Detektei Lessing

Dornröschen darf nicht sterben

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„Anna, haben Sie unser Dornröschen gesehen?“ „Soweit ich weiß, ist das Fräulein gleich nach dem Frühstück mit ihrem Pony ausgeritten, gnädige Frau.“ „Na, dann ist sie ja fürs Erste beschäftigt. Falls Sofia nach mir fragt, bin ich im Atelier zu finden.“ Die Hausangestellte deutete eine Art Verbeugung an.

Auch wenn Katharina von Assel keinen Wert auf derartige Höflichkeitsfloskeln legte, konnte und wollte sich Anna auf ihre alten Tage nicht mehr umstellen. Schon seit Ewigkeiten in den Diensten der Familie stehend, verkörperte sie noch die klassische Hausdame.

„Ach, Anna!“, rief ihr Katharina von Assel nach. „Sie wünschen?“, wandte sich die Hausangestellte um. „Ich erwarte meinen Mann heute etwas früher als üblich zu Hause. Seien Sie bitte so gut und servieren Sie uns das Abendessen im Wintergarten. Wir wollen die letzten schönen Sommertage nicht ungenutzt verstreichen lassen.“ „Sehr gern, gnädige Frau“, freute sich Anna aufrichtig. Sie hatte Viktor von Assel quasi großgezogen und deshalb eine tiefe Bindung zu ihm. Kein Wunder also, dass sie sich ganz besonders darüber erbaute, wenn sie ihm eine Freude bereiten konnte. „Haben Sie einen besonderen Wunsch?“ „Nein, nein, alles bleibt so, wie wir es heute Morgen besprochen haben.“

Katharina von Assel verbrachte den Nachmittag mit der aus ihrer Sicht schönsten Freizeitbeschäftigung, die sich ein Mensch gönnen konnte. Sie malte Aquarell. Ein Hobby, welches sie seit vielen Jahren recht erfolgreich pflegte. Ein sehr einträgliches Hobby, wie sie mitunter mit einem amüsierten Lächeln betonte. Und in der Tat, die Bilder der Künstlerin riefen in der Fachwelt mittlerweile eine beachtliche Aufmerksamkeit hervor.

Du liebe Zeit , erschrak sie, als das Tageslicht, welches durch die große Fensterscheibe ihres Ateliers auf die Leinwand fiel, die Dämmerung und damit die weit vorgerückte Stunde des Nachmittags ankündigte. Viktor musste jeden Moment zu Hause eintreffen und sie hatte sich noch nicht für ihn zurechtgemacht, trug immer noch eines seiner ausrangierten weißen Oberhemden über ihre nackten Schultern. Auch wenn es Viktor liebte, sie so zu sehen, wollte sie das gemeinsame Abendessen nicht mit dem Nachtisch beginnen.

„Ich habe gar nicht bemerkt, wie die Zeit verging“, nahm Katharina von Assel wenig später im Wintergarten Platz. Anna deckte gerade die Tafel ein, als der Hausherr das Foyer des Schlosses betrat. Harras vom weißen Wege empfing sein Herrchen mit dem üblichen distinguierten Gebell. Wie Viktor Freiherr von Assel war auch der Vierbeiner von edlem Geblüt. Der Adlige quittierte die Begrüßung seines Hundes mit einer üppigen Streicheleinheit. Wenn er Zeit hatte, balgten die beiden so ausgelassen wie junge Hunde durch den Schlosspark. Gelegenheiten, die sowohl für Harras als auch für Viktor von Assel ein Ausdruck ungenierter Lebensfreude waren. „Ist schon recht, mein alter Bär“, klopfte ihm der Hausherr liebevoll auf den Rücken. „Nach dem Abendessen machen wir unsere Runde.“ Harras vom weißen Wege wedelte freudig erregt mit seiner Rute.

„Rufen Sie bitte Sofia und tragen Sie das Essen auf.“ „Wie Sie wünschen“, beeilte sich Anna. „Wie schön, dass du schon da bist“, freute sich Katharina von Assel, während sie von ihrem Ehemann in den Arm genommen und geküsst wurde. „Ich habe Anna gebeten, das Abendessen im Wintergarten zu servieren. Ich hoffe, es ist dir recht?“ „Aber ja, eine schöne Idee“, zeigte sich Viktor angenehm überrascht. Während sich die Eheleute über den vergangenen Tag unterhielten, suchte Anna vergeblich das halbe Schloss nach der kleinen Sofia ab.

„Was ist denn mit dem Essen?“, erkundigte sich Frau von Assel, als die Hausangestellte mit leeren Händen in den Wintergarten zurückkehrte. „Entschuldigen Sie bitte, ich habe überall nachgeschaut, aber Sofia ist nicht aufzufinden.“ „Nun bleib mal ganz ruhig, Anna“, bemerkte Viktor von Assel die Sorge in den Augen seiner Kinderfrau. „Sie wird noch im Stall bei ihrem Pony sein.“ Anna schüttelte hektisch den Kopf. „Leider nicht und die Fee ist auch nicht da.“ Viktor beugte sich nach vorn, strich sich über den Dreitagebart, wie er es immer tat, wenn er ins Grübeln kam und suchte den Blickkontakt zu seiner Frau. „Wann hast du sie zuletzt gesehen?“ Katharina ließ den Tag gedanklich Revue passieren. „Heute Vormittag, so gegen 10 Uhr.“ „Und wann hast du Sofia zuletzt gesehen, Anna?“ „Zur selben Zeit“, entgegnete die Hausangestellte. Viktor hielt es nicht länger in seinem Sessel. „Da stimmt etwas nicht!“

