Detektei Lessing

 

Der Kopf des roten Drachen

 

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Knut Klages hatte alles andere als einen guten Tag hinter sich gebracht. Die Finanzkrise war auch an ihm nicht spurlos vorübergezogen. Der bis dato erfolgsverwöhnte Finanz- und Unternehmensberater war von einem seiner Klienten für dessen Insolvenz verantwortlich gemacht worden. Sicher, er hatte dem etablierten Mittelständler zu einer folgenschweren Fehlentscheidung geraten, aber wie um alles in der Welt hätte er den Zusammenbruch der Finanzmärkte vorhersehen können?

Der ehrgeizige Jungunternehmer pflegte solche Rückschläge auf seine ganz eigene Art zu kompensieren, er gönnte sich etwas Gutes. Nun gehen die Meinungen gerade in dieser Hinsicht sicherlich weit auseinander. Für Knut Klages war ein Abend und die darauf folgende Nacht an der Seite, oder besser auf einer Prostituierten etwas ganz besonders Gutes. Der aufstrebende Selfmademan war ein nüchtern denkender Pragmatiker, für den eine feste Bindung in einer aus seiner Sicht stigmatisierenden Partnerschaft nur unnötiger und kostenintensiver Ballast war. Einen besonderen Reiz empfand der attraktive Junggeselle in der Mannigfaltigkeit seiner wechselnden Lustobjekte. So hatte er sich in dieser Nacht für eine Vietnamesin entschieden.

>Suu Linn< stand auf dem abgegriffenen Klingelschild neben der Eingangstür. Ein verschmitztes Lächeln huschte über Knuts Lippen, als er den nur noch mit Mühe zu entziffernden Namenszug der Prostituierten las. Wie viele Männerdaumen vor ihm wohl diesen Klingeldrücker bereits betätigt hatten? Es war ihm egal. Eine derart gut gebuchte Dirne hielt sicherlich einiges für diese Nacht in petto.

Die feine Stimme, die auf sein Läuten über die Gegensprechanlage zu vernehmen war, schürte seine Erwartung, brachte sein Blut in Wallung. „Zweitel Stock links“, hauchte sie in unnachahmlichen Slang durch den Lautsprecher. Das gleichzeitig ertönende Summen des Türöffners sollte das Startsignal für eine unvergessliche Nacht sein.

Der Mittdreißiger drückte die Tür zur Seite und trat in den nüchternen Flur des Mehrfamilienhauses. Er benutzte den Aufzug, fuhr in die zweite Etage und folgte dem schwach ausgeleuchteten Gang. Beim Vorbeigehen las er die Namen, die an den Türen der verschiedenen Apartments klebten. Vor einer dieser Türen wartete sein gebuchtes Frischfleisch, wie er die Damen des horizontalen Gewerbes in seinen Gedanken zu betiteln pflegte.

Die zierliche Asiatin entsprach seinen Erwartungen. Knut vermochte ihr Alter nur sehr vage zu taxieren. Irgendwie sahen diese Schlitzaugen für ihn alle gleich aus. Diese schätzte er auf Anfang zwanzig. Sie trug einen dünnen Seidenkimono, unter dem sich die Konturen ihres zierlichen Körpers nur erahnen ließen. Das rabenschwarze Haar fiel ihr über die schlanken Schultern. Ihr Gesicht war zart und blass, fast bleich, was die rot geschminkten Lippen nur umso intensiver hervortreten ließen. Seine Gedanken berührten sie bereits zärtlich, als sie sich formten, um ihn willkommen zu heißen.

„Guten Abend, kommen Sie helein.“ Knut ließ sich nicht lange bitten, Zeit ist Geld und Geld hatte er an diesem Tag genug verloren. Während er sich an ihr vorbei in das Innere des Apartments schob, fiel sein Blick auf ihre feingliedrige Nase. Sie trug ein silbernes Piercing darin. Nichts klobiges, eher klein und unauffällig, irgendwie passend. Komisch, sonst konnte er diese Art der Zurschaustellung nicht ausstehen, aber an der femininen Vietnamesin wirkte das Piercing so dezent und erotisch wie ein elegantes Schmuckstück.

„Bitte machen Sie es sich bequem“, hauchte sie, während ihre Finger verführerisch über seine Schultern glitten, um ihm das Jackett abzustreifen. „Ich würde zunächst gern das Geschäftliche erledigen“, unterbrach er ihre Bemühungen, eine gewisse Stimmung herbeizuführen, recht unsensibel. „Oh ja, wie Sie es wünschen, mein Hell.“ Der sportlich wirkende Mann zog ein Bündel Scheine hervor, die er mittels eines Gummibandes zusammenhielt. „Sie sagten, dreihundert für die Nacht.“ Suu nickte. Der Typ sah alles andere als schlecht aus, hatte ein gepflegtes Äußeres und war ihr nicht unsympathisch. Sie hätte die Nacht auch aus reiner Neugier mit ihm verbracht, aber das musste sie ihm ja nicht auf die Nase binden. „So wal es ausgemacht.“

Knut zog drei Hunderteuroscheine aus dem Bündel und reichte ihr das Papier. Er legte zwei weitere Scheine auf die Kommode neben dem Fenster. „Wenn du mich meine Sorgen für heute Nacht vergessen lässt, gehören sie dir.“ Suu dachte spontan an einen Film mit Julia Roberts. War dieser Mann etwa ihr ganz persönlicher Richard Gere? Sie starrte ihm für einen Moment tief in die Augen. Nein, so etwas gab es nicht im wahren Leben.

Der Unternehmensberater wartete auf ihre Reaktion. Er hatte ihr einen Knochen zugeworfen. Würde sie ihn aufnehmen? Bis jetzt hatte er noch jede in dieser Weise für sich eingenommen. Das so in Aussicht gestellte Geld hatte er letztlich noch nie gezahlt. Vielleicht war diese kleine Asiatin das Geld ja tatsächlich wert? Sein Blick verfing sich indes in ihren braunen Augen, tauchte tief in ihre geheimsten Gedanken ein und ließ seine Fantasien in zügellose Fiktionen verfallen.

Während sie ihren warmen schlanken Körper an ihn schmiegte und sich ihre sanften Hände den Weg über seine Schultern, den Nacken und zärtlich über seinen Rücken suchten, schloss er seine Augen. Sie glitt an ihm herab, kniete schließlich vor ihm und öffnete die Knöpfe seiner Jeans so gefühlvoll, dass ihm das Blut heiß und kalt zugleich durch die Adern pulsierte. In rhythmischen Bewegungen schob sie seine Shorts Zentimeter für Zentimeter hinab. Gleichzeitig massierten ihre Finger seinen Po und die Schenkel. Er vibrierte vor Verlangen, unterwarf sich ganz und gar ihrer Liebeskunst.

Ihre feuchten Lippen berührten ihn, benetzten seine Haut auch an den intimsten Stellen seiner Lust und steigerten seine Begierden so ins Unermessliche. Gemeinsam sanken sie auf das Bett, eng umschlungen, Haut an Haut. Er ließ geschehen, was immer sie auch an erotischer Raffinesse mit ihm anstellte. Knut verfügte ganz sicher über einiges an Erfahrung, aber nie zuvor hatte er vergleichbares erlebt, nie zuvor solchermaßen empfunden. Er genoss diese Nacht, vergaß den Ärger und den Kummer des vergangenen Tages.

Schon zwei Mal hatte sie seine Standfestigkeit bis auf das Äußerste geprüft, ihn an den Rand des Wahnsinns gebracht. Nun bedurfte es einer kleinen Stärkung. „Ich habe uns einen kleinen Muntermacher mitgebracht“, grinste Knut vielsagend, während er in die Innentasche seines Jacketts griff. Suu sah ihm zu, wie er einen Beutel mit einem weißen Pulver auswickelte. „Ich habe den Stoff vorhin besorgt, die Qualität ist ausgezeichnet. Du wirst dich wie auf einer Wolke fühlen.“ Suu lächelte erwartungsvoll. Es war nicht der erste Schnee, den sie in ihrem noch so jungen Leben gesehen hatte. Knut kippte zwei etwa gleichgroße Häufchen des weißen Glücks auf die Kommode neben dem Fenster, klappte sein Taschenmesser auf und formte zwei Schlangen daraus, die etwa so lang waren wie die Geldscheine, die danebenlagen. Einen davon rollte er nun zusammen, um das Kokain damit durch die Nase einzusaugen. „Hier nimm“, sagte er, ihr gönnerhaft das Röhrchen reichend. Die Asiatin ließ sich nicht lange bitten.

Während sie sich eines der Nasenlöcher zuhielt, zog sie sich durch das andere das Rauschmittel ein. Knut beobachtete sie einen Augenblick akribisch. Fast hatte es den Eindruck, als wolle er zunächst die Wirkung der Droge abwarten. Erst als klar war, dass alles in Ordnung war, bediente er sich ebenfalls. In dieser Weise aufgepuscht, gaben sie sich hemmungslosem, wilden Sex und völlig ausgefallenen Spielen hin.

Der Morgen graute bereits und ein frischer Windzug wehte durch das gekippte Fenster herein, als das ungleiche Paar von ihrer Begierde gezeichnet in tiefem Schlaf versank.

Stunden vergingen, ehe Knut durch laute Rufe und heftige Schläge gegen die Tür geweckt wurde. Noch ganz unter dem Einfluss des Rauschmittels kam er nur langsam zu sich.

„Moment!“, stöhnte er mit einem Brummschädel, der jeden klaren Gedanken nur sehr zögerlich in ihm reifen ließ. „Ich komm ja schon!“ Nur mit seinen Shorts bekleidet, öffnete er die Tür. Unversehens sah er sich zwei Uniformierten gegenüber. „Entschuldigen Sie die Störung, aber wir haben einen Hinweis auf…“ Der Beamte stockte, starrte auf die Hände seines Gegenübers, setzte zwei Schritte zurück und zog gleichzeitig seine Waffe. „Hände hoch!“, brüllte er Knut an. Der begriff gar nicht, was eigentlich geschah, folgte aber nach einigen Schrecksekunden der Aufforderung des Beamten. „Treten Sie langsam und mit erhobenen Händen auf den Flur heraus!“ „Was soll denn der Blödsinn?“, ereiferte sich der Mann in den Shorts. „Tun Sie, was ich Ihnen sage! Legen Sie ihre Hände gegen die Wand und spreizen Sie die Beine auseinander.“ Während Knut den Anweisungen nachkam, wurde er weiterhin durch den Uniformierten in Schach gehalten. Im nächsten Moment wurden ihm durch den zweiten Beamten Handschellen angelegt.

„Kann ich jetzt endlich erfahren, was hier los ist?“, kam Knut allmählich zur Besinnung. Noch ehe der Obermeister antworten konnte, kehrte sein Kollege aus dem Apartment zurück auf den Flur. „Da drinnen ist eine verdammte Sauerei passiert. Alles ist voller Blut. Ich glaube, die Frau ist tot.“ „Was?“, fuhr Knut erregt herum. „Die Nutte ist tot? Das kann nicht sein!“ „Bleiben Sie, wo Sie sind“, drückte ihn der sichtlich angespannte Polizeibeamte vehement gegen die Wand zurück. Dass sich nun auch noch eine weitere Wohnungstür und noch eine dritte öffnete, aus der Nachbarn von Suu Linn auf den Flur hinaustraten, verschärfte die Situation.

