Detektei Lessing

 

Der Fluch des Verbrechens

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Tanja stand vor Entsetzen erstarrt auf der Empore. Undefinierbare Geräusche hatten sie trotz Migräne aus dem Schlafzimmer gelockt. Sie sah, wie drei, vier vermummte Gestalten in die Villa eindrangen. Sie hielten Waffen in den Händen und bedrohten einen der Sicherheitsbeamten, der ihnen vom Landeskriminalamt zu ihrem Schutz an die Seite gestellt worden waren. Tanja sah, wie einer der Eindringlinge eine Waffe auf den Kopf eines der Polizisten richtete und ihn nach Natascha befragte. Noch ehe er antworten konnte, betrat ihre Tochter unvermittelt den Raum. Tanja wollte ihr zurufen, sie warnen, doch ihre Lippen blieben verschlossen, ihr Körper war wie gelähmt, nicht fähig, auch nur die kleinste Bewegung zu machen.

Der Vermummte schaute zu Natascha, schwenkte die Waffe zur Seite. Eine Gelegenheit, um den Eindringling anzugreifen, doch was in diesem Augenblick wie der Hauch einer Chance wirkte, war nicht mehr als ein Trugbild. Ein kaum vernehmliches 'Plopp' und der Beamte sackte in sich zusammen. Während ihre Tochter schrie, brachte Tanja auch jetzt keinen Ton heraus. Erst als einer der Männer sie auf der Empore sah, löste sich die Verkrampfung ihrer Muskulatur und sie flüchtete zurück in ihr Schlafzimmer.

„Ich versteckte mich in einem der Kleiderschränke und hielt den Atem an“, erzählte Tanja Hauptmann, auch jetzt noch unter einem ungeheuren Druck stehend. „Ich hatte so furchtbare Angst um mein Leben.“ Was nur allzu verständlich war, wenn man an die Brutalität denkt, mit der die Täter vorgegangen waren. „Ich kann mich eigentlich erst wieder an etwas erinnern, als mich Ihr Kollege in den Arm nahm und beruhigte.“ „Ja, so etwas kann er recht gut“, kommentierte Oberkommissar Sinner meinen Einsatz im Dienste der Gerechtigkeit.

Dieser Fall hatte den Leiter der Mordkommission und mich wieder ein Stück weit näher zusammen gebracht. Gemeinsam mit meinem Freund, Hauptkommissar Wurzer, gelang es uns, den Mord an einen Großunternehmer und dessen Buchhalterin aufzuklären. Leider konnten wir die Entführung von Natascha Iwinskaja nicht verhindern. Als Tochter unseres Kronzeugen, der einige Namen preisgeben wollte, die das organisierte Verbrechen nachhaltig erschüttert hätten, war sie natürlich gefährdet und sollte daher bis zum Prozessende unter Polizeischutz gestellt werden. Kein Mensch konnte ahnen, dass die Tochter des Zeugen noch am selben Tag entführt werden würde.

Die Reaktion des Kronzeugen auf das Verschwinden seiner Tochter war nur allzu verständlich. So lange er schwieg, würde Natascha nichts geschehen. Folglich mussten wir alle Hebel in Bewegung setzen, um seine Tochter aus den Fängen des organisierten Verbrechens zu befreien. Hätte mir zu Beginn des Falles, als mir ein junges Mädchen mit ihrem Sparbuch in der Hand und der Verzweiflung in ihren Augen gegenüberstand, jemand gesagt, in welches Wespennest ich stechen würde, hätte ich den Fall sicher nicht angenommen.

Meine ursprüngliche Auftraggeberin war mit der Aufhebung ihrer Untersuchungshaft und dem Geständnis des Mörders aus der Schusslinie und für mich der Fall damit erledigt. Inzwischen hatte sich Stanislaus Mazur, der leibliche Vater der entführten Natascha Iwinskaja an mich gewandt. Nachdem die Polizei den Schutz seiner Tochter nicht gewährleisten konnte, war sein Vertrauen in das Landeskriminalamt und den Rest deutscher Ordnungshüter bis in die Grundfeste erschüttert. Bevor er mir einige Namen nannte, die mich bei meiner Suche nach Natascha weiterbringen konnten, bestand er auf meiner Zusage, keine seiner Informationen weiterzugeben. Folglich befand ich mich in einer Zwickmühle, hatte ich einerseits gegenüber Mazur als neuen Auftraggeber so etwas wie eine Schweigepflicht, durfte ich andererseits derartiges Wissen gegenüber der Polizei nicht zurückhalten.

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Augen und Mund waren mit breitem Isolierband verklebt und ihre Hände mit einem Kunststoffband auf dem Rücken gefesselt. Natascha versuchte sich jede Einzelheit einzuprägen. Anfangs war es noch ganz einfach, jeder Lenkbewegung, jedem Blinker zu folgen, doch je weiter sie sich von der Villa entfernten, umso schwieriger wurde es, die Orientierung zu halten. Die schräg verlaufenden Bahngleise in Groß Stöckheim trugen zumindest kurzzeitig dazu bei, ihr die Fahrtstrecke aufzuzeigen. Sie fuhren aus der Stadt hinaus, bogen nach rechts ab und schwenkten gleich darauf nach links und wieder nach rechts. Sie schleuderte von einer Wand gegen eine andere. Irgendwann beschleunigte der Sprinter. Die Stöße, denen sie auf dem kalten Blech der Ladefläche ausgesetzt war, folgten in immer kürzeren Abständen, wurden heftiger. Natascha war sich sicher, nun über die Autobahn in Richtung Braunschweig zu fahren.

Die Fahrt schien kein Ende zu nehmen. Natascha lag seitlich auf der Ladefläche, hatte die Knie angewinkelt und versuchte unter Schmerzen zum wiederholten Male die Hände unter dem Gesäß und ihren Beinen hindurch nach vorn zu ziehen. Was als Kind auf andere oftmals ungelenk wirkte, hatte ihr bereits beim Schwimmen viele Pluspunkte eingebracht. Hier wirkten die langen Arme im wahrsten Sinne befreiend. Zunächst entfernte sie die Klebebänder vom Mund und Augen, dann sah sie sich im diffusen Licht um, welches durch die Ritzen der Hecktüren in das Innere des Laderaumes drang. Abgesehen von der Entführten hatte der Sprinter nichts geladen.

Wo andere Mädchen ihres Alters in vergleichbarer Situation zu hysterischen Ausbrüchen, Weinkrämpfen oder Ähnlichem geneigt hätten, blieb sie relativ ruhig. Natascha hatte in ihrem jungen Leben bereits einiges mitgemacht und auch schon so manch prekäre Situation meistern müssen. Von daher und auch durch ihren Sport war sie es gewohnt, die Nerven zu bewahren, stets zu kämpfen und niemals aufzugeben. Selbst die schmerzenden Handgelenke und die Prellungen, die sie während der Fahrt erlitten hatte, wogen nicht halb so schwer wie die Angst vor dem, was die Vermummten womöglich mit ihr vorhatten. Sie wusste von den Verbrechern, mit denen sich ihr Vater abgegeben hatte, aber sie ahnte nicht im Mindesten, wie gefährlich sie wirklich waren.

Nach einer etwa einstündigen Fahrt wurde der Motor des Sprinters abgeschaltet. Autotüren wurden zugeschlagen und die Heckklappe wurde geöffnet. Grelles Licht flutete den Laderaum, blendete Natascha und ließ sie für einige Sekunden erblinden. „Sie hat sich das Klebeband von den Augen heruntergerissen“, rief einer der Männer, während er auf die Ladefläche sprang und Natascha ohrfeigte. Ein anderer Mann warf ihm seine Sturmhaube zu. „Zieh ihr das Teil über den Kopf“, befahl er. „Sie hat mich gesehen“, befürchtete ein dritter. „Mach dir nicht ins Hemd, Rolf. An deine Visage erinnert sich eh niemand“, zog der Mann auf der Ladefläche die Angst seines Komplizen ins Lächerliche. „Abgesehen davon war sie vom Tageslicht so sehr geblendet, dass sie ohnehin nichts erkennen konnte.“ Womit der Kerl, der Natascha in diesem Moment von der Ladefläche half, nicht so ganz richtig lag.