Nachdem Viktor die Lieblingsplätze seiner Tochter erfolglos abgesucht hatte, ließ er das gesamte Personal zusammenrufen, um mehrere Suchtrupps zu bilden. „Sofia ist mit ihrem Pony ausgeritten. Möglicherweise ist ihr das Tier durchgegangen“, mutmaßte er besorgt. „Vielleicht liegt sie irgendwo und ist schwer verletzt“, nahm Frau von Assel das Schlimmste an. „Wir teilen uns in vier Gruppen auf. Drei Gruppen fahren die Wald und Feldwege ab, die vierte nimmt sich den Park vor. Nehmen Sie bitte Ihre Handys mit und bitte, halten Sie die Augen auf.“

Ohne weitere Zeit ungenutzt verstreichen zu lassen, setzten sich die Suchtrupps in Bewegung. Viktor von Assel hatte seiner Tochter bereits mit jungen Jahren das Reiten beigebracht. So saß sie nicht weniger sicher als er im Sattel, weshalb er nicht so recht glauben wollte, dass sie sich von ihrem eigentlich recht sanftmütigen Pony hatte abwerfen lassen. Was auch immer letztendlich der Grund für ihr Ausbleiben war, die Sorgen um seine Tochter blieben dieselben. Immerhin kannte der Freiherr die Wege, auf denen Sofia am liebsten unterwegs war, wie kein anderer. Einer ihrer Lieblingsziele waren die Ruinen der Burg Lichtenberg. Zusammen mit einem der Stallburschen hatte er bereits etwa die Hälfte des Weges zurückgelegt, als er ruckartig das Lenkrad verriss und nach einer Vollbremsung nur noch mit geringer Geschwindigkeit mit einem Baumstumpf kollidierte.

„Ist dir etwas passiert?“, wandte er sich Gregor zu. Sein Beifahrer war durch die, wenn auch verminderte Wucht des Aufpralls, nach vorn katapultiert worden. „Alles okay“, hielt sich der junge Mann den Kopf. „Aber was war eigentlich los?“ Viktor von Assel stieß die Tür auf, schob sich aus dem Wagen und wandte sich suchend nach allen Seiten um. „Hast du Sofias Pony nicht gesehen?“ Gregor sah sich ebenfalls um. „Nein! Wo haben Sie es denn gesehen?“ Der Freiherr deutete auf eine Lücke zwischen der Baumreihe, die den Waldrand säumte. „Fee muss sich ebenso heftig erschrocken haben wie ich. Wahrscheinlich ist sie zurück in den Wald gelaufen.“

Viktor von Assel folgte seiner Überzeugung, wie er es immer tat und entdeckte schließlich das Pony seiner Tochter. Fee war nicht minder verstört, als es der Freiherr war. „Ganz ruhig, meine Kleine, alles ist gut“, redete Viktor von Assel immer wieder beruhigend auf das Tier ein. Es bedurfte eine ganze Weile, ehe sich Fee von seinem Besitzer aus dem Wald führen ließ. Gregor war in einiger Entfernung zurückgeblieben, um das Tier nicht noch weiter zu verschrecken. Er wusste, dass sein Chef ein gutes Händchen im Umgang mit Pferden hatte.

„Wir müssen die Umgebung absuchen“, überlegte Viktor von Assel. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich Fee weit von Sofia entfernt hat.“ Über das Handy rief der Freiherr nun auch die übrigen Helfer an den Fundort des Ponys. Nach und nach trafen auch die anderen Suchtrupps ein. Viktor von Assel versammelte seine Leute um sich herum. „So wie es aussieht, wurde Sofia von ihrem Pony abgeworfen“, mutmaßte er besorgt. „Die Polizei in Baddeckenstedt ist informiert. Man hat mir weitere Unterstützung zugesagt. Allerdings wird es eine Weile dauern, bis eine Suchmannschaft hier eintrifft. Da es bald dunkel sein wird und somit um einiges kälter, dürfen wir keine Zeit verlieren.“

Ein Raunen ging durch die Reihen der Männer und Frauen. Viktor von Assel faltete die Karte des Gebietes auseinander und legte sie auf die Motorhaube seines Geländewagens. „Ihr zwei nehmt euch die hohe Warte vor. Gerda und Hans fahren die Gegend um das Lichtenberg Denkmal ab und Lukas und Toni suchen den See an der Haverlahwiese ab“, teilte der Freiherr die Suchtrupps ein. „Gregor und ich sehen uns inzwischen an der Burgruine um. Sollte einer von euch eine Entdeckung machen, könnt ihr mich über mein Handy oder meine Frau im Schloss erreichen.“ Viktor von Assel sah auf seine Armbanduhr. „Es ist jetzt 19:30 Uhr. In etwa einer Stunde bekommen wir die versprochene Unterstützung.“

-2-

Während der ganzen Nacht waren sowohl Freiherr von Assel als auch seine Leute Seite an Seite mit Suchkräften der Polizei, der Feuerwehren aus den umliegenden Dörfern und etlichen Freiwilligen im Einsatz. Schritt für Schritt wurde das Suchgebiet auf einen Radius von zehn Kilometer ausgeweitet und doch blieb die Suche nach dem Kind ergebnislos. Gegen Morgen schaltete sich schließlich die Kriminalpolizei ein.

