Detektei Lessing

 

Band 45

 

Blutiger Honig

 

-1-

„Lucas, beeil dich jetzt bitte und denk an deine Sportsachen!“, rief Mareile ihrem Sohn zu. Es war nicht mehr als der allmorgendliche Wahnsinn, den die Familie Leipold an jedem Morgen eines jeden Werktags zelebrierte. „Ich habe keine Lust auf die endlosen Diskussionen mit deinem Sportlehrer.“ „Wenn ich nur wüsste, wo der Turnbeutel ist“, brummte Lucas bärbeißig.

„Hast du mein hellblaues Hemd gesehen, Schatz?“, erkundigte sich Johannes unterdessen bei seiner Frau. „Im Kleiderschrank, wo die anderen liegen“, erklärte Mareile im Vorbeigehen. „Aber da ist es nicht!“, reagierte der Rettungssanitäter verdrossen. „Bitte, ich bin spät dran!“, unterstrich er die Brisanz seines Anliegens. „Schmier nicht mit der Zahnpasta herum, Biene!“, ermahnte Mareile ihre Tochter. Während die Wohnung einem Irrenhaus glich, schien Sabine die Ruhe selbst zu sein. Sie summte, die Zahnbürste in ihrem Mund, fröhlich vor sich hin. „Du bist immer spät dran“, seufzte Mareile, während sie ihren Mann zur Seite schob und in den Schrank griff. „Hier, du Blindfisch.“

Kurze Zeit später saßen zumindest die Kinder am Frühstückstisch. Während Mareile für Lucas die Pausenbrote schmierte, schlürfte Johannes den wie immer viel zu heißen Kaffee. „Ich muss los, Schatz“, bekundete er in der üblichen Hektik. „Ich wünsche euch einen schönen Tag!“, rief er in die Runde, warf den Kindern einen Handkuss zu und nahm Mareile in den Arm. Kaum dass sich ihre Lippen berührten, sah er auch schon auf seine Armbanduhr. „Ich liebe euch. Bis heute Abend!“ Im nächsten Moment flog die Wohnungstür ins Schloss.

Zumindest für einen kurzen Augenblick kehrte so etwas wie Ruhe ein. Ein kurzes Durchatmen, ehe auch Mutter und Kinder die Wohnung verließen. Zunächst fuhr Mareile ihre Tochter in die Kita. Im Anschluss musste ihr Sohn zur Schule.

„Ich kann es nicht gutheißen, dass Sie ihrem neunjährigen Sohn eine derartige Verantwortung aufbürden“, wurde sie von einer der Erzieherinnen angesprochen. „Glauben Sie, mir ist wohl dabei?“, entgegnete Mareile. „Die Situation ist alles andere als akzeptabel“, mahnte die Kindergärtnerin. „Es ist nur eine Übergangslösung“, behauptete die Webdesignerin wider besseres Wissen. „Mein Mann und ich arbeiten bereits an einer Lösung.“ Die Erzieherin rümpfte die Nase. „Lange kann ich das nicht mehr hinnehmen.“ „Sie haben Recht“, stimmte ihr Mareile zu. „Ich melde mich.“

„Ich komme bestimmt zu spät in die Schule“, empfing Lucas seine Mutter. „Wenn ich einen Eintrag bekomme, ist es nicht meine Schuld.“ „Du wirst schon noch rechtzeitig da sein“, beruhigte Mareile ihren Sohn und trat aufs Gaspedal. „Sag mal, hat dich die Frau Bräutigam schon mal angesprochen, wenn du Biene abholst?“ „Das macht die ständig, aber ich sag schon nichts“, entgegnete Lucas erwachsen. „Ich lass mich doch nicht von der aushorchen.“ Mareile seufzte. „Ich fürchte, wir müssen uns eine andere Lösung einfallen lassen. Frau Bräutigam hat leider Recht. Wir hatten nur Glück, dass bisher nichts passiert ist.“

Lucas sah seine Mutter fragend an. „Willst du aufhören zu arbeiten?“ „Das können wir uns nicht leisten und davon abgesehen macht mir mein Beruf Spaß. Nein, aber vielleicht kann ich eine dreiviertel Stelle daraus machen“, sinnierte Mareile. Das Fragezeichen in Lucas Gesicht wurde intensiver. „Wie kann man zu einem dreiviertel Teil zur Arbeit gehen?“ „Ich würde dann nur noch sechs Stunden am Tag arbeiten“, erklärte die Frau hinter dem Lenkrad. „Das wäre doch prima“, befand Lucas, während der Wagen vor seiner Schule stoppte und er ausstieg. „So machen wir es.“ „Ich muss mit deinem Vater und mit meinem Chef sprechen“, bremste Mareile den Enthusiasmus ihres Sohnes. „Vergiss deinen Turnbeutel nicht“, erinnerte sie ihn. „Ich wünsche dir einen schönen Tag.“ „Dir auch, Mama. Bis nachher.“

Lucas verstand gar nicht, weshalb alle plötzlich einen solchen Alarm um die Sache machten, er war doch kein kleines Kind mehr. Weshalb sollte er seine Schwester auf einmal nicht mehr von der Kita abholen und auf sie aufpassen? Zugegeben, hin und wieder war Biene nervig und manchmal sogar anstrengend, aber es war ja nur bis seine Mutter von der Arbeit kam. Er hatte sich immer eine kleine Schwester gewünscht, um sie zu beschützen und ihr alles beizubringen.

„Hi, Lucas“, riss ihn Hannes aus den Gedanken. „Hast du Mathe?“ Lucas verdrehte die Augen. Sein Klassenkamerad war, was Mathe betraf, weiß Gott nicht die hellste Kerze auf der Torte. „Hast du die Aufgaben nun oder nicht?“ „Musst du in der Pause abschreiben, jetzt ist es schon zu spät.“ Das Läuten zur ersten Stunde bestätigte seine Annahme. Der Unterricht begann.

So schnell wie der Morgen verging auch der Vormittag und die Klingel signalisierte das Ende der letzten Schulstunde. Lucas packte seine Sachen zusammen und beeilte sich, um rechtzeitig zur Kita zu gelangen. „He, warte doch mal!“, rief ihm Hannes auf dem Schulhof nach. „Kommst du heute Nachmittag auf den Bolzplatz? Lars und Clemens sind auch dabei.“ „Ich habe jetzt keine Zeit, aber ich versuche es“, freute sich Lucas. „Wenn du einer von uns sein willst, kommst du“, ließ Hannes keine Ausrede zu. „Okay, aber es könnte später werden.“

Kurz darauf fand sich Lucas im Kindergarten ein. Biene war bereits fertig angezogen und wartete auf ihn. „Hallo Frau Bräutigam, ich habe mich beeilt, aber es ist wohl doch etwas später geworden“, entschuldigte sich der Neunjährige. „Das ist ja nichts Neues“, seufzte die Erzieherin, während sie einige Spielgeräte zur Seite räumte. „Aber das geht wohl eher auf das Konto deiner Eltern.“

Lucas war froh, als er die Kita verlassen hatte und mit seiner Schwester an der Hand auf dem Heimweg war. Wie immer kamen sie dabei auch an dem Kinderspielplatz an der Swinestraße vorbei. Sabine riss sich von ihrem Bruder los und lief zur Rutsche, wo sie über die Stufen nach oben stieg. „Mensch Biene, muss das sein?“, rief ihr Lucas nach. „Nur ein bisschen“, entgegnete sie gedehnt. „Biiiiitte.“ So klein wie sie war, wusste sie schon genau, wie sie ihren großen Bruder um den Finger wickeln konnte. Es hätte nicht einmal des Blickes bedurft, den sie nun noch folgen ließ. Lucas konnte ihr eh kaum etwas abschlagen. Als dann auch noch sein Handy klingelte, stimmte er der Bitte seiner Schwester zu und setzte sich auf eine der Bänke, die sich unweit des Sandkastens befanden.

Während er mit Clemens wegen ihres Treffens am Nachmittag telefonierte, sah er immer wieder zu seiner Schwester hinüber. Offenbar wollte sich Hannes nur über ihn lustig machen. „Den habe ich die längste Zeit bei mir abschreiben lassen“, ärgerte sich Lucas. Er bedankte sich bei Clemens und versprach ihm, Hannes nicht zu sagen, dass er den vermeintlichen Freund verpfiffen hatte.

Nachdem Lucas das Gespräch beendet hatte, sah er wieder zur Rutsche hinüber, doch Biene war nicht zu sehen. Während seine Blicke in alle Richtungen nach ihr suchten, stand er auf und lief zur Rutsche hinüber. Die Befürchtung, sie sei von einem der Klettergerüste gefallen erwies sich sehr schnell als falsch. Da er Biene nirgends sah, verfiel er in Hektik und nur wenige Atemzüge später in Panik.