„Dies ist ein Polizeieinsatz!“, rief Hauptmeister Mack, während er über Funk Verstärkung anforderte. „Bitte bleiben Sie in Ihren Wohnungen.“ „Hast du sicherheitshalber auch einen Rettungswagen angefordert?“ „Klar, obwohl…“ Er schluckte. Eine so übel zugerichtete Frau hatte auch er noch nicht zu Gesicht bekommen. „…da wird wohl kaum noch was zu machen sein.“ „Um Himmels Willen…“, bekundete der Tatverdächtige, „…so glauben Sie mir doch, ich habe die Frau nicht getötet. Wir haben eine außergewöhnliche Nacht miteinander verbracht. Warum sollte ich Sie ermorden?“ „Das müssen Sie schon mit dem Hauptkommissar klären. Es wird eine Weile dauern, ehe die Kollegen aus Helmstedt hier sind.“

 

-2-

 

„Aus dieser Nummer kommen Sie nicht mehr raus, Herr Klages“, schüttelte Rechtsanwältin Gutemiene resigniert den Kopf. „Es spricht einfach zuviel gegen Sie. Da wären zunächst die von innen verschlossene Tür und das Tatwerkzeug, an dem sich Ihre Fingerabdrücke befanden. Darüber hinaus fand man das Blut des Opfers an Ihren Händen. Es läuft alles auf eine Tat im Drogenrausch hinaus.“ Knut Klages sackte in sich zusammen. „Ich weiß doch auch nicht, was vor sich ging. Es ist so, als fehlte mir ein Stück Film.“ „Wenn Sie vernünftig sind, lassen Sie mich auf verminderte Schuldfähigkeit plädieren, dann kommen Sie nach sechs bis acht Jahren wieder frei.“ „Aber ich war es nicht“, beteuerte der Mann auf dem Stuhl seine Unschuld. „Ich könnte nie im Leben einem Menschen Gewalt antun.“ „So?“, entgegnete die Rechtsanwältin gedehnt, „…und was ist mit der Körperverletzung, zu der Sie vor acht Jahren verurteilt wurden?“ „Himmel, das ist doch Schnee von gestern. Ich musste damals einer guten Bekannten beistehen, die von so einem schmierigen Typen bedrängt wurde.“ „Was damals sicherlich sehr ritterlich von Ihnen war, wird uns die Staatsanwaltschaft heute um die Ohren schlagen.“

Knut Klages raufte sich die Haare. „Das war doch damals ein glattes Fehlurteil.“ „Das halten Sie man dem Richter vor, damit er Sie für diese Einschätzung glatt zu zwei Jahren mehr verdonnert. Wenn Sie mit einem halbwegs erträglichen Strafmaß davonkommen wollen, müssen Sie mir schon vertrauen.“ „Das kann doch alles nicht wahr sein!“ Der vermeintliche Mörder vergrub sein Gesicht in den Handflächen. All sein Hoffen war verflogen, sein Mut sank auf den Nullpunkt. „Um Himmels Willen, holen Sie mich hier heraus sonst gehe ich hier drinnen kaputt!“ „Also schön, es ist Ihre Entscheidung. Gehen wir mit fliegenden Fahnen unter.“

 

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„…verurteile ich Sie im Namen des Volkes zu einer achtjährigen Freiheitsstrafe.“ Der Angeklagte sackte auf den hinter ihm stehenden Stuhl zusammen. Die nachfolgenden Worte des Richters, mit denen er das Urteil begründete, drangen nur noch sporadisch an sein Ohr. „Ich denke, Sie können mit dem Urteil mehr als zufrieden sein, die Beweise waren einfach nicht zu entkräften.“ „Vielleicht habe ich das Mädchen ja wirklich getötet. Die Möglichkeit, tatsächlich ein Mörder zu sein, bringt mich fast um den Verstand. Andererseits müsste ich mich an eine solche Tat erinnern, doch so sehr ich es auch versuche, da ist nichts als ein schwarzer Schatten, der wie ein schlechtes Gewissen durch mein Unterbewusstsein huscht.“

Als ihn der Polizeibeamte aus dem Gerichtssaal geleitete, sah er in das verweinte Gesicht seiner Mutter und in die entsetzten Augen seiner Schwester. Wir wissen, dass du unschuldig bist!“, rief ihm Denise zu. „Gib die Hoffnung nicht auf, Knut, wir lassen dich nicht im Stich. Wir holen dich da raus!“, vernahm er die Worte seiner geliebten Schwester. Sie waren wie ein Hoffnungsschimmer, der in seinem Herzen glimmte, doch als er in das enttäuschte Gesicht seines Vaters sah, wusste er, dass er noch viel mehr als nur seine Freiheit verspielt hatte.

Wenn er auch die Untersuchungshaft bereits als unerträglich empfunden hatte, so ließ ihn der Aufenthalt in der Justizvollzugsanstalt in seinen Grundfesten erzittern. Auch wenn er als verurteilter Mörder unter den Insassen einen zweifelhaften Ruf genoss und man ihm zunächst mit einem gewissen Respekt begegnete, hielt dieser Bonus nur so lange an, bis klar war, dass Knut weder die Skrupellosigkeit noch die erforderliche Abgeklärtheit besaß, um eine solche Tat zu begehen. Was wiederum bedeutete, dass er in der Gefängnishierarchie bis ganz nach unten durchgereicht wurde. Knut veränderte sich. Aus dem erfolgsverwöhnten Unternehmensberater, der vor Selbstbewusstsein nur so strotzte, wurde zusehends ein Häufchen Elend, dem nach und nach auch der letzte Lebensmut entwich. Daran vermochten auch die häufigen Besuche seiner Schwester nichts zu ändern. Es brach ihr das Herz, die Veränderung ihres Bruders mit anzusehen, weshalb sie schließlich den Entschluss fasste, auf eigene Faust zu ermitteln.

-4-

 

„Meine Güte, Chef, lassen Sie sich bloß endlich einen Termin geben“, hielt sich meine Putzsekretärin nicht länger zurück. „Seien Sie mir nicht böse, aber Ihr Gejammer ist ja kaum noch auszuhalten.“ „Das sagen Sie so einfach, Ihre Zähne sind ja auch in Ordnung.“ Trude schielte tadelnd über den Rand ihrer neuen Lesebrille. „Was ja wohl nicht zuletzt an meiner Bereitschaft liegt, in regelmäßigem Abstand einen Zahnarzt aufzusuchen.“ Womit sie natürlich Recht hatte, was ich wiederum keinesfalls zugeben konnte. „Wissen Sie eigentlich, was so was kostet?“, rechtfertigte ich mich. „Na ja, so eine Altbausanierung ist halt nicht billig.“

Es war abzusehen, dass jedes weitere Wort zu nichts anderem führte, als meine Autorität als Arbeitgeber zu untergraben. Fakt war, dass meine Detektei nicht sonderlich gut lief und demzufolge kaum Spielraum für derartige Bedürfnisse ließ. Ohne die nicht unbeträchtlichen Subventionen, die ich für Trudes Dienste bei der Bundesanstalt für Arbeit gelten machen konnte, hätte ich mir meine Vorzimmerperle bei Leibe nicht leisten können. Immerhin befand sich meine Detektei auch nach drei Jahren harter Arbeit noch im Aufbau.

Nachdem ich bei der Braunschweiger Kripo aus persönlichen Gründen das Handtuch geworfen hatte, war ich zwar, wie man so schön sagt, zu meinen Ursprüngen zurückgekehrt und hatte mein Leben wieder im Griff, aber auf einen grünen Zweig war ich eben immer noch nicht gekommen. Der größte Schatz, den ich seit jenem Entschluss an Land gezogen hatte, war ohnehin nicht mit Geld zu bezahlen. Miriam und ich waren nun schon über ein Jahr zusammen und ich muss sagen, dass die ehrgeizige Staatsanwältin das Beste ist, was mir je passiert ist. Okay, sie ist nicht immer leicht zu nehmen, hat ihre Ecken und Kanten, aber wer hat die nicht?

So ist der Spagat zwischen Arbeit und Privatleben nicht der einzige Reibungspunkt in unserer Beziehung, aber gewiss der leidigste. Die geringste Frage, die ich ihr in diese Richtung stelle, verursacht nicht selten kleinere Wutausbrüche bei ihr. Sei's drum, der Detektiv lebt nicht vom Brot allein, ihm bedarf's darüber hinaus vor allem an Informationen und die bekommt man bekanntlich am besten direkt an der Quelle. Gäbe es da nicht meinen langjährigen Freund und Weggefährten bei der Braunschweiger Kripo, sehe es zuweilen recht mau mit Auskünften aus. Hauptkommissar Jürgen Wurzer, auch liebevoll Jogi genannt, hatte mir schon einige Male in verzwickten Situationen zur Seite gestanden. So, wie gerade erst bei meinem letzten Fall, bei dem es um die entführte Tochter einer bekannten Sängerin aus Königslutter ging.

„So Chef, Sie können sich schon mal seelisch darauf einstellen, dass Ihre Schmerzen in absehbarer Zeit ein Ende haben“, trat Trude unvermittelt in mein Büro. „Wie, was, wieso?“ „Ich habe einen Termin bei meinem Zahnarzt für Sie gemacht. Sie haben Glück, es hat gerade jemand für morgen Nachmittag abgesagt.“ „Eigentlich hatte ich Morgen schon etwas anderes vor.“ „Papperlapapp! Da gibt es nichts, was nicht ebenso gut um einen Tag verschoben werden könnte“, fegte die Gute all meine Vorbehalte energisch zur Seite. „Doktor Kossmann ist ein sehr einfühlsamer Mann, der etwas von seinem Job versteht.“ „Mensch Trude, Sie wissen doch“, rieb ich Daumen und Zeigefinger in bekannter Weise. Meine Putzsekretärin winkte lächelnd ab. „Och, wenn's mal knapp wird, kann man auch schon mal in Raten zahlen.“

Tja, da blieb mir dann wohl nichts anderes übrig, als in den sauren Apfel zu beißen. Zumindest im übertragenen Sinne, denn faktisch war ich ganz sicher nicht in der Lage dazu. Meine energische Putzsekretärin klopfte mir aufmunternd auf die Schulter. „Sie werden sehen, Chef, danach fühlen Sie sich wie neugeboren.“ „Ihr Wort in Gottes Ohr.“ Warum hatte ich nur das Gefühl, wieder einmal von Trude überrannt worden zu sein? Irgendwie erreicht die Gute durch ihre Hartnäckigkeit immer genau das, was sie sich in den Kopf setzt. Dass sie dabei stets mein Wohl im Auge hat, steht außer Frage.

„So, Chef und nun tupfen Sie sich dieses kleine Wundermittel auf den schmerzenden Zahn.“ Trude reichte mir ein braunes Fläschchen mit japanischen Schriftzügen darauf. „Was ist das?“ „Heilöl. Sie müssen es auf das Wattestäbchen tupfen und dann den Zahn damit einreiben.“ „Mit Öl?“ Trude verdrehte die Augen. „Nun machen Sie schon!“ Ich hätte besser nicht an dem Fläschchen riechen sollen. Der beißende Minzegeruch war so intensiv, dass mir glatt die Augen tränten. Reflexartig stieß ich das Zeugs so weit von mir weg, wie es die Länge meines Armes zuließ. „Himmel, das ist ja ein Teufelszeug!“ „Aber Ihre Nase ist frei – stimmt's?“ „Ich bin nicht erkältet, ich habe Zahnschmerzen!“ „Nur Mut.“

Ich tat schon wieder, was Trude von mir verlangte, aber ich muss sagen, der Schmerz ließ tatsächlich nach und nach einer Weile war er sogar ganz verschwunden. Dieses Öl war wirklich ein Wundermittel. Leider roch es dafür recht intensiv. Weshalb ich mir mein Jackett und den Stetson schnappte, um ein wenig an die frische Luft zu gehen. „Falls Ihnen die Klienten die Bude einrennen, können Sie mich über das Handy erreichen.“ Trude zog ein skeptisches Gesicht. Zu Unrecht, wie ich, kaum um die nächste Ecke herum, feststellen musste. Ein Ehepaar benötigte scheinbar dringlichst meine Dienste.

Ich beeilte mich folglich, umso bald wie möglich zurück zu sein. Man weiß ja nie, ob es sich die Leute nicht noch im letzten Moment anders überlegen. Als ich die Tür zu meiner Detektei öffnete, staunte ich nicht schlecht. Die gute Trude hatte es sich mit meinen potentiellen Auftraggebern bereits in meinem Büro gemütlich gemacht. Sie hatte Kaffee angeboten und ließ sich bereits über Einzelheiten des Falles unterrichten.

„Ah, da sind Sie ja schon, Chef. Haben Sie den Fall bereits gelöst?“ Ich starrte meine Putzsekretärin verdattert an. Trude zwinkerte hektisch mit ihrem rechten Auge. „Wie, äh, ja, ja, natürlich.“ „Darf ich Ihnen das Ehepaar Klages vorstellen? Sie sind wegen Ihrer Tochter zu uns gekommen.“ „Zu uns?“, fragte ich verblüfft. Trude ging nicht näher darauf ein. Herr Klages erhob sich unterdessen und streckte mir seine Hand entgegen. „Klages“, stellte er sich vor. „Lessing“, entgegnete ich erwartungsvoll, bevor ich mich seiner Frau zuwandte. „Was können wir für Sie tun?“ Die Stirn meiner Putzsekretärin krauste sich. „Eine Tasse Kaffee, Chef?“ räumte Trude den Platz hinter meinen Schreibtisch. „Das ist lieb von Ihnen.“ Womit die Kompetenzen wieder in ihren bewährten Bahnen verliefen.

„Ich weiß gar nicht so recht, wo ich beginnen soll?“, tat sich der Mann vor meinem Schreibtisch schwer. „Wir sind wegen unserer Kinder zu Ihnen gekommen“, fuhr seine Frau fort. „Unser Sohn verbüßt eine langjährige Haftstrafe“, ergriff Herr Klages nun wieder das Wort. „Unsere Tochter ist davon überzeugt, dass er zu Unrecht im Gefängnis ist.“ „Und Sie?“, warf ich ein, die Zweifel in seiner Stimme bemerkend. Die Eheleute sahen einander an. „Bis zu dem Verschwinden unserer Tochter konnten wir nicht daran glauben“, räumte Frau Klages seufzend ein. Der Fall schien interessant zu werden.