„Mein Name ist Radezki.“ Der eher gemütliche Mann wandte sich seinen Begleitern zu. „Dies sind Oberkommissarin Jung und Kommissar Ovzarek. Wir möchten zu Herrn von Assel.“ „Können Sie sich ausweisen?“, erkundigte sich Anna trotz ihres Kummers sehr gefasst. Ihre prüfenden Blicke nahmen die Dienstausweise in Visier. „Treten Sie bitte näher.“ Im Foyer des Schlosses bat sie die Polizisten einen Moment zu warten. „Einen Augenblick bitte, ich werde Sie bei den Herrschaften melden.“ Damit verschwand die Hausangestellte. „Nicht schlecht die Hütte“, bekundete der Hauptkommissar. „Im Unterhalt vielleicht ein wenig aufwendig“, gab die Oberkommissarin zu bedenken. „Womit verdient so ein Freiherr eigentlich sein Geld?“, fragte Ovzarek in die Runde. „Soviel ich weiß, ist Viktor von Assel Vorstandsmitglied einer großen Bank.“ „Na, sag ich‘s nicht?“, fühlte sich Radezki bestätigt. „Wenn du an der Quelle sitzt, kannst du dir auch eine solche Hütte leisten.“ „Die Herrschaften erwarten Sie“, betrat Anna unbemerkt das Foyer. „Oh, ja danke“, entgegnete der Hauptkommissar.

„Gibt es etwas Neues? Haben Sie eine Spur?“, überfiel Katharina von Assel Hauptkommissar Radezki. „Leider nicht gnädige Frau. Wir weiten die Suche jetzt auf sämtliche Gewässer innerhalb des Suchgebietes aus.“ Frau von Assel verlor die Contenance. „Dann stehen Sie hier doch nicht herum! Suchen Sie lieber nach meiner Tochter!“ Radezkis Stirn krauste sich. Er schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. „Glauben Sie mir“, fand seine Kollegin Jung als Erste ihre Stimme wieder, „…wir tun alles, was in unserer Macht liegt.“ „Dann finden Sie Sofia!“ Die Tränen der Freifrau ließen sich nicht länger unterdrücken. Sie war schließlich Mutter. Anna nahm sich ihrer an und begleitete sie in einen Nebenraum.

„Das Ganze ist zu viel für meine Gattin“, entschuldigte Viktor von Assel seine Frau. „Was sich durchaus nachvollziehen lässt“, zeigte der Hauptkommissar Verständnis. „Ich habe einen Hubschrauber mit Wärmebildkamera angefordert“, fuhr Radezki fort. „Mit diesem Gerät lässt sich jede Wärmequelle aufspüren. Selbst wenn sie sich bis zu einem halben Meter unter der Erde befindet.“ Oberkommissarin Jung verdrehte die Augen. Bei solchen Gelegenheiten hätte sie ihren Chef am liebsten in die Wüste gewünscht. „Die Hundertschaft und der Hubschrauber werden am Nachmittag hier eintreffen.“

„Ich bin Ihnen sehr zu Dank verpflichtet, verehrter Herr Hauptkommissar“, überspielte von Assel die Situation. „Wir benötigen ein Kleidungsstück ihrer Tochter. Am besten etwas Getragenes.“ „Anna wird Ihnen etwas heraussuchen.“ „Sehr schön. Meine Kollegin wird sie begleiten und die Geruchsprobe eintüten, damit kein fremder Duft anhaftet“, entschied Radezki kurzerhand „Auch wenn sich bislang niemand bei Ihnen meldete, sollten wir eine weitere Möglichkeit nicht außer Acht lassen“, deutete der Ermittler eine Überlegung an, die keiner der Betroffenen bislang ausgesprochen hatte. „Wir können eine Entführung nicht ausschließen. Ich habe mir deshalb erlaubt, einige Maßnahmen einzuleiten, mit denen wir einen möglichen Anruf des Entführers gegebenenfalls aufzeichnen und zurückverfolgen können.“

Viktor von Assel zeigte sich wenig überrascht. „Ich hatte auch schon daran gedacht“, gab er zu. „In der Öffentlichkeit zu stehen, birgt eben auch Gefahren, über die sich Außenstehende gar keine Gedanken machen“, räumte Oberkommissarin Jung ein. „Wie ich bereits sagte“, brachte sich Radezki in Erinnerung. „Auch wenn sich bislang niemand zu einer Entführung bekannte, dürfen wir diese Möglichkeit nicht außer Acht lassen.“ Viktor von Assel nickte zustimmend. „Und noch eine Eventualität dürfen wir nicht vernachlässigen“, fuhr Radezki fort, während er sich dem Vater der kleinen Sofia zuwandte. „Haben Sie Neider, Feinde, oder gibt es Personen, die sich von Ihnen betrogen fühlen?“ „Sie glauben allen Ernstes, dass es Menschen gibt, die an einem Kind Rache nehmen?“ „Verehrter Herr von Assel, Sie glauben gar nicht, aus welch niederen Gründen der Mensch zur Bestie wird.“

„Sofia ist jetzt fast 24 Stunden verschwunden und Sie haben nichts Besseres zu tun, als irgendwelche Mutmaßungen anzustellen. Vielleicht haben Sie ja Recht, vielleicht wurde meine Tochter tatsächlich entführt, aber solange sich niemand bei mir meldet und Lösegeld verlangt, liegt Sofia für mich irgendwo da draußen und braucht möglicherweise ärztliche Hilfe. Tun Sie, was Sie nicht lassen können, aber ich für meinen Teil werde dort sein, wo ich gebraucht werde.“ „Keine Frage“, pflichtete ihm Kommissar Ovzarek bei. „…die Suche nach ihrer Tochter hat selbstverständlich Priorität.“

Anna und Kommissarin Jung kehrten mit dem gewünschten Kleidungsstück zurück. „Ich hoffe, es wird Ihnen weiterhelfen.“ „Die Hunde sind in der Regel sehr zuverlässig. Falls Sofia noch irgendwo dort draußen ist, werden sie das Mädchen finden.“ „Es ist einfach nur schrecklich“, schüttelte die alte Frau mit dem Kopf. „Ich hätte viel früher stutzig werden müssen.“ „Machen Sie sich keine Vorwürfe, Anna. Sie können nichts dafür.“ Die beruhigenden Worte des Freiherrn vermochten die Hausangestellte nur wenig zu trösten. Wortlos verließ sie den Raum, um sich quasi in der Tür noch einmal herumzudrehen. „Verzeihen Sie, benötigen Sie noch meine Dienste?“ „Nein, nein, Anna gehen Sie ruhig.“ „Dann sehe ich jetzt nach der gnädigen Frau.“ „Tun Sie das, Anna. Tun Sie das.“

