammen. Im ersten Moment war ich geradezu erstarrt, konnte mich keinen Zentimeter bewegen. Alles war wie in einem bösen Traum. Ich bin sonst nicht so zimperlich, müssen Sie wissen, aber in diesem Augenblick…“

„Sie haben Laubenstein also die vergifteten Pralinen überreicht.“ Der Tatverdächtige nickte wortlos. „Wenn ich Sie richtig verstanden habe, wurde Ihnen das spätere Opfer zugelost. Wer hat die Verlosung vorgenommen?“ „Die Frau des Chefs“, erwiderte Pieper. „Amelie hatte auch die Idee mit den Geschenken.“ „Wer wusste, dass Sie Laubensteins Namen gezogen hatten?“, fragte ich weiter. Der Mann mit der roten Säufernase ging in sich. „Außer meiner Frau… niemand.“ „Könnte es sein, dass sie es sonst noch jemandem erzählt hat?“ Pieper rieb sich nachdenklich den Kopf. „Wissen Sie, meine Frau hat nicht so sehr viel Kontakt im Haus, aber ausschließen kann ich es natürlich nicht.“

Ein winziger Hoffnungsschimmer keimte in mir auf. „Es ist also durchaus möglich, dass jemand anderer davon wusste“, fasste ich zusammen. Mein Gegenüber zuckte mit den Achseln. „Schon möglich.“ „Gut. Stellt sich nunmehr die Frage, wer unbemerkt an die Pralinen gelangen konnte“, sinnierte ich. „Beginnen wir mit den Stunden unmittelbar vor der Feier. Wo bewahrten Sie das Konfekt auf?“ Pieper seufzte. „Alles Fragen, die dieser Kommissar auch schon stellte.“ „Was haben Sie ihm geantwortet?“ „Ich habe entsetzlichen Durst, meine Kehle ist wie zugeschnürt.“ Ich stutzte. „Gibt man Ihnen denn hier nicht genug zu trinken?“ „Doch schon, aber nicht das Richtige.“ Ich verstand. „Darauf werden Sie wohl vorerst verzichten müssen.“ Pieper leckte sich über seine spröden Lippen. „Bitte, holen Sie mich hier raus. Ich halte das nicht aus.“

Der Mann war Alkoholiker, das stand spätestens jetzt für mich fest. „Dann beantworten Sie meine Frage.“ Der Tatverdächtige starrte mich fragend an. „Wo hatten Sie die Pralinen in den letzten Stunden vor der Weihnachtsfeier?“, wiederholte ich stur. „Im Auto“, entgegnete er spuckend. „Und der Wagen war verschlossen?“ Der Befragte nickte beflissentlich. „Gut, wo befand sich das Geschenk, nachdem Sie es mit in den Saal genommen hatten?“ „Sabine hatte es in die Plastiktüte zu ihrem Präsent gesteckt.“ „Lag die Tüte möglicherweise etwas abseits?“ Pieper schüttelte den Kopf. „Nö, die hing doch bei Sabine an der Stuhllehne.“ „Ist Ihnen beim Überreichen des Geschenks irgendetwas an der Verpackung aufgefallen?“ „Nö, da war nichts.“

Es war zum Haare raufen. So kam ich nicht weiter. Ich musste den Gaul anders satteln. „Welche Beweise macht der Kommissar gegen Sie geltend?“, hakte ich weiter nach. Die Pralinen allein konnten für eine vorläufige Festnahme schließlich nicht ausreichen. „Auf der Pralinenschachtel wurden nur meine Fingerabdrücke gefunden.“ „Das allein kann es nicht sein. Was hat Kleinschmidt noch gegen Sie in der Hand?“ Pieper druckste herum, knabberte nervös an seinen Fingernägeln. „Bei der Durchsuchung meiner Wohnung wurde das Tagebuch meiner Tochter gefunden. Sie schrieb darin, von Laubenstein ständig sexuell bedrängt worden zu sein.“ Das war natürlich ein ziemlicher Hammer. Ich machte erst einmal dicke Backen.

„Wussten Sie von diesem Tagebuch? Hatte sich Ihre Tochter jemandem anvertraut?“ Pieper schluckte trocken, würgte förmlich seine nächsten Worte hervor. „Dieses Schwein muss ihr schon eine ganze Weile nachgestellt haben. Ich fand ihr Tagebuch zufällig unter dem Kleiderschrank. Ich weiß, es war nicht recht, aber ich habe darin gelesen und plötzlich wusste ich, warum das Kind unbedingt fort wollte.“ Pieper sah mich aus traurigen Augen an. „Liane studiert in Marburg BWL, müssen Sie wissen.“

Somit war für mich klar, dass Kleinschmidt mit den Fingerabdrücken des Tatverdächtigen auf dem Tagebuch seiner Tochter auch ein überzeugendes Motiv für den Mord an ihrem Peiniger gefunden hatte. „Es sieht nicht sonderlich gut für Sie aus“, gab ich unumwunden zu. Pieper nickte. „Ich weiß.“ „Seit wann wissen Sie von den sexuellen Übergriffen auf Ihre Tochter?“ „Ich fand das Buch kurz nach ihrem Auszug, also seit etwa zwei Jahren.“ Ich sah das zusammengekauerte Häufchen Elend, welches mir da auf der anderen Seite des Tisches gegenübersaß verständnislos an. „Und da haben Sie Laubenstein nicht angezeigt?“ „Es ist ja alles noch viel schlimmer“, entgegnete Pieper kaum mehr vernehmlich. „Ich habe mich von ihm kaufen lassen und das nicht zum ersten Mal.“

