Detektei Lessing

Band 35

Auch der Tod wird uns nicht scheiden

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Ein lautes Scheppern, ein dumpfes Aufschlagen und quasi im selben Moment ein schmerzerfüllter Schrei übertönten den nachmittäglichen Berufsverkehr auf der Galenos Straße. Passanten blieben stehen, sahen neugierig dorthin, wo der Unfall geschehen war. Einige zückten ihre Handys und machten Fotos, andere filmten sogar. Nur einer kam auf die Idee, einen Notruf abzusetzen. Während der noch junge Unfallverursacher geschockt hinter dem Lenkrad seines betagten Opels kauerte, kümmerte sich eine junge Frau um den am Boden liegenden Radfahrer. Sie sprach ihn an, rollte ihre Jacke zusammen und legte sie ihm behutsam unter den blutenden Kopf.

„Bleiben Sie ganz ruhig liegen, Hilfe wird jeden Moment hier sein.“ Der Verletzte atmete schwer und er stöhnte vor Schmerz. „Wo ist meine Mappe?“, hob er seinen Kopf, um ihn im nächsten Moment mit einem schmerzverzerrten Gesichtsausdruck wieder zu senken. Die junge Frau sah sich an der Unfallstelle um und entdeckte eine braune Tasche, aus der einige Bücher und eine Arbeitsmappe auf die Straße gerutscht waren. „Ich hole sie Ihnen!“, beruhigte sie den jungen Mann und erhob sich. „Hier ist die Tasche“, kehrte sie kurz darauf zu ihm zurück. „Die Bücher sind wohl sehr wichtig für sie?“ Das Unfallopfer nickte.

Mit dem eintreffenden Rettungswagen verließ auch der Unfallverursacher seinen Wagen und beteuerte gegenüber den Anwesenden seine Unschuld. „Ich habe Sie nicht gesehen“, erklärte er auch dem Opfer immer wieder. „Sie waren plötzlich da, einfach so, quasi aus dem Nichts“, behauptete er. „Ich hatte gar keine Chance.“ „Nun beruhigen Sie sich bitte erst einmal“, nahm ihn der Fahrer des Rettungswagens zur Seite, während sich die Sanitäter um den Verletzten kümmerten. Im nächsten Moment trafen Notarzt und Polizei am Unfallort ein. „Ist er schwer verletzt?“, starrte der Unfallfahrer schockiert auf die Notärztin, die den Verletzten intubieren musste, weil dieser zwischenzeitlich das Bewusstsein verloren hatte. „Das bleibt abzuwarten“, beruhigte ihn der Fahrer des Rettungswagens.

„Sie sind der Unfallverursacher?“, erkundigte sich einer der Polizeibeamten. Constantin zur Strassen schreckte auf. „Ich konnte nichts dafür!“ „Der Mann steht unter Schock“, erklärte der Rettungsassistent. „Er wird uns trotzdem einige Fragen beantworten müssen“, ließ sich Hauptmeister Urich nicht beirren. „Fühlen Sie sich in der Lage, mir den Unfallhergang zu schildern?“, wandte sich der Beamte wieder dem Fahrer des Opels zu. Constantin zur Strassen nickte. „Gut. Falls Sie die Papiere nicht bei sich tragen, holen Sie diese am besten aus dem Wagen und dann setzen wir uns in das Einsatzfahrzeug.“ Der Angesprochene nickte.

Während Constantin zur Strassen Hauptmeister Urich mit eigenen Worten den Unfallhergang schilderte, fertigte sein Kollege eine Skizze an und machte Fotos. Die Erstversorgung des Verunfallten war inzwischen so weit abgeschlossen, dass er mit dem Rettungswagen in Richtung Klinikum Galenos Straße abtransportiert werden konnte. Es schien ein ganz normaler Unfall zu sein, wie er tagtäglich in Braunschweig und andernorts geschah.

Offenbar war der Radfahrer vom Autofahrer beim Abbiegen nach rechts auf das Gelände der Star Tankstelle übersehen worden. Da der Fahrer des Opels seine Schuld einräumte und sich einsichtig zeigte, waren keine Schwierigkeiten zu erwarten. Nachdem sich Constantin zur Strassen beruhigt hatte und sein Opel fahrbereit war, konnte er seine Fahrt sogar fortsetzen.

Im nahegelegenen Klinikum nahm das Schicksal hingegen seinen Lauf. Nachdem das Unfallopfer eingehend untersucht worden war, entschloss sich der diensthabende Unfallchirurg zu einer sofortigen Operation des gebrochenen Oberschenkels und zur Versorgung des ebenfalls gebrochenen Unterarms.

Lisa Brennecke sprang auf, als sie einen der Ärzte aus dem OP kommen sah. „Weshalb dauert das denn so lange?“, schrie sie den Anästhesisten an. Die besorgte Mutter befand sich in einem emotionalen Ausnahmezustand. „Ich spüre doch genau, dass da etwas nicht stimmt.“ Der Mann mit dem vor der Brust baumelnden Atemschutz senkte den Kopf. „Es tut mir unendlich leid, Frau Brennecke“, stotterte er. „Wir haben wirklich alles versucht, aber Ihr Sohn erlitt leider während der Operation einen Kreislauf-zusammenbruch.“ „Ja aber, was heißt denn das jetzt?“, begriff die Mutter des Unfallopfers nicht, was ihr der Anästhesist eigentlich sagen wollte.

„Wir konnten Ihren Sohn nicht wiederbeleben“, erklärte der Arzt. Im selben Moment drehte sich alles um Lisa Brennecke, sie verlor das Gefühl in ihren Beinen und sackte in sich zusammen. Der Anästhesist konnte sie gerade noch auffangen. Eine hinzugeeilte Krankenschwester half ihm dabei, die Bewusstlose in einen Rollstuhl zu setzen. Sekunden später war die entsetzte Mutter wieder ansprechbar.

„Ich verstehe das alles nicht! Er hatte doch nur einen Beinbruch. Wie kann denn da sein Herz versagen?“ „Genaueres kann ich Ihnen leider auch noch nicht sagen“, entgegnete der Arzt betreten. „Da müssen wir erst die Untersuchung abwarten.“ „Wenn hier gepfuscht wurde, dann werde ich es herausfinden“, drohte Lisa Brennecke.