Er begann nach seiner Schwester zu rufen, immer lauter, immer flehentlicher, immer ängstlicher, so dass sich seine Stimme überschlug. Er rannte von einer Ecke des Spielplatzes zur anderen, suchte, rief und begann zu weinen. Längst suchte er auf dem angrenzenden Parkplatz. Wenn du verstecken spielen willst, komm heraus. Das ist kein Spaß mehr!“, flehte er. „Ich sage auch nichts Mama. Du bekommst auch keinen Ärger, aber komm jetzt heraus.“

Im selben Augenblick erschrak er bis ins Mark. Eine Hand legte sich auf seine Schulter. „Was ist denn los, mein Junge?“, erkundigte sich ein Mann, den er noch nie gesehen hatte. „Meine Schwester“, stammelte Lucas völlig außer Atem. Das Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Sie ist weg!“ „Wie alt ist denn deine Schwester?“, fragte der Mann mit ruhiger Stimme. „Sie ist erst vier!“, entgegnete Lucas aufgeregt. „Nun beruhige dich erst einmal. Wir werden sie schon finden. Ich helfe dir suchen.“ Dankbar deutete Lucas zum Spielplatz hinüber. „Sie spielte die ganze Zeit dort drüben an der Rutsche. Ich habe nur einen Moment lang telefoniert. Dann war sie verschwunden.“

„Wahrscheinlich hatte sie keine Lust mehr und ist nach Hause gelaufen“, vermutete der Mann nach einer Weile intensiver Suche. „Wohnt ihr hier in der Gegend?“ „Ja, in der Peenestraße. Vielleicht haben Sie ja Recht und Biene ist längst zu Hause.“ „Ich habe jetzt leider keine Zeit mehr, aber du wirst sehen, es klärt sich bestimmt alles auf. Deine Schwester wartet sicherlich schon auf dich.“ Die letzten Worte hatte ihm der Mann nachgerufen, weil Lucas längst losgelaufen war.

Er hoffte so sehr, dass seine Schwester bereits vor der Haustür auf ihn wartete, dass er gar keinen anderen Gedanken mehr zulassen konnte. Sie musste einfach dort sein, weil er sich nichts mehr auf der Welt wünschte. Wie grausam die Realität für ihn war, als er um die letzte Ecke bog und Sabine nicht vor dem Haus sah, lässt sich nur erahnen. Ein letzter Hoffnungsschimmer zerplatzte wie eine Seifenblase, als er durch das Treppenhaus eilte und sie auch nicht vor der Wohnungstür saß. Er schloss die Tür auf und rief seinen Vater an.

-2-

Den ganzen Nachmittag, die Nacht und auch am nächsten Tag wurde das gesamte Viertel und die angrenzende Kleingartensiedlung wieder und wieder nach Sabine durchsucht. Lucas musste den Polizeibeamten alles genau beschreiben, ihnen die Rutsche und den Ort zeigen, von wo aus er seine Schwester beim Spielen beobachtet hatte. Sogar ein Suchhund wurde eingesetzt. Er führte die Polizei auf den angrenzenden Parkplatz, wo Lucas auf den Mann getroffen war, der ihm bei der Suche nach Sabine geholfen hatte. Als er dem Polizisten davon erzählte, wurde dieser ganz hellhörig.

„Was für ein Mann?“, stutzte er. „Wo kam der denn her?“ „Er stand plötzlich neben mir, als ich auf dem Parkplatz suchte“, erklärte Lucas. „Weißt du noch, wie er aussah?“, wollte der Polizist von ihm wissen. Lucas zuckte mit den Schultern. „Tut mir leid, ich kann mich nicht erinnern.“ „Das macht nichts“, beruhigte ihn Kommissar Surbier. „Was hat der Mann gemacht? Was hat er zu dir gesagt?“ „Er hat mich getröstet und hat mit mir nach meiner Schwester gesucht. Ach ja, er sagte, dass Sabine bestimmt schon zu Hause auf mich wartet.“ „Hat er dich auch nach Hause begleitet?“, hakte Surbier nach. „Nee, er musste weg.“

Der Kommissar machte sich eifrig Notizen. Der Mann konnte ein wichtiger Zeuge sein. „Ist er mit einem Auto weggefahren?“, fragte er weiter. „Ja, ich sah noch, wie er in einem Dacia Sandero an mir vorbeifuhr.“ Surbier war überrascht. „Du kennst dich aber gut aus. Kannst du dich auch an die Farbe oder das Kennzeichen erinnern?“ Lucas sah den Kommissar schuldbeladen an. „Es tut mir leid, aber ich weiß nur noch, dass der Wagen schwarz war.“ „Alles gut“, beruhigte ihn Surbier, „...woher solltest du auch wissen, dass es wichtig werden sollte? Ich hätte den Mann nur gern befragt.“

Im selben Moment bekam Lucas mit, wie einer der Polizisten davon sprach, dass Sabine in einen Wagen gestiegen sein musste. Die Spur seiner Schwester verlor sich mitten auf dem Parkplatz. „Biene wäre nie in ein fremdes Auto eingestiegen. Dazu hatte sie viel zu viel Angst vor Fremden“, erklärte Lucas. „Das stimmt“, pflichtete ihm Johannes Leipold, der Vater der Vermissten, bei. „Wir haben den Kindern schon früh eingetrichtert, dass sie mit niemandem mitgehen sollen oder zu dicht an ein fremdes Auto herantreten.“

„Sehen Sie sich um“, forderte der Kommissar den Mann auf. „Ringsherum gibt es etliche Balkone, von denen Menschen heruntersehen. Ich bin mir sicher, wenn jemand gesehen hätte, wie ein kleines Mädchen gegen ihren Willen verschleppt wurde, hätte sich diese Person längst bei uns gemeldet. Meine Kollegen sind von Wohnung zu Wohnung gegangen und haben jeden einzelnen befragt. Niemandem ist etwas aufgefallen.“

„Sie wollen damit sagen, meine Tochter sei freiwillig mitgegangen?“, überlegte Johannes Leipold. „Es sieht ganz so aus. Er nahm ihn zur Seite, damit Lucas ihnen nicht zuhören konnte. „Ich kann nicht ausschließen, dass es sich bei dem Entführer um jemanden handelt, den Sabine kennt.“ „Die Erfahrung zeigt leider, dass es sehr oft vertraute Personen sind, denen niemand eine solche Tat zutrauen würde.“ Angesichts der Worte des Kommissars drängte sich ein Gedanke in den Vordergrund von Leipolds Überlegungen. Bislang hatte er diese Möglichkeit verdrängt, um nicht vollends die Fassung zu verlieren.

„Biene wurde doch nicht etwa entführt, um sie...“ Er konnte nicht weitersprechen. Die Worte waren ihm buchstäblich im Hals stecken geblieben. Allein der Gedanke daran erschien ihm so ungeheuerlich, dass ihm die Tränen in die Augen traten. „Ich will ehrlich zu Ihnen sein, Herr Leipold. Eine solche Tat ist nicht auszuschließen. Aber im Augenblick sollten Sie sich nicht verrückt machen. Zum jetzigen Zeitpunkt ist nichts unmöglich. Vielleicht klärt sich noch alles zum Guten.“

Johannes Leipold atmete schwer. Die sicherlich gut gemeinten Worte des Kommissars konnten ihn nicht beruhigen, geschweige denn über all die entsetzlichen Bilder hinwegbringen, die sich in seinem Kopf manifestierten. Alles, was seit dem Verschwinden seiner geliebten Tochter über ihn hereingebrochen war, schien wie ein riesiger, ständig wachsender Betonklotz auf seiner Brust zu liegen. Längst war er kaum noch fähig, auch nur einen einzigen logischen Gedanken zu fassen. Er funktionierte nur noch, das heißt, sein Körper funktionierte, alles andere in ihm schien wie abgestorben.

Während er mit seinem Sohn an der Hand neben dem Kommissar zu seiner Wohnung zurückkehrte, hoffte er darauf, endlich aus diesem entsetzlichen Alptraum zu erwachen, doch als er seine völlig erschütterte Frau im Wohnzimmer auf dem Sofa liegen sah, war ihm klar, dass es kein Happy End geben würde. Mareile schien apathisch, irgendwie abwesend. Als sich Johannes auf dem Sofa neben ihr niederließ, um sie in den Arm zu nehmen, schob sie seine Hand zur Seite und drehte sich von ihm weg.

„Ich habe deiner Frau etwas zur Beruhigung gegeben“, erklärte die Notärztin. „Ich kümmere mich jetzt um euren Sohn.“ „Danke, Roxana“, entgegnete Johannes. In seiner Wohnung herrschte ein scheinbar wahlloses Durcheinander. „Sind Sie einverstanden, wenn wir eine Mithöreinrichtung an Ihrem Telefonanschluss anschließen?“, erkundigte sich ein Techniker. „Wozu das?“, verstand Johannes den Grund dafür nicht. „Für den Fall, dass der oder die Entführer Lösegeld fordern“, erklärte Surbier beruhigend.

