Detektei Lessing

 

…und nichts als die Wahrheit.

 

 

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Die wärmenden Strahlen der Nachmittagssonne spiegelten sich im klaren Eis des zugefrorenen Südsees. Aus der Ferne hallte das Bellen eines Hundes durch die klare Februarluft und das fröhliche Lachen von Kindern, die sich die Zeit mit Eishockey vertrieben. Wie stets, wenn der See zugefroren war, wurde das fröhliche Treiben auf dem Eis von den Männern und Frauen der nahe gelegenen DLRG Station überwacht. So war es auch an diesem letzten Freitag im Februar 2007.

Die Jungen hatten sich das Spielfeld unweit des langen Holzstegs abgesteckt, der sich in der Mitte des etwa 20 Hektar großen Sees befindet. Die ‚Wölfe aus der Liegnitzstraße' führten bereits mit 3:2, als die ‚Panther vom Mühlenweg' kurz vor Spielende einen letzten Schuss abgaben. Es war ein wuchtiger Knaller, abgefeuert aus dem Mitteldrittel, der da auf Michael im Tor der Wölfe zuflog. Der Puck verfehlte ihn nur knapp und flog mit einem Affentempo auf die Baumreihe zu, welche die schmale Landzunge säumte, die ein Stück weit hinter dem Tor der Wölfe in den See ragte. Mit der vergebenen Chance ertönte der Schlusspfiff.

„He, wartet auf mich, ich muss erst noch den Puck holen!“, rief Michael seinen Freunden zu. „Ja, mach schon!“, entgegneten die Jungs. Der Torhüter der Wölfe fluchte missgelaunt in seinen Flaum, der erst noch ein Oberlippenbart werden sollte und begann mit der Suche nach dem teuren Puck. Aus den Augenwinkeln hatte er wahrgenommen, wie die kleine Hartgummischeibe ausgerechnet auf die Baumreihe zugeflogen war. Zwischen all den Blättern und Ästen, die der Herbstwind an dieser Stelle des Sees zusammengetragen hatte, war das dunkle Spielgerät nur sehr schwer auszumachen. Hinzu kamen die immer tiefer sinkende Sonne und die damit verbundene rasch einsetzende Dunkelheit.

Zunehmend brummiger fuchtelte er mit seinem Eishockeyschläger zwischen den Zweigen herum. „Ihr könntet mir ruhig mal beim Suchen helfen!“, wandte er sich murrend seinen Freunden zu. Michael hatte den Satz noch nicht beendet, als er auch schon spürte, wie das Eis unter seinen Schlittschuhen knackend nachgab und er, wie in Zeitlupe und doch schnell genug, in das eisige Wasser glitt, um ihn jeglicher Möglichkeit zu berauben, sich an das nahe Ufer zu retten.

Sein von panischer Angst getriebener Hilfeschrei gellte weit über den See. Vor Entsetzen starr, sahen seine Freunde zu, wie sich Michael mit dem Oberkörper auf dem glatten Eis verzweifelt zu halten versuchte. „Ihr lauft rüber zur DLRG und holt Hilfe“, ergriff Eyck die Initiative. „Ihr beide sucht einen langen Stock“, fuhr er entschlossen fort. „Die Anderen kommen mit mir. Wir müssen ihn sichern, damit er nicht weiter abrutscht.“ Froh über die Tatkraft ihres Mannschaftsführers, taten sie, was er verlangte.

In etwa fünf Metern Entfernung zu ihrem Freund stoppten Eyck und die Jungen. „Wir müssen uns auf den Bauch legen und eine Schlange bilden, in der jeder die Beine seines Vordermannes festhält“, erklärte er und robbte als Erster auf Michael zu. Zwei weitere Jungen folgten seinem Beispiel. Die Übrigen blieben unentschlossen oder aus Angst zurück.