„Ich habe Geld!“, startete Natascha einen ersten verzweifelten Versuch, ihre Lage zu verbessern. „Wenn Ihr mich freilasst, kann ich euch ein Lösegeld zahlen!“ „Netter Versuch“, lachte einer der Männer, „...aber wenn wir dich freiließen, wärst du doch weg.“ „Ich... ich könnte meinen Anwalt anrufen, damit er Ihnen das Geld bringt.“ Die Männer sahen sich an und begannen noch lauter zu lachen. „Da haben wir uns ja einen richtigen Goldfisch geangelt.“ „Ich habe genug Geld!“, wurde Natascha energischer. „Komm jetzt!“, riss einem der Männer der Geduldsfaden. „Du kannst dein Geld behalten“, offenbarte er ihr, während er das Mädchen mit sich in das Gebäude zog. „Wenn sich dein Vater für das Richtige entscheidet, lassen wir dich vielleicht bald wieder gehen, wenn nicht...“ Natascha stockte der Atem. „...aber er liebt ja sein Töchterchen, nicht wahr?“

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Hatte ich mich nach meinem ersten Besuch am Krankenlager von Stanislaus Mazur mit der Entscheidung herumgequält, ob ich die zu erwartenden Namen und Hintergründe betreffend der kriminellen Vereinigung, der er immer noch angehörte, lediglich dazu zu verwenden, seine Tochter zu finden, war ich inzwischen zu der Überzeugung gelangt, dass es richtiger war, zumindest meinen Freund Hauptkommissar Wurzer ins Boot zu holen. Sein Interesse, den Fall zu einem guten Abschluss zu bringen war mindestens ebenso groß wie meines. Zusammen kamen wir schließlich zu der Entscheidung, Oberkommissar Sinner und das LKA außen vor zu lassen. Das Risiko, welches für Natascha Iwinskaja bestand, wenn zu viele Personen eingeweiht waren, war einfach zu groß. Überdies sollte Mazur nicht wissen, dass Jogi mit von der Partie war.

Zu meinem Erstaunen erfuhr ich von Mazur Details, die ich in meinen kühnsten Träumen nicht erwartet hatte. So war die Spur nach Polen lediglich eine Sackgasse, die allein zu dem Zweck installiert worden war, die deutschen Behörden in die Irre zu führen. Ebenso wenig, wie die eigentlichen Drahtzieher hinter den Kulissen tatsächlich Polen waren. Die Namen, die Mazur Jogi genannt hatte, gehörten letztendlich nicht einmal der obersten Führungsebene an, waren Leute wie er, eine Art Gebietsleiter, die der zweiten Ebene angehörten. Den Namen des Big Boss kannte auch mein potentieller Auftraggeber nicht, aber immerhin wusste er, wo dieser residierte. Der Mann an der Spitze, Big Boss, wie er beinahe liebevoll genannt wurde, hatte der Organisation den Anschein einer biederen Gebäudereinigungsfirma mit Namen Klarputz gegeben. Die perfekte Tarnung, wenn es um Schmuggel im ganz großen Stil ging, wie auch der Sitz der Firma in Hannover Langenhagen vermuten ließ.

Als Mazur den Zigarettendeal mit Hauptmann vermittelte, gehörte er ein einziges Mal zu denen, die ganz oben saßen, wurde in die Zentrale eingeladen und dem Big Boss vorgestellt. Seine lobenden Worte mussten heute wie Hohn in den Ohren meines potentiellen Auftraggebers klingen. Über eines war sich Mazur bewusst, wenn diese Leute Wind davon bekommen hätten, dass er auspacken wollte, wären er und Natascha längst Geschichte. Für diese These sprach auch der Rechtsanwalt, der sich etwa zeitgleich mit der Entführung des Mädchens am Krankenbett meines wahrscheinlichen Auftraggebers eingefunden hatte.

„Ein schmieriger Typ, der allerhand anzudeuten wusste, ohne dabei wirklich etwas zu sagen“, beschrieb Mazur. „Die Familie lässt seine Kinder nicht im Stich“, fügte er lakonisch hinzu. „Die Entführung Ihrer Tochter geschah also…“, ich unterbrach mich, um nach den passenden Worten zu suchen, „...quasi vorsorglich?“ „So ist es“, bestätigte Mazur. „Halte ich mich an den Kodex, wird dieser Winkeladvokat alles nur Erdenkliche in Bewegung setzen, um mich herauszuboxen. Es wird Zeugen geben, die beschwören, mich zur Tatzeit am anderen Ende der Welt gesehen zu haben und es wird Beweise für meine Unschuld geben.“ „Wenn Sie sich dessen so sicher sind, verstehe ich ehrlich gesagt nicht, weshalb Sie ihr Geständnis nicht widerrufen.“ Mazurs Stirn krauste sich und das leichte Zucken seiner Mundfalten ließen ein spöttisches Lächeln erahnen. „Lieber ein Leben hinter Gittern, als für den Rest meines Lebens Leibeigener des Teufels zu sein.“

Ich stutzte. „Sie haben einen Menschen getötet.“ „Ich wollte diese Frau nicht über die Brüstung stürzen“, wehrte sich Mazur. „Es war ein bedauerlicher Unfall.“ „Danach sah es eigentlich nicht aus“, widersprach ich. „Das Geländer ist zu hoch, um einfach darüber zu stürzen“, merkte ich an, „...aber darüber soll ein Gericht befinden. Ich werde nach Ihrer Tochter suchen und ich werde sie finden, aber ich arbeite nicht für lau.“ „Natürlich nicht“, zeigte sich Mazur erfreut über meine Zusage. „Ich habe zwei Bedingungen. Zum einen beträgt meine Taxe eintausend Euro am Tag zuzüglich Spesen. Zum anderen möchte ich, dass die Spedition von Rike Tanner in Zukunft wieder für die Baumärkte Ihrer Tochter fährt. Und zwar für einen fairen Preis.“ „Ihr Honorar geht klar, über alles Weitere muss man sprechen.“

Ich war mir bewusst, was ich Mazur da abverlangte. Immerhin war es eben diese Spedition und die Fahrer der Tannertrans, die ihn zumindest indirekt zu Fall und auch auf die Krankenstation gebracht hatten, aber letztlich gab es mich nur unter dieser Bedingung. Ich schüttelte also den Kopf. „Da gibt es nichts zu sprechen. Entweder - oder.“ „Also schön“, lenkte er schweren Herzens ein. „Wenn Ihnen so viel daran liegt.“ Unser Handschlag besiegelte den Pakt.

Jogi hatte auf dem Flur auf mich gewartet. Schließlich sollte Mazur nicht wissen, dass der Hauptkommissar eingeweiht war. „Ich schlage vor, wir gehen erst einmal einen Kaffee trinken und besprechen dabei unsere weitere Vorgehensweise.“ Zehn Minuten später saßen wir im Café Förster in der Neumärker Straße und bestellten eine Runde Cappuccino.

„Was wissen wir bis jetzt?“, resümierte Jogi. „Es gibt einige Aussagen von Anwohnern, die übereinstimmend angaben, zum Zeitpunkt der Entführung einen weißen Sprinter ohne Werbeaufschrift vor der Villa der Familie Hauptmann gesehen zu haben. Die Spurensicherung fand im Haus Fingerabdrücke und einige Haare, die weder zu Natascha Iwinskaja noch zu ihrer Mutter gehören. Recherchen des Landeskriminalamtes ergaben, dass sie auch zu keiner der Personen gehören, die das Haus in den vergangenen Tagen betreten haben. Leider gab es zu diesen Funden in den Datenbanken des LKA keinen Treffer.“ „Na, das wäre auch zu einfach gewesen“, lächelte ich gequält.

„Eins will mir noch nicht so recht in den Kopf“, überlegte ich. „Mehrere Zeugen sahen das Fahrzeug vor der Villa stehen, aber keinem der Anwohner fielen die vermummten Gestalten auf. Es muss doch aufgefallen sein, als die Kerle das Mädchen aus dem Haus und auf offener Straße in den Lieferwagen brachten.“ Mein Freund verzog das Gesicht. „Du glaubst, dass niemand etwas mit der Sache zu tun haben will?“ „Ich meine, es kann nicht schaden, die Leute noch einmal zu befragen. Du weißt doch wie einschüchternd die Leute von LKA mitunter bei Befragungen auftreten.“ Jogi stimmte mir nickend zu.