„Seit wann ist Ihre Tochter verschwunden?“, hakte ich nach. „Sie war vor genau neun Tagen das letzte Mal bei uns“, erzählte sie unter Tränen. Ich reichte ihr ein Taschentuch. „Sie müssen entschuldigen, aber dieser Minzegeruch beißt mir in den Augen.“ Ich schluckte verlegen. Da dieses Teufelszeug noch immer an mir zu haften schien, nahm ich auch die offensichtlich hohe Intensität in meinem Büro nicht mehr wahr. „So, hier wäre dann Ihr Kaffee, Chef“, meldete sich Trude genau im richtigen Moment zurück. „Ich danke Ihnen, meine Liebe. Und nun seien Sie doch bitte so nett, und öffnen Sie das Fenster, damit der Duft Ihres neuen Parfüms entweichen kann.“ Der Blick meiner Sekretärin war tödlich. Ups, da war ich wohl ein wenig über das Ziel hinausgeschossen. Trude stampfte wortlos aus meinem Büro.

„Ich hoffe, so ist es angenehmer?“ Frau Klages tupfte verlegen an ihren Augen herum. „Es geht schon, vielen Dank.“ „Wie alt ist Ihre Tochter?“, nahm ich den Faden wieder auf. „Denise ist sechsundzwanzig. Sie arbeitet als freie Journalistin und wohnt seit etwa einem Jahr in Schöningen.“ „Wie gelangen Sie nun zu der Annahme, das Verschwinden Ihrer Tochter könnte mit der Haftstrafe Ihres Sohnes zu tun haben?“, brachte ich die Befürchtungen meiner potentiellen Auftraggeber auf den Punkt. „Denise hat auf eigene Faust nach Beweisen für Knuts Unschuld gesucht“, erläuterte mein Gegenüber. „Ihre Kinder müssen sich sehr nahe stehen.“ „Sie sind immer füreinander eingetreten“, schluchzte Frau Klages noch immer. Was inzwischen sicher nicht mehr an dem japanischen Heilöl lag.

„Waren Sie schon bei der Polizei und haben eine Vermisstenanzeige erstattet?“, erkundigte ich mich der Ordnung halber. „Ja, sicher, aber ehrlich gesagt, hatten wir nicht das Gefühl, wirklich ernst genommen zu werden.“ Ich kannte dieses Problem nur zu genau aus meiner Zeit bei der Kripo, muss an dieser Stelle aber eine Lanze für die Kollegen brechen. Wenn eine junge Frau von sechsundzwanzig Jahren ohne erkennbaren Grund für kurze Zeit verschwindet, muss das nicht zwangsläufig auf ein Verbrechen hindeuten. Eine spontane Urlaubsreise oder wie im vorliegenden Fall möglicherweise eine Recherche, die die Vermisste ins Ausland führte, sind nur zwei Gründe, die ihre Abwesenheit begründen könnten.

„Sie glauben gar nicht, wie viele Menschen, von denen wir es uns beileibe nicht vorstellen können, von heute auf morgen aus ihrem gewohnten Umfeld ausbrechen, um an einem anderen Ort ganz von vorn zu beginnen.“ „Denise ist da anders!“, widersprach ihre Mutter energisch. „Nein, nein, selbst wenn sie ihr Leben umkrempeln wollte, hätte sie zuvor mit uns darüber gesprochen“, pflichtete ihr der Mann im braunen Sakko bei. „Außerdem würde sie ihren Bruder niemals im Stich lassen“, fügte er überzeugt hinzu. „Davon bin ich mittlerweile überzeugt“, räumte ich ein. „Ich wollte Ihnen nur verdeutlichen, weshalb man dem Verschwinden Ihrer Tochter bislang eher, sagen wir mal, abwartend gegenübersteht. Die meisten Vermissten tauchen in der Regel nach einigen Wochen von selber wieder auf“, erklärte ich. „Erst wenn dies nicht der Fall ist, wird intensiv nach ihnen gefahndet.“ „Wenn meine Tochter tot ist, braucht die Polizei auch nicht mehr nach ihr zu suchen!“, ereiferte sich der aufgebrachte Vater. Frau Klages brach erneut in Tränen aus.

Ich bekomme in solchen Situationen stets einen Kloß im Hals. Auch wenn man versucht, die Dinge so nüchtern wie möglich zu betrachten, um eine notwendige Distanz zu wahren, bleibt man doch nicht davor gefeit. Emotionen lassen sich eben doch nicht steuern. Ich leerte meinen Kaffeebecher und sah das Ehepaar nachdenklich an. „Erzählen Sie mir bitte haarklein, weshalb Ihr Sohn verurteilt wurde und worauf sich die Zweifel Ihrer Tochter begründen. Vielleicht besteht ja tatsächlich ein Zusammenhang mit dem Verschwinden Ihrer Tochter.“

Was das Ehepaar Klages zu berichten hatte, wühlte mich ein weiteres Mal auf. Ich konnte mich an den Mord im Schöninger Rotlichtmilieu erinnern. Der Fall hatte etwa ein Jahr zuvor für gewaltigen Wirbel in der Presse gesorgt. Auch wenn mir die Sache damals recht eindeutig erschien, muss ich gestehen, dass mir nach der Schilderung der Einzelheiten bereits gehörige Zweifel kamen. Demnach war Knut Klages zwar ein mit allen Wassern gewaschener Unternehmensberater, der sicherlich auch schon mal über das Ziel hinausschoss, aber nach alledem, was mir die Klages von ihrem Sohn erzählten, neigte er weder zur Gewalt noch zu unüberlegten Handlungen. Natürlich saßen mir mit den Eltern des Verurteilten zwei Menschen gegenüber, von denen ich nur eine subjektive Einschätzung gewinnen konnte, aber die Art und Weise, in der sie von Ihrem Sohn sprachen, ließ weder Schönfärberei noch eine Verschleierung der Tatsachen vermuten.

„Also gut“, quittierte ich, nachdem ich den Ausführungen geduldig zugehört hatte. „Ich werde in die Justizvollzugsanstalt Celle fahren, um mit Ihrem Sohn zu sprechen. Wenn ich den Fall übernehme, wird die Sache nicht ganz billig für Sie, dessen sollten Sie sich bewusst sein.“ „Wie viel verlangen Sie?“, schluckte Frau Klages. „Nun, die Taxe liegt bei 250 Euro pro Tag. Spesen rechne ich gesondert ab.“ „Spesen?“ „Ich spreche von Schmiergeldern und diverse Ausgaben für Unterkunft und Verpflegung“, erklärte ich. „Dies sind allgemein übliche Sätze.“ Die Eheleute sahen einander an. Herr Klages zuckte mit den Schultern. „Wenn dem so ist, dann ist es eben so.“ „Ich verspreche Ihnen, jede unnötige Ausgabe zu vermeiden. Wenn ich erkenne, dass meine Recherchen zu keinem Ergebnis führen, breche ich ab.“ „Das ist fair“, bekundete Herr Klages. „Bekommen wir über alle Ausgaben Quittungen?“ „Aber Bärbel, wie um alles in der Welt soll sich Herr Lessing die Zahlung eines Bestechungsgeldes bescheinigen lassen?“ „Ach Gottfried, ich weiß es doch auch nicht.“

„Eines noch, haben Sie ein Foto von Ihrer Tochter dabei?“ Frau Klages griff in ihre Handtasche. „Hier, es ist erst zum Vatertag aufgenommen worden.“ Das Foto zeigte eine junge attraktive Frau mit langen dunkelblonden Haaren, die zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren. Im Hintergrund vergnügten sich offenbar gerade zwei Männer in einem Pool. „Bei Ihnen daheim?“, fragte ich amüsiert. „Mein Mann und sein Bekannter feiern den Vatertag in jedem Jahr in dieser Weise“, erklärte Frau Klages peinlich berührt. „Na, das nenne ich doch mal eine Idee.“ „Wenn Sie uns unsere Tochter heile nach Hause bringen, sind Sie im nächsten Jahr herzlich eingeladen“, lächelte Gottfried. „Na, dann muss ich mich ja nun erst recht ins Zeug legen.“

 

-5-

 

Bevor ich mich auf den Weg nach Celle machte, suchte ich mir alle Zeitungsmeldungen aus dem Onlinearchiv der Braunschweiger Zeitung heraus, die ich zu dem Mord an der Prostituierten finden konnte. Dazu gehörten nicht nur die Meldungen über die eigentliche Tat, sondern ebenso die Berichterstattung über die Gerichtsverhandlung. Knut Klages war zu acht Jahren Haft verurteilt worden. Eine eigentlich recht milde Strafe, bei der die verminderte Schuldfähigkeit durch den Drogenkonsum sicherlich eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben dürfte. Sein Rechtsbeistand hatte sicher das bestmögliche für ihn herausgeholt.

Ich war neugierig auf die Rechtsanwältin geworden. Eine gewisse Mia Gutemiene, die ihre Kanzlei mit zwei weiteren Partnern in Braunschweig unterhielt. Nach einigem Hin und her mit einer der Renos wurde ich durchgestellt. Nachdem ich der Advokatin mit kurzen Worten den Grund meines Anrufs geschildert hatte, willigte sie ein, mich nach Feierabend in ihrer Kanzlei zu empfangen.

„Wie ich Ihnen bereits am Telefon erklärte, gehen die Eltern der jungen Frau davon aus, dass das Verschwinden ihrer Tochter mit dem Mord zusammenhängt, dessen ihr Sohn schuldig gesprochen wurde. So wie es aussieht, hat Denise Klages offenbar auf eigene Faust weiterrecherchiert.“ Mia Gutemiene nickte nachdenklich. „Ich kann mich recht gut an die Schwester meines Mandanten erinnern. Sie hat noch im Gerichtssaal angekündigt, die Wahrheit ans Licht bringen zu wollen. Ich traue ihr durchaus zu, dass sie dem Fall weiter nachgegangen ist.“ „Was ist mit Knut Klages, trauen Sie ihm den Mord an dieser Suu Linn zu?“ Die Rechtsanwältin schob ihre Unterlippe ein Stück weit vor. „Er hat zumindest bis zuletzt seine Unschuld beteuert.“ „Das war nicht meine Frage. Mich würde interessieren, ob Sie ihm diese Tat zutrauen.“ Mia Gutemiene zuckte mit den Achseln. „Kommen Sie, Herr Lessing, Sie wissen genauso gut wie ich, dass man in keinen Menschen hineinschauen kann. Aber wenn es Sie beruhigt, nein, ich denke nicht, dass Knut Klages ein Mörder ist. Angesichts der Beweislage sah ich allerdings keinen anderen Weg, um ihn zumindest nicht lebenslang hinter Gitter gehen zu lassen.“ „Was Ihnen zweifellos eindrucksvoll gelungen ist“, lobte ich anerkennend. „Und dennoch löst dieses Urteil auch heute noch einen gewissen Nachgeschmack in mir aus.“

Die Rechtsanwältin erhob sich, durchmaß den Raum mit einigen schnellen Schritten und schob die Tür eines Aktenschrankes zur Seite. „Nach unserem Telefonat habe ich mir natürlich sämtliche den Fall betreffenden Unterlagen heraussuchen lassen. Leider kann ich Ihnen noch keine Einsicht gewähren, da mir bislang das Einverständnis meines Mandanten fehlt.“ „Darauf war ich gefasst. Ich habe mich daher vorab bereits, soweit dies möglich war, anhand von Presseberichten informiert. „Was halten Sie davon, wenn ich Ihnen für morgen Vormittag einen Termin in der JVA Celle mache? Auf diese Weise könnten Sie sich selbst ein Bild von Knut Klages machen und gleichzeitig sein Einverständnis auf Akteneinsicht einholen.“ „Was macht Sie so sicher, so kurzfristig einen Termin zu erhalten?“ Mia Gutemiene wurde ihren Namen nur allzu gerecht. „Ich hatte während meines Studiums eine Affäre mit dem Direktor.“ Ich war überrascht.

Während die sehr freimütige Rechtsanwältin via Telefon mit ihrer Jugendliebe in alten Zeiten schwelgte, zählte ich die Deckenplatten ihres Büros. Ich erhoffte mir, auf diese Weise die wieder heftiger werdenden Zahnschmerzen in den Griff zu bekommen. Nachdem sie den Hörer endlich wieder auf die Gabel legte, stand der Zeitpunkt für meinen Besuch in der JVA fest. Ich würde sehr früh aus den Federn kriechen müssen, aber was tut man nicht alles, um beim nächsten Vatertag in einen kalten Pool springen zu dürfen?

„Ach, Herr Lessing“, rief sie mir beim Verlassen der Kanzlei nach. „Sie sollten zum Zahnarzt gehen. Auf lange Sicht hilft das japanische Heilöl nicht.“ Ich war gespannt, wie lange das Zeug noch roch.