Jo sah den Kommissar verwirrt an. „Aber bei uns ist doch gar nicht viel zu holen.“ „Falls es eine Forderung gibt, wissen die Täter ganz genau, dass Sie sich längst an die Polizei gewandt haben. Wenn kein Vermögen vorhanden ist, springt der Staat ein. Das Leben Ihres Kindes hat höchste Priorität.“ „Dann wäre es gut, wenn eine Lösegeldforderung gestellt wird?“, schöpfte Johannes Hoffnung. „Sie kennen die Notärztin?“, bemühte sich Surbier um etwas Ablenkung. „Ich bin Rettungssanitäter“, erklärte der Sechsunddreißigjährige. „Wir fahren öfter zusammen raus.“ Der Kommissar nickte.

„Wir sind dann so weit, Herr Kommissar“, unterbrach der Techniker ihr Gespräch. „Gut.“ „Am besten Sie erklären Herrn Leipold, wie er sich verhalten soll, wenn das Telefon klingelt“, schlug der Mitarbeiter der Kriminaltechnik vor. Surbier nickte und erklärte, wie sich Johannes am Telefon verhalten sollte. „Wichtig ist, dass Sie den Anrufer solange wie möglich in der Leitung halten, damit meine Leute den Anschluss lokalisieren können“, schloss Surbier mit seinen Ausführungen.

Jo hatte es in seinem Beruf mit so mancher Herausforderung zu tun. Dabei war er es gewohnt, ruhig und besonnen zu bleiben, aber diese Situation war etwas völlig anderes. Somit reagierte er nicht anders als jeder andere in einer vergleichbaren Situation. „Brauchst du auch was zur Beruhigung?“ Jo schüttelte den Kopf. „Ich muss bei klarem Verstand bleiben“, entgegnete er. „Wie geht es Mareile?“ „Sie schläft jetzt, aber Lukas macht sich schwere Vorwürfe. Du solltest unbedingt mit ihm sprechen.“ „Ich weiß, er gibt sich die Schuld, weil er nicht genug auf seine Schwester aufpasste.“ „Ich habe ihm ein leichtes Sedativum gegeben.“ Jo nickte dankbar. „Wenn es dir recht ist, schaue ich nach meiner Schicht noch mal vorbei“, sagte ihm die Notärztin zu. „Das brauchst du nicht. Sollte etwas sein, melde ich mich.“ „Wie du willst.“

Die Nacht verging, ohne dass sich die Entführer meldeten. Für Lucas waren es Stunden, in denen er immer wieder aus dem Schlaf schreckte. In der Hoffnung, er würde sich etwas beruhigen, hatte ihn Johannes schließlich zu Mareile ins Bett gelegt. Er selbst war irgendwann auf dem Sofa eingeschlafen. Der Polizeibeamte von der Kriminaltechnik hielt sich mit einer Kanne Kaffee vor dem Fernsehgerät wach. Im Laufe des Morgens klingelte dann das Telefon.

Johannes schreckte aus dem Schlaf. Er war sofort hellwach. Nachdem der Techniker einige Tasten seines Laptops gedrückt hatte, gab er Jo das Zeichen, das Gespräch anzunehmen. Adrenalin schoss ihm ins Blut, ließ seine Halsschlagader aufgeregt pochen. „Leipold“, meldete er sich mit belegter Stimme. „Meine Frau? Ach so ja. Nein, sie ist krank.“ Die Anspannung fiel schlagartig von ihm ab. „Sie meldet sich, wenn sie beim Arzt war.“

Der Techniker hatte sofort bemerkt, dass es sich nicht um den erwarteten Anruf der Entführer handelte und die Aufnahme abgebrochen. „Die Arbeitsstelle Ihrer Frau?“ „Ja, Mareile vergaß sich krankzumelden.“ „Man wird dort sicherlich für Ihre Situation Verständnis haben“, beruhigte ihn Ralf Marschall. „Übrigens ist es gut, dass Sie nichts von der Entführung gesagt haben“, lobte ihn der Techniker. „Sie sollten es in den nächsten Tagen auch dabei belassen. Sie würden einen ziemlichen Medienrummel damit auslösen, was unsere Arbeit nur zusätzlich erschweren würde. Überdies könnte es die Entführer unter Druck setzen.“ Jo nickte.

Der Vormittag wurde von unsäglichem Warten und von quälender Angst geprägt. Johannes spürte, wie sehr Lucas unter seiner vermeintlichen Schuld litt und er bemühte sich sehr, ihm dieses Gefühl zu nehmen, aber Jo spürte auch, dass er mit seinen Worten nicht wirklich zu ihm durchdrang. Mareile befand sich nach wie vor in einer Art Trance. Sie lag auf ihrem Bett und starrte stoisch an die Decke. Seine Versuche, mit ihr zu sprechen oder sie in den Arm zu nehmen, blockte sie, indem sie sich von ihm wegdrehte.

„Ich weiß, wie beschissen es dir gerade geht, mir geht es selbst genauso, aber wir müssen jetzt auch für Lucas stark sein“, bekniete Johannes seine Frau. „Für Lucas? Er ist doch schuld an allem! Hätte er besser auf Biene geachtet, wäre sie jetzt noch bei uns. „Du kannst doch einem neunjährigen Kind keine Vorwürfe machen“, beschwor er sie. „Lucas braucht dich jetzt. Du musst ihm klarmachen, dass du ihn nicht dafür verantwortlich machst.“ Mareile wich dem flehentlichen Blick ihres Ehemannes aus und drehte sich herum. „Das kann ich nicht.“

-3-

Als sich die Entführer auch nach einer Woche nicht gemeldet hatten und es trotz intensiver Suche keine Spur von Sabine gab, änderte die Polizei die Art ihrer Ermittlungen. „Wir müssen leider davon ausgehen, dass es dem oder den Tätern bei der Entführung Ihrer Tochter nicht um Lösegeld geht“, erklärte Kommissar Surbier, während sein Kollege Marschall das Equipment für die Fangschaltung abbaute.

„Sie haben nicht das geringste bewirken können!“, schrie Mareile den Ermittler an. „Die Entführer haben sich nur deshalb nicht gemeldet, weil sie gemerkt haben, dass sich die Polizei eingeschaltet hat!“ Surbier zeigte Verständnis für die Vorwürfe, die sie im Kummer und aus Verzweiflung gesagt hatte. „Glauben Sie mir, Frau Leipold, wir haben alles Erdenkliche getan, um Sabine zu finden“, rechtfertigte sich Surbier. „Sie haben einfach nicht genug getan!“, warf ihm Mareile lautstark vor, um im nächsten Moment in sich zusammenzubrechen, „…sonst hätten Sie mein kleines Mädchen gefunden.“

Im Kriminalkommissariat Braunschweig wurde eine zehnköpfige Soko mit dem Namen ‚Biene‘ eingerichtet. Die Ermittlungen wurden nun auf eine andere Ebene gehoben. Mehrere Teams befragten nochmals und mit allem Nachdruck die Anwohner rund um den Spielplatz und die angrenzende Parkfläche. Eine Hundestaffel durchkämmte ein weiteres Mal die Kleingartenanlage. Parallel wandten sich die Ermittler nun mit einem Foto der Vermissten an die Öffentlichkeit.

In den darauffolgenden Tagen gingen hunderte Hinweise von Leuten ein, die Sabine an den unterschiedlichsten Orten gesehen haben wollten. Keine dieser Informationen erbrachte eine Spur oder einen Ermittlungsansatz. Im Gegenteil, die sicherlich gut gemeinten Hinweise sorgten lediglich dafür, dass die Kräfte der Polizei über Tage wegen der Überprüfungen gebunden waren.

Vor dem Haus der Familie Leipold fanden sich Tag für Tag Journalisten, Fotografen und in dessen Sog etliche Schaulustige ein. Nachbarn nutzten die Gelegenheit, um im Rampenlicht der Medien zu stehen. Sie machten der Familie Vorwürfe, weil das kleine Mädchen angeblich vernachlässigt wurde. Alles sei nur eine Frage der Zeit gewesen, bis es zu einer solchen Tat kam. Andere behaupteten sogar, die Wohnung der Leipolds sei verwahrlost und die Kinder bekämen kein regelmäßiges Essen. So verzog sich das Bild in der Öffentlichkeit.

Bekannte, die der Familie nahegestanden hatten, mieden die Leipolds. Freunde, die es hätten besser wissen müssen, zogen sich zurück. Eine Situation, die Mareile nervlich stark unter Druck setzte. Letztlich gab es nur wenige Menschen, die nach wie vor zu ihnen standen. Leider gehörte der Chef der psychisch angeschlagenen Frau nicht dazu. Als sie zwei Monate später ihre Arbeit wieder aufnehmen wollte, um sich auf diese Weise wieder etwas Ablenkung zu verschaffen, wurde sie gekündigt. Da ihr die Kraft zum Widerstand fehlte, flüchtete sie sich letztlich in den Alkohol.