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„Hast du meinen Stetson gesehen?“, erkundigte ich mich bei meiner Liebsten. „Ich hatte ihn wie immer an die Garderobe gehängt, da bin ich mir eigentlich sicher.“ „Das Ding war derart schmutzig, dass ich ihn in die Waschmaschine gesteckt habe“, erklärte Miriam. Ich sah meine Angetraute fassungslos an. Die Staatsanwältin verzog keine Miene. Im nächsten Augenblick wusste ich, dass sie mich nur auf den Arm nehmen wollte. „Na klar und Trump wird neuer chinesischer Staatspräsident.“ Meine Liebste sah mich unschuldig an. „Wieso, war das nicht richtig?“ Mir dämmerte das Schlimmste. Panisch rannte ich ins Bad und starrte auf die rotierende Trommel der Waschmaschine.

Im nächsten Moment zerriss ein Blitz die künstliche Beleuchtung unserer Wellnessoase und ich wusste, dass ich Miriam doch auf den Leim gegangen war. „Was hast du mit dem Foto vor?“, schwante mir die nächste Schweinerei. „Meine Facebook Freunde werden begeistert sein“, lachte sie triumphierend. „Das kannst du nicht machen“, appellierte ich an ihre Vernunft. „Schon geschehen, mein Schatz“, tippte sie amüsiert auf ihr Handy. „Was habe ich verbrochen, dass du mich derart strafst?“, verstand ich die Welt nicht mehr. Miriam sah mich herausfordernd an. „Na, Leopold Lessing, da würde ich an deiner Stelle doch mal scharf nachdenken.“

Obwohl ich auch während der nächsten halben Stunde nicht darauf kam, was ich eigentlich verbrochen hatte, zeigte sich Miriam einsichtig und rückte den Stetson wieder raus. Ohne das gute Stück wäre ich mir irgendwie nackt vorgekommen. Seit ich die Detektei betreibe, begleitet mich dieser Hut auf all meinen Wegen. Er ist für mich so etwas wie ein Talisman geworden. Natürlich ist er in dieser Zeit etwas in die Jahre gekommen, aber das bin ich auch, ohne dabei zerschlissen zu sein. Das nennt man dann wohl Patina.

„Guten Morgen, Chef“, begrüßte mich Trude, als ich, inzwischen wieder gut gelaunt die Detektei betrat. „Hallo Trudchen, ist die Post schon da?“ „Warten Sie auf etwas Bestimmtes, Herr Lessing?“ „Die Abrechnung von der Versicherung müsste längst da sein.“ „Ach“, winkte meine Putzsekretärin mit einem gequälten Lächeln ab. „Sie wissen doch, die sind nur dann schnell, wenn sie etwas von ihnen zu bekommen haben.“ „Das ist wohl wahr“, stimmte ich ihr nickend zu. „Apropos“, zog Trude ein Kuvert aus dem kleinen Stapel Papiere, der sich auf ihrem Schreibtisch türmte. „Ein Schreiben vom Finanzamt. Ich habe es noch nicht geöffnet.“ „Das würde ich am liebsten auch nicht tun“, schluckte ich besorgt.

Nachdem ich mich irgendwann doch durchgerungen hatte, das Zahlenwirrwarr auf dem Steuerbescheid zu entziffern, war die Ernüchterung groß, niemals reich zu werden. Sowie ich mir etwas auf die hohe Kante gelegt hatte, kam irgendwer von irgendwo und nahm mir die paar Kröten wieder weg. Mit dieser Erkenntnis kam die Wut darüber, dass in diesem Land nur der Mittelstand wirklich Steuern zahlt. Wer ehrlich ist, wird betrogen.

Während ich in meinem Büro saß und über die Ungerechtigkeiten unseres veralteten Steuersystems philosophierte, riss mich Trudes quäkige Stimme aus den Gedanken. „Haben Sie einen Augenblick Zeit, Chef?“, plärrte es aus dem Lautsprecher der Gegensprechanlage auf meinem Schreibtisch. „Sie wissen doch, dass ich einen Lokaltermin habe“, entgegnete ich in der abgesprochenen Weise, „Was gibt es denn so Wichtiges?“ „Das möchte Ihnen die Dame selber sagen“, entgegnete Trude. „Es scheint allerdings sehr dringend zu sein.“ „Also gut“, lenkte ich ein. „Führen Sie die Klientin herein.“

„Guten Tag, Herr Lessing. Mein Name ist Lisa Brennecke“, stellte sich die Frau mit den langen blonden Haaren und der auffallend guten Figur vor. „Ich bin Ihnen überaus dankbar, dass Sie mich so kurzfristig empfangen.“ „Sehr gern“, bedeutete ich ihr mit einer einladenden Handbewegung auf einem der beiden Stühle vor meinem Schreibtisch Platz zu nehmen.

„Was kann ich für Sie tun?“ „Ich weiß eigentlich gar nicht wo ich anfangen soll“, suchte Frau Brennecke nach den richtigen Worten. „Mein Sohn wurde vor zwei Tagen das Opfer eines Verkehrsunfalls. Bei der Operation im Krankenhaus verstarb er dann.“ „Oh, das tut mir sehr leid“, drückte ich ihr mein Mitgefühl aus. „Lars erlitt angeblich einen Herz Kreislauf Zusammenbruch“, erklärte sie gefasst. „Ich verstehe noch nicht so recht, was Sie von mir erwarten“, brachte ich es auf den Punkt. „Lars hatte einen Arm- und einen Beinbruch“, fuhr sie fort. „Ich glaube, dass während der Operation ein Fehler begangen wurde, der nun vertuscht werden soll. Ich möchte, dass Sie Beweise für meine Annahme finden und verhindern, dass diese beiseitegeschafft werden.“

Ich rieb mir nachdenklich das Kinn. Ein solcher Fall war mir in all den Jahren als Ermittler nicht untergekommen. Er erforderte ein gewisses Maß an Fachwissen und Erfahrung mit der ärztlichen Heilkunst. Ein sehr heikler Fall, dem ich mich nicht wirklich gewachsen sah. „Ich sage Ihnen, wie es ist“, entgegnete ich nach einigen Momenten intensiver Überlegungen. „Es wäre wahrscheinlich besser, wenn Sie Ihren Verdacht bei der Polizei äußern und offiziell ermittelt wird.“ „Das tat ich bereits. Leider habe ich das Gefühl, dass meine Anschuldigung nicht wirklich ernst genommen wurde. Wenn nun zu viel Zeit vergeht, befürchte ich, dass die Schuldigen davonkommen. Mein Sohn war Organspender.“ „Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen, aber da kann ich Sie beruhigen.“ „Das sagen Sie...“, blockte sie ab.