Den Rest des Tages verbrachte ich mit Miriam. Wir hatten uns nach einer langen Zeit der Enthaltsamkeit endlich mal wieder bei Yusef und Kethi im alten Straßenbahndepot verabredet. Nach einem gigantischen Gyrosteller, dem fünften Ouzo aufs Haus und einigen lecker Bierchen spürte ich zwar nichts mehr von den Zahnschmerzen, doch dafür hatte ich auch die nötige Bettschwere. Ich schlief zu meinem Bedauern auf Miriams Sofa ein, was mir am nächsten Morgen prompt einige verächtliche Blicke einbrachte. Ohne Frühstück, dafür mit gehörigen Schuldgefühlen in der Magengegend, machte ich mich schließlich auf den Weg in die JVA nach Celle.

 

Anmeldung, Warten, Taschenkontrolle, Warten, Besucherraum. Das übliche Prozedere, bevor ich endlich Knut Klages gegenübersaß.

„Was ist mit Denise?“, waren die ersten Worte des Inhaftierten. „Haben Sie etwas herausgefunden?“ „Sie wissen, dass mich Ihre Eltern mit der Suche nach Ihrer Schwester beauftragt haben?“ „Meine Anwältin rief mich vorhin an. Sie hat mir erzählt, dass Denise verschwunden ist.“ „Ihre Eltern haben mir erst gestern den Auftrag erteilt. Bevor ich den Fall übernehme, muss ich mir ein Bild machen.“ „Ein Bild, was für ein Bild?“, reagierte mein Gegenüber verständnislos. „Ein Bild von Ihrer Person, von Ihrem Wesen, von Ihrem Charakter.“ „Ich denke, man hat Sie engagiert, um nach meiner Schwester zu suchen und nicht, um an mir die Freudschen Lehren zu überprüfen.“

Ich grinste ihm provokant ins Gesicht, forderte ihn heraus, um seine Reaktion zu forcieren. „Haben Sie die Prostituiere erstochen?“, fragte ich so gelassen, dass ihn meine Frage so unvorbereitet und überraschend traf wie ein Dolchstoß aus tiefster Dunkelheit. Er starrte mich eine Weile wortlos an. Ich sah, wie es hinter seiner Stirn rumorte. „Das Gericht ist davon überzeugt.“ „Und Sie?“ Er atmete tief ein, bevor er antwortete. „Glauben Sie mir, ich habe mir deswegen bereits das Hirn zermartert.“ Der harte Ausdruck in seinen Augen wich mit jedem Wimpernschlag mehr, brachte die Verwundbarkeit seines Innersten allmählich zum Vorschein und ließ die Verzweiflung, die darin herrschte, zu Tage treten. „Ich weiß es nicht.“

Es folgte ein Moment der absoluten Stille. Eine Schweigsamkeit, in der ich seine Gedanken zu hören glaubte. Unsere Blicke trafen sich, berührten einander und ich verstand, ohne dass er ein einziges Wort sprach, was sie mir sagten: „ Bitte finden Sie meine Schwester. “ „Ich verspreche es Ihnen“, entgegnete ich und der mir gegenübersitzende Mann nickte.

„Was glauben Sie, wer ein Motiv hätte, Ihnen diese Tat unterzuschieben?“, fragte ich in der Annahme, dass er sich bereits mit dieser Möglichkeit auseinandergesetzt hatte. „Wie Sie sicherlich wissen, bin ich Finanz- und Unternehmensberater.“ Ich nickte. „Sie können sich nicht ausmalen, mit welchen Erwartungen mir die Leute begegnen. Erst fahren sie ihre Firma in den Dreck, dann rufen sie um Hilfe und sind enttäuscht, wenn sie feststellen, dass ich nicht der liebe Gott bin.“ „Okay, aber daraus lässt sich sicherlich kein Motiv ableiten, um Ihnen einen Mord anzuhängen“, stellte ich fest. „Nun ja, Sie haben vielleicht von der Insolvenz der Hypotec gehört?“ „Der Wirtschaftsteil gehört eher zu den Teilen meiner Zeitung, denen ich weniger Aufmerksamkeit widme“, gab ich zu. „Ein Fehler, Herr Lessing, glauben Sie mir. Na, jedenfalls habe ich den Gesellschaftern zu einigen zugegeben riskanten Spekulationen geraten, um ein nicht unbeträchtliches Finanzdefizit auszugleichen.“ „Was in die Hose ging?“, brachte ich es auf den Punkt. „Aber so richtig“, seufzte mein Gegenüber. „Wie sollte ich die Finanzkrise vorausahnen? Wie auch immer, die Hypotec ging mit lautem Krachen unter. Es gab einige Leute, die viel Geld dabei verloren.“ „Das hört sich doch recht viel versprechend an“, grinste ich zufrieden. „Es kann sicher nicht schaden, wenn ich mir diese Leute aus der Nähe ansehe.“ „Na, wenn Sie kein sonniges Gemüht haben?“

„Ihre Rechtsanwältin hat dieses Schriftstück vorbereitet, damit sie mir Einblick in Ihre Prozessakten geben kann“, erklärte ich, während ich ihm das Papier zureichte. „Sie brauchen es nur noch zu unterschreiben.“ „Ich weiß, Mia hat am Telefon davon gesprochen.“ Er setzte seinen Namen darunter und schob es zurück. „Okay, dann kann's ja losgehen.“ „Was werden Sie als Erstes unternehmen?“ „Ich werde die Akten studieren und dort mit meiner Suche beginnen, wo das Unheil seinen Lauf nahm.“ Ich stand auf und reichte Knut die Hand. „Kopf hoch, ich werde Ihre kleine Schwester finden.“

„Die Besuchszeit ist rum“, verkündete der Schließer mit Stentorstimme. Während Knut abgeführt wurde, drehte er sich noch einmal zu mir herum. „Wenn Sie das hinkriegen, haben Sie was gut bei mir.“ „Danke, aber ich bin schon mit Ihrem Vater zum Baden verabredet.“

 

-6-

 

Knut Klages' Akte las sich wie das Drehbuch zu einem Krimi. Rechtsanwältin Gutemiene hatte sich für den einzig richtigen Weg entschieden. Die Beweislage gegen den Sohn meines Auftraggebers war so eindeutig, wie sie nur sein konnte. Das Apartment der Asiatin befand sich im zweiten Obergeschoss. Es hatte einen Eingang, der von innen verschlossen war. Zwei Fenster waren verriegelt, eines befand sich in Kippstellung. Es gab keinen Lüftungsschacht und das Sicherheitsschloss ließ sich nur dann von außen schließen, wenn von innen kein Schlüssel steckte. Genau das war jedoch der Fall, wie die zum Tatort gerufenen Beamten übereinstimmend ausgesagt hatten.

Das Taschenmesser des Verurteilten wurde eindeutig als die Tatwaffe identifiziert. An seiner Shorts und an seinen Händen wurde das Blut des Opfers sichergestellt. Unter den Fingernägeln der Ermordeten fand die Rechtsmedizin Hautpartikel von Knut Klages. Sie passten zu den Kratzspuren auf seinem Rücken. Alles deutete auf einen Kampf zwischen Täter und Opfer hin.

„Chef, es wird Zeit“, mahnte Trude. Da hatte ich doch glatt um ein Haar den Zahnarzttermin verschmitzt. Nur gut, dass Trude nicht müde wurde, mich immer wieder daran zu erinnern. „Der Onkel Doktor wartet nicht.“ „Ich habe den guten Onkel nicht vergessen“, entgegnete ich ein wenig angefressen.

Bereits auf dem Weg zur besagten Zahnarztpraxis in der Kannengießerstraße waren meine Schmerzen wie weggeblasen. Einen Moment lang war ich schon am Überlegen, ob es nun überhaupt noch Sinn machte, mich der verhassten Prozedur zu unterziehen, aber dann dachte ich an Trude und an ihre große Klappe, die sie immer dann nicht zu halten vermochte, wenn es für mich peinlich wurde. Ich stieß also einen tiefen Seufzer aus und rangierte meinen Skoda auf einem der freien Parkplätze vor dem Haus. Wie immer hatte ich kein Kleingeld für den Automaten zur Hand. Blieb nur die Eisdiele an der Ecke.

Gottlob hatte der Mann ein Einsehen und wechselte mir den Schein. Ich habe es in ähnlicher Situation auch schon anders erlebt und nach meiner Rückkehr zum Auto prompt ein Ticket an der Scheibe vorgefunden. Ja, die Wolfenbütteler Politessen sind mächtig auf Draht. Angesichts der Parkplatznot in der Innenstadt machen die Damen stets reiche Beute. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich spreche.

„Aha, Sie sind also der Ersatzmann“, empfing mich eine freundlich lächelnde Dame am Empfang. Ihre Anspielung musste sich auf den Patienten beziehen, der eigentlich anstatt meiner auf dem Behandlungsstuhl sitzen sollte. Die Frage, weshalb er abgesagt hatte, quälte mich noch Minuten später, als ich im Wartezimmer saß. „Ich hoffe, Sie haben Ihre Krankenkassenkarte dabei?“, fuhr die Dame fort. Das war doch eigentlich eine gute Gelegenheit, um doch noch die Reißleine zu ziehen. „Falls nicht, können Sie das gute Stück bei Ihrem nächsten Termin nachreichen.“ Tja, das war dann wohl nichts. Wieso eigentlich bei meinem nächsten Termin?

„Hier ist die Karte. Wie lange wird es denn ungefähr dauern?“ „Sowie Sie mir die Praxisgebühr entrichtet und den Patientenbogen ausgefüllt haben, geht's los.“ „Prima“, rang ich mir ein Lächeln ab. „Am besten Sie füllen das Formular im Wartezimmer aus.“ Ich nickte beflissentlich. „Ihren Stetson können Sie einstweilen auf die Garderobe legen.“ Endlich eine Frau, die einen Stetson erkannte.

Zwei Seiten, klein gedruckt und mit etlichen Kästchen, die allesamt angekreuzt werden sollten. Fragen, auf die nicht einmal meine Mutter eine Antwort gewusst hätte. Woher sollte ich wissen, ob ich als Kind an Ziegenpeter erkrankt war? Was um alles in der Welt hatten diese Fragen mit meinen Zähnen zu tun und waren sie überhaupt mit dem Datenschutz vereinbar?

„Sind Sie so weit, Herr Lessing?“, ließ mich eine sanfte Stimme aufhorchen. Als ich meinen Kopf hob und die attraktive Zahnarzthelferin erblickte, kreuzte ich die letzten Kästchen quasi im Überflug an und folgte der Blondine brav ins Behandlungszimmer. „Wenn Sie bitte schon mal Platz nehmen wollen? Natürlich wollte ich. „Sie sind zum ersten Mal bei uns?“ „Äh, ja.“ Das Fräulein beugte sich weit über mich. Meine Augen waren selbstverständlich ausschließlich bei der Serviette, die sie mir um den Hals legte. „Herr Kossmann wird sich gleich um Sie kümmern.“ „Ach, er soll sich ruhig Zeit lassen. So lange Sie mich umsorgen…“

Besagter Zahnarzt erschien mir noch relativ jung, was mich erneut ins Grübeln brachte. Die hübsche Zahnarzthelferin lenkte meine Gedanken allerdings recht schell in eine andere Richtung. „Na ja“, sah mich der Mann mit den Gummihandschuhen skeptisch an, nachdem er meine Kauleisten ausgiebig gemustert hatte. „Da drinnen sieht es aus, wie nach einem Bombenabwurf, aber wenigstens duftet alles nach Minze. Nun denn, beginnen wir mit den Aufräumarbeiten. Ich nehme an, Sie bevorzugen eine Betäubungsspritze?“ „Ach was, ich kann einiges vertragen“, entgegnete ich großspurig. „Also schön, ganz wie Sie wünschen. Heben Sie einfach den Arm, wenn's nicht mehr geht. Ich höre dann auf“, versprach er und machte sich mit einem Pfeifen auf den Lippen an die Arbeit.

Eine gute Stunde später hatte ich nicht nur die Anerkennung der Blondine gewonnen, sondern auch ein heftig angeschwollenes Gesicht. Der Strafzettel über zwanzig Euro, den ich wegen Überschreitung der Parkzeit an der Windschutzscheibe meines Wagens fand, machte den Kohl nun auch nicht mehr fett. Zu allem Überfluss schmerzte nun zwar der eine Zahn nicht mehr, dafür jedoch alle anderen.

 

-7-

 

Derart deformiert machte ich mich auf den Weg nach Schöppenstedt. Das kleine Einfamilienhaus der Klages' befand sich am Ortsausgang in Richtung Eitzum. Gepflegter Vorgarten mit Zwergen, Garage am Haus und Fensterbilder, die zumindest eine heile Welt vorgaukeln sollten. In nur allzu klassischer Weise typisch für eine Kleinstadt wie Schöppenstedt. Hauptsache die Nachbarn bekommen nicht mit, was sich wirklich hinter der Fassade abspielt. Schade eigentlich, geht uns doch so der Sinn für das wirklich Wichtige im Leben verloren. Aber in einer Gesellschaft, in der nur noch der größte Fernseher und das schnellste Auto von Interesse sind, ist der Wunsch nach mehr Menschlichkeit wohl zu viel verlangt?