„Verdammt noch mal, so geht es nicht weiter, Mareile!“, stürmte Johannes in das gemeinsame Schlafzimmer. „Du kannst dich nicht den ganzen Tag in dein Bett verkriechen und dich volllaufen lassen.“ Er zog die Rollläden hoch und riss das Fenster auf. Die grelle Nachmittagssonne flutete den Raum. Eine Dunstwolke abgestandener von Alkohol durchtränkter Luft waberte nach draußen. „Du kannst dich nicht länger so gehen lassen! Es ist verständlich, wenn du nicht so tun kannst, als wäre alles in Ordnung, aber wenn du jetzt nicht aufstehst und dich in unser Leben zurückkämpfst, wird es keine Zukunft mehr für uns geben.“ „Was für eine Zukunft?“, entgegnete Mareile verächtlich.

Jo setzte sich zu ihr auf das Bett und strich über ihr verschwitztes Haar. „Was zum Teufel ist nur aus dir geworden? Du pflegst dich nicht mal mehr.“ Sie sah ihn trivial an und lächelte zynisch. „Kein Mensch verlangt, dass du dich länger mit mir abgibst.“ Johannes wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Er schluckte ihre Worte hinunter und schuldete sie ihrer momentanen psychischen Verfassung.

„So schlimm die Umstände im Augenblick auch sein mögen“, unternahm er einen weiteren Versuch, seine Frau zu motivieren, „…wir müssen uns für den Moment mit der Realität abfinden und für Lucas stark sein.“ „Ich soll mein Mädchen einfach so vergessen?“, fuhr Mareile ihn an. „Das hat doch niemand gesagt“, rückte Jo seine Worte ins rechte Licht. „Wir werden niemals daran zweifeln, dass Biene zu uns zurückkehrt und keiner von uns wird sie je vergessen, aber wir haben noch ein zweites Kind, das uns genauso braucht.“

„Ich kann das nicht“, schüttelte Mareile den Kopf. „Was um Himmels Willen kannst du nicht? Willst du wirklich, dass die Leute mit ihren Behauptungen Recht haben?“ „Mir ist doch scheißegal, was die Leute von uns sagen.“ „Sollte es aber nicht, weil sonst irgendwann das Jugendamt vor unserer Tür steht und sie uns Lucas wegnehmen.“ „Vielleicht wäre das gar nicht so schlecht“, sinnierte Mareile. „Als Mutter habe ich doch sowieso versagt.“

Die nächsten Wochen vergingen, ohne dass sich etwas grundlegend veränderte. Während Johannes weiter zur Arbeit ging, um das Leben fremder Menschen zu retten, entglitt ihm das eigene mehr und mehr. Irgendwie schaffte er es neben seinem Job für Lucas und seine Frau da zu sein und sich gleichzeitig um das tägliche Einerlei zu kümmern. Dass er dabei mehr und mehr an seine eigene Grenze kam, war ihm zwar bewusst, aber ebenso wenig veränderbar.

Es war ein Sonntag, als Kommissar Surbier unvermittelt vor der Wohnungstür der Familie Leipold stand. Als der Ermittler Jo in die Augen sah, war dem Rettungssanitäter klar, dass Sabine gefunden worden war. „Die Polizei in Lehrte hat eine weibliche Kinderleiche gefunden“, flüsterte er Jo zu. „Das Mädchen war unbekleidet“, fuhr er fort. „Moment, wir gehen besser ein Stück“, schlug Johannes vor, während er nach seiner Jacke griff. „Wer ist es denn, Papa?“, erkundigte sich Lucas vom Wohnzimmer her. „Ich muss kurz weg“, entgegnete sein Vater. „Du darfst solange weiterspielen.“

Nachdem die Männer das Haus verlassen hatten, zündete sich Johannes eine Zigarette an. „Haben Sie schon immer geraucht?“, erkundigte sich der Kommissar. „Ich habe es mir leider angewöhnt. Danke, dass Sie Rücksicht auf meine Familie nehmen. Lucas ist gerade wieder etwas gefestigt. Meiner Frau geht es nach wie vor schlecht.“ „Haben Sie es schon mit einem Psychologen versucht?“, hakte Surbier nach. „Sie blockt da völlig ab.“ Der Kommissar nickte mitfühlend. „Ich kann Ihnen die Identifikation Ihrer Tochter leider nicht ersparen“, kam er auf den Grund seines Besuchs zurück. „Muss meine Frau dabei sein?“ „Nicht zwingend, aber wollen Sie ihr wirklich die Möglichkeit nehmen, sich von ihrem Kind zu verabschieden?“ „Ich bin mir unsicher“, seufzte Jo. „Was meinen Sie denn?“

Der Kommissar tat sich mit der Antwort schwer. „Das Gesicht des Mädchens gleicht dem Foto Ihrer Sabine, aber das Mädchen war aufgrund des Auffindeorts in einem Wald leider nicht nur der Witterung ausgesetzt.“ Der Rettungssanitäter hatte bei seiner Arbeit schon so manche blutende Wunde im Gesicht der Opfer gesehen, aber in dieser Situation, wo es sich um das eigene Kind handelte, musste er zunächst einige Male tief durchatmen, ehe er dem Kommissar antworten konnte.

„Bitte verstehen Sie, dass ich jetzt vor allem an meine Frau denken muss. Ich möchte sie auf keinen Fall in ein erneutes Trauma stürzen.“ „Gut, das muss ich natürlich akzeptieren“, lenkte der Kommissar ein. „Wann soll die Identifikation stattfinden?“, erkundigte sich Johannes. „Am besten jetzt gleich“, überraschte ihn Surbier. „Also gut, dann sage ich nur schnell Bescheid.“

„Ich muss leider noch mal weg“, verkündete Jo, kaum dass er die Wohnung wieder betreten hatte. „Och man, ich dachte wir spielen zusammen mit der Play Station“, reagierte Lucas enttäuscht. „Es tut mir wirklich leid, aber es ist wichtig“, erklärte sein Vater. „Ich bin bald zurück, dann spielen wir, versprochen.“ „Was soll ich denn Mama sagen, wenn sie aufwacht?“, erkundigte sich der Junge. „Sag einfach, du weißt von nichts.“ Damit griff sich Jo seine Jacke und verließ die Wohnung.

Kaum dass er das Haus verlassen hatte, betrat Mareile das Wohnzimmer. „Wo ist dein Vater?“ „Der musste noch mal weg“, entgegnete Lucas, während er sich mehr auf das Spiel konzentrierte. „Wohin?“ „Keine Ahnung.“ Als Mareile daraufhin aus dem Fenster blickte, sah sie gerade noch, wie Ihr Mann in das Auto des Kommissars stieg und davonfuhr. Ein entsetzlicher Gedanke schoss ihr durch den Kopf. Sie griff zum Telefon und wählte die Nummer des Kommissariats. „Ich möchte Surbier sprechen.“ Die freundliche Stimme in der Vermittlung erklärte ihr, dads der Kommissar sein Handy vorübergehend ausgeschaltet hatte. Da Mareile jedoch nicht lockerließ und ihren Anruf äußerst dringend machte, verriet ihr die Sekretärin, wo sie Surbier erreichen konnte.“

Mareiles Befürchtungen hatten sich bestätigt. Biene war gefunden worden, sie war tot und Johannes sollte sie nun identifizieren. Ohne sie und ohne ihr etwas zu sagen. Sie überlegte, wie sie darauf reagieren sollte und fasste den Entschluss, ihrem Mann zu folgen. Nicht einen einzigen Gedanken verschwendete sie in diesem Moment auf Lucas, mit keinem Gedanken suchte sie nach dem Grund für die Entscheidung ihres Mannes. Er war ohne sie in die Rechtsmedizin gefahren. Das würde sie ihm nie verzeihen.

Minuten später saß sie in ihrem Wagen und fuhr in Richtung Celler Straße. Das Institut war ihr von einigen Wartungsarbeiten bekannt. Damals führte sie diese im Auftrag ihrer Firma am Server der Rechtsmedizin durch. Aber das lag hinter ihr, war in einem anderen Leben.

„Sie sagten vorhin, Sabine wurde in einem Wald gefunden“, erinnerte sich Johannes, während der Kommissar seinen Dienstwagen auf den Parkplatz neben dem Institut steuerte. „Das ist richtig“, bestätigte er. „Hatte man sie verscharrt?“ „Nein, der Hund eines Spaziergängers fand sie, versteckt unter einigen Zweigen“, erklärte Surbier. „Ich kann nicht begreifen, wie Menschen so etwas tun können“, schüttelte Johannes den Kopf. „Mir geht es oftmals ebenso“, bekundete der Kommissar mitfühlend. „Ich war schon mehrfach so weit, dass ich meinen Beruf aufgeben wollte.“ „Das glaube ich Ihnen. Was hielt Sie davon ab?“ „Der Wille, all diese Wahnsinnigen für viele Jahre, wenn nicht für immer aus dem Verkehr zu ziehen“, entgegnete Surbier entschlossen.