Michael schrie noch immer in panischer Angst. Einer Robbe gleich, versuchte er sich auf dem blanken Eis zu halten, doch das kalte Wasser lähmte allmählich seine Beine, erfasste schneller und schneller auch den Rest seines Körpers. „Halte durch!“, rief Eyck ihm zu, „wir sind gleich bei dir.“ „Macht schnell, ich kann nicht mehr“, entgegnete Michael schnaufend. Inzwischen waren es nur noch seine Arme, mit denen er sich am Eis festklammerte.

Während sich die Jungen in der beschriebenen Weise Meter um Meter der Einbruchstelle näherten, knackte die Eisdecke unter ihnen bedrohlich. Feine Haarrisse bildeten sich, um sich unkontrolliert in alle Richtungen voranzufressen.

Es waren nur noch Zentimeter, die die Jungen von ihrem Freund trennten und doch schienen sie eine unüberwindliche Entfernung zu bleiben. „Ich kann nicht weiter, sonst brechen wir alle ein. Du musst dich so ruhig wie möglich verhalten“, versuchte Eyck auf ihn einzuwirken, doch seine Worte verhallten angesichts der Verzweiflung, mit der Michael gegen das sichere Ertrinken kämpfte.

Nicht eine Sekunde zu früh warfen die Jungen Eyck einen langen Ast zu, der dicht neben ihm liegen blieb. „Halt dich daran fest!“, rief er seinem Freund zu. „Hilfe wird gleich da sein.“

Womit Eyck gottlob Recht behalten sollte. Die Retter der DLRG schoben kurz darauf ein Schlauchboot bis an die Einbruchstelle vor und zogen den Jungen aus dem Wasser. Noch während sie ihn bargen, machte einer der Männer eine grausige Entdeckung. Hinter dem Verunglückten tauchte plötzlich der Torso eines Leichnams auf.

 

-2-

 

Freitag, 23.02.07

 

Hauptkommissar Wurzer von der Braunschweiger Kripo und seine Kollegin Gesine Hoffmeister waren gerade in einer anderen Angelegenheit im Ortsteil Melverode unterwegs, als sie der Einsatzbefehl erreichte.

Auf dem Parkplatz des nahen Restaurants standen bereits Einsatzfahrzeuge von Polizei und Feuerwehr. Im Rettungswagen des DRK kümmerten sich Notarzt und Sanitäter um den verunglückten Jungen. Ein Oberkommissar in Uniform gab ihnen einen ersten Überblick.

„Der Junge…“, er unterbrach sich, um auf einen Notizzettel zu schauen, „…ein gewisser Michael Proczewski, wird mit leichten Erfrierungen und einem gehörigen Schrecken davonkommen.“ „Hat er den Torso gefunden?“, hakte Gesine nach. „Nein, er hat gottlob nichts von dem Fund mitbekommen. Ich habe die Mutter bereits erreichen können, sie ist auf dem Weg hierher.“ „Sehr gut“, entgegnete Jürgen Wurzer knapp. „Wo befindet sich der Leichnam?“, erkundigte er sich weiter. Schlagartig wich jegliche Farbe aus dem Gesicht des Polizeibeamten. „So etwas habe ich während meiner gesamten Laufbahn nicht gesehen“, entgegnete der hünenhafte Mann mit den zwei silbernen Sternen auf den Schulterklappen. „…und glauben Sie mir, ich habe schon einiges gesehen.“ Er nahm die Mütze ab und strich sich seufzend über das mausgraue Haar. „Die Feuerwehrleute haben den Torso nur an das Ufer gebracht und mit einer Plane bedeckt, um eventuell vorhandene Hinweise nicht unnötig zu verwischen.“

Noch ehe der Hauptkommissar und seine Mitarbeiterin zum Fundort des Leichnams aufbrachen, trafen Ruprecht Ramsauer, Rechtsmediziner in Diensten der Braunschweiger Staatsanwaltschaft und Gernot Räuber mit seinen Leuten von der Spurensicherung ein. Die Kollegen begrüßten sich kurz, um gleich darauf die Okerbrücke in Richtung See zu überqueren.