Ich bildete mir ein, den Mann nicht richtig verstanden zu haben. Wahrscheinlich wollte ich meinen eigenen Gedanken nicht trauen. „Sie haben sich ihr Schweigen bezahlen lassen?“ „Was sollte ich denn machen?“, begehrte er kurz auf, ehe er wieder in sich zusammenbrach. „Er hatte mich doch wegen damals in der Hand.“ „Damals?“, fragte ich irritiert. „Es gab schon einmal einen Vorfall. Es liegt viele Jahre zurück, als ich zufällig dazu kam, als er eine junge Frau vergewaltigte. Ich wollte ihr helfen und lief wütend schreiend auf den Vergewaltiger zu. Der Kerl ließ von ihr ab, sprang in seinen dicken Wagen und raste auf mich zu. Die Stoßstange erwischte mich am Bein, ich wurde durch die Luft geschleudert und blieb liegen.“ „Konnten Sie oder die Frau den Mann nicht beschreiben?“ „Leider nicht. Für mich ging alles viel zu schnell, um das Gesicht hinter der Windschutzscheibe wirklich erkennen zu können und das eigentliche Opfer schwieg aus Scham und Angst. Aber sie gab mir bei einem Besuch im Krankenhaus ein Feuerzeug mit den Initialen C und L. Dass es sich um Casimir von Laubenstein handelte, brachte ich erst viel später heraus.“

„Sie haben ihn erpresst?“, brachte ich es auf den Punkt. „Was glauben Sie denn, wer heutzutage noch einen Krüppel beschäftigt? Sabine war damals mit Liane schwanger. Wir hatten nicht mal eine Wohnung.“ Langsam begriff ich. „Und als Sie ihm nun wegen Ihrer Tochter zur Rede stellten, drehte er den Spieß herum und erpresste Sie, weil Sie ihn seit Jahren deckten.“ Pieper holte tief Luft und wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn. Er sah aus, als habe er gerade barfuss die Hölle durchschritten.

Auf einmal war ich mir gar nicht mehr so sicher, ob es tatsächlich die Gradlinigkeit war, oder der Entzug, den ich in seinen Pupillen gesehen hatte. „Eine letzte Frage noch. Wenn Sie Laubenstein nicht getötet haben, fällt mir spontan nur noch Ihre Tochter ein.“ Pieper reagierte ganz anders als von mir erwartet. „Glauben Sie nicht, dass ich mir diese Frage nicht auch schon stellte, aber Liane kann es nicht gewesen sein. Sie war seit Wochen nicht mehr zu Hause.“ „Also schön.“ Ich erhob mich und wandte mich dem Ausgang entgegen. „Wenn Sie wollen, werde ich für Sie arbeiten, versprechen kann ich nichts, aber ich werde nichts unversucht lassen, um Sie hier herauszuholen.“ Pieper sah mich mit zerknirschter Miene an. „Was ist mit Ihrem Geld?“ „Wir werden schon einen Weg finden, jetzt werde ich erst einmal alles daran setzen, dass Sie Weihnachten im Kreis Ihrer Familie begehen können.“ Pieper reichte mir dankbar seine zitternde Hand. „Bestellen Sie Jannis einen schönen Gruß und sagen Sie ihm, dass es gut tut, einen Freund zu haben.“

Ich signalisierte dem Justizbeamten, dass ich gehen wollte. „Wann war Ihr Anwalt eigentlich zum letzten Mal hier?“ „Vor zwei Tagen“, entgegnete Pieper. Ich schüttelte entgeistert den Kopf. „Wer hat Ihnen bloß diesen Rechtsbeistand vermittelt?“ Pieper legte seine Stirn in Falten. „Der Kommissar hat ihn mir empfohlen“, entgegnete er. „Dacht ich's mir doch.“

-9-

 

Während ich den Zündschlüssel herumdrehte, lauschte ich gewohnheitsmäßig auf den Motor. Erst als er problemlos ansprang und munter losbrummte, realisierte ich, nie wieder den Zündverteiler trocken wischen zu müssen. Mein guter alter Opel Ascona hatte nach einer heftigen Schießerei auf dem Gelände der Physikalisch Technischen Bundesanstalt in Braunschweig seine letzte Reise angetreten und inzwischen seinen wohlverdienten Platz auf dem Autofriedhof gefunden. Ein mildes Seufzen glitt über meine Lippen. Eigentlich schade, ich werde ihn vermissen.

Der neue, ein kleiner, aber frecher Skoda Fabia in himmelblau, passte schon vom Verbrauch her besser in mein Budget. Unauffälliger war er zudem allemal. Vor allem Trude, meine staatlich subventionierte Putzsekretärin war vom neuen Firmenwagen geradezu begeistert. Sie hatte sich bei dem Anblick des Kleinen spontan bereit erklärt, mein rollendes Büro und Observationsvehikel, zumindest was die Fahrgastzelle betraf, in einem Topzustand zu halten. Gott allein weiß, welche Bürde sie sich damit auferlegt hatte.

Ich befuhr also in meinem erstklassig gepflegten, nagelneuen Gebrauchtwagen die Lindener Straße und bog schließlich auf den Parkplatz des Wolfenbütteler Polizeikommissariates ein. Bis vor einigen Jahren war dies Gebäude noch Teil einer deutschen Kaserne. Mit dem Fall des eisernen Vorhangs wurde sie jedoch Makulatur und somit überflüssig. Binnen kürzester Zeit wurden Wohn- und Geschäftshäuser auf dem Gelände errichtet, das Landeskirchenamt zog ein und der Rettungsdienst des Roten Kreuzes und natürlich unser aller Freund und Helfer, die Polizei. Dass sich Hauptkommissar Kleinschmidt und dessen Assistent, Kommissar Sinner, dem in Untersuchungshaft sitzenden Paul Pieper nur schwerlich als Freunde verkaufen ließen, lag auf der Hand. Mir gegenüber zeigte sich der eher großkotzig wirkende Leiter der eigens eingerichteten Mordkommission ‚Praline' in letzter Zeit etwas reservierter.