„Wenn Sie so weit sind, sollten wir hineingehen“, schlug der Kommissar vor. Johannes nickte ihm zu. „Kein leichter Gang, aber wohl unausweichlich.“ „Falls Sie drinnen noch etwas Zeit brauchen, bevor der Pathologe das Laken zurückzieht, sagen Sie es ruhig. Sie allein bestimmen das Tempo“, bemühte sich der Kommissar, seinen Begleiter auf die Situation vorzubereiten.

„Guten Tag, Doktor Schnippler“, begrüßte Surbier den Rechtsmediziner. Johannes starrte den Mann im weißen Kittel entsetzt an. Was diesem nicht verborgen blieb. Eine Reaktion, die er bei gleichen Anlässen häufiger erleben musste. Letztlich konnte er nichts für seinen Namen. Er nahm sich dennoch vor, bei Gelegenheit mit dem Kommissar darüber zu sprechen. „Wenn Sie mir bitte folgen wollen“, löste der Mediziner die Situation gekonnt auf.

Vor den Verwahrungsschränken angekommen, öffnete er das Fach mit der Nummer 3 und zog den Schlitten mit der Bahre heraus. „Die 3 ist Ihre Glückszahl“, seufzte Johannes. Surbier hatte einen Kloß im Hals. „Sind Sie bereit?“, erkundigte sich Doktor Schnippler rücksichtsvoll. Jo nickte ihm angespannt zu.

„Was machst du hier, Johannes?“, stürmte Mareile in den Saal. Sie war außer sich, riss ihren Mann herum und schlug ihm ins Gesicht. „Wie kannst du es wagen, mir nichts davon zu sagen?“ „Wir wissen doch noch gar nicht, ob es sich tatsächlich um Ihre Tochter handelt“, griff Surbier ein. „Ihr Mann wollte Sie nur nicht unnötig belasten.“ „Unnötig?“, fauchte sie den Kommissar an. „Ich will mit eigenen Augen sehen, ob dort mein Kind liegt.“ „Tu dir das nicht an, Schatz“, warnte Jo seine Frau. Doch die riss wie von Sinnen das Laken zurück.

Für die Dauer eines Atemzugs herrschte absolute Stille im Saal 2. Im nächsten Moment musste sich Mareile übergeben. Geistesgegenwertig zog Jo seine Frau zur Seite. „Das ist nicht mein Kind“, schnaufte sie keuchend, während sie sich mit einem Papiertaschentuch, welches ihr Jo gereicht hatte, den Mund abwischte. „Das ist nicht unsere Sabine!“ „Meine Frau hat Recht. Dieses Kind sieht meiner Tochter sehr ähnlich, aber sie ist es wirklich nicht.“ Kommissar Surbier und Doktor Schnippler sahen sie sprachlos an. „Sind Sie sich sicher? Bitte sehen Sie sich den Leichnam noch einmal genauer an“, bat der Rechtsmediziner.

Während der Kommissar Mareile Leipold aus dem Saal begleitete, raffte sich Johannes noch einmal auf, um der Bitte des Doktors nachzukommen. Das Gesicht des Kindes war durch den Rechtsmediziner zwar so gut wie möglich wiederhergestellt, aber die Spuren, die durch Tiere und Insekten verursacht worden waren, ließen sich halt nicht komplett retuschieren. „Dies ist definitiv nicht meine Tochter“, erklärte Johannes überzeugt. Womit nun endgültig klar war, dass Kommissar Surbier nun ein weiteres Problem hatte. Wo war Sabine und wer war das tote Kind?

-4-

Mareile war wie ausgewechselt. So, wie sie seit dem Verschwinden ihrer Tochter fast apathisch war und nur in ihrem Bett lag, war sie nun geradezu von der Idee berauscht, die Suche nach Mareile in die eigene Hand zu nehmen. Neben dem Ausdruck von Suchflyern und dessen Verteilung in ganz Braunschweig, war weiterhin keine Zeit für Lucas und ihren Mann. Von Tag zu Tag steigerte sie sich mehr in diese Suche. Es schien, als wäre diese Aufgabe das Einzige, was sie am Leben hielt. So war ihr nicht bewusst, dass sie sich dabei immer weiter von ihrer Familie entfernte.

Neun Monate nach Sabines Verschwinden ergriff Jo die Gelegenheit, um Mareile eine weitreichende Entscheidung zu eröffnen. „Ich habe ein Angebot bekommen, um als Rettungssanitäter im Team des am Wolfenbütteler Klinikum stationierten Hubschraubers zu arbeiten. Du weißt, wie lange ich schon darauf hingearbeitet habe.“ „Ja mach doch“, entgegnete Mareile gleichgültig. „Wir müssten dazu allerdings nach Wolfenbüttel umziehen.“ „Das kannst du vergessen“, entgegnete sie gereizt. „Ich ziehe hier nicht weg. Überleg doch mal, wenn Sabine nach Hause kommt und niemand mehr da ist…“ Jo senkte den Blick. „Unsere Tochter kommt nicht mehr nach Hause“, sagte er leise. „Wie kannst du so etwas sagen?“, schüttelte sie verständnislos den Kopf. „Natürlich kommt sie nach Hause.“

„Es geht so nicht weiter, Mareile“, versuchte Johannes seiner Frau klarzumachen. „Lucas leidet unter der Situation. Er vermisst dich so sehr.“ „Rede keinen Quatsch, ich bin doch da.“ „Ja, aber nicht für ihn“, entgegnete Jo vorwurfsvoll. „Merkst du denn gar nicht, dass es nur noch um deine Suche nach Biene geht?“ „Ja, aber um was denn sonst? Ich muss sie doch finden. Mein Baby braucht mich doch.“ „Aber unser Sohn und ich brauchen dich auch!“ Mareile hob beschwörend die Hände. „Ich kann nicht einfach wieder zur Tagesordnung übergehen und so tun, als sei nichts geschehen!“

Johannes schüttelte enttäuscht den Kopf. „Dieser Wahnsinn wird uns Sabine nicht zurückbringen. Ich kann nicht länger so weiterleben. Wir müssen hier weg, in eine andere Umgebung und ganz neu anfangen. Ich werde für uns in Wolfenbüttel eine Wohnung suchen und mit Lucas dorthin umziehen. Denk bitte darüber nach, ob du diesen Schritt mit uns zusammengehen willst, um einen Neuanfang zu versuchen.“

Mareile fühlte sich vollkommen übergangen. Sie verstand nicht, weshalb ihr Jo plötzlich die Pistole auf die Brust setzte. „Aber du kannst doch nicht einfach über meinen Kopf hinweg eine solche Entscheidung treffen.“ „Wach auf, Mareile! So kann es nicht weitergehen. Sabine ist seit einem dreiviertel Jahr verschwunden. Es ist höchste Zeit, dass wir wieder zu Leben beginnen.“

„Du willst dich von mir trennen?“, schien es, als habe seine Frau überhaupt nicht zugehört. „Es liegt bei dir, komm mit uns und wage den Neuanfang oder bleibe hier und vergrab dich weiter in deinem Schmerz.“ Mareile starrte ihren Mann irritiert an. „Was du da verlangst, ist unmöglich. Ich kann nicht so tun, als habe es mein Baby nie gegeben.“ Jo musste einige Male tief durchatmen. „Niemand verlangt von dir, dass du Biene vergisst. Ich selbst werde niemals die Hoffnung aufgeben, dass sie zu uns zurückkehrt.“

„Du hast dich gegen Sabine und mich entschieden, so viel ist jetzt klar!“, fuhr sie ihn an. „Wenn du die Trennung willst, dann sollst du sie haben. Ich kann ohnehin keinen Mann gebrauchen, der mich bei der Suche nach meinem Kind nicht unterstützt.“ „Du brauchst dringend psychologische Hilfe“, sagte er, ohne es böse zu meinen. „Ach, du willst mich in die Klapse sperren lassen!“ „Davon kann doch keine Rede sein“, versuchte er das Missverständnis aufzuklären. „Du bist nicht mehr du selbst. Du steigerst dich immer tiefer in den Zwang, selber nach Sabine suchen zu müssen.“

Jo spürte, wie er jeden Zugang zu seiner Frau verlor. Sie lebte offenbar in einer Welt, die nur noch von der Suche nach ihrer gemeinsamen Tochter geprägt war. Was auch immer er nun noch sagen würde, konnte die Situation nur noch verschlimmern. Er zog sich daher wortlos zurück.

Während der folgenden Tage und Wochen bekam er Mareile kaum noch zu sehen. War er zu Hause, verließ sie die Wohnung und kehrte erst tief in der Nacht zurück, um dann auf dem Sofa zu schlafen. Wenn sie sich sahen und er das Wort an sie richtete, ignorierte sie ihn. Johannes nutzte die Zeit, um in Wolfenbüttel nach einer Wohnung zu suchen. Er wurde schließlich in der Nähe des Krankenhauses fündig. Eine kleine Einliegerwohnung, nicht weit von der Arbeit und vor allem günstig, denn die alte Wohnung in Braunschweig wollte er zusätzlich halten.