„An dieser Stelle sind wir auf das Pony meiner Tochter gestoßen“, erklärte Viktor von Assel. „Das Tier ist eigentlich sehr sanftmütig“, fuhr er fort. „Wenn Fee Sofia tatsächlich abgeworfen haben sollte, muss sich das Pony über irgendetwas sehr erschrocken haben.“ „Ich weiß, dass Sie dieses Gelände gleich zu Anfang mit Ihren Leuten durchkämmt haben“, bemerkte Hauptkommissar Radezki, „…aber nichtsdestotrotz ist die Wahrschein-lichkeit am größten, dass die Hunde hier eine Spur aufnehmen können.“ „Sie sagten, Sofia sei gern zu der Burgruine am Lichtenberg ausgeritten“, erinnerte sich Oberkommissarin Jung an eine Äußerung des Freiherrn. „Ja, ich hatte es ihr zwar verboten, aber Sie wissen ja…“ Viktor von Assel konnte die Sorge um seine Tochter nicht länger unterdrücken. Tränen quollen Ihm aus den Augen.

Während der angeforderte Hubschrauber über den Köpfen der Suchmannschaften kreiste, machte sich auch die Hundestaffel der Polizei für ihren Einsatz bereit. Gruppenführer der freiwilligen Feuerwehr, des technischen Hilfswerks und der Polizei bildeten eine Menschenkette. Noch bevor sie sich in Marsch setzte, machten sich die Hundeführer auf den Weg. Während sie mit Flächensuchhunden das Unterholz durchkämmten, würden sogenannte Mantrailer im Gelände rund um die Burgruine eingesetzt. Letztere nahmen sehr schnell Sofias Fährte auf und folgten ihr in südliche Richtung. Die Suchmannschaften folgten in einigem Abstand. Etwa eine halbe Stunde lang kamen sowohl die Hunde als auch der Tross der Freiwilligen recht gut voran, doch plötzlich erschwerten heftige Windböen die Suche. Immer wieder verloren die Hunde die Fährte, zwangen ihre Führer zurück, um die Spur erneut aufzunehmen.

„Es macht kaum noch Sinn“, erklärte Oberkommissar Fritz Backes dem leitenden Hauptkommissar Radezki. Der Führer der Hundestaffel schüttelte enttäuscht den Kopf. „Der Wind verweht uns hier auf der freien Fläche die letzten Spuren. Hinzu kommt das dichte Unterholz. Ich schlage daher vor, meine Leute nochmals zur Ruine zu verlegen, um von dort aus unser Glück in die entgegen gesetzte Richtung zu versuchen.“ „Also schön, Herr Backes, wenn Sie sich davon mehr versprechen, stimme ich ihrem Vorschlag zu.“ „Wenn sich dort eine Fährte findet, wissen wir zumindest schon mal, dass sich die Vermisste dort aufgehalten hat“, bekundete Oberkommissarin Jung. „Bitte informieren Sie mich, sobald Sie eine Spur haben“, entließ Radezki den Hundeführer.

Aufkommende Windböen machten nun auch dem Hubschrauberpiloten zu schaffen. Es war einfach wie verhext. Die stark abfallenden Temperaturen erhöhten zwar die Chance, das Mädchen zu lokalisieren, reduzierten aber gleichzeitig die Hoffnung, das vermisste Kind unversehrt zu finden. Die Anspannung, welche sich immer dann in besonders hohem Maße bei allen Beteiligten einstellt, wenn es sich bei dem Vermissten um ein Kind handelt, wurde von Stunde zu Stunde größer. Keiner der Freiwilligen kam auch nur ansatzweise auf die Idee, die Suche abzubrechen. Im Gegenteil, bis zum Abend hatte es fast den Anschein, als hätten sich sämtliche Menschen der Region auf die Suche gemacht. Hauptkommissar Radezki schien mit der Koordination der Hilfskräfte überfordert. Der Einsatzleiter einer am späten Nachmittag eintreffenden Hundertschaft der Bereitschaftspolizei aus Hannover übernahm schließlich das Kommando. Eine ebenfalls angeforderte Reiterstaffel war vorerst nicht verfügbar.

Am späten Abend dann eine Nachricht aus dem Anwesen der Familie von Assel. Ein Anruf mit einer Lösegeld-forderung war eingegangen. Kommissar Ovzarek hatte das Gespräch mitgeschnitten. Offensichtlich war der Entführer klug genug, um die Verbindung nach einer Minute abzubrechen, was eine Rückverfolgung durch den Telefonanbieter unmöglich machte.

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„Mein Gott, Katharina“, stürzte Viktor von Assel in den blauen Salon. „Es tut mir so leid, nicht bei dir gewesen zu sein“, nahm er seine Frau in die Arme. Die Angesprochene rang um Fassung. „Oh Viktor, es ist so schrecklich, unser Kind in den Händen dieser Verbrecher zu wissen.“ „Ich weiß, mein Schatz, ich weiß. Ich werde alles tun, um Sofia unversehrt zurückzubekommen.“

Viktor von Assel wandte sich Kommissar Ovzarek zu. „Sie haben das Gespräch doch mitgeschnitten. Ich möchte den Anruf hören.“ „Wir können nicht ausschließen, dass es sich bei dem Anrufer um einen sogenannten Trittbrettfahrer handelt“, erklärte Ovzarek. „Der vermeintliche Entführer machte keinerlei konkrete Angaben zu seiner Forderung.“ „Wir sollten zunächst einige Dinge besprechen, Herr von Assel“, schaltete sich Hauptkommissar Radezki ein. „Falls sich der Mann wieder meldet, ist es wichtig, dass Sie ihm die richtigen Fragen stellen und ihn überdies so lange am Telefon halten, bis wir den Apparat lokalisiert haben, von dem aus er telefoniert.“ „Sie haben Recht, Herr Hauptkommissar, ich kann im Augenblick nicht wirklich klar denken.“ „In Anbetracht der Umstände werde ich der Letzte sein, der Ihnen dies nachträgt.“ Der Freiherr nickte seufzend.