„Einen Gefallen haben Sie sich mit diesem Fall nicht getan“, reagierte der Mann mit dem Schnauzer geradezu belustigt, als ich ihm und Kommissar Sinner meine Aufwartung machte. „Der Fall liegt so klar wie das Quellwasser der Oker“, versicherte er mir überzeugt. „Die Beweise sind erdrückend. Das Motiv ist eindeutig und die Ausreden Ihres Auftraggebers sind an Fadenscheinigkeit kaum mehr zu überbieten.“ „Ausreden?“, horchte ich auf. Kleinschmidt winkte ab. „Okay, der Mann ist nicht der hellste, aber uns für so dumm zu halten, grenzt schon fast an Beleidigung. Pieper behauptete allen Ernstes, er habe die Pralinen durch den Boten eines Paketdienstes erhalten. Leider konnte er sich weder an den Absender noch an den Namen des Paketdienstes erinnern.“ Ich musste mir insgeheim eingestehen, dass diese Geschichte nun wirklich alles andere als glaubwürdig klang, aber dies zuzugeben, kam einem Dolchstoß in das Herz meines Auftraggebers gleich.

„Ja und“, entgegnete ich lauernd. „Haben Sie seine Angaben überprüft?“ Kleinschmidt grinste so blasiert wie jemand, dem niemand das Wasser reichen kann. „Wo denken Sie hin, Lessing. Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht. Kollege Sinner hat sämtliche Paketdienste abgecheckt. Es fand sich kein Zusteller, der zu der fraglichen Zeit ein Paketsendung an die Adresse Ihres Auftraggebers lieferte.“ Ich hatte es befürchtet. Eine derartige Ausrede musste ja auf Kleinschmidt wie ein Schuldeingeständnis wirken. „Mit was für einem Gift wurden die Pralinen eigentlich präpariert?“ „Digitalis“, ergriff Sinner das Wort. „Ein Herzstärkungsmittel, welches aus der Fingerhut Pflanze gewonnen wird. In diesem Fall wurde es allerdings hochkonzentriert in einige der Pralinen injiziert. Das Opfer verstarb binnen kürzester Zeit.“ „Wir haben selbstverständlich alle Apotheken in einem Umkreis von fünfzig Kilometern überprüft“, fuhr Kleinschmidt fort. „Eine solche Substanz wird, wie Sie sich denken können, schließlich nicht ohne die entsprechenden Formalitäten abgegeben.“ Ich konnte es mir denken.

„Dafür soll nach Auskunft einiger Hausbewohner bis in den Herbst hinein im Hinterhof des Mietshauses, in dem Ihr Auftraggeber ja nun einmal als Hausmeister tätig ist, eine mir bislang eher als unscheinbar geläufige Pflanze angebaut worden sein. Raten Sie doch mal, um welches Gewächs es sich laut unserer Laboranten handelte?“ Wieder schlich sich dieses arrogante Grinsen über Kleinschmidts Mimik. „Ich nehme an, es handelte sich um den besagten Fingerhut“, kombinierte ich zu seiner vollsten Zufriedenheit. „Aber ist es denn möglich, aus einer schlichten Gartenpflanze ein derart hochwirksames Gift zu gewinnen?“ Sinner nickte. „Es reicht bereits ein geringes Fachwissen.“ Wie und wo sollte mein Auftraggeber das Gift ohne Verdacht zu erregen hergestellt haben?“ „Natürlich sind wir auch dieser Frage nachgegangen und Sie werden es kaum glauben, aber die Reste, die wir in einem Mörser im Gartenhaus des Beschuldigten fanden, sind laut Gutachten mit hoher Wahrscheinlichkeit mit der Giftkonzentration identisch, die Casimir von Laubenstein tötete.“ Dem hatte ich nichts mehr entgegenzusetzen. Ich hätte mich am liebsten unter meinen Stetson verkrochen. Reichlich frustriert und mit ernsten Zweifeln an der Unschuld meines Auftraggebers verabschiedete ich mich von den äußerst zufrieden wirkenden Kommissaren. Da wartete noch ein gewaltiges Stück Arbeit auf mich.

 

-10-

 

Was ich jetzt brauchte, war ein Trost spendender Muntermacher. Irgendetwas, das mich aus meinem Tal tiefer Depressionen herausholte. Ich suchte dieses Heilmittel nirgendwo anders als bei Anne in meinem Stammcafe.

Eigenbrötlerisch vor mich hin grübelnd hockte ich da und starrte von meinem Platz vor der großen Fensterscheibe auf die mausgrauen Pflastersteine der Fußgängerzone. Ein zufälliger Betrachter hätte annehmen können, mein Geist weilte in einer anderen, längst vergangenen Epoche. Vielleicht in jener Zeit, zu der, genau dort, wo sich mein Blick im Nichts verlor, sich die alte Straßenbahn durch die engen Straßenzüge der Wolfenbütteler Altstadt quälte.

Doch meine Gedanken waren nicht in einer anderen Zeit, sie waren lediglich an einem anderen Ort. Gar nicht weit entfernt, am Ende der Fußgängerzone, dort, wo die ‚Lange Herzogstraße' in den ‚Ziegenmarkt' überging. Sie waren in einer der Zellen der JVA, bei einem Mann, dem das Leben übel mitgespielt hatte und der nun all seine Hoffnung in mich setzte. Ich durfte Paul Pieper nicht enttäuschen!

Nach allem, was ich bisher in Erfahrung gebracht hatte, musste der Täter ein starkes Interesse am Tod von Casimir von Laubenstein haben. Gleichzeitig musste es einen guten Grund geben, weshalb er meinem Auftraggeber den Mord in die Schuhe schieben wollte. Fakt war, dass der Tote das Opfer eines Giftes wurde, welches hinter seinem eigenen Haus in Form einer unscheinbaren Pflanze wuchs. Ich musste herausfinden, wer den ominösen Fingerhut dort angepflanzt hatte und die Möglichkeit besaß, die Pflanze zu melken, die gewonnene Substanz zu Gift zu verarbeiten und den Mörser im Gartenhäuschen meines Auftraggebers zu platzieren ohne dabei Verdacht zu erregen. Ich tippte mir an die Stirn. Was überlegte ich da eigentlich? So etwas war schlicht unmöglich! Eines war zumindest so sicher wie das Amen in der Kirche. Der Mord an Casimir von Laubenstein war von langer Hand und äußerst akribisch vorbereitet.