Ich hatte meinen Freund offensichtlich überzeugt. „Gibt es Mitschnitte aus Überwachungskameras von Radarkontrollen oder irgendwelchen Tankstellen?“ „Leider nein“, seufzte Jogi. „Wir haben es sicherlich mit Profis zu tun. Die vergessen nicht, vor der Arbeit zu tanken.“ „Das ist recht mager“, bewertete ich den Stand der Ermittlungen von Kripo und LKA als enttäuschend. „Folglich müssen wir uns auf Mazurs Angaben konzentrieren.“ „Ich nannte Jogi einige Namen, die er sich notierte. „Schau an“, stellte der Hauptkommissar ernüchtert fest, „…von denen nannte mir Mazur nicht einen einzigen.“ „Was hast du erwartet?“, fragte ich meinen Freund mit einem schiefen Grinsen. „Mazur ist ein Fuchs. Der behält sich immer einige Asse in der Hinterhand.“ „Dann bin ich gespannt, was wir von den Namen zu erwarten haben, die er dir gegeben hat.“ Jogis Skepsis war durchaus angebracht. „Einige dieser Namen sollen zu führenden Köpfen der Organisation gehören“, erklärte ich. „Vielleicht kommen wir über sie an den Mann heran, der Big Boss genannt wird.“

„Mazur geht also davon aus, dass einer dieser Männer seine Tochter entführen ließ.“ Ich stimmte der Schlussfolgerung meines Freundes kopfnickend zu. „Da ich versprechen musste, die Namen keinesfalls weiterzugeben, kannst du sie weder dem LKA noch Sinner zu dessen offiziellen Ermittlungen zur Verfügung stellen.“ „Das ist mir klar“, war Jogi mit seinen Gedanken bereits einen Schritt weiter. „Ich werde die Namen bei INPOL durchlaufen lassen. Mal sehen, ob es etwas in der Datenbank des BKA gibt.“ „Abgesehen von den Namen verriet mir Mazur, dass die Organisation keineswegs von Polen aus agiert.“ Der Blick meines Freundes verhieß Erstaunen. „Die Spur nach Polen ist getürkt. Der Sitz des Syndikats befindet sich in Hannover Langenhagen und ist als Reinigungsfirma unter dem Namen Klarputz getarnt.“

Ich bemerkte, wie sich hinter der Stirn des Hauptkommissars ein reges Treiben einstellte. „Sag mal, meinst du, die Kontakte deiner Sekretärin könnten eventuell bis nach Hannover reichen?“ „Ich hatte auch schon daran gedacht. Reinigungskräfte sind eine sehr verschworene Gemeinschaft, wie ich bei einigen Gelegenheiten erfahren durfte. Ich werde Trude einfach fragen. Wenn sie noch über dementsprechende Verbindungen verfügt, werden sie uns bestimmt weiterbringen.“

Jogi beschrieb einen Zettel, den er mir über den Tisch schob. „Wozu soll der gut sein?“ „Der Zettel soll dich einerseits erinnern, andererseits wird er uns an der Aktionswand nützlich sein.“ „Was für eine Wand?“, erkundigte ich mich verwundert. „Da ich nicht offiziell ermitteln kann, müssen wir das Hauptquartier in deiner Detektei aufschlagen.“ „Was für ein Hauptquartier?“ Jogi winkte ab. „Lass mich mal machen.“

Mein Freund schien in seinem Element. „Vorausgesetzt, Natascha wurde tatsächlich nach Hannover entführt, hält man sie ganz sicher nicht in der Firmenzentrale unter Verschluss.“ „So dämlich werden die ganz sicher nicht sein“, stimmte ich Jogi zu. „Folglich könnte das Syndikat über weitere Immobilien verfügen, die unter dem Namen der Firma Klarputz angemietet wurden oder die sich in deren Besitz befinden“, sinnierte er weiter. „Wir müssen unbedingt an einen Plan über die wahrscheinlich breit gefächerte Unternehmensstruktur dieser Firma herankommen.“ „Es ist kein Geheimnis, wie weit ein solches Syndikat geht, um sich einen seriösen Anstrich zu geben“, überlegte ich. Ich finde, wir sollten uns dies zu Nutze machen und Gewerbezentralregister sowie Industrie und Handelskammer auf Einträge durchforsten.“ Jogi beschrieb einen weiteren Zettel, den er mir ebenfalls zuschob.

„Was ist mit Rettich und Sinner“, erkundigte ich mich bezüglich der Zusammenarbeit meines Freundes mit dem LKA und der Wolfenbütteler Kriminalpolizei. „Ganz wohl ist mir bei dem Gedanken daran nicht, wie du dir sicherlich vorstellen kannst“, entgegnete der Hauptkommissar nervös. „Wir bewegen uns beide auf extrem dünnem Eis, was diesen Fall angeht.“ „Es wäre mir auch lieber, wenn es auf dem geraden Weg ginge, aber so, wie ich Mazur inzwischen einschätze, gibt es einen triftigen Grund für seine Vorsicht.“ „Du denkst an einen Maulwurf bei der Polizei?“, griff Jogi meine Überlegung auf. „Wenn diese Leute polnische Zöllner bestechen können, wieso sollten es dann nicht auch einige deutsche Beamte geben, die sich in den Dienst dieser Organisation gestellt haben?“

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Nachdem wir einen ersten Schlachtplan geschmiedet hatten, trennte sich unser Weg zunächst. Während Jogi zurück nach Braunschweig fuhr, besorgte ich zunächst einige Korkplatten und mehrere große Pappen, aus denen ich Jogis Aktionswand basteln wollte. Schließlich wollte ich, dass er meinetwegen nicht auf liebgewonnene Gewohnheiten verzichten musste. Nach Stunden strapaziösen Einkaufs hatte ich endlich alles zusammen. Bepackt wie ein Maultier polterte ich schließlich durch die Tür zu meiner Detektei.

Trude staunte nicht schlecht, als sie mich hinter all den Taschen und Tüten erspähte. „Nun stehen Sie da nicht rum und halten Maulaffenfeil“, raunzte ich sie an, während ich bereits die Hälfte meines Einkaufs im Raum verstreute. „Nehmen Sie mir lieber was ab.“ Noch verstand ich nicht, weshalb ihr Zeigefinger immer wieder nervös in eine bestimmte Richtung zuckte. „Was zum Henker haben Sie denn nur mit Ihrem Finger, Trude?“ „Sie haben Besuch, Chef.“ „Weshalb sagen Sie das denn nicht gleich?“ Die Gesichtsfarbe meiner Putzsekretärin wechselte schlagartig von kalkweiß in ein kräftiges Rot.

Nachdem ich mich meines Einkaufs endlich neben Trudes Schreibtisch entledigt hatte, musste ich mich durch mehrfaches Augenzwinkern zunächst davon überzeugen, dass ich keiner optischen Täuschung unterlegen war. Hauptkommissar Rettich vom LKA und die Dogge Bea saßen einträchtig auf dem Sofa in der Besucherecke und hielten Händchen – oder Pfötchen?

„Na, das ist ja mal eine Überraschung, Herr Hauptkommissar Rettich“, staunte ich nicht schlecht über den recht unerwarteten Besuch. „Ich musste doch mal vorbeikommen und Hallo sagen.“ „Welche Freude“, lächelte ich verhalten. „Und was führt Sie nun wirklich zu mir?“ „Vielleicht sollten wir uns in Ihr Büro begeben“, schlug Rettich vor. „Es gibt nichts, was meine Mitarbeiterin nicht hören dürfte“, entgegnete ich demonstrativ loyal. „So, nun ja, wie Sie meinen. Es geht um Mazur. Mir kam zu Ohren, dass Sie wiederholt bei ihm im Krankenhaus waren. Darf ich fragen, welchen Grund es für diese Besuche gibt?“ „Aber ja“, entgegnete ich gelassen, ohne dabei jedoch konkret zu werden. Nachdem Rettich begriff, keine weiterführende Antwort auf seine Frage zu erhalten, änderte sich sein Gemütszustand.

„Wie soll ich Ihr Schweigen interpretieren?“ „Am besten indem Sie das Katz-und-Maus-Spiel beenden und keine Fragen mehr stellen, auf die Sie längst die Antwort wissen. Das Vertrauen von Herrn Mazur in unsere Strafverfolgung ist gelinde gesagt zurzeit etwas gestört. Es wird Sie daher nicht verwundern, dass er mich mit der Suche nach seiner Tochter beauftragt hat.“ „Also schön, hören wir mit den Spielchen auf“, lenkte Rettich ein. „Ihre Mitarbeit bezüglich der Aufklärung des Mordes an Rainer Hauptmann war zwar durchaus gewinnbringend, aber dies bedeutet nicht, dass Sie in diesem Fall Ihr eigenes Süppchen kochen können.“ Wenn man spitzfindig sein wollte, müsste man sagen, dass ich den Mord an dem Baumarktriesen allein aufgeklärt hatte, aber auf diese Feststellung verzichtete ich großmütig und ignorierte seine kleine Provokation.