Es wäre nur allzu verständlich, wenn die arme Frau in ihrer Trauer das Schlimmste annahm und den Ärzten die Schuld am Tod ihres Kindes geben wollte, aber wie weit durfte sie in ihrem Schmerz gehen? Litt sie unter einer Form der Paranoia, wenn sie dem Krankenhaus den Handel mit den Organen ihres Sohnes unterstellte? Ich hatte kein gutes Gefühl aufgrund einer derart ungeheuerlichen Unterstellung gegen ein ganzes Operationsteam und letztlich gegen eine ganze Klinik zu ermitteln. Nichtdestotrotz reizte mich dieser Fall, weil er außergewöhnlich war.

„Also gut, ich mache Ihnen einen Vorschlag“, suchte ich nach einem Kompromiss. „Wenn ich Sie richtig verstanden habe, gehen Sie davon aus, dass ihr Sohn aufgrund seines Organspenderausweises durch einen absichtlich herbeigerufenen Fehler bei der Operation verstarb“, fasste ich die Worte der Frau zusammen. Sie nickte mir stillschweigend zu. „Wie Ihnen sicher bekannt ist, gibt es die Stiftung Eurotransplant. Dort werden alle in Frage kommenden Empfänger nach deren Dringlichkeit auf einer zentralen Warteliste registriert. Bevor es zu einer erfolgversprechenden Vermittlung kommt, müssen eine ganze Reihe entsprechender Kriterien miteinander abgeglichen werden.“ „Ich weiß, was Sie mir sagen wollen“, ließ sich Lisa Brennecke nicht von ihrem Gefühl abbringen. „Wer das System kennt, weiß auch, wo die Schwachstellen zu finden sind.“

„Dann komme ich nun zu meinem Vorschlag“, lenkte ich ein. „Nachdem Sie mir eine Vollmacht unterschrieben haben, werde ich mich bei Eurotrans und in der Klinik schlau machen. Sollte mir dabei etwas auffallen, werde ich ermitteln. Wenn nicht, sollten Sie sich das Geld sparen.“ „Das hört sich fair an“, stimmte sie meinem Vorschlag zu. „Apropos, über wieviel Geld reden wir eigentlich?“ „Das übliche Honorar liegt bei dreihundert Euro pro Tag plus Spesen.“ Die Frau vor meinem Schreibtisch schluckte trocken. „Dafür muss ich eine Menge Blumen in meinem Laden verkaufen.“ Ich horchte auf. „Sie haben einen Blumenladen?“ „Ja, hier in Wolfenbüttel.“ „Gut zu wissen.“

Wenn ich diesen Fall zur Zufriedenheit meiner Auftraggeberin lösen würde, bestand zumindest die Möglichkeit, dass ich einen ordentlichen Rabatt auf Blumen für Miriam bekam. Eventuell brauchte ich die dann nicht mehr beim Aldi kaufen?

„Wann beginnen Sie mit Ihren Ermittlungen?“, fragte Lisa Brenneke, während wir uns erhoben. „Ich habe noch zwei dringende Termine, aber danach lege ich auch schon los“, versprach ich, indem ich die Tür öffnete. „Meine Sekretärin nimmt Ihre Personalien auf und druckt Ihnen eine Vollmacht aus, die Sie dann bitte gleich unterschreiben“, bat ich laut genug, damit es auch Trude wahrnehmen konnte. „Ich werde mich bei Ihnen melden.“

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„Hallo Jogi, hier ist dein alter Freund Leo. Wie geht es dir?“ „Was willst du?“, entgegnete mein ehemaliger Dienstpartner bei der Braunschweiger Mordkommission irgendwie unentspannt. „Na sag mal, wie kommst du nur darauf, dass ich dich schon wieder um einen Gefallen bitten möchte?“ „Weil es immer so ist, Leopold.“ „Das kannst du so aber nicht sagen“, erwiderte ich in meiner Ehre gekränkt. „Ich wollte nur mal hören, wie es dir und Ultra so geht.“ In den folgenden Sekunden herrschte eine betretene Stille in der Leitung. Offenbar überlegte mein Freund, wie er mit der ungewohnten Situation umgehen sollte.

„Wenn es tatsächlich so ist, habe ich dir offenbar Unrecht getan“, vernahm ich nach einer Weile seine belegte Stimme. „Es geht uns gut, Leo. Wir sollten mal wieder etwas zusammen unternehmen“, schlug er vor. „Gute Idee, wie wäre es, wenn wir uns zum Steakessen beim Citybrunch treffen?“ „Wo ist das denn?“ „Unter den Krambuden. Yussefs Sohn hat sein eigenes Bistro aufgemacht.“ „Okay, man kanns ja mal ausprobieren.“

„Sag mal, gibt es den Grün vom Ermittlungsdienst eigentlich noch?“ „Ich wusste es doch!“, plärrte Jogi ins Telefon. „War ja klar, dass da noch was kommt.“ „Ich weiß gar nicht, was du hast, ich will doch nichts von dir“, verteidigte ich mich. „Nun sag schon, um was geht es?“, schien Jogi nun doch neugierig zu sein. „Ich mache das dann mit Grün“, ließ ich ihn zappeln. „Wieso interessierst du dich für einen Verkehrsunfall?“ Jetzt hatte ich ihn an der Angel. „Ich möchte dich damit nicht belasten, Jogi. Du hast schon genug um die Ohren.“ „Das lass mal meine Sorge sein.“ Ich zögerte. „Aber nicht, dass es heißt, ich würde dich zu sehr mit meinen Recherchen in Anspruch nehmen.“ „Nun rede schon!“, reagierte er genervt.