Nachdem ich an den argwöhnischen Blicken der sieben Zwerge vorbeigeschlichen war und meinen Daumen auf den Klingeldrücker gepresst hatte, wurde mir die Tür von jener Blondine geöffnet, die ich gerade noch durch meine Schmerzunempfindlichkeit zu beeindrucken versucht hatte. „Sie?“, erklangen unsere Stimmen im Duett. „Was machen Sie denn hier?“, stellte sie die Frage, die mir auf den Lippen brannte. „Wollen Sie zu den Klages?“ „So ist es“, entgegnete ich immer noch ganz verwundert. „Haben Sie eine Zwillingsschwester oder fahren Sie einen Porsche?“ Die Zahnarzthelferin lachte. „Weder noch, ich schätze, mein Weg war der kürzere. Frau Klages hat sich gerade etwas hingelegt, aber wenn Sie um das Haus herumgehen, finden Sie den Vater meiner Freundin.“ Womit meine Frage nach dem Grund ihrer Anwesenheit beantwortet war. „Er ist bei den Hühnern.“ „Danke.“

„Schön haben Sie es hier“, lobte ich den gepflegten Garten mit dem in die Terrasse integrierten Pool. „Das also ist Ihr Vatertagsschwimmbecken.“ „So ist es“, seufzte er. „Ich sehe die Kinder darin, wie sie unbeschwert herumplanschen, sich necken und miteinander spielen. Sollte das alles vorbei sein?“ „Ihre Kinder sind erwachsen geworden.“ Der kräftige Mann mit dem vollen Haar sah mich durchdringend an. „Sind sie das wirklich?“ „Sie glauben es zumindest und, Hand aufs Herz, waren wir anders?“

Gottfried Klages stutzte, schloss die Tür zum Hühnerstall und zog sich die Arbeitshandschuhe aus, um mich zu begrüßen. „Waren Sie bei Knut?“ „Ja, ich soll Sie von ihm grüßen.“ „Das ist nett von Ihnen, auch wenn es eine Lüge war. Wir haben leider keine Verbindung mehr.“ „Das plötzliche Verschwinden seiner Schwester geht ihm ziemlich an die Nieren“, schilderte ich meinen Eindruck. Mein Auftraggeber nickte stumm. „Die beiden haben sich immer schon außergewöhnlich gut verstanden.“

Es fiel mir schwer, gelassen zu bleiben. „Ich habe die Prozessakten studiert. Ihr Sohn kann von Glück reden, mit dieser relativ geringen Haftstrafe davongekommen zu sein. Womit ich seine Unschuld nicht von vornherein ausschließen will. Wir wollen ehrlich miteinander sein. Bislang deutet nichts darauf hin, dass er nicht der Täter war. Wäre Ihre Tochter nicht verschwunden…“ „Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit. Es ging meiner Frau und mir nicht anders. All diese Beweise gegen unseren Sohn konnten einfach keinen anderen Schluss zulassen.“

Der sichtlich angeschlagene Mann bat mich ins Haus. Aus der Küche war das Klappern von Töpfen zu vernehmen. „Beschäftigen Sie eine Haushaltshilfe?“ „Nein, nein, das muss Michaela, die Freundin meiner Tochter sein. Seit sie von ihrem Verschwinden weiß, schaut sie gelegentlich bei uns vorbei, um sich nach Denise zu erkundigen“, erklärte der Hausherr. „Wir hatten bereits das Vergnügen“, griff die Zahnarzthelferin die Wortfetzen auf, die sie beim Eintreten in das Wohnzimmer aufgeschnappt hatte. „Herr Lessing ist bei uns Patient.“ „Dann weißt du sicherlich, dass er als Detektiv arbeitet“, setzte mein Auftraggeber voraus. „Bärbel und ich haben Herrn Lessing mit der Suche nach Denise beauftragt.“ „Das dachte ich mir.“

„Vielleicht ist es gut, dass Sie gerade hier sind“, überlegte ich. „Um mir einen ersten Überblick und einen dementsprechenden Ansatzpunkt für meine Ermittlungen zu bekommen ist es sinnvoll, so viel wie möglich über Denise zu erfahren. Sie als die Freundin der Vermissten wissen möglicherweise von Ergebnissen ihrer Recherchen. Erkenntnisse, welche sie nur Ihnen anvertraute.“ Die junge Frau zog ein zerknirschtes Gesicht. „Na ja, viel hat sie nicht erzählt“, relativierte sie. „Ich weiß nur, dass sie irgendetwas herausgefunden hatte. Sie sprach von Erpressung und von irgendwelchen Freiern, die dieser Asiatin keine Träne nachweinen. Genaueres weiß ich leider auch nicht. Denise wollte sich zunächst Beweise für ihre Vermutung beschaffen, ehe sie damit zur Polizei gehen wollte“ „Das hört sich sehr viel versprechend an“, horchte ich auf. Wenn die Ermordete ihre Freier doppelt abkassierte, hat sie sich sicherlich nicht nur Freunde gemacht.

„Nannte sie in diesem Zusammenhang Namen?“ Die Zahnarzthelferin dachte angespannt nach. „Tut mir Leid, Herr Lessing, aber ich kann mich nicht erinnern. Es kann allerdings gut möglich sein, dass sie sich Notizen machte. Denise ist in diesen Dingen immer sehr gewissenhaft.“ „Dem kann ich nur zustimmen“, bemerkte ihr Vater. „Denise hat stets so einen Organizer bei sich. Sie geht quasi nicht ohne das Gerät aus dem Haus.“ „Stimmt“, griff sich die Freundin der Vermissten an den Kopf. „ Wenn sie etwas notiert hat, dann darin.“ „Sie sprachen von einer Wohnung, die Ihre Tochter in Schöningen unterhält“, wandte ich mich an meinen Auftraggeber. „So ist es“, bestätigte er, während er sich gedankenvoll durch das Haar strich. „Ich würde mir diese Wohnung gern genauer ansehen.“ „Tja, meiner Frau geht es im Augenblick nicht so gut. Ich möchte sie eigentlich nicht allein lassen“, seufzte er grüblerisch. „Ich kann ja mit Herrn Lessing nach Schöningen fahren“, bot sich die Blondine an. Ich habe einen Zweitschlüssel für die Wohnung an meinem Bund.“ „Wenn du so lieb wärst, wäre es natürlich prima“, nahm mein Auftraggeber ihr Angebot erleichtert an. Ich zuckte mit den Achseln. „Ich hätte die Wohnung sicherlich auch allein gefunden, aber so ist es mir natürlich am liebsten.“

„Seit wann sind Sie mit Denise befreundet?“, fragte ich die junge Frau auf dem Beifahrersitz. „Nenn mich ruhig Michaela, ich steh nicht so auf Förmlichkeiten.“ „Okay, ich bin Leo.“ „Denise und ich waren schon im Kindergarten unzertrennlich, später gingen wir in die gleiche Klasse und heute teilen wir uns ein und dieselben Kerle.“ Ich brauchte einige Momente, um ihre Worte sacken zu lassen. „Dann kennst du Denise sicher besser als jeder andere.“ „Das bringen die Jahre so mit sich“, bekundete sie altklug. „Gibt es zurzeit einen Freund?“ „Nichts Festes. Denise will sich noch nicht festlegen, wenn du verstehst. Eine feste Beziehung bringt nur Probleme.“ „Sagt Denise?“ „Das sagen wir beide. Im Übrigen wollen wir unsere Jugend genießen.“

Es geschieht mir nicht allzu häufig, dass ich sprachlos bin, aber angesichts solcher Offenheit fehlten mir dann doch die Worte? „Schockiert?“ „Nöö, das nicht, aber allem Anschein nach bin ich schon älter, als ich dachte.“ „Das Alter birgt doch auch durchaus seine Reize.“ Es folgte der Augenaufschlag, den ich mir bereits in der Zahnarztpraxis gewünscht hatte. „Ich schätze erfahrene Männer.“ Mein Blutdruck erhöhte sich schlagartig.

„Da vorn musst du rechts abbiegen.“ Ich erwachte gerade noch rechtzeitig aus meinen Fantasien, um gerade noch vor einer Radfahrerin zum Stehen zu kommen. „Ui, das war knapp“, kommentierte meine Beifahrerin kopfschüttelnd. Die Frau auf dem Rad setzte laut schimpfend ihre Fahrt fort. „Es ist das gelbe Haus am Ende der Straße“, deutete Michaela auf einen Wohnblock. „Es ist noch keine zwei Wochen her, als ich das letzte Mal hier war“, erinnerte sie sich niedergeschlagen. „Und nun wissen wir nicht mal, ob Denise noch lebt.“

Michaela war die Erste, die diesen Gedanken offen aussprach. Er hing wie ein Damoklesschwert über der Szene und würgte jedes Wort des Widerspruchs ab, ließ es quasi im Hals ersticken. Gefangen in diesem Zwiespalt, stiegen wir aus dem Wagen, schwiegen auch jetzt noch, als wir durch das Treppenhaus nach oben stiegen und durch die Wohnungstür in ein anderes Leben eintauchten. Ein solcher Augenblick ist immer wieder spannend für mich, da er doch so vieles über den Menschen aussagt, dessen Intimsphäre er widerspiegelt.

„Mann, was geht denn hier ab?“, brachte Michaela ihr Erstaunen zum Ausdruck. Ich verstand noch nicht. „Was meinst du?“ „Na, schau dich doch mal um!“ Das tat ich, begriff aber immer noch nicht, auf was meine Begleitung hinaus wollte. „Auf den ersten Blick sieht doch alles ganz normal aus. Vielleicht ein wenig zu aufgeräumt.“ „Wow, genau das ist es. Denise ist eine Hausschlampe. So sauber war es hier noch nie.“ Das konnte natürlich mehrere Gründe haben. „Möglicherweise hat sie einen neuen Typen kennen gelernt“, rief ich eine dieser Möglichkeiten auf den Plan. „Nee, wenn Denise einen neuen Kerl am Start hätte, wüsste ich davon. Außerdem wäre dies der letzte Grund für sie, um hier den Meister Proper durchwirbeln zu lassen.“ „Okay, was glaubst du?“ „Ich meine, dass hier etwas gewaltig zum Himmel stinkt!“

Michaela zog zielstrebig eine der Schreibtischschubladen auf. „Das glaub ich jetzt nicht“, schüttelte sie verdutzt den Kopf. „Rate mal, was hier drinnen liegt?“ „Der Organizer.“ „Nicht schlecht, der Herr Specht. Nun bin ich nur noch auf Denise' letzten Eintrag gespannt.“ Ich erinnerte mich an die Worte meines Auftraggebers, wonach seine Tochter niemals ohne das Gerät aus dem Haus ging. Meine Befürchtungen sollten sich kurz darauf bestätigen.

„Es ist alles gelöscht“, stellte Michaela entsetzt fest. „Alle Adressen, Notizen, ihre Termine. Da stimmt was nicht!“ Ich sah mir den Organizer genauer an. „Ganz offensichtlich wollte jemand verhindern, dass ihre Einträge in die falschen Hände gelangen. Ich kenne mich mit diesen Geräten nicht so gut aus, aber vielleicht ist es ja möglich, die gelöschten Daten wieder herzustellen?“ „Keine Ahnung. Aber schau mal, was ich gefunden habe.“ Michaela reichte mir einen Zettel, der allem Anschein nach unter dem Organizer gelegen hatte. „AF 447 Abflug Hannover Gate A, 22.05.09, 14:45 h“, las ich vor. „Es sieht so aus, als sei Denise mit der Air France geflogen.“ „Spätestens jetzt ist klar, dass hier etwas oberfaul ist“, resümierte Michaela. „Denise kriegt schon die Flatter, wenn sie einen Flieger auch nur von außen sieht.“ „Folglich kann das nur bedeuten, dass uns jemand weismachen will, dass ihre Freundin eine Reise unternommen hat.“ „Was ist mit ihren Sachen, Kleidung, Papiere und so?“ Michaela sah sich den Kleiderschrank ihrer Freundin genauer an. Ich suchte derweil nach ihrem Ausweis, Bank- und Versicherungskarten.

Es wollte mir nicht in den Kopf, warum sich jemand solche Mühe gab, um das Verschwinden von Denise als Reise darzustellen. Wenn sie in ein Wespennest gestochen hatte, war es sicher ein Leichtes für diese Leute, sie auf eine andere, einfachere Art loszuwerden. Es sei denn, man hatte etwas ganz Spezielles mit der jungen Frau vor. Dieser Gedanke sollte mich nicht mehr loslassen, war er letztendlich doch der Strohhalm, an dem sich ihre Eltern und auch ich mich klammern konnten.