Stattdessen hielt ich es nun doch für ratsam, unser Gespräch in mein Büro zu verlegen. „Glauben Sie mir, Herr Hauptkommissar, ich hatte keineswegs vor, mein eigenes Süppchen zu kochen. Selbstverständlich werde ich Sie über jedes Ergebnis meiner Recherchen auf dem Laufenden halten. Insoweit kann es doch nur der Aufklärung des Falles dienlich sein, wenn auf verschiedene Sichtweisen ermittelt wird“, versuchte ich ihn zu beruhigen. „Abgesehen davon lasse ich mir nicht vorschreiben, von wem ich einen Auftrag annehme und von wem nicht!“, schob ich der Ordnung halber unmissverständlich nach. „Hören Sie, Lessing, machen Sie, was Sie wollen, aber kommen Sie mir in die Quere oder bewegen Sie sich bei Ihrem Gendarmspielchen auch nur am Rande der Legalität, werde ich Sie aus dem Verkehr ziehen. Darauf können Sie Ihren bescheuerten Hut wetten!“

Selbst Bea, auf ihrem Sofa liegend, hatte mitbekommen, wie die Stimmung in meinem Büro umschlug. Bis dato wusste ich nicht, dass sie Türklinken herunterdrücken konnte. Als sie nun inmitten meines Büros stand und ihre Zähne fletschte, nahm es Rettich als Zeichen, seinen Besuch bei mir zu beenden. Offenbar ahnte er, dass es gesünder für ihn war, während seines Rückzugs auf jeden weiteren Kommentar zu verzichten.

„Was war das denn jetzt gerade?“, erkundigte sich die erstaunt dreinschauende Trude. „Der hatte es ja plötzlich ziemlich eilig.“ „Es ist gut, zu wissen, wann man Fersengeld geben sollte, nicht wahr, Bea“, klopfte ich meinem Bodyguard auf vier Pfoten anerkennend auf den Rücken. Ich kann kaum beschreiben, wie erhaben die gute Bea ihren Kopf hob und wie majestätisch sie auf ihr Sofa zurückkehrte. Trude und ich sahen uns verblüfft an. „Ich wusste ja, dass Sie einen gewissen Schlag bei Frauen haben, aber…“ „Haben Sie nichts zu tun, Trude?“ „Nö.“ „Das lässt sich ändern.“

Während ich die Aktionswand zusammenbastelte, versuchte Trude über die Internetseite der Industrie- und Handelskammer sowie über die interne Seite des Gewerbezentralregisters mehr über das Firmengeflecht und die Immobilien der Reinigungsfirma Klarputz herauszufinden. Da sich die Struktur der Firma als sehr verworren zeigte, gestaltete sich dieser Auftrag als weitaus aufwendiger als zunächst von mir angenommen. Ich half Trude so gut ich konnte, indem ich für jede neue Tochterfirma, die sie entdeckte, ein eigenes Kärtchen anlegte und auf der Aktionswand mittels Verbindungslinien zuordnete. Mit den Immobilien der einzelnen Firmen tat ich das Gleiche. Auf diese Weise entstand am Ende unserer Arbeit ein überschaubares Geflecht, welches sich relativ einfach zuordnen ließ.

Die Laternen in der Fußgängerzone schalteten sich bereits ein, als wir wie Künstler vor der Aktionswand standen, um unser Werk zu betrachten. Der erste von Jogi beschriebene Zettel hatte sich somit erledigt. „Einen habe ich noch“, erklärte ich zögerlich. „Na, nun zeigen Sie schon her“, riss mir die gute Seele das Papier aus der Hand. „Weshalb lamentieren Sie denn da herum? Auf die Idee, meine alten Verbindungen zu nutzen, war ich längst gekommen.“ Irgendwie verstand es Trude mich, selbst nach Jahren intensiver Zusammenarbeit noch, zu verblüffen. „Ihnen ist schon klar, dass ich einem Kontakt etwas anbieten muss, wenn er uns vernünftige Infos liefern soll.“ „Moment Trude, es geht zunächst allein darum, allgemeine Informationen über die Firma Klarputz zu erhalten. So, wie es aussieht, haben wir es hinter der Fassade dieser Firma mit organisierter Kriminalität zu tun. Diese Leute sind sehr gefährlich.

Während ich die Bedenken aussprach, wurde mir klar, eine solche Aufgabe nicht von einer Person ausführen lassen zu können, die über keinerlei Erfahrung mit der Recherche verfügt. Überdies bestand das Risiko, bei Entdeckung durch eben jene Person selbst aufzufliegen. Eine Gefahr, der ich Trude nicht aussetzen konnte. „Kommando zurück, Trude. Wir machen es anders. Versuchen Sie herauszufinden, ob zurzeit eine Stelle als Reinigungskraft vakant ist.“ „Wie jetzt, ich soll undercover für Sie Putzen gehen?“ „Sie doch nicht, Trude. Ich werde mich als Reinigungskraft in die Firma einschleichen.“ „Sie?“ Meine Putzsekretärin brach in schallendes Gelächter aus. „Wie soll denn das aussehen? Wenn Sie dort den Feudel schwingen, kann doch kein anderer mehr arbeiten, weil alle vor Lachen auf dem Boden liegen.“ „Nun ist es aber genug“, empörte ich mich. „Das bisschen Putzen erledige ich doch mit links.“ „So, so, mit links. Das möchte ich sehen.“

Kurz darauf stand ich mit Wischeimer und Mopp in der Hand und einer von Trudes Schürzen um die Hüften in der Anmeldung. „Na dann legen Sie mal los, Chef.“ Meine Erinnerung an die guten alten Scheuertücher und die Art und Weise, wie meine Mutter die Lappen um ihren Schrubber legte, halfen mir bei den neuartigen Loden nicht wirklich weiter. Ich zog also das fransige Tuch aus dem Eimer, klatschte es, so voller Wasser wie es war, auf den Fußboden und versuchte es, irgendwie am Wischer fest zu bekommen. Trude wollte sich unterdessen vor Lachen gar nicht mehr einkriegen. Irgendwann hatte sie gottlob ein Einsehen. „Sie müssen das Tuch zunächst in die Presse legen, um den überschüssigen Teil des Wassers herauszudrücken, damit Sie keine Überschwemmung verursachen.“ Nachdem mir Trude gezeigt hatte, wie sich das Tuch am Wischer befestigen ließ, ging es eigentlich ganz gut, aber ich musste einräumen, noch einiges von ihr lernen zu müssen, um als Undercover-Reinigungskraft bestehen zu können.

Klar, dass die Zeit dabei wie im Fluge verging und ich die Verabredung mit Jogi völlig vergaß. Wie peinlich es war, als ich meinen Freund grinsend in der Tür zu meiner Detektei erspähte, muss ich wohl kaum noch erwähnen. „Lass dich nicht stören, Leo. Es ist das erste Mal, dass ich dich wirklich arbeiten sehe. Übrigens steht dir die Schürze ausgezeichnet.“ „Halt bloß die Klappe“, fand ich in diesem Moment nicht wirklich eine passende Antwort. „Du musst zugeben, es sieht schon etwas suspekt aus, wenn dir deine Angestellte sagt, wo du noch putzen musst.“ „Hier findet eine Schulung zur Undercover-Reinigungskraft statt“, klärte ich meinen Freund auf.

Nachdem ich Jogi unsere Fortschritte an der Aktionswand präsentiert und die Dringlichkeit einer verdeckten Ermittlung erläutert hatte, machten wir uns endlich auf den Weg zur Lessingstraße. Es ging um die Befragung der Zeugen, die zum Zeitpunkt der Entführung zwar den weißen Sprinter vor der Villa der Familie Hauptmann-, aber keinen der Täter gesehen hatten.