Auf der schmalen Landzunge, die den Fluss vom See trennte, waren einige Männer und Frauen der Deutschen Lebensrettungsgesellschaft mit einem Schlauchboot beschäftigt. Der Schreck stand ihnen noch ins Gesicht geschrieben. „Das sind die Leute, die den Jungen aus dem Wasser fischten und den Leichnam entdeckten“, erklärte der Oberkommissar. „Wurden ihre Personalien festgestellt?“, fragte Gesine Hoffmeister nach. „Selbstverständlich“, empörte sich der Uniformierte. „Ich mache den Job nicht erst seit gestern.“ Die junge Kommissarin zog den Kopf zwischen ihre Schultern. „Tut mir Leid, so war's nicht gemeint.“ „Dann ist ja gut“, brummte der Angesprochene.

Polizeibeamte der Schutzpolizei hatten inzwischen einen Teil des Sees und des angrenzenden Ufers weiträumig abgesperrt. Der schreckliche Fund lag offensichtlich unter einer braunen Plane, wie sie auch vom Technischen Hilfswerk verwendet wird. Wurzer und seine Begleiter hatten noch etwa einhundert Meter zurückzulegen, bis sie das Trassierband erreichten, mit dem der Fundort abgesperrt war. An dieser Stelle übernahm Ruprecht Ramsauer die Initiative. Ihm gebührte der erste Blick auf den Leichnam. Unterdessen inspizierten Gernot Räuber und seine Mitarbeiter die nähere Umgebung.

Selbst dem erfahrenen Rechtsmediziner verschlug es einen Moment lang die Sprache. Der Anblick des zerstückelten Körpers erforderte seine ganze Beherrschung. Nach einer ganzen Weile erhob er sich schließlich und schüttelte, einen tiefen Seufzer ausstoßend, den Kopf.

„Wie sieht es aus, Herr Doktor, können Sie schon etwas über Todeszeitpunkt und Ursache sagen?“, erkundigte sich der Hauptkommissar. „Ich bin Arzt und kein Hellseher“, erwiderte Ruprecht Ramsauer. Eine Feststellung, die der Mediziner nur allzu gern verlautbaren ließ, wenn man ihm eine schnelle Stellungnahme abverlangte. „Ich kann bisher nur eines mit Bestimmtheit sagen“, holte er aus. „Wer auch immer diesen männlichen Körper zerlegte, war vom Fach.“ „Sie sprechen von einem Arzt?“, schlussfolgerte Gesine Hoffmeister. „Ganz so einfach kann ich es Ihnen leider nicht machen“, entgegnete Ramsauer verschnupft. „Meine Feststellung bezog sich eher auf die Art und Weise, in der der Täter den Körper zerlegte.“ Die Kommissarin nickte ergründend. „Ich dachte da an Schlachter, Fleischer und natürlich auch an einen Arzt“, erklärte er. „Der Torso ist mit einem fachmännischen T-Schnitt geöffnet und zumindest teilweise ausgeweidet worden.“

„Was ist mit dem Todeszeitpunkt?“, hakte Wurzer nach. „Beim besten Willen“, zögerte der Mediziner. „Zum einen weiß ich nicht, wie lange sich der Torso im Wasser befand, zum anderen verfüge ich hier vor Ort nicht über die entsprechenden Mittel. Sie werden sich also noch bis zum Abschluss der Obduktion gedulden müssen.“ „Also bis spätestens morgen Nachmittag“, mahnte ihn der Hauptkommissar zur Eile. „Gut Ding braucht Weile“, erwiderte Ramsauer in einem Ton, der keinen Zweifel an seiner Laune offen ließ. „Es wäre der Sache sicherlich zuträglich, wenn Sie die fehlenden Extremitäten rasch finden würden“, holte er zum Gegenschlag aus. „So lange der See zugefroren ist, wird das sicherlich nicht einfach sein.“ „Tja, verehrter Herr Hauptkommissar, das dürfte dann wohl Ihr Problem sein.“