„Die Ziffernfolge auf der Rückseite des Zettels könnte eine Telefonnummer sein“, mutmaßte ich. „Ruf doch mal an“, forderte Michaela spontan. „Das werde ich.“ Zu diesem Zweck benutzte ich mein Handy. Natürlich nicht, ohne meine eigene Nummer dabei zu unterdrücken. Nachdem sich eine Taxivermittlung in Helmstedt meldete, trennte ich die Verbindung. „Genau wie ich erwartet hatte. Es handelt sich um die Telefonnummer einer Taxizentrale. Man will uns suggerieren, dass Denise auf diese Weise ihre Reise antrat.“ „Wozu?“ „So sollen letzte Zweifel ausgeräumt werden.“ „Versteh ich nicht.“ „Wenn der Taxifahrer bestätigt, dass er deine Freundin fuhr, ist der letzte Zweifel an einer Reise ausgeräumt. Die Frage ist nur, ob der Taxifahrer etwas mit der Sache zu tun hat.“ Michaelas Stirn legte sich in Falten. „Wie willst du das herausfinden?“ Ich lächelte verschwörerisch „Indem du bei der Taxizentrale anrufst und dich für Denise ausgibst. Du wirst nach dem Fahrer verlangen, der dich, beziehungsweise Denise, am 22.05.09 hier abgeholt hat. Wenn er kommt, ahnt er entweder nichts von ihrem Verschwinden oder er ist tatsächlich so abgezockt, dass er wissen will, wer ihn hierher bestellt.“ Michaela sah mich fragend an. „Was haben wir damit gewonnen?“ „Das wird sich finden. Nun bin ich erst einmal gespannt, ob er hierher kommt.“

Michaela hielt sich an das zuvor Besprochene, als sie den besagten Taxifahrer bestellte. Er hatte gerade eine Tour, weshalb es eine halbe Stunde dauerte, bis wir die Klingel hörten. „Kommen Sie doch bitte herauf“, rief ihm die vermeintliche Denise durch das Treppenhaus zu. „Ich habe einen schweren Koffer.“ Kurz darauf standen sich die beiden gegenüber. Ich beobachtete die Szene durch die einen Spalt breit geöffnete Schlafzimmertür. Der Fahrer sah ihr einen Moment lang irritiert in das Gesicht, ehe er seinen Blick durch den Flur schweifen ließ. „Wo steht denn ihr Koffer?“ Das war der Augenblick, in dem ich auf den Plan trat. „Es gibt keinen Koffer, diese junge Frau ist nicht Denise Klages und sie wird auch nicht in Ihr Taxi steigen“, erklärte ich. „Wollen Sie mich verscheißern?“ „Eigentlich nicht.“ Ich hielt ihm das Foto der Vermissten unter die Nase. „Ist dies die Frau, die Sie etwa vor zwei Wochen hier abholten?“

Der Taxifahrer betrachtete das Foto und zuckte mit den Achseln. „Kann schon sein.“ „War sie es, oder war sie es nicht?“, verschärfte ich die Betonung in meiner Stimme. „Hör zu, Kumpel, ich fahre tausend Leute in der Woche. Woher soll ich wissen, ob die Tante dabei war?“ „Diese Tante wird vermisst, seitdem sie in Ihrem Taxi gesessen hat. Ich müsste mich schon sehr irren, wenn dieser Umstand nicht ausgesprochen interessant für die Polizei wäre. Wer weiß, vielleicht kommt man dort ja auf noch ganz andere Ideen?“ „Jetzt mach mal halblang. Was kann ich dafür, wenn sich die Tante in Luft aufgelöst hat? Ich hab sie jedenfalls am Bahnhof in Schöppenstedt abgesetzt.“ „Ach, auf einmal sind Sie sich sicher?“, ereiferte sich Michaela zornig. „Nee, sicher bin ich mir nicht, aber ich glaub schon, dass sie es war.“

„Nach Schöppenstedt, zum Bahnhof wollte sie?“, wiederholte Michaela. „So ist es“, bestätigte der Fahrer. „Hat sie gesagt, wo sie hin wollte?“ „Nee, die hat eigentlich die ganze Fahrt über nicht viel gesprochen.“ „Das passt eigentlich gar nicht zu ihr“, schüttelte Michaela ungläubig den Kopf. „Keine Ahnung, die junge Frau hat sich gleich nach hinten gesetzt, das Fahrtziel genannt und das war's.“ „Nie im Leben“, widersprach die Zahnarzthelferin energisch. „Hatte sie Gepäck dabei?“, stellte ich meine letzte Frage. „Hatte sie und das kann ich mit Bestimmtheit sagen, weil ich mir an ihrem Koffer fast den Arm ausgerissen hätte.“ „Was ist jetzt mit meiner Fahrt? Wer zahlt mir den Ausfall?“ „Wie viel bekommen Sie?“ „Na ja, die Anfahrt und die Zeit – sagen wir zwanzig Euro.“ „Ich gebe Ihnen zehn und auch nur, wenn ich eine Quittung bekomme.“ Wobei ich an die Frau meines Auftraggebers dachte.

 

-8-

 

„Und, alles paletti?“, empfing mich Trude voller mütterlicher Neugier. „Na ja, wie man's nimmt“, kreisten meine Gedanken noch immer um den neuen Fall. „Bislang deutet alles auf eine Reise hin. Denise Klages hat sich mit einem Taxi von ihrer Wohnung zum Bahnhof nach Schöppenstedt fahren lassen. Der Fahrer ist sich zwar nicht sicher, aber die Fahrt ist immerhin schon über eine Woche her.“ „Äh, ich meinte eigentlich ihre Zahnschmerzen“, verdrehte meine Sekretärin die Augen. „Ach so, die habe ich ganz vergessen.“ „Sehen Sie, Chef, es war doch eine gute Idee, einen Zahnarzt aufzusuchen.“ „Das tollste an der Sache war, dass eine der Zahnarzthelferinnen mit unserer Vermissten befreundet ist.“ „Ganz schön abgefahren, würde meine Nichte jetzt sagen.“ „Tja, das Leben hält eben die größten Überraschungen für uns bereit.“

Ich reichte Trude den Zettel mit der Flugnummer. „Seien Sie bitte so lieb und finden Sie heraus, wann und wohin der Flieger ging, ob sich Denise Klages an Bord befand und ob sie über ein One way Ticket verfügte.“ „Geht klar. Übrigens war ich in der Zwischenzeit nicht untätig. Ich habe eine ganze Menge über die tote Prostituierte herausfinden können. Es liegt ausgedruckt auf Ihrem Schreibtisch.“ „Nicht schlecht, meine Liebe, nicht schlecht.“

Suu's Vater, ein gewisser Ho Linn, war 1986 als Student für Germanistik aus dem sozialistischen Bruderstaat Vietnam in die DDR gekommen. Während seines Studiums an der Humboldt Universität wohnte er in einer Studentenunterkunft im Stadtteil Schöneiche, wo er auch Rebecca Klopp kennen lernte. Im August 1988 heirateten sie und im September wurde Suu geboren. Nur zwei Jahre darauf trennte sich die junge Familie zunächst nur räumlich. Während Rebecca mit ihrer Tochter nach Hannover ging, um dort eine Boutique zu eröffnen, verblieb Ho Linn in Berlin. 1992 kam es dann schließlich zur Scheidung. Noch im selben Jahr heiratete Rebecca den Diskothekenbesitzer Kai Zetsche.

Das nächste, was Trude herausfand, war ein Eintrag in das polizeiliche Führungszeugnis von Suu Linn. Zu diesem Zeitpunkt war sie 12 Jahre alt. Es sollten weitere Vorstrafen wegen Diebstahl, Körperverletzung und wegen Betruges folgen. Mit 13 kam sie in das Kinder und Jugendheim Birkenhof in Hannover Langenhagen, von wo aus sie etwa ein Jahr später in das Kinderheim Wefensleben wechselte. Weitere Straftaten folgten, mehrere Jugendfreizeitarreste und schließlich die Flucht zu ihrem Vater nach Berlin. Als auch Ho Linn auf die schiefe Bahn gerät und zu einer dreijährigen Haftstrafe verurteilt wird, taucht Suu Linn unter. Ihre Spur verliert sich an jenem Tag, an dem ihr Schicksal ein so tragisches Ende findet.

Nachdem ich mir die Vita der Getöteten zu Gemüte geführt hatte, brauchte ich einige Minuten, um alles zu verdauen. Hatte dieses Mädchen eigentlich jemals eine Chance? Ihre Geschichte las sich jedenfalls so klischeebehaftet und vorbestimmt wie ein schlechter Roman. Es sind Fälle wie dieser, die mich immer wieder an unserer Gesellschaft zweifeln lassen. Bei allem Wohlwollen, wie sollen staatliche Stellen das ersetzen, was Kinder von ihren Eltern nicht oder nur unzureichend erhalten? Liebe und Aufmerksamkeit, das Gefühl von Geborgenheit und Achtung kann kein Kinderheim vermitteln, sei es auch noch so gut.

 

Diesmal war ich dankbar, als Trude in mein Büro gestürmt kam, um mir die neusten Erkenntnisse ihrer Recherchen mitzuteilen. „Der Flug ging zum Pariser Flughafen Charles de Gaulle und es gab ein Ticket auf den Namen Denise Klages, allerdings war sie nicht an Bord.“ „Gut gemacht“, lobte ich die gute Seele. „Übrigens gab es tatsächlich zur fraglichen Zeit eine Zugverbindung von Schöppenstedt nach Hannover.“ „Wer immer uns hier an der Nase herumführt, gibt sich alle Mühe.“ „Wenn uns wirklich jemand weismachen will, dass Denise eine Reise nach Paris antrat, verstehe ich nicht, weshalb er nicht irgendjemanden in den Flieger setzte?“ „Weil das Risiko, an der Passkontrolle aufzufliegen, einfach zu groß gewesen wäre.“ Trude rümpfte unzufrieden die Nase.

 

 

„Die Sprechstundenhilfe Ihres Zahnarztes...“, fuhr ich gedankenvoll fort. „Unseres Zahnarztes“, berichtigte mich Trude. „Von mir aus auch das“, seufzte ich. „Na, jedenfalls sagte Michaela...“ „Michaela?“, unterbrach sie mich jetzt süffisant grinsend. „Nun quatschen Sie mir doch nicht ständig dazwischen!“ „Ich mein ja nur...“ zwinkerte sie mir viel sagend zu. „Okay, vergessen Sie's“, quittierte ich verstimmt.

Wenn man davon ausging, dass Denise' Verschwinden und der Tod von Suu Linn zusammenhingen, und genau dies tat ich mittlerweile, dann musste ich zunächst herausfinden, wer ein Motiv hatte, Knut Klages auf eine solch perfide Weise hinter Gitter zu bringen. Der Gedanke, dass die Asiatin nur aus Mittel zum Zweck getötet wurde, wollte mir nicht in den Kopf. Es gab allerdings, wie bereits erwähnt, eine weitere Variante, die ich nicht außer Acht lassen durfte. Nach allem, was ich inzwischen von Suu Linn wusste, konnte sie ebenso gut selbst jemandem auf die Füße getreten haben.

„Ich werde das Gefühl nicht los, dass der Taxifahrer mehr weiß, als er mir verraten hat. Es kann nicht verkehrt sein, wenn ich mir die Taxizentrale in Helmstedt mal aus der Nähe ansehe. Falls Miriam anruft, sagen Sie ihr bitte, dass es leider etwas später wird.“ Meine Putzsekretärin schürzte die Lippen. „Na, wenn das man gut geht.“ Ich überprüfte den Koffer mit dem Abhörequipment, schnappte mir meinen Stetson und warf Trude einen letzten aufmunternden Blick zu. „Es wäre schön, wenn Sie die aktuelle Adresse von Rebecca Zetsche und den Namen des Taxifahrers herausfinden könnten. Ach ja, seien Sie so nett und suchen Sie mir so viel wie möglich über die Firma Hypotec heraus. Es geht mir vornehmlich um die verschiedenen Gesellschafter der Firma.“ „Ich werde mein Möglichstes tun.“

 

-9-

 

Das Wohnzimmer eines Detektivs ist sein Auto. Dort verbringt er einen Großteil seiner Zeit. Besonders deutlich wird dies an einem Tag wie diesem. Am Vormittag noch in Celle bei Knut Klages, am frühen Nachmittag in Wolfenbüttel beim Zahnarzt, und anschließend in Schöppenstedt bei meinem Auftraggeber. Von dort ging's nach Schöningen in die Wohnung der Vermissten, dann zurück in meine Detektei, wo ich mich, angesichts der neuen Erkenntnisse, dazu entschloss, noch nach Helmstedt aufzubrechen. Wenn ich nach Kilometern bezahlt würde, hätte ich sicherlich für den Rest des Monats nicht mehr arbeiten brauchen. Leider ist dem nicht so. Blieb also nur weiterhin geduldig aus dem Fenster meines Wohnzimmers zu schauen und den Parkplatz der Taxizentrale im Visier zu behalten.