-5-

„Kriminalhauptkommissar Wurzer und Herr Lessing“, stellte uns Jogi vor, während er seinen Dienstausweis präsentierte. „Bitte entschuldigen Sie den späten Besuch, aber es geht nochmals um Ihre Beobachtung im Zusammenhang mit der Entführung von Frau Iwinskaja.“ „Habe ich dir nicht gleich gesagt, dass es besser ist, wenn du den Mund hältst“, gesellte sich der wahrscheinliche Ehemann der Zeugin hinzu. „Haben Sie mal einen Blick auf die Uhr geworfen? Eine Frechheit, um diese Zeit noch von der Polizei belästigt zu werden. Die Frohnatur ließ keine Gelegenheit aus, um seinen Unmut bezüglich unseres Besuchs zum Ausdruck zu bringen. Ich suchte vergeblich nach dem Schild mit dem Aufdruck ‚Vorsicht bissiger Hund'.

„Treten Sie bitte näher, meine Herren“, versuchte die Zeugin den Auftritt ihres Göttergatten zu überspielen. „Wir sind dann mal so frei“, entgegnete Jogi zögerlich. Der mürrische Blick des Hausherrn begleitete uns bis ins Wohnzimmer. „Nehmen Sie bitte Platz. Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“ „Die Herren haben sicherlich keine Zeit, um es sich bei uns auch noch gemütlich zu machen.“ „Rüdiger, du bist unmöglich.“ „Lassen Sie mal, wir haben tatsächlich wenig Zeit“, beruhigte ich die Zeugin. „Na siehst du, Lotte“, setzte unser Gastgeber noch einen drauf.

„Wie ich bereits sagte, geht es um Ihre Beobachtungen. Sie sagten aus, vor der Villa der Hauptmanns einen weißen Sprinter gesehen zu haben. Ist Ihnen in der Zwischenzeit noch etwas eingefallen?“ Charlotte Weißmann sah verstohlen zu ihrem Mann herüber. „Nichts hat sie gesehen und wenn es nach mir gegangen wäre, hätte sie auch den Sprinter nicht gesehen. Es zeigt sich ja, welche Unannehmlichkeiten man dadurch hat.“ „Wenn Sie etwas gesehen haben, ist es Ihre staatsbürgerliche Pflicht auszusagen“, ignorierte Jogi den Hausherrn. „Es geht immerhin um das Leben der jungen Frau“, fügte ich hinzu. „Was haben wir mit dieser Polin und ihrer Tochter zu schaffen?“, winkte Rüdiger Weißmann ab. „Die hielten es ja nicht einmal für angebracht, uns zu grüßen.“ „Mich haben sie gegrüßt“, stellte Lotte klar.

„Hörner hat sie ihm aufgesetzt, diese…“, platzte es aus ihm heraus. „Wie man so etwas in die EU lassen kann!“ „Sie sollten sich besser zügeln“, ermahnte Jogi den wie besessen durch das Wohnzimmer stolzierenden Gastgeber. „War ja klar“, schaukelte er sich in seiner Entrüstung immer höher, „…dass man in diesem Gurkenstaat nicht mal mehr seine Meinung sagen darf! Aber in meinem Haus lasse ich mir nicht vorschreiben, was ich zu denken habe.“ „Wenn Sie Ihre Meinung sachlich und ohne andere zu beleidigen kundtun, sollte dies sicherlich kein Problem sein“, entgegnete Jogi mehr als gelassen. Der Hausherr lachte bitter auf. „Sie meinen, wenn diese Meinung der vom Staat vorgegebenen entspricht!“

Der Hauptkommissar ließ das Gerede unkommentiert und wandte sich stattdessen wieder der Zeugin zu. „Mein Mann ist nur so aufgebracht, weil er gerade Ärger wegen unseres Autos hat. Er ist normalerweise nicht so“, entschuldigte die Zeugin ihren Ehemann. „Wir sind nicht hier, weil wir über die Ansichten Ihres Partners diskutieren wollen“, relativierte Jogi. „Es geht immer noch um Ihre Beobachtungen. Sie sind sich also nach wie vor sicher, außer dem weißen Sprinter nichts gesehen zu haben, was uns bei der Suche nach dem Mädchen helfen kann.“ Rüdiger Weißmann unterbrach schlagartig seinen Marsch durch das Wohnzimmer und lauschte der Antwort seiner Ehefrau. „Nein, nein, es ist schon, wie mein Mann sagt. Mir fiel ansonsten nichts weiter auf.“

„Gut, dann wären wir schon so weit“, versuchte sich Jogi seinen Unmut nicht anmerken zu lassen. „Hier ist meine Karte. Falls Ihnen doch noch etwas einfallen sollte, können Sie mich unter der Telefonnummer jederzeit erreichen.“ „Vielen Dank für Ihre Zeit“, erhob ich mich zusammen mit meinem Freund. „Wir finden allein hinaus.“ „Ich werde Sie selbstverständlich zur Tür begleiten“, widersprach der Hausherr. „In einem deutschen Haushalt weiß man, was sich gehört.“

„Oh ha, das war heftig“, atmete mein Freund erst einmal tief durch, nachdem wir das Grundstück verlassen hatten. „Manchmal ist es gar nicht so einfach, ruhig zu bleiben“, seufzte Jogi. „Wem sagst du das“, konnte ich nur zustimmen. „Ich dachte, Dinosaurier seien längst ausgestorben.“ „Nee, nee, ein paar gibt es wohl noch“, lachte ich bittersüß. „Und nun gleich zum nächsten Zeugen?“ „Was bleibt uns übrig“, entgegnete Jogi einen noch tieferen Seufzer ausstoßend.

Etwa eine Stunde später kehrten wir zu meinem Wagen zurück. Ich hatte ihn während der Zeugenbefragung in der Nachbarschaft vor dem Haus der Weißmanns zurückgelassen. Da wir auf unserer Jagd nach Informationen keine neuen Erkenntnisse hatten, waren wir recht frustriert.

„Du kannst mir sagen, was du willst, Jogi. Irgendwie habe ich das Gefühl, überall auf eine Mauer des Schweigens zu stoßen. Die Leute wissen doch mehr, als sie zugeben wollen.“ „Es wundert mich, dass sie überhaupt den Sprinter gesehen haben.“ Ich betätigte die Fernbedienung, um meinen Skoda zu öffnen. Die Blinklichter flackerten auf. Gerade als ich die Fahrertür öffnen wollte, erkannte ich Charlotte Weißmann. Sie signalisierte uns zwischen zwei Büschen vom Gartenzaun ihres Grundstücks aus, zu ihr zu kommen.

„Mein Mann darf nicht wissen, dass ich mit Ihnen spreche“, flüsterte sie reichlich eingeschüchtert, „…aber ich könnte es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, wenn dem Mädchen etwas geschieht.“ „Sie haben also doch mehr gesehen“, schlussfolgerte Jogi. „Ich habe ein neues Handy von meinem Sohn bekommen, damit ich ihn anrufen kann, wenn es mir nicht so gut geht“, erzählte sie. Offensichtlich stand die arme Frau durch ihren Ehemann unter einem gewaltigen Druck. „Na, jedenfalls habe ich gerade ein bisschen damit herumgespielt, als zwei vermummte Männer das Mädchen aus dem Haus brachten.“ „Können Sie die Männer beschreiben?“, wurde ich hellhörig. „Noch besser“, freute sich die Zeugin. „Ich habe ein Foto von ihnen gemacht. Rüdiger glaubt, ich hätte es gelöscht.“ Sie lächelte diebisch, während sie mir ihr Handy über den Zaun reichte. „Habe ich aber nicht.“ Jogi und ich waren sprachlos.

Erst nachdem ich das Foto in der Detektei ausgedruckt hatte, wurde sichtbar, welch glücklichen Schnappschuss Charlotte Weißmann da geschossen hatte. Das Bild zeigte zwar nicht das Kennzeichen des Sprinters, aber es hatte genau den Augenblick festgehalten, als die Entführer ihr Opfer in den Sprinter bugsierten. Während einer der Männer durch eine Motorradhaube unkenntlich war, hatte das Mädchen offenbar durch ihre Gegenwehr die Haube des zweiten Mannes ein Stück weit heruntergerissen. So waren etwa zwei Drittel seines Gesichts zu erkennen.