„Der Sohn einer Mandantin wurde auf seinem Fahrrad angefahren. Er erlitt einige Knochenbrüche. Bei der Operation im Krankenhaus verstarb er dann unerwartet.“ „Wie jetzt?“, reagierte mein Freund ebenso argwöhnisch wie ich. „Es kam offenbar zu einem Herzstillstand. Die Mutter glaubt an einen Kunstfehler, der vertuscht werden soll oder gar Schlimmeres.“ „Oh je, da hast du dich ja mal wieder auf was eingelassen“, seufzte Jogi. „Ich weiß, aber was soll ich denn machen. Ich konnte der Frau in ihrem Schmerz doch nicht sagen, dass es nahezu aussichtslos ist, solche Fälle aufklären zu wollen.“ „Du bist eben zu gut für diese Welt, Leo.“

„So ganz unbegründet erscheint mir der Verdacht meiner Auftraggeberin auch wieder nicht“, fügte ich hinzu. „Immerhin war ihr Sohn Organspender.“ Jogi stutzte. „Aber dann ist ein Kunstfehler erst recht nahezu ausgeschlossen. Du kennst doch wohl das Procedere. Seitdem im letzten Jahr dieser Skandal um die Spenderorgane aufgedeckt wurde, wird noch genauer geprüft.“ „Ja, ich weiß, aber dieser Skandal zeigt auch, dass Manipulation möglich ist“, entgegnete ich kritisch.

„Zumindest hört sich dein neuer Fall interessant an“, resümierte mein Freund. „Falls du in dieser Sache meine Unterstützung brauchst, kannst du gern auf mich zurückkommen.“ Ich war mir nicht sicher, ob ich seine Worte gerade richtig verstanden hatte. „Ich habe den Vorgang übrigens gerade auf meinem Monitor aufgerufen. Wenn du willst, sende ich dir den Abschlussbericht im Mailanhang zu.“ „Wenn du keinen Ärger deswegen bekommst“, entgegnete ich mein Glück kaum fassend. „Du wirst es sicher nicht an die große Glocke hängen.“ „Das versteht sich.“

Im nächsten Moment hatte ich die Akte in meinem Posteingang. Ich bedankte mich und beendete das Gespräch. Wie auch immer ich mich bezüglich meiner Recherche entscheiden würde, Jogi hatte mir eine Menge Zeit erspart.

Nach allem, was ich hinsichtlich des Unfalls las, handelte es sich um einen klassischen Fehler beim Rechtsabbiegen. Der Autofahrer hatte den Sohn meiner Auftraggeberin offenbar übersehen. Lars Brennecke war ihm mit dreißig Stundenkilometer in den rechten Kotflügel gerast, knallte dann auf die Motorhaube und wurde von dort auf den Gehweg geschleudert.

Krankenwagen und Notärztin waren binnen weniger Minuten am Unfallort. Der Verletzte wurde in das unweit gelegene Klinikum Galenos Straße transportiert und dort operiert. Als Unfallverursacher war ein gewisser Constantin zur Strassen angegeben. Der erst neunzehnjährige Student räumte sein Verschulden noch am Unfallort ein. An seinem Opel Corsa entstand leichter Sachschaden, der durch Fotos dokumentiert war. Bis hierhin fiel mir nichts Außergewöhnliches auf.

Einen Tag nach dem Unfall erschien Lisa Brennecke auf der Wache und erstattete Anzeige gegen das Krankenhaus. Diese wurde durch Obermeister Reuter aufgenommen und an Kommissar Grün vom zentralen Ermittlungsdienst weitergeleitet. Dieser ging dem Vorwurf von Lisa Brennecke unverzüglich nach, indem er sich mit dem Klinikum Galenos Straße in Verbindung setzte. Der Operationsbericht war der Akte in Kopie beigefügt. Demnach war das Unfallopfer zweifelsfrei an einem Herzinfarkt gestorben. Die sofort eingeleiteten Versuche, Lars Brennecke wiederzubeleben, blieben erfolglos.

Einen schalen Beigeschmack hatte das Ganze schon. Ein Zweiundzwanzigjähriger, der nach Aussage seiner Mutter kerngesund war und bei dem nichts von einer Herzschwäche bekannt war, stirbt bei einer routinemäßigen Operation an einem Infarkt? Mein Bauchgefühl sagte mir, dass da etwas faul war.

Ich musste mehr über den Toten erfahren, doch bevor ich meine Auftraggeberin danach befragte, konnte Trude mit einer Suche im Internet vielleicht schon erste Ansatzpunkte finden. „Machen Sie sich doch bitte mal schlau, ob es im Internet etwas über den Sohn von Frau Brennecke zu finden gibt“, forderte ich meine Putzsekretärin auf. „Ich gehe inzwischen auf einen…“ „Ihren Cappuccino können Sie getrost noch etwas verschieben“, fiel mir Trude ins Wort. „Nachdem Frau Brennecke die Detektei verlassen hatte, habe ich mich bereits kundig gemacht.“ Angesichts ihres Arbeitseifers staunte ich nicht schlecht.

„Lars Brennecke studierte Betriebswirtschaftslehre an der Welfenakademie. Außerdem spielte er American Football bei der zweiten Mannschaft der Braunschweig NY Lions.“ Ich horchte auf. Davon hatte meine Klientin gar nichts erwähnt. Somit war ein Herzfehler nahezu ausgeschlossen. Soweit mir bekannt war, standen auch Nachwuchsspieler unter ständiger ärztlicher Kontrolle. „Trude, Sie sind gut“, lobte ich meine Computerkoryphäe. „Genau dort werde ich ansetzen. Wenn Lars Brennecke krank war, dann muss es der Vereinsarzt gewusst haben.“ „Ich recherchiere inzwischen weiter“, bemühte sich Trude, mich weiterhin in Erstaunen zu versetzen. „Es wäre gut, wenn Sie auch etwas zu Constantin zur Strassen finden würden. Vielleicht findet sich ja auch etwas über den Unfallverursacher.“

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Da Trude derart Elan an den Tag gelegt hatte, konnte ich natürlich nicht nachstehen und machte mich auf den Weg zur Pretorius Straße. Mit einem kurzen Blick auf die Webseite des Krankenhauses hatte ich mich über die Verwaltung informiert.