Auch wenn es Lucas mit seiner Entscheidung nicht gut ging, weil er sich fühlte, als würde er seine Mutter im Stich lassen, wusste er mit seinen neun Jahren schon, dass sie sich nicht um ihn kümmern würde. Der Wechsel in die neue Schule tat ihm entgegen seiner Bedenken gut. Hier wusste niemand, dass seine Schwester verschwunden war, weil er nicht auf sie aufgepasst hatte. Er fand schnell neue Freunde und überwand seine Schuld, bis sie ihn irgendwann auch nicht mehr aus dem Schlaf riss. Die Besuche bei seiner Mutter wurden seltener und hörten schließlich ganz auf, nachdem sich seine Eltern scheiden ließen. Er selbst hatte sich für ein Leben bei seinem Vater entschieden, weil Mareile sogar bei seinen Besuchen in der alten Wohnung nur von Biene sprach. Dementsprechend traurig kehrte er jedes Mal von seiner Mutter zurück.

Irgendwann ging das Leben für Johannes und Lucas wieder den normalen Gang und eine andere Frau trat in das Leben des Rettungssanitäters. Es schien, als würde Lucas ihre Zuneigung geradezu in sich aufsaugen. Etwa drei Jahre nach der Scheidung seiner Eltern, trug sich sein Vater mit dem Gedanken, eine neue Ehe einzugehen. Da er nun eine größere Wohnung benötigte, traf sich Johannes mit seiner geschiedenen Frau.

„Schön, dass du gekommen bist“, begrüßte er sie im Café Morgenland. Sie setzte sich zu ihm an den Tisch und sah ihm erwartungsvoll in die Augen. „Einen Cappuccino, wie früher?“, fragte er mild lächelnd. Sie nickte. „Weswegen bin ich hier?“, erkundigte sie sich geradeheraus. „Wie geht es dir?“, wich Johannes aus. „Sabine ist nach wie vor nicht wieder bei mir“, erklärte sie nüchtern. „Wie soll es mir da gehen?“ „Du suchst sie immer noch“, seufzte Johannes. „Was sonst? Einer muss ja nach ihr suchen.“

Mareile hatte immer noch nicht losgelassen. Die tiefen Ringe unter ihren Augen zeichneten das Leid der vergangenen Jahre in ihr Gesicht. Ihre Hände zitterten und in ihrem Atem lag ein leichter Hauch von Pfefferminz. „Hast du Arbeit?“ „Was willst du?“, ließ sie seine Frage unbeantwortet. Ein dicker Kloß in seinem Hals ließ ihn nicht antworten. Nachdem er tief Luft geholt und ansetzen wollte, servierte die Bedienung den Cappuccino.

„Ich soll dich übrigens von Lucas grüßen“, log Jo, um ihr eine kleine Freude zu machen. „Sollst du nicht“, entgegnete sie besserwissend. Johannes starrte seine Ex sprachlos an. Er konnte nicht glauben, wie sehr sie sich verändert hatte. Ihre Erscheinung und ihr Auftreten taten ihm weh. Da war nichts mehr, was das einstige Paar miteinander verband. Am traurigsten aber war er, weil sie sich mit keiner Silbe nach Lucas erkundigte. Offenbar gab sie dem Jungen nach wie vor die Schuld an Sabines Verschwinden. Womit sie die Richtigkeit seiner Entscheidung im Nachhinein bestätigte. Im Grunde wollte er dieses Treffen nur noch so schnell wie möglich hinter sich bringen und die Erinnerungen an eine schöne Zeit in seinem Herzen bewahren.

„Ich kann dich mit den Zahlungen für die Wohnung nicht länger unterstützen“, presste er den irrealen Satz über seine Lippen. „Na siehst du, war doch gar nicht so schwer“, entgegnete sie ein weiteres Mal vollkommen emotionslos. „Ja macht es dir denn nichts aus?“, fragte Jo verblüfft. „Ich habe schon seit langen damit gerechnet“, erklärte sie auch jetzt ohne jegliche Gefühlswallung. „Ich wollte mir ohnehin eine kleinere Wohnung suchen.“

Johannes verstand die Welt nicht mehr. Wollte sie nicht zuletzt deswegen die Wohnung behalten, weil sie Angst hatte, dass Sabine sonst nicht wieder zu ihr finden würde? Nun diese Reaktion, die all das, was ihr damals wichtig war, als absurdum führte.

„Wenn sonst nichts ist, würde ich jetzt gern los. Ich habe noch ein wichtiges Treffen mit einem Mitarbeiter von ‚Tag24‘.“ Johannes sah seine Ex fragend an. „Das ist ein Vermisstenportal im Internet“, verriet sie. „Wir machen ein Video, in dem ich mich an die Öffentlichkeit wende. Je mehr Menschen in die Suche nach unserer Tochter eingebunden werden, umso größer ist die Chance, dass sie jemand gesehen hat.“ Einerseits war Jo beeindruckt von der Beharrlichkeit und dem Engagement, mit dem Mareile nach Sabine suchte, andererseits bestätigte sie ein weiteres Mal, dass sich ihr Leben um nichts anderes mehr drehte.

„Ich hoffe, du hast Erfolg damit“, wünschte er ihr und natürlich auch sich selber, während sie sich vom Tisch erhob. „War schön, dich mal wieder zu sehen“, sagte sie, reichte ihm die Hand und ging. Johannes sah ihr gedankenvoll nach, bis sie durch die Tür verschwunden war. Er fragte sich, ob er sie jemals wiedersehen würde.

-5-

Mein letzter Fall steckte mir noch gehörig in den Knochen. Um ein Haar hätte es Trude erwischt. Bei ihrem Undercover Einsatz in der Villa eines sehr bekannten Geschäftsmannes hatte ihr dieser fast die Luft abgedreht. Ich war in allerletzter Sekunde dazugekommen und konnte das Schlimmste verhindern. Um die Gute auf andere Gedanken zu bringen, hatte ich ihr einen Urlaub spendiert.

„Wann kommt Trude eigentlich wieder zurück?“, erkundigte sich meine Azubine. Ich sah auf meine Armbanduhr. „Sie müsste gerade gelandet sein.“ „Den Fotos nach, die sie uns geschickt hat, muss es den beiden in der Türkei gut gefallen haben“, freute sich Leonie. „Die Türken sind bestimmt erleichtert, dass sie wieder weg sind“, witzelte ich. „Wie können Sie nur so etwas sagen, Chef?“ „Sicher hat sie den dortigen Reinigungskräften permanent nachgeputzt“, mutmaßte ich.

„Wenn ich mich in Ihrem Büro so umsehe, wird es wirklich Zeit, dass sie wieder kommt“, stichelte meine Azubine. „Und wie es hier riecht…“ Leonie schüttelte verächtlich den Kopf und ging zum Fenster, um es zu öffnen. „Was zum Teufel ist denn mit dem Griff los?“, schimpfte sie, während sie es vergeblich zu öffnen versuchte. „Bloß nicht mit Gewalt, junge Frau. Das geht mit Gefühl“, erklärte ich belehrend. „Pass gut auf, wie ich das mache.“ Im nächsten Moment hatte ich den Griff in der Hand und konnte mich nicht mehr bewegen. In diesem Moment muss ich wohl wie ein Diskuswerfer aus der Antike dagestanden haben. Zumindest wirkte die Situation so komisch, dass sich Leonie vor Lachen nicht mehr beruhigen konnte.

„Das ist alles andere als lustig“, wetterte ich, den Griff in der Hand und zu keiner Bewegung fähig. „Ich glaube, mich hat die Hexe geschossen.“ „Was hat Sie erschossen?“, lachte meine Azubine nun noch mehr. „Ich kann mich nicht mehr bewegen!“ „Bleiben Sie am besten so stehen, ich hole mein Handy.“ Ich dachte, sie wollte um Hilfe rufen, doch als sie zurückkehrte, hatte das kleine Luder nichts Besseres zu tun, als Fotos von mir in meiner misslichen Lage zu machen. „Wenn du das ins Internet stellst, hast du morgen deine Kündigung“, drohte ich. „Zu spät, der Post ist bereits im Netz.“

Wie heißt es so schön? Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht erst zu sorgen. „Das hat ein Nachspiel“, versprach ich meiner Azubine, die das Ganze noch immer als Spaß ansah. Vorsichtig griff ich nach meiner Jacke und schlich in gekrümmter Haltung aus der Detektei. „Sie halten hier die Stellung, bis ich wieder da bin“, instruierte ich sie. „Ich lasse mir nur schnell eine Spritze geben.“

Wobei das Wort ‚schnell‘ nicht unbedingt wörtlich genommen werden sollte. Es dauerte gefühlte zehn Minuten, ehe ich in meinem Wagen saß. Der Weg zu meinem Hausarzt am ‚Grüner Platz‘ war zu weit, um ihn zu laufen. Im Ärztehochhaus war zu allem Überfluss auch noch der Fahrstuhl außer Betrieb. Als ich endlich in der dritten Etage angekommen war, konnte ich mich so gut wie gar nicht mehr bewegen. Wenigstens hatte man in der Praxis ein Einsehen mit mir und schickte mich direkt als nächsten ins Behandlungszimmer.