„Pauls Frau hat mich gerade angerufen“, riss mich eine vertraute Stimme aus den Gedanken. „Sie fragte mich, wie ich dazu käme, ihr einen Privatdetektiv ins Haus zu schicken.“ „Etwas in dieser Richtung hatte ich erwartet“, entgegnete ich trocken. „Setzt dich, Jannis und trink einen Grappa mit mir. Ich kann jetzt einen vertragen.“ Der grauhaarige Grieche folgte meiner Bitte. „Du warst also bei Paul?“ Ich nickte wortlos, klopfte an die Scheibe und signalisierte Anne, dass ich eine Bestellung aufgeben wollte. „Was glaubst du?“, fragte Jannis erwartungsvoll. „Ich glaube, dein Freund ist ein armes Schwein.“

Der Mann neben mir wusste auch ohne weitere Worte, was ich mit meiner Antwort zum Ausdruck bringen wollte. „Wirst du ihm helfen?“ Ich sah in seine von einem bewegten Leben geprägten Augen und nickte ihm verhalten zu. „Ich werde es versuchen, aber du musst mir alles von deinen Freund erzählen, was du über ihn weißt. Jede Kleinigkeit könnte von größter Wichtigkeit sein.“

„Na, ihr beiden Hübschen, was soll's denn sein?“, begrüßte uns Anne. „Sag mal, habe ich die falsche Brille auf, oder wirst du tatsächlich immer weniger?“ Anne lachte. „Es ist kurz vor Weihnachten, da faste ich immer eine Woche lang.“ Ich nahm meinen Stetson ab und presste ihn an meine Brust. „Na, da kann ich nur den Hut ziehen. So etwas würde ich nie und nimmer durchhalten.“ Anne winkte ab. „Schwer ist es nur an den ersten drei Tagen, dann kommt die Phase, in der du dich richtig gut fühlst. Deine Gedanken werden klar und der Verstand scharf.“ Ich zwinkerte ihr anerkennend zu. „Wenn das so ist, sollte ich vielleicht auch damit beginnen.“ Anne zwinkerte zurück. „Ein Mann sollte das tun, was er tun muss – nicht wahr?“

„Und weil dem so ist, liebe Anne“, mischte sich Jannis in unser Gespräch, „werde ich jetzt zwei doppelte Grappa bestellen. Einen vernünftigen Ouzo hast du ja immer noch nicht – oder?“ „Wie wäre es mit einem Metaxa?“ Jannis griff sich bestürzt an den Hals. „Willst du mich umbringen?“ Anne schüttelte verwundert den Kopf. „Aus euch Griechen soll mal einer schlau werden.“

Die Sonne war längst hinter einer milchig trüben Wolkendecke verschwunden, als mir Jannis die Geschichte seines Freundes und das, was die beiden mit einander verband, erzählt hatte. Die inzwischen aufgekommene Kälte kroch mir in Arme und Beine, ließ mir einen Frostschauer über den Rücken gleiten. Paul Pieper hatte viel Pech in seinem Leben erduldet, hatte so manches Leid erlitten und war darüber auf den ersten Blick recht rau geworden, doch in seiner Seele, so meinte Jannis zumindest, sei er noch immer der liebeswerte Mensch geblieben, den er von früher her kannte.

 

-11-

 

Nach einem kurzen Abstecher in die Detektei, steuerte ich den Wagen an der Feuerwache vorbei in Richtung Groß Stöckheim. Eine feuchte winterliche Dunkelheit war bereits über die Straßen der Stadt hereingebrochen. Das Wetter war quasi von einer auf die andere Stunde umgeschlagen. Nieselregen sorgte für eine gewisse Tristesse. Selbst die weihnachtlich dekorierten Schaufensterscheiben in der Dr-Heinrich-Jasper-Straße vermochten kein feierliches Gefühl in mir zu wecken. War das Fest der Liebe wirklich nur noch etwas für Kinder und den Kommerz? Zumindest für den Moment blieb ich mir eine Antwort auf diese Frage schuldig.

Diesmal stellte ich meinen Skoda Fabia nicht direkt vor dem Mietshaus am Heller 27a ab, sondern so, dass er nicht gleich mit mir in Verbindung gebracht werden konnte. Schließlich wusste ich nicht, ob ich ihn im Zuge meiner Ermittlungen noch für eine verdeckte Observation brauchte.

Hinter einem der Fenster rechts im Parterre brannte Licht. Es war also jemand zu Hause. Ich betätigte den Klingelknopf, der sich neben dem Namensschild mit der Aufschrift ‚Martin Antonius' befand und wartete. „Ja bitte?“, meldete sich eine harte Männerstimme. Ich stellte mich vor und erläuterte mein Anliegen, woraufhin ich zu meiner Überraschung ohne Zögern eingelassen wurde.

„Ich habe mich schon gefragt, warum es die Polizei nicht für nötig erachtet, den wichtigsten Zeugen dieses ungeheuerlichen Verbrechens zu befragen.“ Der grauhaarige Mann mit den beinahe bis zum Kinn herunterreichenden Koteletten und dem altmodischen Zweireiher erklärte mir kopfschüttelnd, seit seiner Befragung im Forsthaus nicht mehr zur Sache vernommen worden zu sein. Ein bedauerlicher Fehler der Polizei, wie er verständnislos bekundete.

„Warum sind Sie denn nicht selbst zur Polizei gegangen, um ihre Aussage an Ort und Stelle zu Protokoll zu geben“, fragte ich, auf seine Antwort gespannt. „Na, jetzt sind Sie doch hier. Ich sage immer, die Wege des Herrn sind unergründlich. Abgesehen davon war ich dort zweimal vorstellig. Immer hieß es, die Herren Kommissare wären außer Haus. Wenn man dort keinen Wert auf meine Beobachtungen legt, werde ich mich sicher nicht aufdrängen. Ich habe jedenfalls meine Pflicht als guter Staatsbürger erfüllt.“ Womit der Gute sicherlich Recht hatte.