Die Ziffern auf der Armaturenuhr meines Wagens schlugen gerade auf 22 Uhr um, als das Taxi mit der Nummer 12 auf den Hof der Zentrale rollte. Hinter dem Steuer saß Michael, wie auf dem Schild hinter der Windschutzscheibe im hellen Schein der Außenbeleuchtung deutlich zu lesen war. Der Mann, mit dem ich mich wenige Stunden zuvor in der Wohnung der Vermissten unterhalten hatte und dem ich nun wie ein Schatten folgen wollte, machte Feierabend.

Kurz nachdem er in dem ziemlich heruntergekommenen Gebäude verschwunden war, trat ein anderer Mann aus dem Haus und übernahm den gerade erst abgestellten Wagen. Ein Taxi rentiert sich nur dann, wenn der Motor niemals kalt wird, klangen mir die Worte eines befreundeten Fahrers in den Ohren. Es dauerte noch eine ganze Weile, bis die Zielperson das Gebäude verließ. Sie bewegte sich schnellen Schrittes über den Parkplatz, stieg in einen alten VW Golf und jagte mit aufheulendem Motor in Richtung Schöningen.

Der Mann, der sich offensichtlich Michael nannte, stoppte seinen Wagen vor einer Kneipe in der Bismarckstraße. Er schien es noch immer sehr eilig zu haben. Ich stellte meinen Skoda unweit seines Wagens ab und folgte ihm.

Als ich die schwere Eingangstür öffnete, quoll mir verbrauchte, von Zigarettenrauch geschwängerte Luft entgegen. Hier schien noch niemand etwas vom Rauchverbot in Gaststätten gehört zu haben. Neben ausgelassenem Lachen nahm ich murmelnde Stimmen, das Klappern von Würfeln in einem Knobelbecher und einen penetranten Schweißgeruch wahr. Das Panoptikum war eine Kneipe, wie ich sie aus meiner Sturm und Drangzeit bei der Landespolizeischule in Hann. Münden kenne.

Ich ließ mich auf einem der freien Barhocker an der Theke nieder und bestellte ein Bier. Die Kneipe war eigentlich nicht so groß, um den Überblick zu verlieren und doch konnte ich meinen Freund nicht mehr unter den Gästen ausmachen. Die spärliche Beleuchtung bot genügend Gelegenheiten, um in den so entstandenen Lichtschatten unerkannt zu bleiben. Plötzlich sah ich ihn in einer der Nischen sitzen. Auf seinem Schoß räkelte sich eine dürftig bekleidete Brünette. Seine Eile schien verflogen.

Im nächsten Moment trat der Barkeeper an den Tisch, beugte sich zu ihm herab und flüsterte ihm etwas zu. Schlagartig kehrte seine Hektik zurück. Das Mädchen rutschte fast von seinen Knien, als er wie von der Tarantel gestochen empor schnellte. „Bist du bescheuert?“, drang ihre erregte Stimme durch die laute Musik aus der Jukebox. Der Taxifahrer reagierte nicht auf ihre wütenden Worte, drehte sich von ihr weg und ließ sie achtlos zurück.

Mein Blick folgte ihm durch den Schankraum durch eine Tür, die offensichtlich zu den Toiletten führte. Ich wartete noch einige Atemzüge, ehe ich mich von meinem Sitz schob und ihm nachging. Hinter der Tür öffnete sich ein langer Gang, der an seinem Ende in ein Treppenhaus mündete. Ein Pfeil wies zu den im Keller befindlichen Toiletten. Über mir waren einen Augenblick lang Stimmen zu vernehmen. Eine Tür klappte, dann wieder Stille. Meine Neugier folgte der Treppe nach oben. Ich wich zurück. Am Ende des Ganges machte ich eine Gestalt aus. Sie klopfte und wartete darauf, eingelassen zu werden. Das Summen eines elektrischen Türöffners ertönte. Als sich der Zugang daraufhin auftat, fiel Licht auf das Gesicht des Mannes und ich erkannte den Taxifahrer darin. Ich musste mich beeilen, wollte ich die Tür erreichen, bevor sie wieder ins Schloss fiel.

Geschmeidig wie eine Raubkatze, grazil wie eine Gazelle, lautlos wie ein Schmetterling und so schnell wie ein Windhund, strebte ich meinem Ziel entgegen und musste doch zu meiner Schande erkennen, dass ich in die Jahre gekommen war. Ein kaum vernehmliches Klicken ließ mich in der letzten Bewegung erstarren. Wenige Zentimeter fehlten nur und doch genug, um wie ein begossener Pudel vor verschlossener Tür zu stehen. Nun, ich kniff weder den Schwanz zwischen die Beine noch trollte ich mich. Wozu hatte ich mein Besteck dabei? Genug Erfahrung, um mit einem einfachen Sicherheitsschloss fertig zu werden, hatte ich allemal. Nur was war mit der Kamera, die ich erst jetzt über der Tür ausmachte? Hatte sie mich bereits erfasst, oder wurde sie erst durch den Klingeldrücker aktiviert, der sich neben dem Eingang befand? Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.

Dass sich besagtes Unterfangen im Halbdunkel des Flures als komplizierter und daher zeitaufwendiger gestaltete, als zuvor angenommen, konnte den Enthusiasmus keinesfalls schmälern, mit dem ich bei meiner Arbeit vorging. So bemerkte ich quasi erst im letzten Moment, wie sich die Tür unvermittelt wieder öffnete. Es gelang mir gerade noch zur Seite und damit hinter sie zu springen. Nun bot mir die Dunkelheit Schutz.

Ein Glatzkopf mit funkelndem Goldkettchen und zwei kichernde Schönheiten zogen jenseits des Türblattes an mir vorbei, den Gang hinunter. Bevor ich die Gelegenheit nutzte und das unbekannte Terrain betrat, vergewisserte ich mich, ob sich in dem Raum, der sich hinter der Tür befand, etwas tat. Auf den ersten und auch auf den zweiten Blick schien niemand da zu sein. Trotzdem waren Stimmen und ein gelegentliches Klopfen zu hören. Der Raum selbst war mit dem Separee eines Theaters zu vergleichen. Was für ein Kontrast zu der Kneipe im Parterre.

Die Wände waren in samtrosa gehalten, geschmackvolle Bilder luden den Betrachter zum Verweilen ein, stellten seine Fantasie auf die Probe. Auf dem Parkettboden lagen dicke Teppiche, wie ich sie auf einer Reise durch den Orient gesehen hatte. Hier steckte Geld und zwar reichlich. Die Geräusche zwängten sich durch ein Lüftungsgitter, welches sich über einer der drei Türen befand, die von diesem Raum abgingen. Ich zog mir einen der mit teurem Stoff bezogenen Stühle darunter und stieg hinauf. Was ich zwischen den rotierenden Flügeln des Ventilators erblickte, hätte ebenso gut aus einem alten Film mit Humphrey Bogart stammen können.

In der Mitte des Raumes, in den ich blickte und der nicht weniger gediegen eingerichtet war als der, in dem ich mich befand, stand ein großer ovaler Spieltisch, um den eine Handvoll Leute saßen und Karten spielten. Hinter ihnen gruppierten sich ebenso viele Grazien, die sich auf extra breiten Barhockern herumlümmelten. Ihre Getränke wurden auf einer gläsernen Theke serviert, die vom Boden her dezent beleuchtet wurde. Über der Szene hing eine einzige dichte Glocke scheinbar undurchdringlichem Zigarettenrauchs. Der kleine Ventilator, durch den ich die Kulisse beobachtete, kämpfte einen Kampf, den er nicht gewinnen konnte. Bereits nach wenigen Atemzügen fühlte ich mich wie eines dieser Räuchermännchen aus dem Erzgebirge. Komm Leopold, da musst du jetzt durch.

Aus einer dunklen Ecke schälte sich der Taxifahrer. Seine Bewegungen waren irgendwie unkoordiniert. Ihm gegenüber machte ich schließlich eine weitere, dickliche Gestalt aus. Er saß mit dem Rücken zu mir gewandt, weshalb ich weder sein Gesicht sehen noch seine Größe einschätzen konnte. An der Mimik des Taxifahrers erkannte ich jedoch unzweifelhaft, dass ihn die Worte des Mannes nicht behakten. Seine Stirn krauste sich zusehends und der Ausdruck in seinen Augen wurde immer unruhiger.

Der Dicke erhob sich, wuchtete seinen massigen Körper zu mir herum und wandte sich selbstgefällig schmunzelnd einer der Eleganzen zu. Ein Asiat, wie ich nun unschwer feststellte. Während er seinen Arm um ihre nackte Schulter legte, konnte ich über seinem rechten Handgelenk die Tätowierung eines roten Drachens erkennen. Das war ein Fall für mein neues Fotohandy. Wenn die Rahmenbedingungen auch denkbar schlecht waren, so erhoffte ich mir wenigstens einige gute Schnappschüsse von den Gesichtern der Anwesenden.

Plötzlich vernahm ich das Summen des Türöffners. Ich hatte gerade noch genug Zeit, um vom Stuhl zu steigen. „Was zum Teufel treiben Sie dort oben?“, wollte die zuvor von mir in der Kneipe gesehene Freundin des Taxifahrers irritiert wissen. „Ich warte die Klimaanlagen“, log ich aufs Geratewohl heraus. „Ohne Werkzeug?“ bemerkte sie ungläubig. „Ich bin noch bei der Begutachtung. „Dann kommen Sie am besten gleich mit nach oben. In meinem Zimmer funktioniert der Lüfter nämlich schon lange nicht mehr.“ „Ich mache erst dieses Stockwerk fertig“, vertröstete ich sie, „…dann komme ich zu Ihnen.“

„Was ist hier los, Chantal?“, trat plötzlich ein Zweimetermann aus einer der anderen Türen. Mein Blick konzentrierte sich auf den Pitbull, den er mit sich führte. „Wieso treibst du dich hier herum und überhaupt, wer ist der Kerl?“ „Na, der wartet doch die Klimaanlage“, entgegnete sie gereizt. „So ein Bullshit. Wenn der Chef jemanden bestellt hätte, dann gewiss nicht während der Geschäftszeit. Außerdem wüsste ich davon.“ Ich achtete auf seine Unterarme, konnte aber keine Drachentätowierung daran erkennen. Indem er sprach, musterte er mich bedrohlich. In diesem Moment hielt ich es für ratsam, mich auf alle Eventualitäten vorzubereiten. „Und nun mach, dass du wieder nach unten kommst. Die Gäste langweilen sich bereits.“ „Ich scheiß drauf!“

„Jetzt zu dir, Bursche“, drehte er sich zu mir. „Wer hat dich bestellt?“ Während mich sein Blick durchbohrte, spannten sich alle Sehnen und Muskeln in mir an. Meine Hand ballte sich hinter dem Rücken. Ich hatte nur einen einzigen Verbündeten und den musste ich so wirkungsvoll wie möglich in Szene setzen. Es war der Überraschungseffekt, mit dem ich ihn völlig unvorbereitet und genau auf den Punkt traf. Meine Faust erwischte ihn mit voller Wucht am Kinn. Bevor er überhaupt wusste, wie ihm geschah, ließ ich meine Linke folgen. Sie traf ihn in der Magengrube, ließ ihn wie ein Taschenmesser in sich zusammenklappen und für einen Moment in der Bewegung erstarren.

Schwer getroffen stöhnte er, schwankte und taumelte auf den Ausgang zu. Der Schosshund starrte uns abwechselnd irritiert an, wartete offensichtlich auf ein Kommando seines Herrn. Der lehnte mit dem Rücken an der Tür und krümmte sich. Ich war mir nicht sicher, ob ich einen letzten, wahrscheinlich entscheidenden Schlag anbringen konnte, ohne dass mich der Köter in Stücke riss. Ich entschied mich, nach einem anderen Fluchtweg zu suchen. „Wenn ich dich zu fassen kriege!“, stöhnte der Glatzkopf. „Adolf, fass!“

Die Worte seines Herrn drangen wie ein Gongschlag durch den Ring. Die Bestie verschwendete keine Sekunde. Schnaufend wie eine Dampflok, kam sie auf mich zu gerannt. Die gefletschten Zähne nahmen zwei Drittel ihres Körpers ein. Da half nur der ungeordnete Rückzug. Ich riss die Tür auf, durch die der Glatzkopf zuvor hereingekommen war und tat das einzig Vernünftige in diese Situation. Ich suchte mein Heil in der Flucht.