„Guten Tag, mein Name ist Lessing, ich hätte gern Herrn Doktor Lindner gesprochen.“ Der Mann hinter der Glasscheibe sah zunächst auf seinen Monitor und dann mich fragend an. „Haben Sie einen Termin bei Doktor Lindner?“ „Leider nicht, aber sagen Sie ihm doch bitte, ich käme in der Sache Brennecke“, entgegnete ich zuversichtlich.

Ein Telefonat oder auch keine fünfzehn Sekunden später war ich um eine Erfahrung reicher. „Herr Doktor Lindner ist in einer Besprechung.“ „Kein Problem“, lächelte ich den Pförtner an. „Dann warte ich hier so lange.“ „Das können Sie sich sparen, anschließend ist der Herr Doktor außer Haus. Sie möchten sich bitte telefonisch bei seiner Sekretärin einen Termin geben lassen.“ „Das ist wirklich ganz enorm“, entgegnete ich beeindruckt. Der Mann in der Loge schien verwirrt. „Eine Menge Infos für ein so kurzes Telefonat.“ „Hören Sie, Herr Lessing, wenn Herr Doktor Lindner keine Zeit für Sie hat, kann ich Ihnen nicht weiterhelfen.“ „Schon gut, dann werde ich mich halt anmelden.“

Mit diesen Worten wandte ich mich von ihm ab und ließ einen skeptisch dreinblickenden Pförtner in seiner Loge zurück. Natürlich wollte ich nicht unverrichteter Dinge wieder von dannen ziehen, aber der Haupteingang war für mich tabu. Frechheit siegt, dachte ich mir, umrundete das Gebäude und begab mich vor das Rolltor der Tiefgarage. Ich war mir sicher, dass die Fahrzeuge der Geschäftsleitung auf diesem Weg den Komplex verließen. Es dauerte nicht lange, bis sich das Gitter hob und ein weißer Mercedes die Auffahrt hinaufrollte.

Nachdem er davongefahren war, eilte ich die Auffahrt hinunter, dem sich immer tiefer senkendem Rollgitter entgegen und schaffte es im letzten Moment, mich darunter hindurchzurollen. Ich hatte zwar darauf geachtet, mich weitestgehend im toten Winkel der Bewachungskamera zu bewegen, aber letztlich hatte ich keine Ahnung, ob ich nicht doch bei meiner Aktion aufgenommen wurde. Immerhin hatte ich dabei mein Hemd zerrissen. Ich habe keine Ahnung, wie es die Filmhelden immer schaffen, ohne einen Kratzer und mit sauberen Klamotten aus einer solchen Nummer herauszukommen.

Laut Informationstafel befand sich das Büro des ärztlichen Direktors im dritten Obergeschoss. Den Fahrstuhl konnte ich getrost vergessen. In meinem lädierten Aufzug wäre ich sicher nur aufgefallen. Abgesehen davon war eine sicherlich vorhandene Vorzimmerdame durch die Anfrage des Pförtners gewarnt. Ich musste also zusehen, ungesehen am Sekretariat vorbei, direkt in das Büro des Direktors gelangen. Ich beschloss folglich, das Treppenhaus zu nehmen. Alles Weitere musste sich aus der Situation ergeben.

Im dritten Obergeschoss angelangt, stieß ich direkt hinter der Glastür auf einen Reinigungswagen. Die darauf befindlichen Utensilien und der über den Griffen abgelegte Kittel brachten mich auf die Idee, mich als Fußbodenkosmetiker zu versuchen. Ich warf mir den um zwei Nummern zu klein geratenen Kittel über und schob den Wagen relax den Gang hinunter. Das Büro von Doktor Lindner befand sich natürlich ganz am Ende des Flurs. Gerade als ich an seine Tür klopfen wollte, trat eine Dame aus dem Büro der Chefsekretärin.

„Seit wann reinigen Sie um diese Zeit die Büros der Geschäftsleitung?“, erkundigte sich die Frau mit den hochgesteckten Haaren. „Meine Kollegin sagte, dass sich der Herr Doktor in einer Sitzung befindet. Da wollte ich die Gelegenheit nutzen.“ Die Sekretärin sah mich mit strengem Blick fragend an. „Zum einen können Sie hier nicht putzen, wenn es Ihnen am besten in den Kram passt, zum anderen verstehe ich nicht, weshalb Sie Frau Lyders hier vertreten.“ „Meiner Kollegin geht es gar nicht gut. Sie hat wohl etwas Falsches gegessen. Jedenfalls ist Sie zum Arzt gefahren“, log ich. „Das ist aber sehr merkwürdig“, entgegnete sie mit lauernder Stimme. „Gerade noch habe ich Frau Lyders in der Cafeteria gesehen. Da schien es ihr noch recht gut zu gehen.“

Ganz offensichtlich entwickelte sich meine Idee in die falsche Richtung. Weshalb ich an dieser Stelle die Notbremse zog und mich aus dem Kittel zwängte. „Okay, Sie haben mich durchschaut. Ich bin nicht vom Reinigungspersonal.“ „Dann schlage ich vor, Sie verschwinden auf der Stelle, sonst rufe ich die Polizei.“ „Das wird nicht nötig sein“, versuchte ich die Situation zu entschärfen. „Ich bin privater Ermittler und wollte lediglich mit Herrn Doktor Lindner sprechen.“ Womit ich ihr meine Legitimation unter die Nase hielt. „Da ich keinen Termin habe, wies mich der Pförtner zurück.“ „Ja, unser Herr Robinsohn ist da sehr zuverlässig“, lächelte sie.

„Eigentlich müsste ich Sie ja jetzt zum Teufel schicken“, schürzte sie ihre Lippen. „Aber irgendwie gefällt es mir, wie Sie sich für Ihren Auftraggeber ins Zeug legen.“ Ich sah einen Silberstreif am Horizont. „Um was geht es denn? Vielleicht kann ich Ihnen ja behilflich sein.“ Ich sah die Sekretärin skeptisch an. Immerhin schien sie mir meine kleine Maskerade nicht übel zu nehmen. Insofern konnte es nicht schaden, wenn ich ihr den Grund für meine Anwesenheit darlegte.