„Wie ich Ihnen ja bereits Eingangs erklärt habe, arbeite ich für Herrn Pieper“, rief ich dem ganz in schwarz gekleideten Mann in Erinnerung. „Was für Beobachtungen waren es denn, die Sie auf der Weihnachtsfeier machten?“ „Moment, junger Mann, ich sagte nichts von Beobachtungen, die ich im Forsthaus machte. Es geht um die Vorgänge in diesem Haus. Ich sage Ihnen, hier herrschen Sodom und Gomorrha. Ja, es ist geradezu ein Wunder, dass nicht schon längst ein Mord geschah.“

Ich fuhr mir nachdenklich mit der Hand über das Kinn und legte den Stetson zur Seite. So recht klar war mir noch nicht, was ich von dem eigenartigen Kauz zu halten hatte, aber wenn man nicht viel in der Hand hat, um einen Vogel zu füttern, ist man froh, wenn sich überhaupt einer niederlässt.

Der hagere Mann trat an eine Kommode, wobei er mir den Rücken zudrehte, während er mit einigen Gläsern herumklapperte. „Sie trinken doch ein Gläschen mit mir“, grinste er seltsam verzückt. Ich hätte am liebsten abgelehnt, doch bei manch einem löst sich erst dann die Zunge, wenn sie das Gefühl haben, unter ihresgleichen zu sein. Ich stimmte also eifrig zu. „Schwarzer Kater“, lobte er begeistert aus. Auch das noch, ich kannte das antiquierte Gesöff aus der gemeinsamen Zeit mit Tante Edeltraut. Gott hab sie selig. Der bittere Kräuterschnaps war für sie eine Art Lebenselixier. „Ich habe das Fläschchen für ganz besondere Anlässe aufgehoben.“ Wenn meine Anwesenheit ein besonderer Anlass war, konnte es im Leben dieses Mannes nicht allzu viel Spannendes geben. Ich stieß also nicht zuletzt deswegen mit dem ominösen schwarzen Herren an.

„Ich könnte Ihnen Dinge erzählen, da würden den Engeln im Himmel glatt die Ohren übergehen.“ Ich betete insgeheim, dass er endlich mit seinen Geschichten begann, denn der Geruch von Weihrauch und Lavendel biss sich mittlerweile in meiner Nase. „Da wäre beispielsweise dieser Sportlehrer im Obergeschoss. Selbst Casanova, der ja während seiner Zeit für einige Tage in unserer schönen Stadt weilte, hätte in ihm noch seinen Meister gefunden.“ Die Sache schien endlich interessanter zu werden. Der Mann mit den extravaganten Kotletten rückte mir mit seinem Stuhl ein Stück weit näher auf die Pelle. „Es gibt kaum einen Rock in diesem Haus, unter dem der Kerl nicht schon seine Finger gehabt hätte“, flüsterte er, als sei der ominöse Sportlehrer mit dem Teufel im Bunde.

Ich horchte auf. „Sprechen Sie von Liebschaften zu mehreren Frauen?“ Martin Antonius nickte mit weit aufgerissenen Augen. „Gleichzeitig?“, konkretisierte ich meine Frage. Mein Gegenüber nickte heftiger, wobei seine Augen ein Stück weit aus ihren Höhlen hervortraten. Speichel sammelte sich in seinen Mundwinkeln und seine Hand suchte aufgeregt nach der Flasche mit Kräuterschnaps. „Auch noch einen?“ Nun lehnte ich doch ab. Meinen guten Willen hatte ich immerhin gezeigt. Lechzend kippte er sich den Freudenspender über den Knorpel und schüttelte sich, während er das Glas bereits wieder absetzte. „Die sündige Weißrussin ist eine von denen, die es mit dem Kerl in aller Schamlosigkeit treiben. Sie muss so Anfang vierzig sein, glaubt aber, sie sei nicht älter als ihre Tochter“, witzelte mein Gegenüber. „Diese unkeusche Person schleicht sich meist spät abends durchs Treppenhaus, weil sie glaubt, es würde keiner mitbekommen, dabei wissen alle hier im Haus, dass sie nicht nach oben schleicht, um ihre Wäsche auf dem Speicher aufzuhängen.“

Ich lehnte mich etwas entspannter zurück. „Warum soll denn niemand etwas von ihrem Verhältnis zu dem Sportlehrer erfahren?“ Antonius zuckte mit den Schultern. „Sind Sie der Detektiv oder ich?“ Der Alte grinste mich herausfordernd an. Zu welchen Frauen aus dem Haus unterhält dieser fleißige Sportlehrer denn sonst noch Beziehungen?“, forschte ich weiter. Mein Gegenüber reckte seinen rechten Daumen in die Höhe. „Da wäre, wie gesagt die Pawlawitsch.“ Er nahm den Zeigefinger hinzu. „Ihre Tochter Tatjana, die wahrscheinlich nichts von dem ahnt, was ihre eigene Mutter so treibt und natürlich Amelie“, für die er einen weiteren Finger hob. „Amelie?“, fragte ich, meinen eigenen Ohren nicht trauend. „Klar, die Frau vom Alten. Die fliegt dort oben ein und aus, wie in einem Taubenschlag.“

Es war wohl diese Form von männlichem Jagd und Sammlereifer in mir, die diesem Mann eine gewisse Anerkennung nicht absprechen konnte. Ureigene Triebe evolutionären Denkens schienen das Leben dieses Pädagogen zu bestimmen. Ich fragte mich, ob die Frauen wussten, dass und mit wem sie ihren Liebhaber teilen mussten. Vor allem aber brannte ich darauf, die Bekanntschaft des Herrn zu machen. Insgeheim stellte ich mir das Bild eines Mannes vor, neben dem selbst James Bond verblasst wäre.