„Ich bin gespannt, ob ich den Herrn in unserem Familienalbum wiederfinde“, zeigte sich Jogi zuversichtlich. „Pass bloß auf, dass dich Rettich nicht dabei erwischt. Der war kurz vor dir in der Detektei und hat mächtig Wirbel gemacht.“ „Was wollte er denn von dir?“, zeigte sich mein Freund überrascht. „Nun ja, er hat mir unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass ich mich aus der Entführung heraushalten soll.“ Jogi schüttelte verständnislos den Kopf. „Der soll doch froh sein, wenn in der Sache aus verschiedenen Blickwinkeln ermittelt wird.“ „Genau das habe ich ihm auch gesagt, bevor ihm Bea zu verstehen gab, dass es besser für ihn sei, die Detektei zu verlassen.“

„Okay, es ist spät geworden. Lass uns für heute Schluss machen. Ich melde mich bei dir, sowie ich Näheres weiß.“ „Ich dachte, wir ziehen noch ein wenig um die Häuser?“ „Nicht böse sein, Leo, aber ich treffe mich in einer halben Stunde mit Ultra.“ „Seid ihr wieder zusammen?“, hakte ich neugierig und erstaunt zugleich nach. „Noch nicht, aber zumindest arbeite ich daran.“

-6-

Seit Stunden schon hatte sich niemand mehr bei ihr sehen lassen. Seit Stunden schon hatte sie den Kampf aufgegeben, den Kampf aus diesem Verlies herauszukommen. All ihr Schreien, all ihre Hilferufe und all die verzweifelten Schläge gegen die massive Holztür waren vergebens gewesen. Irgendwann war sie mit dem Rücken zur Tür daran heruntergerutscht und einfach auf dem schmutzigen Boden sitzen geblieben. Die Entführer hatten sich keine Mühe gegeben, diesem Ort, zumindest etwas Behaglichkeit zu verleihen. Die Wände bestanden aus roten Ziegelsteinen, die kalt und an einigen Stellen feucht waren. Auf der einen Seite des Raums stand ein altes Metallbett, auf dem drei dicke Matratzen nebeneinander lagen. Wenigstens dese Wand war trocken. In der Mitte des Raumes hing eine Pendelleuchte, in der eine alte Glühbirne flackerte. Genau darunter, in ihrem diffusen Licht, standen ein Holztisch und ein Stuhl.

Gott sei Dank war sie nicht mehr an Händen und Füßen gefesselt und ihre Augen waren von dem Klebeband befreit, welches sie während der Fahrt in dem Lieferwagen tragen musste. Am schlimmsten jedoch war die Ungewissheit. Den einzigen Hinweis für den Grund ihrer Entführung hatte einer der Vermummten gegeben. „Wenn sich dein Vater für das Richtige entscheidet“, so hatte er gesagt, „…lassen wir dich vielleicht bald wieder gehen, wenn nicht...“ Sie hatte diese Worte noch so deutlich in ihren Ohren, als hätte sie der Kerl gerade erst ausgesprochen. Aber was war das Richtige und was war, wenn sich ihr Vater für das Falsche entschied?

Natascha dachte zurück und sie überlegte, ob sie sich nicht selbst für den falschen Weg entschieden hatte. Sie dachte an ihre Kindheit und sie dachte daran, als sie mit ihrer Mutter noch allein in der kleinen Mansardenwohnung lebte. Die Schmerzen an ihren Handgelenken waren wieder genau so präsent, wie in jenen Nächten, als sie von ihrer Mutter an das Bett gefesselt auf ihre Rückkehr wartete. So oft hatte sie Natascha zu verstehen gegeben, welche Last sie für ihre Mutter sei, wie schwer sie arbeiten musste, um beide durchzubringen. Heute klangen diese Worte wie blanker Hohn in ihren Ohren. Heute wusste sie, wo sich Tanja Nacht für Nacht herumgetrieben hatte.

Dies änderte sich erst mit ihrer Einschulung ein wenig. Zumindest auf die Fesseln verzichtete Tanja jetzt. Die Nächte verbrachte sie dennoch allein in der kleinen Wohnung am Berliner Ring. Erst als sie älter wurde, verstand sie, was ihre Mutter wirklich in diesen Nächten trieb. Irgendwann trat dann Rainer und dessen Sohn Boris in ihr Leben und quasi von einen Tag auf den anderen wurde alles besser. Zum ersten Mal in ihrem Leben bekam sie Geschenke und sie zogen in ein Haus, welches wie ein Schloss auf sie wirkte. Sie waren plötzlich wie eine richtige Familie.

Natascha dachte an Rainer und daran, wie gut sie sich mit ihm verstanden hatte. Er war es, der ihr Talent erkannte und sie beim Schwimmverein anmeldete. Er war der Erste, der sich wirklich für sie interessierte. Zwei Jahre lang waren sie wie Vater und Tochter und sie fühlte sich wohl in seiner Nähe. Heute wusste sie, dass es ein Fehler war, all dies aus einem einzigen Grund, ihrem Verlangen nach der Wahrheit, aufs Spiel zu setzen.

Es waren laute Schritte, die Natascha aus ihren Gedanken rissen. Schritte, die sich über eine Treppe näherten. Sie schreckte hoch, ging auf Abstand zu der Tür, an der sie gerade noch mit dem Rücken lehnte und vernahm in gespannter Erwartung das Klappern eines Schlüsselbundes. Der Riegel unter dem Schloss schob sich zurück und die Klinke wurde heruntergedrückt. Natascha hielt den Atem an. Die Tür wurde langsam geöffnet und einer der Vermummten betrat den Raum. Er trug ein Tablett, auf dem sich eine Flasche Mineralwasser und ein Teller mit belegten Broten befand.

„Ich muss mal“, verkündete Natascha. Der Mann setzte wortlos das Tablett auf dem Tisch ab und ging auf einen gemauerten Sims zu, der sich in einer Ecke des Raumes befand, an der die Wände besonders feucht waren. Er hob einen Holzdeckel, deutete mit einer Hand auf das Loch, welches sich darunter befand und wandte sich ab. Für einen Moment dachte Natascha an Flucht, doch als sie zur Tür hinüber sah, bemerkte sie einen weiteren Aufseher, an dem sie keinesfalls vorbei kommen würde.

„Wie lange muss ich hier bleiben?“, fragte sie den Mann mit der Motorradhaube. Der ließ sie jedoch unbeachtet stehen und ging zum Eingang zurück. Natascha eilte ihm nach und riss ihn am Arm zurück. Eine einzige Handbewegung reichte, um das Mädchen abzuschütteln und zu Boden zu werfen. „So lange es dauert“, entgegnete er in scheinbarer Gelassenheit, während er seinen Weg fortsetzte. Erst nachdem sich die Tür wieder geschlossen hatte und die Schritte verhallten, erhob sie sich und ging dorthin, wo sie ihre Notdurft verrichten sollte.

-7-

Anders als bei mir fiel es bei Hauptkommissar Wurzer nicht sonderlich auf, wenn er sich im Fall Natascha Iwinskaja bei seinen Kollegen nach dem Ermittlungsstand erkundigte. Da weder Oberkommissar Sinner von der Wolfenbütteler Kripo noch Hauptkommissar Rettich vom Landeskriminalamt in Hannover im Besitz der Informationen waren, die ich von Mazur bekommen hatte, fischte die Polizei nach wie vor im Trüben. Es fiel meinem Freund alles andere als leicht, nichts von diesen Infos weiterzugeben, aber immerhin stand er bei seinem besten Freund im Wort. Überdies hatte ich ihm von Rettichs Auftritt in meiner Detektei berichtet und somit der Illusion jeder Zusammenarbeit beraubt.

Die Namen, die Jogi vor der Entführung von Mazur erhalten hatte, stammten von Komplizen, die in der Hierarchie des Syndikats kaum über ihm standen. Diese Namen waren jedoch alles, worauf sich das LKA zu diesem Zeitpunkt stützen konnte. Ohne zu wissen, wie klein diese Fische eigentlich waren, hatte sie Hauptkommissar Rettich bundesweit und über Interpol zur Fahndung ausgeschrieben. Da bislang keine Lösegeldforderung eingegangen war, lag es auf der Hand, dass Mazur von den eigenen Leuten unter Druck gesetzt wurde. Das unangemeldete Auftauchen des Winkeladvokaten an Mazurs Krankenbett setzte dem Ganzen sozusagen noch die Krone auf. Die Botschaft des Rechtsverdrehers war nur allzu deutlich. Der Pole hatte folglich gar keine Chance, die von der Staatsanwaltschaft in Aussicht gestellte Kronzeugenregelung in Anspruch zu nehmen.