„Vor drei Tagen verstarb Lars Brennecke während einer Routineoperation im Klinikum Galenos Straße.“ „Ich hörte davon“, nickte mir die Frau mit dem Dutt anteilnehmend zu. „Wie Sie sich denken können, stellt der Tod des Einundzwanzigjährigen für seine Angehörigen ein unfassbares Ereignis dar.“ Die Sekretärin rieb sich das Kinn. „Und nun wollen Sie Einblick in den Operationsbericht“, überlegte sie. „Ich wollte Herrn Doktor Lindner fragen, wie es möglich ist, dass ein, meines Wissens kerngesunder Footballspieler der NY Lions an Herzversagen stirbt“, ließ ich ihre Mutmaßung unbeantwortet.

Die adrette Mitvierzigerin sah mit verbissenem Gesichtsausdruck den Flur hinunter. Zwei Männer passierten die Glastür und bewegten sich in unsere Richtung. „Kommen Sie mit in mein Büro“, schlug sie vor. „Die Angehörigen von Herrn Brennecke sollten sich einen Anwalt nehmen, damit dieser den Operationsbericht einsehen kann.“ Ich konnte ihr unmöglich sagen, dass ich den bereits kannte. „Da kann Ihnen auch Doktor Lindner nicht weiterhelfen. Die Polizei war gestern übrigens hier. Sollte da etwas nicht in Ordnung sein, werden die sicher ermitteln.“ „Sehen Sie, genau deswegen bin ich hier. Die Ermittlungen wurden bereits eingestellt.“

Elvira Sonntag, wie ich von dem Namensschildchen auf ihrem Schreibtisch inzwischen wusste, sah mich aus großen Augen fragend an. „Aber dann ist doch alles in Ordnung.“ „Ich will Ihren Glauben an die Strafverfolgungsorgane nicht erschüttern, aber auch die Polizei macht Fehler. Sie müssen zugeben, dass innerhalb eines Tages nicht sehr viel recherchiert werden kann.“ Der Ausdruck in ihren Augen gab mir Recht. „Ja, aber was wollen Sie denn jetzt von Doktor Lindner?“ „Seine Unterstützung.“

Im Gesicht von Elvira Sonntag zeichnete sich ein Fragezeichen ab. „Meine Auftraggeber wollen den Tod ihres Sohnes auf keinen Fall einfach so hinnehmen. Sie werden sich an die Presse wenden. Lars Brennecke war Organspender. Wenn auch nur der Hauch einer Illegalität aufkommt, könnte dies auch für das Klinikum fatale Folgen haben.“ Die Sekretärin sah mich entsetzt an. „Verstehen Sie jetzt, weshalb ich unbedingt mit Doktor Lindner sprechen muss?“

Elvira Sommer blieb buchstäblich die Spucke weg. „Um Himmels Willen, es wäre nicht auszudenken, was ein solcher Zeitungsbericht für Folgen hätte.“ „Kommt Ihr Chef heute noch mal ins Büro?“ „Nein, er wollte nach der Besprechung im Steinberger noch im Klinikum vorbeischauen und dann Feierabend machen.“ „Bis wann kann ich ihren Chef an der Galenos Straße erreichen?“ Die Sekretärin sah auf ihre Armbanduhr. „Er könnte noch dort sein.“ „Dann seien Sie bitte so lieb und rufen ihn an, damit er auf mich wartet.“ Elvira sah mich skeptisch an. „Ich weiß nicht, ob er sich darauf einlässt.“ „Sie machen das schon“, nickte ich ihr aufmunternd zu. Während ich mich beeilte, ihr Büro zu verlassen, warf ich ihr dankbar einen Handkuss zu.

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„Guten Tag, mein Name ist Lessing“, stellte ich mich der Dame an der Anmeldung vor. „Ich bin mit Doktor Lindner verabredet.“ „Sie werden bereits erwartet“, deutete sie mit einer Handbewegung auf einen Herrn, der keine zehn Meter von uns entfernt mit zwei Frauen im Gespräch war. Es schien um etwas Humorvolles zu gehen, denn das Gekicher der beiden Damen riss nicht ab. Unhöflich wie ich nun einmal bin, unterbrach ich die fröhliche Runde.

„Herr Doktor Lindner?“ „Die Ladys entschuldigen mich bitte? Die Pflicht ruft.“ Während er sich mir zuwandte, veränderte sich seine Mimik in die eines Steinbeißers. „Herr Lessing, nehme ich an.“ „So ist es“, bestätigte ich. „Schön, dass Sie sich die Zeit nehmen.“ „Na Sie haben Nerven! Anstatt hier auf Sie zu warten, sollte ich die Angelegenheit unserer Rechtsabteilung übergeben.“ Offensichtlich hatte ihn Elvira bereits bestens informiert. „Da Sie dies bislang nicht getan haben, sind Sie offenbar wie ich daran interessiert, die Angelegenheit ohne viel Aufsehen aus der Welt zu schaffen.“ „Am besten wir gehen ein paar Schritte durch den Park“, schlug der ärztliche Direktor vor.

„Eines möchte ich gleich vorweg klarstellen“, begann er, nachdem wir allein waren. „Es geht hier nicht nur um die Reputation des Klinikums“, machte er mir deutlich. „Es geht vor allem um den Schaden, der durch einen ungerechtfertigten Bericht in den Medien hinsichtlich der Organspendenbereitschaft angerichtet werden könnte.“ „Das ist der Grund, weshalb ich meine Auftraggeber bislang davon abhalten konnte, mit ihrer Vermutung an die Öffentlichkeit zu gehen. Wenn ich meinen Klienten allerdings sagen müsste, dass ich von Ihrer Seite aus keine Unterstützung erhielt, werden sie sich ganz sicher an die Presse wenden.“

Lindner seufzte. „Zunächst einmal muss ich sagen, dass mir der Tod des jungen Mannes sehr leid tut.“ Ich werde es weitergeben“, nahm ich seine Anteilnahme zur Kenntnis. „Ich bin natürlich mit dem Fall vertraut und muss sagen, dass ich keinen Zweifel an dem ordentlichen Ablauf der Operation habe.“ „Wenn dem so ist, hat das Klinikum ja nichts zu befürchten“, entgegnete ich lapidar. „Wobei genau kann ich Ihnen behilflich sein?“ Ich hatte die erste Etappe meiner Odyssee erreicht. „Zunächst brauche ich die Namen aller, die in irgendeiner Weise an der Operation und an den Vorbereitungen beteiligt waren. Darüber hinaus möchte ich mich mit den Betreffenden ungestört unterhalten können.“

Doktor Lindner überlegte angespannt, ehe er mir antwortete. „Das kann ich nicht allein entscheiden, Herr Lessing. Bevor ich Ihnen das Okay gebe, muss ich mich mit dem Vorstand beraten.“ Das leuchtete ein. „Beraten Sie sich nicht zu lange“, sorgte ich für den nötigen Druck. „Ich weiß nicht, wie lange ich meine Auftraggeber um Geduld bitten kann.“ „Ich werde mich morgen Vormittag bei Ihnen melden“, versprach Lindner.