Der sonderbare Monsieur im schwarzen Zweireiher flüsterte mir mit vorgehaltener Hand zu, dass es die Frau des Opfers am liebsten in der Badewanne trieb. „Wie kommen Sie denn darauf?“, fragte ich nicht schlecht überrascht. „Wenn Amelie oben war, lief die halbe Nacht lang das Badewasser durch das Rohr in meinem Schlafzimmer.“ „Wie können Sie so sicher sein, dass es nicht aus der Wohnung über ihnen oder aus der im zweiten Stockwerk stammte?“ Antonius winkte ab. „Ne, ne, der junge Student ist kaum zu Hause und wenn, dann duscht er nicht länger als zehn Minuten. Sie glauben gar nicht, was man alles am Verhalten und an den Gewohnheiten eines Menschen ablesen kann. Ein wesentlicher Bestandteil meines Berufes ist das Bild, welches ich mir von einer Person mache. Insofern unterscheiden sich unsere Berufe gar nicht so sehr voneinander. Nur dass ich eben in Erscheinung trete, wenn alles gelaufen ist.“

Der alte Mann hatte mich neugierig gemacht. „Sie arbeiten noch?“ „Nun ja, eigentlich bin ich Rentner, Frührentner, aber so üppig ist das nicht mit meiner Pension, deshalb verdiene ich mir gelegentlich etwas als Freisprecher hinzu.“ Also ein freischaffender Publizist im Namen des Herrn, sinnierte ich. Daher auch dieser Hauch allem Vergänglichen, der in diesen Wänden allgegenwärtig war.

„Sie sind sich ganz sicher, dass die Frau des Opfers ein Verhältnis mit dem Sportlehrer unterhält?“ „Ich bin vielleicht nicht mehr ganz so schnell zu Fuß, aber mein Verstand hinkt nicht.“ „Was für ein Mensch war dieser Casimir von Laubenstein eigentlich?“ Der Alte bekreuzigte sich, dann schürzte er nachdenklich die Lippen. „Ich weiß, dass er mal eine Zeit lang im Landtag saß und dass er kein Kind von Traurigkeit war, aber sonst…“ „Besaß er außer diesem noch weitere Häuser?“, erkundigte ich mich weiter. „Muss er wohl, sonst hätte er sich kaum alle halbe Jahr ein neues Auto leisten können.“ „Dann frage ich mich natürlich, weshalb er ausgerechnet mit den Mietern dieses Hauses eine Weihnachtsfeier veranstaltete.“ Antonius schenkte sich nach. „Sagte ich noch nicht, dass wir uns hier in dem Geburtshaus des Casimir von Laubenstein befinden?“ Das erklärte natürlich so manches.

„Glauben Sie, der Tote wusste vom Seitensprung seiner Frau?“ „Würde mich nicht wundern, so laut und so häufig wie die Gute gesprungen ist.“ „Mit der Ehe Ihres Vermieters war es also nicht sonderlich gut bestellt“, kombinierte ich. „Keine Ahnung, nach außen hin bewahrten sie zu mindest den Anschein, aber nach den Geboten unseres Herrn haben sie sicherlich nicht gelebt, denn sonst wären sich die beiden wohl nicht gegenseitig untreu gewesen.“ Ich stutzte. „Gegenseitig?“ „So ist es. Während Amelie bei ihrem Liebhaber war, war der gute Casimir bei seiner Gerda.“ Antonius deutete süffisant grinsend zur Zimmerdecke. „Dann lief übrigens auch dort das Badewasser. Aber nur einige Minuten lang – wenn Sie verstehen, was ich meine.“

So allmählich verlor ich den Überblick. „Verstehen Sie jetzt, warum ich von Sodom und Gomorrha spreche?“ Ich war nicht zuletzt durch meinen Beruf einiges gewohnt, in diesem Hause schien man es mit den sittlichen Grundsätzen jedoch wirklich nicht sonderlich genau zu nehmen. Ich musste unbedingt herausfinden, wer vom Tod des Opfers finanziell am stärksten profitierte. Falls dies die Ehefrau war, besaß sie ein klassisches Motiv für die Tat.

„Wer auch immer Laubenstein auf dem Gewissen hat, unser Hausmeister ist der Letzte, dem ich eine solche Tat zutrauen würde“, bekundete der Freisprecher. „Paul ist ein gottesfürchtiger Mensch. Wir haben in seinem Gartenhäuschen so manch göttliches Getränk verkostet. Dabei hat er mir nicht selten sein Herz ausgeschüttet. Und auch, wenn da immer noch etwas war, was auf seiner Seele lastete, so ist er sicher nicht fähig, einen Menschen zu vergiften.“ Damit hatte er mir unbewusst ein Stichwort gegeben. „Wurden Sie von der Polizei nach den roten Blumen gefragt, die bis in den Herbst hinein im Garten wuchsen?“ „Ich sagte Ihnen doch, dass ich von den Herren nicht inquiriert wurde.“ Der Prediger legte seine Stirn in tiefe Falten. „Was ist mit dem Fingerhut?“, fragte er unumwunden. Ich war überrascht, dass er den Namen der Pflanze kannte.