„Sofia befindet sich in unseren Händen“, verkündete die Stimme vom Band entschlossen. „Wir verlangen eine Million Euro in kleinen, unregistrierten Scheinen. Wenn Sie Ihre Tochter wiedersehen wollen, sollten Sie das Geld in 24 Stunden bereitstellen können.“ „Wie geht es meinem Kind?“, erkundigte sich Katharina von Assel mit zitternder Stimme. „Der Kleinen geht es so weit gut. Wenn Sie wollen, dass es so bleibt, lassen Sie die Bullen raus.“ „Bitte tun Sie meiner Tochter nichts! Wir machen alles so, wie Sie es verlangen. Nur um Gottes Willen, tun Sie meiner Tochter nichts!“, flehte Frau von Assel. Sie bemerkte nicht, dass der Anrufer das Gespräch längst beendet hatte.

„Der Mann sagte, wir sollen die Polizei herauslassen“, besann sich die Freifrau. „Das verlangen die Entführer immer“, relativierte Radetzki. „Und wenn diese Verbrecher Sofia etwas antun, nur weil wir ihre Anweisungen nicht befolgen?“ „Ich verspreche Ihnen, dass uns die Entführer nicht bemerken“, versuchte der Kriminalbeamte zu beruhigen. „Überdies können wir bislang noch nicht mit Bestimmtheit von einer Entführung ausgehen.“ „Hauptkommissar Radezki hat Recht. Wir brauchen einen Beweis für die Behauptung des Anrufers. Möglicherweise handelt es sich tatsächlich nur um einen Schwindler.“ „Und weshalb wollte er sich dann heute Abend noch einmal melden?“, schrie Frau von Assel ihren Mann an. Ihre Nerven lagen blank. Die Kommissare sahen sich seufzend an. „Auch das muss nicht zwangsläufig bedeuten, dass es sich tatsächlich um eine Entführung handelt. Wir erleben es leider immer wieder, dass sich selbst wildfremde Menschen an dem Kummer der Betroffenen ergötzen. Dabei ist ihnen jedes Mittel recht.“ „Das sind keine Menschen!“, konnte sich Frau von Assel auch jetzt noch nicht beruhigen.

In diesem Augenblick meldete sich das Handy des Hauptkommissars. „Entschuldigen Sie mich bitte einen Moment.“ Radezki verließ den Salon. „Seien Sie versichert, gnädige Frau, wir werden alles Erdenkliche veranlassen, um das Leben ihrer Tochter nicht zu gefährden“, merkte Kommissar Ovzarek an. „Falls sich die Entführer wieder melden, ist es wichtig, dass Sie ein Lebenszeichen ihrer Tochter verlangen. Am besten wäre es, wenn Sie mit Sofia sprechen könnten.“ „Es gibt eine erste Spur!“, kehrte Radezki unvermittelt in den blauen Salon zurück. „So wie es aussieht haben die Hunde ein Kleidungsstück ihrer Tochter gefunden.“ Viktor und Katharina von Assel sahen sich entsetzt an. „Ist dies ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?“ „Nun, wenn ich meine Kollegin richtig verstanden habe, handelt es sich um ein gestreiftes Schaltuch.“ „Sofia besitzt einige davon“, bekundete die Freifrau. „Wo wurde das Tuch gefunden?“, hakte Viktor von Assel nach. „An der Ruine, Aber wir wollen zunächst sicherstellen, dass es sich tatsächlich um das Tuch ihrer Tochter handelt. Oberkommissarin Jung ist bereits auf dem Weg hier her.“

Noch in derselben Minute läutete erneut das Telefon. „Bitte denken Sie an das Lebenszeichen“, erinnerte Kommissar Ovzarek. „Und versuchen Sie den Entführer so lange wie möglich hinzuhalten.“ Auf das Kopfnicken des Polizeibeamten nahm Viktor von Assel das Gespräch an. Sekunden gespannter Stille, Sekunden, die die Luft im Raum scheinbar zu elektrisieren schienen, Sekunden, die selbst den sonst so hart gesottenen Radezki vor Anspannung erstarren ließen. „Ach, du bist es Ludger“, löste sich das beklemmende Gefühl in Assels Brustkorb von einer Sekunde zur nächsten. „Nein, aus unserem Treffen wird leider nichts“, versuchte sich der Freiherr zu beherrschen. „Sei mir bitte nicht böse, aber ich habe jetzt keine Zeit, um es dir zu erklären.“ Der Hausherr beendete das Gespräch.