Auch wenn ich noch nichts Greifbares in den Händen hielt, war dieses Gespräch besser gelaufen, als ich es erwartet hatte. Vielleicht lag dies auch an den umfangreichen Bauvorhaben, die in der Öffentlichkeit ohnehin schon für reichlich Wirbel sorgten. Schlechte Publicity war das Letzte, was die Klinikgesellschaft gebrauchen konnte.

Da ich mich in der Nähe des Unfallorts aufhielt, war es nur sinnvoll, mir diesen bei der Gelegenheit anzusehen. Eine Skizze zum Unfallhergang und die von der Verkehrspolizei erstellten Aufnahmen lassen zwar gewisse Schlussfolgerungen zu, ersetzten aber nicht den persönlichen Eindruck, der sich erst dann ergibt, wenn man sich den Ort des Geschehens selber ansieht.

Fakt ist, dass Lars Brennecke von der Welfen Akademie kam und mit dem Rad nach Hause wollte. Er war gerade von der Galenos Straße nach links in die Griegstraße abgebogen, als er in Höhe der Tankstelle von einem Rechtsabbieger übersehen wurde, der mit seinem Fahrzeug zum Tanken wollte. Ich kam mit meinem Wagen aus derselben Richtung und bog ebenfalls auf das Gelände der Tankstelle ein. Mir fiel auf, dass der Unfallverursacher sehr unachtsam gewesen sein musste, um den Sohn meiner Auftraggeberin zu übersehen.

Ich stellte meinen Wagen ab und sah mich um. Bei den Unterlagen, die ich von Jogi erhalten hatte, gab es keine Videoaufnahmen und auch kein Hinweis darauf. In Anbetracht der Überwachungskameras, die auf dem Dach der Tankstelle installiert waren, um die Fahrzeugkennzeichen der tankenden Kunden aufzunehmen, fragte ich mich, wie groß der Erfassungsbereich war und ob die Aufzeichnungen vom Tag des Unfalls durch die Polizei gesichtet wurden.

Nachdem ich mich dem Pächter vorgestellt und als privater Ermittler zu erkennen gegeben hatte, fragte ich ihn, ob er den Unfall gesehen habe. „Leider nicht, aber das habe ich der Polizei bereits gesagt. Soviel ich weiß, war da eine junge Frau, die auch erste Hilfe leistete“, erklärte er. Darüber hatte ich im Polizeibericht gelesen. „Kann es sein, dass die Überwachungskameras den Unfall aufgenommen haben?“ „Das haben sie“, bestätigte er und führte mich zum Aufzeichnungsgerät. „Die Polizisten sahen sich die Aufnahme zwar an, meinten aber, dass darauf nichts zu sehen sei, was für sie von Interesse sei.“ „Existiert der Mitschnitt noch?“, hakte ich nach. „Sie haben Glück. Das Material wird aus Datenschutzgründen nach zweiundsiebzig Stunden automatisch gelöscht.“ Ich sah auf meine Armbanduhr. „Na, dann lassen Sie mal sehen.“

Der Pächter musste nicht lange suchen. Der Unfall war gerade noch am äußersten Bildrand zu sehen. Auf den ersten Blick war tatsächlich nichts zu erkennen, was für den Unfallhergang von Relevanz gewesen wäre. Erst beim wiederholten Betrachten der Sequenzen fiel mir die Kopfhaltung des Fahrers unmittelbar vor dem Abbiegen auf. Wenn mich nicht alles täuschte, muss er den Fahrradfahrer rechtzeitig gesehen haben.

„Können Sie mir den Teil mit dem Unfall kopieren?“ Der Pächter sah mich verlegen an. „Ich habe nicht den Schimmer einer Idee, wie das geht.“ Leider hatte ich ebenso viel Ahnung. Deshalb griff ich kurzerhand zu meinem Handy und filmte die entsprechende Passage einfach ab. „Dumm kann man ruhig sein, man muss sich eben nur zu helfen wissen“, reckte der Pächter den Daumen in die Höhe. Bislang war meine Beobachtung nicht mehr als eine Mutmaßung, aber wenn ich richtig lag, konnte hinter diesem Unfall erheblich mehr stecken als bisher angenommen. Ich war gespannt auf die Erklärung, die mir der Unfallverursacher für sein Verhalten geben würde.

Die Villa in den Blumentriften gehörte laut Trudes Recherchen dem Unternehmensberater Rasputin zur Strassen, der in Braunschweig und darüber hinaus auch als Rechtsanwalt in der Welt der Schönen und Reichen einen guten Ruf genoss. Dem Anwesen entsprechend mussten seine Geschäfte sehr gut laufen. Das über drei Ebenen errichtete Gebäude spiegelte den Bauhausstil wider. Im Parterre befanden sich links drei Garagen, rechts ein offenes Schwimmbad und in der Mitte der aufwendig gestaltete Eingangsbereich.

Die komplett umlaufende Balkonbrüstung ließ die Großzügigkeit der Raumaufteilung im ersten Obergeschoss nur erahnen. Große Fensterflächen sorgten für ein modernes Ambiente und vermittelten den klassischen Stil der extravaganten Moderne. Fast schon nüchtern wirkende graue Betonwände rahmten die drei Ebenen behütend ein. Der Garten vor dem Gebäude erinnerte eher an eine Steinwüste. Da war kein Grün, kein Halm, nicht mal eine Ameise zu sehen. In einer solchen Umgebung würde ich Ramona nicht aufwachsen sehen wollen. In einer solchen Atmosphäre würde Bea nicht einmal ihr Geschäft machen wollen.