„Nichts weiter“, entgegnete ich daher, die eigentliche Bedeutung herabspielend, die meiner Frage zukam. „Ich würde nur gern wissen, wer sich um die Pflanzen gekümmert hat.“ Obwohl der ‚Schwarze Kater' allem Anschein nach seine Wirkung nicht verfehlte, schienen seine Gedanken auch jetzt noch von einer gewissen Klarheit bestimmt. „Ist das Gift, mit dem Laubenstein getötet wurde, das Gleiche, was aus dem Fingerhut gewonnen wird?“ Die Weisheit, einen Menschen niemals nach seinem Äußeren zu beurteilen, bewahrheitete sich einmal mehr. „Es wäre möglich“, blieb ich vage. „Im Grunde hat sich Paul um den Garten gekümmert. Immerhin ist er der Hausmeister, aber jetzt, wo Sie es erwähnen, erscheint mir das Ganze in einem anderen Licht.“

Ich horchte auf. „Was meinen Sie?“ Der Prediger griff erneut zur Flasche. „Jeder aus dem Haus hat sich an den Pflanzen zu schaffen gemacht.“ „Wie ist das zu verstehen?“ Antonius leerte das zuvor bis zum Rand aufgefüllte Schnapsglas und sah mich aus zunehmend glasiger werdenden Augen an. „Ich kann nicht sagen, wer die roten Blumen angepflanzt hat, aber abgeschnitten hat sich so ziemlich jeder davon. Die Grothe habe ich sogar noch vor dem Gift darin gewarnt. Sie müssen wissen, dass ihr Enkelkind ab und an zu Besuch bei ihr ist.“ „Wie hat sie daraufhin reagiert?“, fragte ich neugierig. Die Miene meines Gegenübers verfinsterte sich. Seine Aussprache begann unter dem Einfluss eines gewissen Lebenselixiers zusehends zu leiden. „Die blöde Kuh hat mir einen Vogel gezeigt“, nuschelte er, „und dann hat sie mich vor der Kellertür stehen lassen.“

Ich beschloss die Befragung an dieser Stelle vorerst abzubrechen. Dass Betrunkene die Wahrheit sprechen, ist leider nicht mehr als eine Weißheit aus einer Zeit, in der es noch keine Lügendetektoren gab. Überdies musste ich ohnehin das, was ich bislang erfahren hatte, erst einmal auf die Reihe bringen. Ich sah also demonstrativ zur Uhr und erhob mich. „So schön es auch ist, mit Ihnen zu plaudern, so schnell ist leider auch die Zeit vergangen.“ Ich machte den Fehler, ihm meine Karte zu geben. „Bitte rufen Sie mich an, falls Ihnen noch etwas einfallen sollte.“

-12-

 

Mein Besuch bei Martin Antonius war nicht unbeobachtet geblieben. Als ich das Haus verließ, bemerkte ich aus den Augenwinkeln heraus, wie sich hinter einem der Fenster der zweiten Etage die Gardine bewegte. Der Student , sinnierte ich. Der Mann, der nur zehn Minuten lang duscht . Durch das gekippte Fenster der anderen Parterrewohnung vernahm ich die Tagesschauhymne. Eigentlich spät genug, um den Feierabend einzuläuten. In meiner neuen Wohnung warteten noch genügend Kartons auf mich, die ausgepackt werden wollten. Ich konnte und wollte schließlich nicht alles Trude überlassen.

Es nieselte noch immer. Was für ein Winter. Ich schlug den Kragen hoch und den Stetson ein wenig tiefer ins Gesicht. Selbst jetzt, da die Nacht bald ihre dunklen Wolken über die Dächer der Stadt ausbreitete, war es noch mild. Viel zu warm, um endlich zu schneien. Ich zog den Autoschlüssel aus der Jackentasche und drückte auf die Fernbedienung. Die Fahrtrichtungsanzeiger blinkten kurz auf. In ihrem gelben Schein meinte ich für den Bruchteil einer Sekunde einen Zettel hinter dem Scheiben-wischer gesehen zu haben.

Ich hatte mich nicht geirrt. ‚ Halt dich raus! ', drohte der Verfasser unmissverständlich. Ich legte den offensichtlich mit einem Computer geschriebenen Zettel in meine Brieftasche und sah mir den Wagen etwas genauer an. Und richtig, ich hatte es geahnt. Um seiner Aufforderung den nötigen Nachdruck zu verleihen, hatte er einen der Reifen zerstochen. Während ich den Reservereifen hervorkramte, schimpfte ich wie ein Rohrspatz. Ein neuer Wagen ist nicht immer von Vorteil. Geradezu dumm wird es, wenn man nicht weiß, wo sich der Wagenheber und das Bordwerkzeug verbergen. Der selbst durch die kleinsten Öffnungen kriechende Nieselregen tat ein Übriges.

„Kann ich Ihnen in irgendeiner Weise behilflich sein?“, vernahm ich die Stimme einer freundlichen Dame, die ihren Wagen neben mir abgestoppt hatte. „Vielen Dank, aber ich denke, ich hab's gleich.“ Klar war mehr der Wunsch Vater des Gedankens, aber Mann will sich schließlich keine Blöße geben. Ich hatte kaum ausgesprochen, als ich auch schon reichlich ungeschickt mit dem Schraubenschlüssel abrutschte und mir das spitze Ende, mit dem eigentlich die Radkappe entfernt werden sollte, unglücklich in die Hand rammte. „Autsch!“, schrie ich schmerzerfüllt auf. „Verdammter Mist!“ „Um Himmels Willen“, hörte ich die Frau im Auto erschrocken ausrufen. Sie sprang ohne zu zögern aus dem Wagen und eilte zu mir, um sich die blutende Wunde anzusehen.

„Das sieht schlimm aus. Mit so etwas ist nicht zu spaßen. Am besten, ich fahre Sie ins Krankenhaus.“ Während ich die Blutung mit Hilfe eines Papiertaschentuches zu stoppen versuchte, winkte ich entschlossen ab. „Halb so wild.“ „Die Wunde muss ausgewaschen werden, sonst könnten Sie sich infizieren“, appellierte sie. „Kommen Sie wenigstens kurz mit zu mir. Ich wohne gleich da vorn.“ Die Mittvierzigerin deutete auf das Mehrfamilienhaus der Laubensteins. War dies ein Wink des Schicksals? Ich entschloss mich, auf ihr Angebot einzugehen.