Zumindest was Trudes Recherchen und ihre alten Verbindungen in die Reinigungsbranche betraf, kam Bewegung in die Sache. „Eine ehemalige Gebietsleiterin hat ein gutes Wort für Sie eingelegt“, verkündete Trude mit einem zufriedenen Schmunzeln auf den Lippen. „Sie können übermorgen bei der Firma Klarputz anfangen.“ Ich staunte nicht schlecht. „Übermorgen schon?“ „Ja sicher. Sie haben großes Glück, es ist gerade jemand wegen eines Burnout-Syndroms ausgefallen.“ Ich schluckte trocken. „Mit dem Arbeitsklima scheint es dort ja nicht unbedingt zum Besten bestellt zu sein.“ „Ach was“, winkte meine Putzsekretärin locker ab, „…der ganz normale Wahnsinn.“ Obwohl mich bereits eine böse Vorahnung beschlich, musste ich den Dingen freien Lauf lassen. Ich hatte das Pferd gesattelt, nun musste ich auch ins Rennen gehen.

„Übrigens hat meine Bekannte von einigen Ungereimtheiten und merkwürdigen Gestalten gesprochen, die in der Firma ein und ausgehen, aber nichts mit den Serviceaufträgen zu tun haben, die von Klarputz angeboten werden.“ Ich sah die gute Seele herausfordernd an. „Ihre Bekannte ist doch nicht von allein ins Plaudern gekommen. Sie werden da doch nicht etwa…?“ „Keine Panik, Chef, die gute Bärbel hat gar nicht mitbekommen, wie ich sie aushorchte.“ „Wenn sie stutzig geworden ist, könnte meine Tarnung eher auffliegen, als ich den ersten Arbeitstag hinter mich gebracht habe.“ „Wenn Sie weiterhin so schlampig putzen, wird das ohnehin passieren.“ Mir blieb die Spucke weg. „Ja, ja, die Wahrheit kann zuweilen sehr schmerzvoll sein“, setzte sie noch einen drauf. „Da gibt es noch einiges zu tun.“

„Machen Sie mir bitte eine Verbindung mit Herrn Wurzer“, brach ich unser ernüchterndes Gespräch an dieser Stelle ab und verschwand in mein Büro. Ich war mir sicher, das bisschen Putzen auch ohne großartiges Training locker in den Griff zu bekommen. Immerhin führte ich seit geraumer Zeit einen respektablen Junggesellenhaushalt, in dem es stets aufgeräumt war und einigermaßen reinlich zuging.

Das Läuten meines Telefons brachte mich gottlob auf andere Gedanken. „Na, du alter Schwerenöter“, begrüßte ich meinen Freund. „Ich hoffe, der gestrige Abend verlief nach deinen Vorstellungen?“ „Ja, ja, war ganz nett“, entgegnete Jogi. Seiner Antwort nach hatte sich nicht der gewünschte Erfolg eingestellt. Ich bohrte daher nicht weiter. „Hast du bezüglich des Fotoabgleichs etwas herausfinden können?“ „Das System hat den Namen Torsten Ritter ausgespuckt. Es handelt sich demnach um einen mehrfach verurteilten Gewalttäter. Sein letzter Urlaub auf Staatskosten wegen gefährlicher Körperverletzung dauerte drei Jahre und liegt mittlerweile knapp zwei Jahre zurück. Seither war er nicht mehr in Erscheinung getreten.“ „Das würde die Aussage Mazurs insoweit bestätigen, als dass es sich nicht um ein rein polnisches Syndikat handelt“, besann ich mich auf die Aussage des Polen.

Nachdem mich mein ehemaliger Kollege über den momentanen Ermittlungsstand der Wolfenbütteler Kriminalpolizei in Kenntnis gesetzt hatte, erklärte ich ihm, schon in Kürze eine Putzstelle bei der Firma Klarputz anzutreten. Seine Begeisterung hielt sich allerdings in Grenzen.

Bereits eine halbe Stunde später saßen wir uns im Café Klatsch gegenüber. „Kannst du mir mal sagen, was du dir letztendlich von dieser Undercoveraktion versprichst?“ „Das liegt doch eigentlich auf der Hand, Jogi. Mit dem Foto und dem Namen des Entführers lässt sich sicherlich eine ganze Menge anfangen. Trude hat herausgefunden, dass es sich bei dem Hauptsitz von Klarputz um eine Villa handelt, die am Ufer der Aller gelegen ist. Es gibt ein weiteres Gebäude am Brinker Hafen und eine Halle in der Wohlenbergstraße.“ Mein Freund schüttelte verständnislos den Kopf. „Alles schön und gut, aber es ist mir dennoch schleierhaft, wie du als Putze an Informationen gelangen willst, die uns einerseits zu Natascha Iwinskaja führen und andererseits mehr über das Syndikat herausfinden lassen.“

Die Skepsis meines Freundes war durchaus begründet und wenn ich ehrlich war, wusste ich auch noch nicht so recht, wie ich an die erhofften Infos gelangen sollte, aber tatenlos in der Detektei herumsitzen und mir einen Bart wachsen lassen, bis Sinner oder Rettich irgendetwas herausfanden, konnte ich auch nicht. „Ich bin mir sicher, zumindest einiges über die Struktur der Organisation herausfinden zu können. Immerhin wissen wir bereits, womit das Syndikat einen Großteil seiner Einnahmen bestreitet. Wer weiß, was und auf welchen Wegen sonst noch geschmuggelt wird?“ Jogi schlürfte nachdenklich an seinem Cappuccino.

„Da ich dich offensichtlich nicht von deinem Vorhaben abbringen kann, möchte ich, dass du wenigstens ständig einen GPS-Sender bei dir trägst.“ „Wenn du mir das Ding besorgen kannst, soll es mir recht sein.“ „Das lass mal meine Sorge sein“, wiegelte Jogi ab, „…sag mir lieber, wo du dich für die Dauer deines Ausflugs eigentlich einquartieren willst?“ „Trude hat mir eine nette kleine Pension in der Nähe des Hafens herausgesucht“, erklärte ich zuversichtlich. „Falls du mich mal besuchen willst, gebe ich dir die genaue Adresse durch, sowie ich eingecheckt habe.“ „Ich weiß nicht“, lamentierte Jogi, „…irgendwie habe ich kein gutes Gefühl bei der Sache.“

-8-

„So, so“, wunderte sich Miriam, „…du willst dich also für ein paar Tage abseilen.“ „Wie du das wieder sagst“, schüttelte ich den Kopf. „Ich habe einen Auftrag, der mich für etwa eine Woche nach Hannover führt.“ „Ehrlich gesagt verstehe ich nicht so ganz, weshalb du nach getaner Arbeit nicht nach Hause kommen kannst. Unsere Landeshauptstadt ist ja nun nicht so ganz weit entfernt und du wirst wohl kaum rund um die Uhr an diesem Fall arbeiten.“ „Sicher nicht, aber ich weiß eben auch noch nicht, zu welchen Zeiten ich eingebunden sein werde.“ „Ich kenne dich, Leopold Lessing…!“ Oh je, jetzt wurde es ernst. „Sobald ich dich aus den Augen lasse, schlägst du über die Stränge.“

Ich nahm meine besorgte Staatsanwältin in die Arme, um sie zu beruhigen. „Ach Miriam, glaube mir, du bist die Einzige und du wirst es auf ewig bleiben. Es bricht mir das Herz, wenn ich eine Woche nicht bei dir sein kann, aber Job ist eben Job und du willst doch, dass ich meine Arbeit gut mache.“ „Dann sag mir wenigstens, um was es sich bei deinem neuen Fall handelt, damit ich mir keine Sorgen machen muss.“ „Das kann ich nicht.“

Mit den letzten Worten hatte ich es geschafft, Miriam vollends auf die Palme zu bringen. „Bei aller Liebe, Leo, das ist stark“, schnaufte sie nach Luft. „Wenn ich dich mit Infos versorgen darf, interessiert es dich einen feuchten Kehricht, ob du mir gegenüber Einzelheiten deiner jeweiligen Fälle preisgibst und hier zierst du dich plötzlich wie ein Goldfisch auf dem Trockenen.“ „Okay, dann begleite mich doch einfach, dann wirst du ja sehen, dass ich nicht auf eine Vergnügungstour gehe.“

Natürlich hatte ich meiner Liebsten dieses Angebot nur deshalb unterbreitet, weil ich genau wusste, dass sie zurzeit bei Gericht unabkömmlich war. „Also gut, wenn es keine andere Möglichkeit gibt, werden sich eben meine lieben Kollegen um die aktuellen Verhandlungen kümmern müssen, Schließlich kann ich ja nichts dafür, wenn ich plötzlich krank werde.“ Ich fühlte mich wie vor den Kopf geschlagen. Weshalb musste ich immer wieder in die eigenen Fettnäpfchen treten? Wie sollte ich aus der Nummer nur wieder herauskommen?