Irgendwann stand ich vor der prächtigen Haustür und presste meinen Daumen auf den goldenen Klingeldrücker. Ich staunte nicht schlecht, als im nächsten Moment ein etwa siebenjähriges Mädchen vor mir stand. „Ich bin Silvana und du?“ „Ich bin der Leo“, entgegnete ich verblüfft. „Ist der Constantin zu Hause?“ „Nöö, Conni ist nicht da“, erklärte sie. „Was ist mit deinen Eltern?“ „Die sind auch nicht da“, verkündete sie wie selbstverständlich. „Aber du bist doch bestimmt nicht allein?“ „Nöö.“ „Wer ist denn sonst noch da?“ „Clair und ihr Freund.“ Ich nickte erleichtert.

„Dann wäre es prima, wenn du einen von beiden an die Tür holen könntest“, schlug ich vor. „Das geht nicht“, schüttelte Silvana den Kopf. „Warum nicht?“, bohrte ich nach. „Die sind oben und machen Sex“, entgegnete sie spontan. Mir blieb einen Moment lang die Luft weg. Es geschieht selten, dass mir die passenden Worte fehlen, aber in diesem Augenblick war ich sprachlos. Ich wusste wirklich nicht, ob es nicht besser war, unverrichteter Dinge wieder abzurücken. Glücklicherweise fuhr in dieser Sekunde ein goldbrauner Opel Corsa auf das Grundstück. Dem Polizeibericht zufolge musste es sich um den Unfallwagen handeln.

Ich wandte mich der Kleinen zu. „Du solltest Clair besser Bescheid geben, dass Constantin gerade nach Hause gekommen ist.“ „Ich weiß schon, wegen dem Sex.“ Ich zwinkerte Silvana zu und sah ihr amüsiert nach. „Wer sind Sie?“, vernahm ich eine schnell näherkommende Stimme. Als ich mich zu ihr umdrehte, bestätigte sich meine Vermutung. Vor mir stand der Unfallverursacher.

„Ich komme von Ihrer Haftpflichtversicherung. Es geht um den von Ihnen verschuldeten Unfall der letztlich zum Tod des Unfallopfers führte.“ Meinem Gegenüber klappte die Kinnlade herunter. „Wie jetzt? Der Typ mit dem Fahrrad ist tot?“ „Sie haben richtig gehört“, bestätigte ich emotionslos. „Ich nahm an, Sie wussten längst davon.“ „Das..., das kann doch nicht sein. Der hatte doch nur ein paar Knochen gebrochen.“ Ich zuckte mit den Achseln. „Das wollte ich nicht“, stammelte er völlig von der Rolle. „Wie meinen Sie das?“, hakte ich nach. „Ich..., ich meine, weil ich ihn doch übersehen habe“, fasste er sich nur langsam wieder.

Man mag darüber denken was man will, aber mein Bauchgefühl sagte mir, dass hier irgendetwas ganz gewaltig zum Himmel stank. „Laut Polizeibericht hatten Sie zum Zeitpunkt des Unfalls eine Blutalkoholkonzentration von 0,0 Promille. Sie brauchen sich folglich keine Sorgen hinsichtlich der Regulierung des Unfallschadens machen.“ „Na ja, da sind ja diese beiden Beulen im Kotflügel und auf der Motorhaube“, erklärte Constantin zur Strassen. „Ich fürchte, da haben Sie mich missverstanden. Ich sprach von dem Schaden, den das Unfallopfer erlitt.“ „Ach so, ja natürlich“, begriff der junge Mann. „Als Unfallverursacher müssen Sie den eigenen Schaden leider selber tragen.“

Auch jetzt noch, Minuten nachdem er vom Tod des Unfallopfers erfahren hatte, stand Constantin zur Strassen noch unter Schock. Auch wenn es nicht die feine Englische Art ist, musste ich mir diesen Umstand zu Nutze machen. „Bei der Durchsicht des Polizeiberichts und der Sichtung der Aufzeichnung der Überwachungskamera fiel mir auf, wie Sie kurz vor dem Zusammenprall mit dem Radfahrer nach rechts sahen. Demnach müssten Sie Lars Brennecke gesehen haben. Wenn dem so ist, hätten Sie den Unfall vermeiden können.“ „Das ist doch Blödsinn! Wenn ich den Radfahrer gesehen hätte, wäre ich doch nicht abgebogen“, widersprach er energisch. Ich zückte mein Handy und rief die besagten Videosequenzen auf, um ihn damit zu konfrontieren.

„Sehen Sie selbst“, baute ich einen gewissen Druck auf. „Hier drehen Sie Ihren Kopf doch eindeutig nach rechts. Sie müssen Lars Brennecke gesehen haben!“ „Nein, habe ich nicht!“, wehrte er sich, ohne dabei überzeugend auf mich zu wirken. „Sie müssen zugeben, dass es so aussieht.“ Er schüttelte den Kopf. „Aber weshalb sollten Sie Lars Brennecke absichtlich über den Haufen fahren?“, überlegte ich laut. „Es sei denn...“ Ich ließ ihn zappeln, um seine Reaktion genau zu beobachten. „Es sei denn, Sie und Lars Brennecke kannten sich und hatten sich möglicherweise in den Flicken.“

„Nein!“, entgegnete er irgendwie erleichtert. „Ich kannte diesen Typ nicht und ich hatte auch nichts mit ihm zu tun.“ „Nun gut, ich werde Ihre Angaben überprüfen“, warnte ich. „Tun Sie, was Sie nicht lassen können und nun lassen Sie mich in Ruhe!“ Mit diesen Worten drückte er die Haustür auf und schlug sie mir mit dem nächsten Atemzug vor der Nase zu. Der Eindruck, den ich bei der Ansicht des Videomaterials gewonnen hatte, hatte sich bestätigt. Constantin zur Strassen hatte das Unfallopfer vor dem Zusammenstoß gesehen. Die Frage war nur, weshalb er nicht reagiert hatte.