„Mein Bruder“, erklärte er den Ermittlern, während seine Hand das Glas mit dem Weinbrand ergriff. „Verzeihen Sie, es ist sonst nicht…“ Das Läuten des Telefons schnitt seine Worte ab, ließ Viktor von Assel in die Höhe schnellen und das Glas aus den Fingern gleiten. „Ich habe dir doch gesagt, dass ich dir im Augenblick nicht erklären kann, weshalb wir…“ Der Freiherr starrte den Hauptkommissar an. Seine Hand schob sich über das Mikrophon in seinem Telefon. „Es ist der Entführer“, flüsterte er kreidebleich. Kommissar Ovzarek hatte längst die Aufnahmetaste gedrückt. „Fragen Sie ihn nach einem Lebenszeichen“, erinnerte ihn Radezki leise. „Woher weiß ich, dass Sie meine Tochter wirklich in ihrer Gewalt haben?“, verhielt sich der Freiherr jetzt erstaunlich gefasst. „Ich will mit Sofia sprechen.“ Eine verzerrte Stimme dröhnte über den Lautsprecher des Telefons. „Haben Sie denn das Halstuch ihres Lieblings immer noch nicht gefunden? Ich habe es doch gut sichtbar an der Ruine abgelegt.“ „Ich will die Stimme meiner Tochter hören“, beharrte Viktor von Assel. „Hören Sie, ich mache keine Witze. Wenn Sie die Million nicht bis morgen Nachmittag um 18 Uhr beisammen haben, stirbt ihre Tochter!“ Der Anrufer beendete das Gespräch.

Damit war klar, dass der Mann am Telefon tatsächlich der Entführer der kleinen Sofia war, denn außer den Hundeführern und Oberkommissarin Jung wusste niemand vom Fund des Halstuchs.

„Haben Sie alles auf Band?“, erkundigte sich Radezki bei seinem jungen Kollegen. Dieser nickte beflissentlich. „Dann machen Sie eine Kopie und übermitteln Sie diese an die Kriminaltechnik.“ Ovzarek drückte demonstrativ auf eine Taste seines Laptops, während er den Kopf schüttelte. „Aber Herr Hauptkommissar, die Kopie ist doch längst rausgegangen.“

„Wie um Himmels Willen geht es denn jetzt weiter?“, vergrub von Assel sein Gesicht in den offenen Handflächen. „Haben Sie die Möglichkeit, das geforderte Lösegeld noch vor Ablauf des Ultimatums zusammenzubekommen?“ „Einfach wird es nicht, aber es müsste klappen“, nickte der Freiherr zuversichtlich. „Der Entführer wird sich noch einmal melden, um Ihnen Ort und Zeitpunkt der Übergabe mitzuteilen. Wir werden das Geld vorher präparieren und einen Peilsender installieren.“ „Nichts da!“, fuhr Katharina von Assel aufgebracht dazwischen. „Der Mann sagte, keine Polizei! Wenn er auch nur einen Polizisten sieht, wird er mein Kind töten!“ „Glauben Sie mir, gnädige Frau, wir wissen genau, was wir tun. Selbstverständlich halten wir uns ganz diskret im Hintergrund. Die Entführer werden uns nicht bemerken. Ich gebe Ihnen mein Wort darauf.“ „Viktor!“, flehte Katharina von Assel ihren Mann an. „Selbst wenn wir diesen Verbrechern das Geld aushändigen, haben wir keine Gewähr, dass sie Sofia freilassen.“ „Ihr Mann hat Recht, gnädige Frau. Die Geldübergabe ist unsere einzige Chance, die Entführer zu bekommen und Ihre Tochter zu befreien.“ „Ich habe entsetzliche Angst, Viktor.“ Der Freiherr nahm seine Frau in die Arme. „Ich auch, Katharina, aber der Hauptkommissar hat Recht. Wir müssen der Polizei vertrauen.“ Katharina sah ihren Mann aus angsterfüllten Augen an. „Unser Dornröschen darf nicht sterben!“

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Annähernd zwei Jahre später.

„…darauf hat der Kerl ebenso viel Lust wie ein Schwein aufs Messer“, verschaffte sich Trude in ihrer ganz eigenen Art etwas Luft. „Dieser Mann wird sich mit absoluter Sicherheit nicht in ärztliche Behandlung begeben.“ Nach allem, was mir Trude vom Ehemann ihrer besten Freundin erzählt hatte, konnte ich ihrer Einschätzung nur beipflichten. „Aber ihre Bekannte kann sich ebenso wenig weiter schlagen lassen“, gab ich zu bedenken. „Rosi will ihm die Pistole auf die Brust setzen. Entweder ihr Udo macht diese Antiaggressionstherapie oder sie reicht die Scheidung ein.“ „Das klingt doch eigentlich recht vernünftig“, stimmte ich dieser Idee zu, „…aber das wird nur funktionieren, wenn er gleichzeitig das Trinken aufgibt.“ „Genau das ist der Punkt“, pflichtete mir meine Putzsekretärin bei. „Der liebt seinen Stoff doch mehr als die Rosi.“

Ich stoppte meinen Wagen vor dem Haus, in dem die Fischers ihre Wohnung hatten. „Es wird nur einen Moment dauern“, versprach Trude. „Rosi hat bereits alles gepackt.“ „Soll ich nicht doch lieber mit reingehen?“ „Nein, nein, der Udo ist noch auf Arbeit.“ „Also schön, wie Sie meinen, Trude.“

Während meine Putzsekretärin in der Eingangstür verschwand, musste ich an meine Mutter denken, die über Jahre hinweg an einem Alkoholproblem litt. Ich dachte an meine Jugend und daran, wie gekonnt sie diese Krankheit vor mir und dem Rest der Welt zu verbergen suchte. Damals wusste ich nichts von einer Sucht, schämte mich nur für sie und versuchte es zu ignorieren. Später, als ihre Exzesse immer sichtbarer wurden, hasste ich sie dafür, wenn sie meine Freunde zum Mittrinken animierte. Als ich begriff, wer der Auslöser war, ließ sich mein Vater von uns scheiden. Ich habe ihn nie wieder gesehen.