„Herr Lessing, lange nicht gesehen“, begrüßte mich der Doktor. „Es ist ja offensichtlich, weshalb Sie hier sind. Am besten machen Sie gleich den Lendenwirbel frei und legen sich auf die Liege.“ Während der Internist die Spritze aufzog, krabbelte ich bäuchlings auf die Pritsche. „Na, Sie hat es ja ordentlich erwischt. Wobei ist das denn passiert?“ „Auch wenn es merkwürdig klingt, beim Öffnen eines Fensters“, erklärte ich stöhnend. „Warum merkwürdig? Was dachten Sie denn, was ich denke?“, hakte mein Hausarzt nach. „Ich dachte, Sie dachten es sei im Bett passiert.“ „Stimmt“, lachte er. „Das dachte ich.“

Mit dem nächsten Atemzug spürte ich den Einstich der Spritze in meinem Nacken, im nächsten Augenblick einen weiteren Einstich und noch einen dritten. „So, damit geht es jetzt nach Hause, am besten ins Bett.“ Ich sah ihn ungläubig an. „Sie sollten sich heute und morgen auf jeden Fall schonen.“ „Ich arbeite gerade an einem wichtigen Fall“, entgegnete ich. „Wenn Sie nicht schon bald die nächste Lumbago haben wollen, sollten Sie die Muskelverhärtung so schnell wie möglich durch einen guten Physiotherapeut en behandeln lassen.“ „Wenn's hilft“ „Ich schreibe Ihnen gleich mal sechs Sitzungen auf. Warten Sie nicht so lange damit.“ Mir fiel das Therapiezentrum in der ‚Lange Herzogstraße‘ auf. Miriam war jedes Mal sehr zufrieden, wenn sie von der Massage kam. „Am besten lassen Sie sich sofort Termine geben.“

Gesagt getan. Bereits auf dem Weg durch die Fußgängerzone ließ der Schmerz nach und ich konnte wieder halbwegs normal laufen. „Hallo, ich habe da eine Verordnung von meinem Hausarzt.“ „Na, dann zeigen Sie mal her“, nahm die resolut wirkende Dame hinter der Anmeldung das Rezept entgegen. „Sind Sie zum ersten Mal bei uns, Herr Lessing?“ „Ja, aber meine Frau…“ „Das ist mir bekannt“, schnitt sie mir das Wort ab. Ich war sofort ruhig. „Sie haben Glück, es hat gerade jemand abgesagt. Wenn es Ihnen recht ist, können Sie gleich hierbleiben.“ „Na ja, mein Arzt sagte, so bald wie möglich. Warum also nicht?“ „Sehr schön, dann geht es in zehn Minuten los. Bis dahin füllen Sie gleich mal den Zettel hier aus. Die restlichen Termine machen wir später.“

Kurz darauf baute sich ein eher kleiner Mann vor mir auf und sagte mir, dass ich ihm folgen solle. „Ein Handtuch haben Sie nicht dabei?“ „Ich wollte heute eigentlich nur Termine machen.“ „Macht nichts, beim nächsten Mal bringen Sie dann halt ihr eigenes mit. Gehen Sie schon mal hier rein und ziehen Sie bis auf die Unterhose alles aus“, deutete er auf eine Kabine, die nur durch einen Vorhang vom Gang getrennt war. „Ich komme gleich nach.“

Irgendwie hatte ich kein gutes Gefühl bei der Sache. „Ihre Lendenwirbel haben sich also schmerzhaft bei Ihnen gemeldet.“ „Ich verstehe gar nicht, was da los ist“, schüttelte ich missmutig den Kopf. „Ich schon“, entgegnete er kenntnisreich. „Gehen Sie bitte auf und ab.“ Ich tat ihm den Gefallen, so gut es eben ging. „Sie haben eindeutig zu wenig Bewegung.“ Ich stutzte. „Beamter wie?“ „Nein, ich bin Privatermittler“, stellte ich klar. „Das ist ja noch schlimmer“, seufzte er, während er das Handtuch auf der Liege ausbreitete. „Legen Sie sich bitte auf den Bauch. „Den ganzen Tag im Auto hocken und Leute beobachten.“ „Ich fürchte, Sie haben ein ganz falsches Bild von meinem Beruf“, stellte ich klar.

„Irgendwelche Allergien?“ „Nein, wieso?“ Im nächsten Moment bekam ich die Antwort in Form einer Ladung Öl, mit dem mir der Physiotherapeut den Rücken einsalbte. Gleichzeitig pressten seine kleinen kräftigen Hände meine Lendenwirbel auf die Liege, als würde ich von einer Dampfwalze überrollt. Ich schrie wie ein Baby und litt wie ein Schwein, das zur Schlachtbank geführt wurde. Das Martyrium dauerte zwanzig Minuten. Als er die Finger von mir ließ war ich schweißgebadet und platt wie eine Flunder.

„Sehen Sie mal zu, dass wir uns noch zwei Mal in dieser Woche sehen. Da ist noch viel zu machen. Am besten lassen Sie die Behandlung erst einmal etwas auf sich wirken, bevor Sie aufstehen.“ Selbst wenn ich gewollt hätte, wäre ich keinen Zentimeter von der Liege gekommen. „Fragen Sie einfach nach dem kleinen Klaus.“ Ganz sicher nicht, dachte ich mir, während er die Kabine verließ, um sich sein nächstes Opfer vorzunehmen. Der Mann war ein Berserker, so viel stand fest. Obwohl es mir, objektiv betrachtet, nun besser ging, wollte ich eine solche Tortur nicht noch einmal über mich ergehen lassen. Der ganze Rücken war heiß und jeder einzelne Knochen schmerzte.

Während ich mich anzog, sah unvermittelt eine hübsche Rothaarige in meine Kabine. „Oh sorry, ich dachte hier wäre schon frei.“ „Ich bin gleich verschwunden“, entgegnete ich beschwingt. „Bitte lassen Sie sich Zeit, ich gehe mit meinem Patienten einfach in eine andere Kabine.“ Der glückliche , dachte ich mir, während ich ihr nachsah. Leider kannte ich ihren Namen nicht, aber das ließ sich ja herausfinden.

„Da sind Sie ja, Herr Lessing“, empfing mich die Dame in der Anmeldung. „Na, der kleine Klaus hat Sie wohl ganz schön durch die Mangel gedreht“, lächelte sie verschmitzt. „Ich habe Ihnen schon ein paar Termine bei ihm herausgesucht. Sie müssen nur noch sagen, ob sie passen.“ Ich holte tief Luft und wollte gerade um einen anderen Therapeuten bitten, als der kleine Klaus aus dem Raum hinter der Anmeldung kam. „Und? Jetzt können Sie doch wenigstens wieder gerade stehen, nicht wahr?“ Ich seufzte und nickte. „Die Termine passen so weit.“ „Schön, dann drucke ich Ihnen den Laufzettel aus und wir sehen uns am Mittwoch.“

-6-

Eineinhalb Jahre waren seit jenem denkwürdigen Nachmittag vergangen, an dem Sabine von einem Kinderspielplatz unweit ihrer elterlichen Wohnung in der Braunschweiger Peenestraße verschwand. Acht Monate nach der vermeintlichen Entführung wurde die eigens gegründete Sonderkommission ‚Biene‘ aufgelöst. Etwa ein Jahr später legte der ermittelnde Kommissar Surbier auf Anweisung der Staatsanwaltschaft den Fall zu den Akten. Als er Mareile Leipold davon unterrichtete, brach sie vor seinen Augen in ihrer Wohnung zusammen. Sie wurde daraufhin in das Klinikum an der ‚Salzdahlumer Straße‘ eingeliefert.

„Ihre geschiedene Frau wollte mir nicht sagen, wo ich Sie finde“, berichtete Kommissar Surbier bei seinem Besuch in der neuen Wohnung von Johannes Leipold. „Wussten Sie, dass ihr der Vermieter Ihrer alten Wohnung mit der Räumung gedroht hat?“ „Nein, ich habe schon seit längerem keinen Kontakt mehr zu Mareile. Nachdem Sabine verschwand, hat sie sich vollkommen verändert. Ich musste die Notbremse ziehen, weil sie meinen Sohn und mich sonst mit in den Abgrund gezogen hätte.“ Surbier zeigte Verständnis.