„Glauben Sie mir“, rief sie aus der Küche herüber, während ich mir am Waschbecken im Bad die Wunde säuberte. „Zuviel Nachlässigkeit kann ins Auge gehen.“ „Sehr nett von Ihnen“, bedankte ich mich, als sie mit dem Verbandskasten zurückkehrte. „Mein Name ist übrigens Lessing, Leopold Lessing.“ „Gerda Grothe“, entgegnete sie knapp. „Sie sind sicher Krankenschwester“, schmeichelte ich ihr, während sie meine Hand verband. „Nein, gewiss nicht“, lachte sie. „Wenn ich Blut sehe, klappen mir immer die Beine weg. Wie kommen Sie nur darauf?“ „Nun, Sie legen den Verband so geschickt an, dass mir gar keine andere Schlussfolgerung übrig blieb.“

Ihr freundliches Lächeln war im selben Augenblick einem traurigen Blick gewichen. „Nein, leider bin ich keine Krankenschwester. Wenn ich nur eine wäre...“ Tränen stiegen ihr in die Augen und so sehr sie ihre Gefühle auch zu verbergen suchte, so wenig wollte es ihr gelingen. „Entschuldigen Sie bitte“, schniefte sie. „Ich habe erst vor wenigen Tagen einen geliebten Menschen verloren. Hilflos musste ich mit ansehen, wie er direkt neben mir zusammenbrach und von einer auf die andere Minute verstarb.“ „Das tut mir sehr Leid für Sie. Es muss ein großer Schock gewesen sein. Weiß man denn schon, woran Ihr Bekannter verstarb?“

Die Flut ihrer Tränen kannte kein Halten mehr. Die Ärmste begann hemmungslos zu weinen. „Stellen Sie sich vor“, fasste sie sich allmählich, „der Mann, den ich liebte wurde ermordet.“ Entsetzt legte ich die Hand auf meine Brust. „Das ist ja schrecklich! Weiß man denn schon, wer es getan hat?“ Gerda Grothe winkte ab. „I wo, unseren armen Hausmeister haben sie eingesperrt. Nur weil die Polizei Gift in den Pralinen fand, die er Casimir schenkte.“ Ich sah sie verwundert an. „Ja, aber wenn das Konfekt doch vom Hausmeister überreicht worden war?“ Die Gute schien etwas abwesend zu sein. Sie reagierte überhaupt nicht auf meinen Einwand. „Ich weiß noch nicht, wie sie es angestellt hat, aber ich bin mir zu Hundert Prozent sicher, dass es diese Schlange war.“ „Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht recht folgen“, riss ich sie aus ihren Gedanken. „Wie sollen Sie auch?“, seufzte sie, wieder in meiner Welt angekommen. Mir war klar, von wem sie sprach, doch mitunter kann es von Vorteil sein, die Karten nicht gleich auf den Tisch zu legen.

„Casimir wollte sich von seiner Frau trennen und mit mir neu anfangen. Er wollte es ihr noch vor dem Weihnachtsfest mitteilen.“ Wenn dem so war, verdichtete sich das Motiv der gehörnten Ehefrau. „Haben Sie dies denn nicht bei der Polizei angegeben?“, fragte ich interessiert. „Natürlich, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass man meine Aussage dort gar nicht so recht Ernst nahm. Ich glaube, die haben längst ihren Schuldigen.“ Das Gefühl hatte ich mittlerweile auch.

„Aber wie sollte die Ehefrau Ihres Geliebten die Pralinen präpariert haben?“, zeigte ich mich nachdenklich. Die für ihr Alter noch recht modern gekleidete Frau stieß einen tiefen Seufzer aus. „Wenn ich das nur wüsste.“ „Hatte Ihr Geliebter denn sonst noch irgendwelche Feinde?“ „Casimir war der liebevollste, charmanteste und gütigste Mensch, den ich kannte. Ein solcher Mensch hat keine Feinde. Vielleicht Neider, die ihm den Erfolg nicht gönnten, aber Feinde...?“ Sie schüttelte energisch den Kopf. „Nein, ganz sicher nicht!“

Ein polterndes Geräusch riss uns aus unserem Gespräch. Es war die Wohnungstür, die ins Schloss fiel. Kurz darauf wurde hinter der Glastür zum Wohnzimmer ein Schatten sichtbar. Die Tür wurde aufgestoßen und zwei Papiertüten, die teilweise einen sehr femininen Körper hinter sich verbargen, wurden hereingetragen. „Hallo!“, rief eine sehr angenehme Stimme. „Ich bin zu Hause.“ Meine Krankenschwester sprang auf und nahm ihrer Tochter eine der Tüten ab. „Wir haben Besuch.“ Woraufhin mich zwei argwöhnische Augen musterten. Ich fühlte mich wie ein Stück Vieh auf dem Weg zur Schlachtbank. „Das ist Herr Lessing“, erklärte sie etwas verlegen.

Ich deutete auf den Verband, während ich mich ebenfalls erhob. „Ihre Frau Mutter war so nett, mich zu verarzten.“ „Herr Lessing hat sich beim Reifenwechsel verletzt. Stell dir vor, Claudia, der Reifen an seinem Wagen ist quasi vor unserer Tür zerstochen worden.“ „Tja“, entgegnete das noch sehr mädchenhaft wirkende Fräulein schnippisch. „Es sind mehr Chaoten unterwegs, als man es gemeinhin für möglich hält. Hat mich sehr gefreut, Herr Lessing. Schade, dass Sie uns schon verlassen müssen. Ich hätte zu gern noch mit Ihnen darüber geplaudert, wie man einen Reifen wechselt, aber Sie haben sicher noch Wichtigeres zu tun.“

Ganz schön dreist, dachte ich mir, aber fürs Erste tat ich der etwa Zwanzigjährigen den Gefallen. „Sie haben Recht, ich möchte Ihre Zeit nicht über Gebühr in Anspruch nehmen.“ „Kommen Sie doch mal wieder vorbei, Herr Lessing. Ich würde mich sehr über Ihren Besuch freuen.“ „Möglicherweise werde ich schon bald darauf zurückkommen.“

 

*Die linke Hand des Todes.