Trude, ihre Freundin, zwei Koffer und etwa zehn Plastiktüten tauchten in der Haustür auf. Ich stieg aus und öffnete die Kofferraumklappe. „Na, das ging ja wirklich schnell“, lobte ich, die Sachen entgegennehmend. „Was geht denn hier ab?“, hörte ich plötzlich hinter mir eine Stimme, die wie aus dem Nichts auftauchte. „Ich habe dich gewarnt, Udo“, entgegnete Rosi mit zitternder Stimme. „Du nimmst deine Sachen und gehst sofort wieder ins Haus!“, befahl der Schläger. „Du kannst mich nicht mehr einschüchtern“, blieb Trudes Freundin standhaft. „Ich kehre erst dann zu dir zurück, wenn du dich geändert hast.“

„Du tickst ja wohl nicht richtig!“ Der Schläger griff sich den Arm der zierlichen Frau und versuchte sie mit sich zu ziehen. „Haben Sie nicht gehört, dass Ihre Frau erst einmal etwas Abstand zu Ihnen möchte?“ Er ließ von ihrem Arm ab und wandte sich mir zu. „Was willst du denn, du halber Hahn?“ „Nun, ich werde Ihre Frau mit Freuden bei ihrer Absicht unterstützen“, entgegnete ich gelassen. „Was soll das dämliche Gequatsche? Sieh zu, dass du Land gewinnst, Cowboy.“ Seine vorschnellende Hand stieß mir meinen Stetson herunter. Ich schüttelte verärgert mit dem Kopf. Trude schob derweil ihre Freundin ein Stück weit zur Seite. Sie wusste, wie friedliebend ich war, aber sie wusste auch, wie sauer ich werden konnte, wenn mir jemand den Stetson ruinierte.

„Hören Sie“, hielt ich mich dennoch zurück, „…wenn Sie jetzt vernünftig sind und Ihre Frau in Frieden ziehen lassen, werde ich diese Tätlichkeit vergessen.“ „Du hältst dich wohl für ein ganz pfiffiges Kerlchen, was?“ „Schön, dass Sie es verstanden haben“, lächelte ich ihm zu. „Also schön, du hast gewonnen. Nimm die Alte und werd mit ihr glücklich.“ Ich ließ ihn kommentarlos stehen, wandte mich von ihm ab und bückte mich nach meinem Stetson. Selbstverständlich war ich nicht so naiv zu glauben, dass die Sache damit erledigt sei. Sein Angriff erfolgte, als er keine Gegenwehr von mir erwartete. Wenn ich nicht im richtigen Augenblick mittels einer schnellen Drehung aus der gebückten in die aufrechte Position geschnellt wäre, hätte mich sein Fuß genau in der rechten Flanke erwischt. So trat der Grobian ins Leere und geriet seinerseits ins Straucheln. Ich nutzte den dadurch gewonnenen Vorteil und trat ihm von hinten in die Kniekehle des Standbeins, so dass er vollends vor meinem Stetson kniete.

„Und nun sollten Sie sich ganz genau überlegen, was Sie machen!“, warnte ich ihn eindringlich. Heißer Zorn hatte sein Gesicht rot eingefärbt. Er wusste nur zu genau, wie es ihm ergehen würde, wenn er auch nur seine Hand nach meinem Stetson ausstrecken würde. Der Schläger richtete sich mühsam auf und blickte mir hasserfüllt ins Gesicht. „Wir sprechen uns noch!“ Dann zog er ab, einen letzten wütenden Blick auf seine Ehefrau werfend.

„Man muss eine Menge Frösche küssen, ehe man einen Prinzen findet“, kommentierte Trude die Situation auf ihre Weise, nachdem ich den Wagen gestartet und den Weg zu ihrer Wohnung eingeschlagen hatte. „Bist du dir sicher, dass du diese Kröte zurückhaben möchtest?“ Rosie atmete tief durch. „Glaub mir, er war nicht immer so.“ „Aber zumindest solange ich ihn kenne.“ „Sind Sie sicher, dass ich Sie nicht in das Frauenschutzhaus bringen soll?“, fragte ich besorgt nach. „Ihr Mann machte nicht gerade einen einsichtigen Eindruck auf mich.“ Trude winkte ab. „Je tiefer der Teich, desto lauter quaken die Frösche. Nein, nein, Rosi wird fürs Erste bei mir wohnen. Wir werden schon mit ihm fertig.“ „Bist du dir wirklich sicher, Trude?“, kamen der Freundin Zweifel. „Ich möchte dich da in nichts hineinziehen.“ „Nichts da, es bleibt alles wie besprochen! Wozu hat man Freunde?“ „Auf jeden Fall nehmen Sie sich für den Rest des Tages frei, Trude.“

Ganz wohl war mir bei dem Gedanken nicht, die beiden Frauen allein vor der Wohnung meiner Putzsekretärin zurückgelassen zu haben, aber schließlich kannte ich Trude und ich wusste nur zu genau, wie energisch sie sein konnte. Abgesehen davon hatte ich mich mit Miriam auf einen Cappuccino verabredet. Wie immer wollten wir uns während ihrer Mittagspause im Cafe Klatsch treffen. Ein solches Vorhaben erforderte vor allem mittwochs enormes Glück, weil die Parkplätze in der Innenstadt vor allem an Markttagen ebenso dünn gesät waren wie Prinzen in einem Froschteich, um es mit Trudes Worten auszudrücken.