„Ich will Ihnen um Gottes Willen kein schlechtes Gewissen einreden, noch steht es mir zu, Ihre Entscheidung zu bewerten, aber als ich Frau Leipold aufsuchte, fiel mir natürlich auch der Zustand ihrer Wohnung auf.“ „Was meinen Sie?“, fragte Jo irritiert. „Sie wissen nichts davon?“ „Nun reden Sie schon.“ „Es befinden sich kaum noch Möbel darin und überall liegt Müll herum.“ Jo schluckte trocken. „Nein, davon wusste ich nichts. Bis auf das Kinderzimmer von Lukas und meinem Bett ließ ich alles zurück.“

Surbier strich sich nachdenklich über das Kinn. „Sie hat die Einrichtung offensichtlich zu Geld gemacht, um die Suche nach Ihrer Tochter zu finanzieren.“ Johannes schämte sich bis auf die Knochen. Sein Herz verkrampfte sich. „Ich kam einfach nicht mehr an sie heran.“ „Sie weiß nicht, dass ich hier bin, aber vielleicht sollten Sie Ihre geschiedene Frau in der Klinik besuchen“, schlug Surbier vor. „Sie wird Sie jetzt brauchen.“

Jo überlegte, wie und was er für Mareile tun konnte und er hatte den Willen, ihr auch finanziell unter die Arme zu greifen, aber er wollte dies nicht ohne das Wissen seiner neuen großen Liebe tun. „Ich werde mit meiner zukünftigen Frau darüber sprechen“, erklärte er dem Kommissar. „Und auf jeden Fall werde ich meine geschiedene Frau besuchen.“ „Es freut mich, dass wenigstens Sie Ihr Leben wieder in den Griff bekommen haben.“

Johannes fühlte sich übel, sein schlechtes Gewissen ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Er machte sich Vorwürfe, weil er Mareile in ihrem Schmerz allein gelassen hatte. War seine damalige Entscheidung doch nur von Egoismus geprägt? War seine Begründung nur vorgeschoben, sich vor allem wegen Lucas für diesen Weg entschieden zu haben? Er wusste nicht mehr, was er denken sollte und was viel schlimmer war, er wusste nicht, ob er diesen Weg weitergehen konnte.

Er war Rettungssanitäter geworden, weil er den Menschen in prekärer Situation helfen wollte und nun hatte er bei seiner eigenen Familie versagt. Jo war sich nicht sicher, was diese Erkenntnis mit ihm und der gemeinsamen Zukunft mit seiner zweiten großen Liebe machen würde und er hatte Angst davor, sich dieser Frage zu stellen. Entgegen seiner ersten Überzeugung, zuallererst mit Laura zu reden, entschloss er sich, spontan in die Klinik zu fahren, um mit Mareile zu sprechen.

„Was machst du nur für Sachen?“, erkundigte er sich, während er sich einen der Stühle neben ihr Krankenbett rückte. „Ich habe wohl nur etwas zu wenig getrunken“, entgegnete sie augenzwinkernd. Jo sah auf den Tropf, der an einem Ständer neben dem Bett baumelte. „Der Kommissar meinte, du seist zusammengebrochen“, brachte es Johannes auf den Punkt. „Der Mann übertreibt. Mir war nur etwas schwindelig.“ „Jetzt schwindelst du.“

„Sie haben die Suche nach Biene eingestellt“, sagte sie mit leiser Stimme. Tränen flossen ihr über das Gesicht. Jo nahm ihre Hand. „Das stimmt so nicht ganz. Natürlich wird nach wie vor nach ihr gesucht, Europaweit“, versuchte er sie zu beruhigen. „Ja sicher, aber nur noch passiv. Ihr Foto befindet sich in irgendwelchen Listen, ohne dass es ihrem Alter angepasst wird. Sie sieht doch inzwischen älter aus. Sabine hat sich doch inzwischen verändert, nicht wahr, das hat sie doch?“, suchte Mareile nach seiner Zustimmung. Jo nickte. „Bestimmt.“

„Ich bin so müde“, seufzte sie. „So müde von der Suche. So müde von den ewigen Rückschlägen. Ich kann einfach nicht mehr.“ „Was ist mit deiner Wohnung?“, erkundigte sich Jo. „Der Kommissar sagte, es befinden sich kaum noch Möbel darin?“ „Von irgendetwas musste ich ja den Detektiv bezahlen“, lächelte Mareile absent und gleichzeitig irgendwie gefühllos. „Du solltest eine Kur machen, um wieder zu dir selbst zu finden“, schlug er ihr vor. Sie sah mich aus starren Augen fragend an. „Bin ich verrückt geworden?“

Johannes überlegte gut, bevor er antwortete. „Ich glaube, es war alles zu viel für dich. Am besten sprichst du gleich hier im Krankenhaus mit einem Psychologen, wie du das Geschehene am besten verarbeiten kannst.“ Mareile sah ihren Ex ächzend an. „Wenn du es nicht für dich tun willst, dann mach es wenigstens für Lucas.“ Sie holte tief Luft. „Du hast Recht mit der Wohnung. Ich habe schon seit zwei Monaten keine Miete gezahlt. Der Vermieter hat mit einer Zwangsräumung gedroht. Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll.“ „Mach dir darüber jetzt keine Sorgen. Ich kümmere mich darum und halte nach einer kleineren Wohnung Ausschau.“

Mareile stimmte Jo´s Vorschlag notgedrungen zu. „In die Provinz nach Wolfenbüttel ziehe ich aber nicht“, wandte sie mit einem Augenzwinkern ein. „Okay, wahrscheinlich hattest du von Anfang an Recht, ich verspreche dir, mit dem Psychologen zu sprechen und über eine Kur nachzudenken.“

Johannes reagierte erleichtert. Zum ersten Mal seit dem Verschwinden ihrer Tochter schien sie der Vernunft zugänglich. „Das ist auf jeden Fall der richtige Weg“, zeigte er ihr seine Erleichterung. Dennoch vermied er es, an dieser Stelle von Laura zu sprechen. Wenn sie diesen Schritt nicht nur für Lucas tat, konnte sie diese Neuigkeit wieder aus der Bahn werfen. „Melde dich, wenn klar ist, wie es weitergeht“, bat er. „Meine Handynummer ist immer noch die gleiche.“

Jo trug sich schwer mit der Tatsache, dass ihn die Vergangenheit wieder eingeholt hatte. Natürlich hatte er Laura von Sabine erzählt. Sie wusste von seiner Scheidung und auch sonst gab es keinerlei Geheimnisse zwischen ihnen. Doch nun war alles anders. Er hatte Angst, was Laura von ihm dachte, wenn sie erfuhr, dass er seine Ex im Stich gelassen hatte. Denn genauso fühlte es sich nun für ihn an. Die Auflösung der alten Wohnung, der damit verbundene Zeitaufwand und die erhebliche finanzielle Belastung machten ihm zu schaffen. Am schlimmsten aber waren die Lügen, wenn er sich wieder einige Stunden freischaufeln musste, weil er sich um die Wohnung kümmerte.

Als sich Mareile eine Woche nach seinem Besuch im Krankenhaus immer noch nicht bei ihm gemeldet hatte, fuhr er erneut in die Klinik. Er staunte nicht schlecht, als in ihrem Bett eine andere Frau lag. „Wurde Frau Leipold schon in die andere Klinik überwiesen?“, erkundigte er sich bei einem der Pfleger. „Wieso andere Klinik? Frau Leipold wurde bereits am Montag entlassen.“

Jo fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. „Hat Frau Leipold denn nicht mit der Psychologin gesprochen?“ „Dazu darf ich Ihnen nichts sagen“, hüllte sich der Pfleger in Schweigen. Jo hielt dem Mann seinen Ausweis unter die Nase. „Ach, Sie sind verwandt?“ „Wie Sie sehen“, entgegnete Jo. „Es gab kein Gespräch mit der Psychologin. Frau Leipold hat sich gewissermaßen selbst entlassen. Sie verließ die Klinik ohne irgendjemandem ein Wort zu sagen.“

Ihre Einsicht, all die guten Worte und ihre Absicht, einen anderen Weg einzuschlagen, war nichts weiter als eine Phrase. Wahrscheinlich hatte ihm Mareile all das nur vorgespielt. Während er teils wütend, teils besorgt das Krankenhaus verließ, fragte sich Jo wohin sie gegangen war. In ihrer Wohnung war sie zumindest nicht. Die hatte er inzwischen komplett ausgeräumt und gereinigt. Wäre sie zwischenzeitlich dort gewesen, hätte er es sicherlich bemerkt.

Jo erinnerte sich an eine Freundin, die am anderen Ende von Braunschweig, am 'Heidberg' wohnte. Doch auch die wusste nichts von ihrem Verbleib. Als sie ihm erzählte, dass sie Mareile seit langem nicht mehr gesehen oder gesprochen hatte, wusste Johannes auch nicht mehr weiter. Mareile war wie vom Erdboden verschluckt und so blieb es auch die nächsten sieben Jahre.