Ein Blick, um mich zu orientieren. Rechts und links des Ganges standen Stühle, daneben gingen weitere Türen ab. An der einen klebte ein Schild mit der Aufschrift ‚Herren', an der anderen ‚Damen', geradeaus eine weitere Tür ‚Privat'. Ich entschied mich für letztere, sicherte jedoch zunächst meinen Rückzug, indem ich einen der Stühle unter der Klinke der Tür verkeilte, die mich bislang noch von den Verfolgern trennte. Er würde nicht lange Widerstand bieten, dessen war ich mir bewusst, also wandte ich mich, ohne weitere Zeit zu verlieren, meinem weiteren Fluchtweg zu.

Natürlich, die Tür mit der Aufschrift ‚Privat', war verschlossen. Ein kräftiger Tritt und der Weg war frei. Aber wohin? Was ich sah, ließ jeglichen Speichelfluss in meinem Mund versiegen. Zunächst sah ich nur den nackten Rücken einer überaus attraktiven Asiatin. Als sie sich erschrocken zu mir drehte, ruhte mein Blick auf ihren wohlgeformten Brüsten. Erst danach entdeckte ich auch den Fleischberg unter ihr. Ein bekanntes Gesicht, welches ich erst kürzlich irgendwo gesehen hatte. Zeit zum Nachdenken hatte ich nicht, weshalb ich kurz entschlossen einige Fotos mit meinem Handy schoss. Man weiß ja nie.

Lautes Bellen und die wütenden Versuche meiner Verfolger, die verkeilte Tür aufzubekommen, trieben mich zur Eile. Nun besann sich auch der Fleischberg zu einer Reaktion. Er drückte die Asiatin von seinem Schoss und walzte sich, wie Gott ihn erschaffen hatte, allerdings um mindestens drei Zentner schwerer, aus dem Bett und begann, unflätige Bemerkungen nach mir zu werfen. Angesichts solcher Verbalattacken entschloss ich mich, meine Flucht fortzusetzen. Der wütende Pitbull hatte nur ganz am Rande etwas mit meiner Entscheidung zu tun. Türen gab es nun keine mehr, dafür zwei Fenster, zwischen denen sich eine Regenrinne befand.

Zu allem entschlossen, schwang ich mich auf die Fensterbank. Unter mir der Abgrund, ein tiefes dunkles Loch, doch es half alles nichts, wenn ich heil aus der Sache herauskommen wollte, musste ich auf mein Glück und meine Fähigkeiten vertrauen. Ich schwang mich heraus, klammerte mich an das Rohr und… vernahm das berstende Geräusch von Blech. Als das Rohr nach hinten knickte und ich wie ein Mehlsack daran in die Tiefe stürzte, war ich nicht mehr als einen Meter daran herabgeklettert. Was mindestens drei weitere Meter freien Fall zur Folge hatte. Durchtrainiert wie ich nun einmal bin, gelang es mir, mich gekonnt abzufangen. Die wütenden Rufe der Genarrten verfolgten mich bis zu meinem Wagen und verstummten erst, als ich mit quietschenden Reifen davonraste.

 

-10-

 

„Du hast großes Glück“, sprach die zierliche Asiatin, während sie der jungen Frau mit einem weichen Schwamm zärtlich über den nackten Rücken strich. „Dem großen Dashi beliebt es, dich in seinen Gemächern zu sehen.“ Das Mädchen reagierte nicht auf die Worte der Chinesin. Ihr Blick richtete sich auf eine Statue, ohne sie zu sehen. Ihre Augen waren milchig, wie von dichtem Nebel umschlossen. All das, was um sie herum geschah, nahm sie nicht wirklich wahr. Sie verstand nicht, was in ihrem Kopf vor sich ging, konnte keinen klaren Gedanken fassen.

„Du hast großes Glück“, wiederholte die Chinesin. „Wenn du dem Dashi gefällst, wirst du ein sehr ehrbares Leben als seine Konkubine führen. Du wirst viel reisen und alle anderen Frauen werden dich beneiden.“ Die junge Frau mit den dunkelblonden Haaren verzog keine Miene, schaute weiterhin teilnahmslos vor sich hin. Die Drogen, mit denen sie gefügig gemacht wurde, entfalteten nun ihre volle Wirkung.

Eine weitere Asiatin betrat den Raum. Sie wartete, bis die Auserwählte gereinigt und getrocknet war, dann widmete sie sich ihren langen Haaren. Sie kämmte sie akribisch, drapierte sie kunstvoll und befestigte die traditionelle Frisur mit einem breiten Haarkamm. Nachdem sie mit dieser Arbeit fertig war, schminkte sie die junge Frau nach klassisch fernöstlicher Art. Abschließend wurde der nackte Körper der Auserwählten in ein seidenes Gewand gehüllt. Woraufhin die beiden Asiatinnen den Raum demutsvoll verließen.

Wie eine Statue, betäubt von fernöstlichen Rauschmitteln, blieb das Objekt der Begierde aufrecht sitzend auf dem Bett zurück. In ihrer Sinnestäuschung krabbelten überdimensionale Fliegen über die Wände, riesige Schmetterlinge glitten geräuschlos durch den Raum und eine zarte Stimme sang chinesische Volksweisen. So bemerkte sie nicht, wie ein Mann das Zimmer betrat, sah selbst da noch scheinbar durch ihn hindurch, als sich der Chinese vor ihr entblößte und sich zu ihr auf das Bett legte.

Was auch immer dann geschah, die junge Frau wird sich selbst in ihren Alpträumen nicht daran erinnern, zu stark vernebelten ihr die ungewohnten Drogen die Sinne. Nur die Spuren jener Nacht, die auch Wochen danach noch an ihrem missbrauchten Körper zu sehen waren, lassen erahnen, mit welcher Inbrunst sie der Kopf des roten Drachen erniedrigte.

-11-

 

„Okay, Leopold Lessing, wir haben uns zwar dahingehend abgesprochen, unserer Arbeit bis auf Weiteres den Vorrang zu lassen, aber allmählich übertreibst du es“, tadelte mich Miriam. „Wenn wir uns sehen, möchtest du entweder eine Auskunft von mir, um in deinem Fall voranzukommen oder du schläfst auf meinem Sofa ein. Ich habe das Gefühl, unsere Beziehung staubt so langsam ein. Ich denke, es ist höchste Zeit, etwas dagegen zu unternehmen.“ Der Ausdruck in ihren Augen ließ darauf schließen, dass Miriam meinte, was sie sagte. Leider erkannte ich die Tragweite ihrer Worte zu spät und quittierte diese mit einem zugegeben reichlich dämlichen Spruch. „Wie wäre es, wenn du dir einen Staubwedel schnappst.“

Was dann geschah, hatte ich nicht erwartet. Miriam fuhr wie vom Blitz gerührt in die Höhe. „Es ist wohl besser, wenn du jetzt gehst!“ Ich starrte meine Freundin ungläubig an. Dies war der Augenblick, in dem ich mir meines Fauxpas bewusst wurde. Da half sicherlich auch keine Entschuldigung. Der Abend war ohnehin gelaufen, weshalb ich ihrer Aufforderung nun meinerseits eingeschnappt nachkam, mir den geliebten Stetson schnappte und erhobenen Hauptes von dannen schritt.

Auch wenn ich selbst den Anlass gegeben hatte, konnte es ja nicht schaden, eine gewisse Unantastbarkeit an den Tag zu legen. Dies konnte meine Position bei späteren Konventionen nur verbessern. Man(n) weiß schließlich, was man sich schuldig ist. Dass ich vor dem Zubettgehen einige Flaschen Bier zu mir nahm und dann doch nicht in den Schlaf fand, brauchte ja niemand zu wissen.

Trude sah mir die unruhige Nacht allerdings sofort an, als sie mich am nächsten Morgen hinter dem Schreibtisch entdeckte. Zumal ich, entgegen meiner sonstigen Gewohnheiten, vor ihr in der Detektei war, um die Fotos, die ich am Vorabend im Panoptikum mit meinem Handy geschossen hatte, auf den PC zu überspielen.

„Was hat Ihnen denn die Suppe verhagelt?“, kam sie ohne Umschweife auf den Punkt. „Guten Morgen, Frau Belitz“, entgegnete ich geschäftig, während ich in den Notizen zu ihren Recherchen herumblätterte, die sie mir auf den Schreibtisch gelegt hatte. Die Ärmste zuckte zusammen. Sie wusste, wenn ich sie bei ihrem Nachnamen nannte, war Gefahr im Verzug. „Einen Kaffee?“, fragte sie daher betont vorsichtig. „Schwarz!“

Es ist leider eine weit verbreitete Unsitte, seinem Ärger dort Luft zu machen, wo der geringste Widerstand erwartet wird. Ich hasse solche Menschen, auch wenn ich mich, unter ähnlichen Umständen, gern auch mal selbst zu solchen Untaten hinreißen lasse. Dies geschieht natürlich im Unterbewusstsein, verschafft mir aber durchaus für den Moment etwas Erleichterung.

„Kommen Sie ruhig herein, Trude“, meldete sich mein schlechtes Gewissen, als die gute Seele mit vibrierender Kaffeetasse im Anmarsch war. „Ich habe Ihnen etwas Gebäck dazugelegt“, bemühte sie sich um besseres Wetter. Und tatsächlich, das mit Pudding gefüllte Plunderstück vertrieb die dunklen Wolken.

„Wie ich sehe, haben Sie die Namen der drei an der Hypotec beteiligten Teilhaber herausgefunden.“ Trude winkte ab. „War nicht weiter schwer. Kann ich sonst noch etwas für...“, riss ihre Frage ab, als ihr Blick auf den Monitor meines Computers fiel. „Himmel, wenn ihn seine Wähler so zu Gesicht bekämen, würde der Müllerich wohl nur halb so viele Stimmen erhalten.“ Ich sah Trude ungläubig an. „Sie kennen den Mann?“ „Aber Chef, das ist doch der Kandidat der Bürgermitte für den Sitz im Kreistag.“ In den Augen meiner Putzsekretärin lag eine gewisse Schadenfreude. „Ein recht propreres Kerlchen, nicht wahr?“, genoss sie spöttisch. Nun war mir klar, weshalb der gute Mann so gereizt auf meinen unangemeldeten Besuch reagierte. Trude hatte schon Recht, ein nicht eingehaltenes Wahlversprechen ist schon fast die Normalität, aber wer so dumm ist und sich in flagranti erwischen lässt, verdient es nicht, gewählt zu werden.

„Verraten Sie mir, wo Sie den Herrn in dieser doch recht delikaten Situation erwischt haben?“ Auch wenn die gute Trude nicht gerade mit einer Glocke durch die Stadt zog, so wusste ich doch, wie schnell man sich verplappern kann. „Lieber nicht, meine Liebe. Was niemand weiß, macht keinen heiß.“ Die so Diffamierte verzog griesgrämig das Gesicht und verließ wortlos mein Büro.

Kaum, dass sie die Tür hinter sich ins Schloss gezogen hatte, tat mir mein schroffes Auftreten auch schon wieder leid. Abgesehen davon hatte sie bei ihren Recherchen einmal mehr gute Arbeit geleistet. Rebecca Zetsche, geschiedene Linn und Mutter der erstochenen Prostituierten, wohnte mittlerweile nahe Wolfsburg und betrieb einen Secondhand-Laden, der ominöse Taxifahrer nannte sich Michael Könisch und die Firma Hypotec war insolvent und stand kurz vor der endgültigen Abwicklung. Ob dies auf Fehler zurückzuführen war, die Knut Klages, nach eigenem Bekunden, bei seiner Beratung unterlaufen waren, war sekundär. Nachdenklich machte mich jedoch der Freitod eines gewissen Wong Hsiao, der sich einige Tage vor dem Mord an Suu Linn das Leben nahm.

War Knut Klages' Fehlinformation eventuell der auslösende Faktor für sein unternehmerisches Fiasko und somit der Anlass zu seinem Suizid? Als einer der verantwortlichen Teilhaber der Hypotec war es für ihn eine Frage der Ehre und somit eine Konsequenz, die auch heute noch in Fernost sehr verbreitet ist. Wenn dem so war, gab es wiederum möglicherweise Angehörige, die auf Grund dessen auf Rache sannen. Zugegeben, alles sehr vage, aber durchaus denkbar.

Bevor ich mich auf den Weg nach Braunschweig machte, um mehr über die Pleite der Hypotec und die Hintergründe zu erfahren, die zu dem besagten Freitod führten, ließ ich mich von Trude mit Rebecca Zetsche verbinden. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es zwischen Mutter und Tochter in den letzten Jahren so gar keine Verbindung gab.

Zu meiner Überraschung war sie sofort zu einem Gespräch mit mir bereit. Wir verabredeten uns für den Nachmittag in einem Cafe in Heiligendorf. Womit mir genug Zeit für meine Recherchen bei der Hypotec blieb.

 

 

ENDE DER LESEPROBE

 

 

 

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