Ich war folglich spät dran, als ich endlich unser Stammcafé in der Wolfenbütteler Fußgängerzone erreichte. Zu meiner Verwunderung wartete meine Lebensgefährtin noch nicht auf mich. „War Miriam noch nicht da?“, erkundigte ich mich daher verwundert bei Anne. „Nein. Willst du auf sie warten?“ „Na, wo ich endlich einen Parkplatz gefunden habe, werde ich wenigstens einen Lento trinken.“ Diesen speziellen Milchkaffee gab es nur im Cafe Klatsch und nur für mich. „Sie wird sicher gleich kommen.“ „Das braucht sie nicht, es reicht, wenn sie erscheint“, witzelte ich. Anne verdrehte die Augen. „Spinner!“

Annähernd eine halbe Stunde saß ich an einem der Tische, die direkt an der großen Fensterscheibe standen und durch die Markise einen gewissen Schutz vor den immer wieder aufziehenden Schauern boten. Dieser Sommer hatte seinen Namen nun wirklich nicht verdient. Wer immer noch zu den Leuten gehört, die den Klimawandel nicht wahrhaben wollen, muss wohl als Ignorant gelten. Entweder es ist kalt und regnet oder es herrscht eine Affenhitze. Welche Faktoren auch immer diese Veränderung bewirken, normal ist das jedenfalls nicht.

Einzig amüsant waren zumindest die Leute, die ich auf der Flucht vor den besagten Schauern beobachten konnte. Während einer dieser Regengüsse niederprasselte, hastete meine Staatsanwältin eiligen Schrittes durch die Bärengasse kommend auf mich zu. Ihre Seidenbluse war völlig durchnässt und gab einen äußerst reizvollen Blick auf ihre weiblichen Kurven frei. „Oh, du trägst heute den BH mit den Spitzen?“, empfing ich sie grinsend. „Was, wieso?“, entgegnete sie kurzatmig, während sie sich neben mir niederließ. Ich reichte ihr meinen Stetson. „Hier, halte ihn dir vor die Brust.“ Miriams Stirn krauste sich, drückte Verwunderung aus, ehe ihr Blick dem meinen folgte. „Was ist los, du bist doch sonst nicht so prüde. Wenn ich mit einem Bikini am Strand liege, juckt es dich doch auch nicht!“ Ich schluckte trocken. Damit hatte ich nicht gerechnet. Mein griechischer Freund Jannis, der an dem Tisch direkt neben Miriam saß, konnte sich sein Schmunzeln nicht verkneifen.

„Warum bist du so spät?“, erkundigte ich mich, nachdem ich mich wieder gefangen hatte. „War ein schlimmer Vormittag. Ich komme direkt aus Baddeckenstedt.“ „Was um alles in der Welt machst du denn da?“ Miriam sah mich betrübt an. Es musste etwas Schlimmes geschehen sein, um sie derart aus der Fassung zu bringen. „Kennst du die Lichtenberge?“ „Gibt es da nicht so eine Burgruine?“ „Genau! Vor knapp zwei Jahren, also zu der Zeit, in der du im Koma lagst, wurde dort ein Kind entführt“, flüsterte Miriam. „Die Geldübergabe scheiterte allerdings. Die Entführer meldeten sich nicht mehr und das Mädchen blieb verschwunden. Bis heute Morgen. Ein Hund buddelte ihre skelettierte Leiche aus.“ „Steht denn schon fest, dass es sich um das Mädchen handelt?“, hakte ich interessiert nach. „Es gibt keinen Zweifel.“ „Wie könnt ihr so sicher sein?“ „Der Schmuck, den die ermittelnden Beamten am Leichnam sicherstellten, konnte eindeutig als der identifiziert werden, den die kleine Sofia bei ihrer Entführung trug.“ Ich wog nachdenklich den Kopf. „Ich weiß, was du sagen willst“, wertete Miriam meine Geste richtig. „Absolute Sicherheit gibt es natürlich erst nach der Obduktion.“

Ich atmete tief ein. „In der Haut des verantwortlichen Ermittlers möchte ich jetzt nicht stecken.“ „Du sagst es“, pflichtete mir Miriam bei. „Bei der Geldübergabe soll es wohl zu einer Panne gekommen sein.“ „Um welche Summe ging es denn damals?“ „Um eine runde Million.“ Ich stieß einen erstaunten Pfiff aus und bemerkte, wie sich die Ohren meines griechischen Freundes spitzten.

„Du kannst dir wahrscheinlich vorstellen, wie schwer es die Eltern der kleinen Sofia traf. Sie hatten dem Polizeieinsatz letztendlich zugestimmt. Ihre Ehe wäre fast daran zerbrochen.“ Ich stutzte. „Das hört sich so an, als würdest du die Familie kennen.“ „Viktor von Assel und ich besuchten dieselbe Uni. Als er dann an eine große Bank in Hannover wechselte, verloren wir uns aus den Augen.“ „Oho, da habe ich wohl Glück gehabt.“ Miriam winkte ab. „Wir waren gute Freunde“, meine Partnerin hielt inne, hing einen Moment lang ihren Gedanken nach, ehe sie seufzend hinzufügte: „…nicht mehr.“

Auch wenn mir die Neugier unter der Stirn brannte, hielt ich es für besser, zumindest im Augenblick, nicht näher in der Vergangenheit meiner erfolgreichen Staatsanwältin herumzurühren. „Er war nicht zu Hause, als ich seiner Frau die Nachricht vom Fund der Leiche überbrachte“, fuhr Miriam fort. „Das Ende all ihrer Hoffnungen muss für die Frau entsetzlich gewesen sein“, versuchte ich die Situation nachzuempfinden. „Der Tod des eigenen Kindes ist wohl die schwerste Prüfung die einem das Leben auferlegen kann.“ „Ich befürchte, dass sie noch eine Weile braucht, ehe sie akzeptieren und letztendlich loslassen kann.“ Wut kam in mir auf. „Ich werde nie begreifen, wie man sich an einem unschuldigen Kind rächen kann.“ „Der, der sich da für die Krönung der Schöpfung hält, ist in Wahrheit seine Perversion“, kommentierte mein griechischer Freund mit spitzer Zunge.

 

Personenspürhunde