„Wunderbar, mein Schatz, ich freue mich“, versuchte ich so überzeugend wie möglich zu antworten. „Dann kann ich dir endlich tiefere Einblicke in meine Arbeit geben. So werde ich mich wenigstens nicht langweilen, wenn du neben mir sitzt.“ Miriam sah mich irritiert an. „Wieso sitze ich neben dir?“ „Na, während der Observationen“, entgegnete ich selbstverständlich. Miriam wusste aus meinen Erzählungen, wie zeitraubend diese Tätigkeit sein konnte. „Trude hat mir ein Zimmer in einer kleinen Pension in einem Stadtteil von Langenhagen reserviert. Da lässt sich bestimmt ein Doppelzimmer draus machen.“

Meine kurze Beschreibung hatte seine Wirkung offensichtlich nicht verfehlt. Miriam schien längst nicht mehr so enthusiastisch wie wenige Momente zuvor. „Ja hast du gedacht, ich würde in einem Luxushotel absteigen und es mir im Wellness bereich gut gehen lassen?“ Meine Lebensabschnittsgefährtin sah verlegen zu Boden. „Was glaubst du wohl, was mir mein Auftraggeber erzählen würde, wenn ich ihm das Hotel Sheraton auf die Spesenrechnung setzen würde?“ „Ist ja schon gut, ich habe verstanden“, lenkte Miriam gottlob ein. „Du rufst mich aber jeden Tag mindestens dreimal an.“ Ich seufzte. „Also schön, wenn du dann beruhigt bist.“ „Versprich es!“ Ich verdrehte die Augen. „Okay, ich gelobe es.“

„Schön, dann könnten wir doch jetzt eigentlich essen gehen“, sprang sie auf und griff nach ihrer Jacke. „Ich habe einen Mordskohldampf.“ „Ich wollte Bea jetzt eigentlich zu Frau Stahl an die Twelkenmühle zurückbringen“, gestand ich. „Da Trude heute Abend mit ihrem Liebsten ins Kino gehen wollte, kann sie Bea nicht mit nach Hause nehmen. Überdies bin ich ja ab übermorgen in Hannover und da kann ich sie beim besten Willen nicht mitschleppen.“ „Kein Problem, wir nehmen Bea einfach mit zu Yusef und bringen sie anschließend nach Schöppenstedt.“ „Na, der wird sich freuen.“

„Hallo meine Freunde, schön euch zu sehen.“ „Hallo Yusef, wir sind heute zu dritt, da gehen wir am besten nach draußen.“ „Der Kleine ist wohl nicht so ganz stubenrein?“ „Unsere Klein e kann sich schon benehmen, das ist es nicht, aber wenn sie draußen ist, fühlt sie sich einfach wohler.“ „Ich mich ehrlich gesagt auch“, witzelte mein syrischer Freund mit besorgtem Blick. Da die vorderen Tische bereits besetzt waren, gingen wir bis ganz nach hinten durch und setzten uns an den letzten Tisch. Dies hatte auch den Vorteil, dass ich Bea an einem der Blumenbottiche aus Beton anleinen konnte. Schließlich kannte ich die gute Bea nur zu gut. Unsere ornithologische Erkundung der Schwaneninsel inmitten des Stadtgrabens war mir noch in lebhafter Erinnerung.

„Edeltraut wird sich darüber freuen, Bea nach ihrer Kur wieder um sich zu haben“, wusste ich aus einem Telefonat mit der alten Dame. „Ich bin gespannt, ob sie mit ihrer neuen Hüfte schon klarkommt“, zeigte sich Miriam erwartungsvoll. „Bei unserem Kurbesuch in Bad Harzburg klappte es mit dem Rollator doch schon recht gut.“ „Stellt sich die Frage, ob sie langfristig tatsächlich auf den Rollstuhl verzichten kann?“ „Eine Frau wie Edeltraut Stahl hört nie auf zu kämpfen“, sinnierte ich. „Darüber hinaus hat Bea sicherlich zu ihrem Entschluss beigetragen, sich operieren zu lassen.“

„So, meine Lieben, hier ist eure Suppe“, unterbrach uns Yusef auf sehr angenehme Weise. „Dem Himmel sei Dank“, griff Miriam nach dem Löffel, ehe das letzte Schälchen auf dem Tisch stand. „Ich sterbe für diese Suppe.“ „Das wäre ausgesprochen schade“, kommentierte der Syrer lächelnd. „Das finde ich auch“, pflichtete ich ihm bei. „Männer!“

Nach der Suppe, die man nirgendwo anders bekommt, kam Yusef mit dem leckeren Salat. In diesem Augenblick stiegen Kati, der gemeinsame Sohn und Hund Oktavia aus dem Auto. Der Boxer entdeckte Bea und hastete los. Ehe der Junge begriff, was vor sich ging, katapultierte ihn der kräftige Hund gegen seinen Vater. Die Salatschüsseln flogen in hohem Bogen in alle Richtungen. Während Yusef nur allmählich realisierte, was gerade geschah, versuchte sich der Junge reflexartig an einem der Tische festzuhalten.

Inzwischen waren die Salatschüsseln gelandet. Während zwei von ihnen auf dem Boden und eine weitere auf einem der Tische niedergegangen waren, hatte die vierte ihren Inhalt im Flug verloren. Ich entdeckte den Krautsalat auf der Glatze eines älteren Herrn, den Rest auf seiner Schulter. Das Dressing tropfte ihm in den Kragen. Während sich der Herr noch nicht darüber im Klaren war, wie er reagieren sollte, trugen es seine Begleiter bereits mit Humor. Ein Blick zum Nachbartisch ließ den Betroffenen jedoch ebenfalls in ein fröhliches Lachen ausbrechen, denn dort kippten gerade sämtliche Gläser zur Seite und ergossen ihren Inhalt auf die beiden Damen, die sich gerade noch so schamlos über die Krauteinlage amüsiert hatten. Gottlob gelang es Yusef, den Tisch am kompletten Umsturz zu hindern.

Der Boxer hatte inzwischen sein Ziel erreicht. Während er Bea genüsslich am Allerwertesten herumschnüffelte, blieb diese so teilnahmslos liegen, als ginge sie der ganze Wirbel nicht das Mindeste an. Ein gutes Gefühl, einmal nicht der Schuldige zu sein.

Nachdem sich die Aufregung gelegt hatte und Oktavia zur Strafe ins Haus gebracht wurde, die Gäste wieder trocken gelegt waren und sich Yusef sehr großzügig gezeigt hatte, wurde es nicht nur ein feuchter, sondern auch ein fröhlicher Abend, bei dem noch reichlich über die komischen Sinnesbilder gelacht wurde.

Es war eigentlich schon etwas spät, als wir das Klingelschild von Frau Stahl drückten, aber da ich uns vorher angemeldet hatte und Edeltraut ihre vierbeinige Freundin sehnsüchtig erwartete, war dies kein Hinderungsgrund. Es lässt sich kaum beschreiben, wie überrascht wir waren, als uns die tapfere Frau mit dem Rollator stolz entgegenkam. Welch beeindruckendes Feingefühl Bea bei ihrer Begrüßung an den Tag legte, war außergewöhnlich. Sie ging dabei so vorsichtig zu Werke, wie man es einem so großen Hund kaum zutrauen würde. Im Vergleich zu unserem Besuch bei ihr in Bad Harzburg hatte Edeltraut riesige Fortschritte gemacht.

„Also wirklich, Frau Stahl“, zeigte sich Miriam beeindruckt, „…ich staune, wie gut Sie bereits mit der Gehhilfe unterwegs sind. Da können wir ja schon bald zusammen auf den Brocken wandern.“ „Dann strengen Sie sich mal an, dass Sie dann auch mithalten können“, entgegnete die couragierte Frau. „Warten Sie!“, sprang ich auf, als ich sah, wie sie sich mit dem Tablett für den Kaffee mühte. „Untersteh dich, mein Junge! Wenn ich Hilfe brauche, werde ich es dich wissen lassen.“ Kurz darauf hatte sie eingedeckt und saß stolz mit uns am Tisch. „Es braucht noch seine Zeit, aber es wird allmählich“, lächelte sie zufrieden. Wer diese Frau kannte, wusste, dass dies keine leeren Versprechungen waren.

 

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Lessing 14 ‚Finden Sie Nathalie'