Mit diesen Worten packte der Mediziner seinen Instrumentenkoffer ein, deckte die Leiche wieder zu und wandte sich, der jungen Kommissarin zu, bevor er ging. „Sie sollten sich diesen Anblick ersparen, meine Liebe, das ist sicher nichts für zart besaitete Gemüter.“ Gesine Hoffmeister verstand den gut gemeinten Rat des Mediziners falsch und fühlte sich daher in ihrer Person angegriffen. „Der Anblick einer Leiche gehört zu meinem Job. Egal in welchem Zustand sie sich befindet. Wenn ich damit nicht klar käme, wäre ich Verkäuferin geworden.“

Derart motiviert wandte sie sich der braunen Plane zu, beugte sich über sie und zog sie zurück, so dass der Torso sichtbar wurde. Erschrocken wich sie zurück. Natürlich hatte sie sich, so weit dies möglich war, auf diesen Anblick vorbereitet, aber was sie nun sah, sprengte ihre Vorstellungskraft. Der Kopf des Mannes war unterhalb der Kehle abgetrennt. Der gesamte Brustkorb der Länge nach aufgeschnitten und teilweise eingefallen und von den Armen waren nur noch kurze Stümpfe vorhanden.

Weiter drangen ihre Blicke nicht, lösten sich von einer Sekunde zur anderen von ihrem Ziel, um im Nirgendwo der Dunkelheit zu verstummen. „Gesine, komm zu dir. Gesine!“, vernahm sie ihren Namen durch den dichten Nebel des Entsetzens. Übermannt von ihren eigenen Gefühlen, waren ihr die Sinne geschwunden. Nur für die Dauer eines winzigen Moments hatte sie die Kraft verloren. Zu furchtbar waren die Bilder, die wie abgerissene Bilder in chaotischer Folge und in rasender Geschwindigkeit durch ihren Kopf pulsierten.

„Es geht schon wieder“, stammelte sie allmählich wieder zu sich kommend. Von Wurzer und Ramsauer gestützt, versuchte sie tief durchzuatmen und die noch weichen Knie durchzudrücken. Ärgerlich und unzufrieden mit ihrer Reaktion, versuchte sie sich der Hilfestellung der beiden Männer zu entledigen, merkte aber sehr schnell, dass ihr die Beine immer noch den Dienst versagten.

Ramsauer griff in sein Köfferchen und entnahm diesem ein kleines Fläschchen, welches er sogleich entkorkte und der Kommissarin unter die Nase hielt. „Es wird gleich besser“, sprach er aus dem Brustton der Überzeugung. „Es wäre doch nun wirklich nicht nötig gewesen, sich den Leichnam anzusehen“, fügte Hauptkommissar Wurzer kopfschüttelnd hinzu. „Ich wollte doch nur…“, stammelte sie verlegen. „Na, nun stecken Sie den Kopf mal nicht in den Sand. So etwas ist schon ganz anderen passiert“, sprach er beruhigend auf sie ein. „Das Beste wird sein, wenn Sie sich auf die Bank da vorn setzen und erst einmal tief durchatmen.“ Gesine Hoffmeister befolgte den Rat ihres Chefs eher zögerlich und doch dankbar.

Während sich Hauptkommissar Wurzer nun seinerseits den Leichnam ansah, bohrten sich die Blicke der Achtundzwanzigjährigen auf der Suche nach dem Warum durch die aufkommende Dunkelheit. Welches Ungeheuer konnte einem Menschen etwas so Schreckliches zufügen? Wie viel Hass musste ein Mensch in sich tragen, um zu einer solchen Tat fähig zu sein? Welches konnte die Triebfeder sein? Eifersucht, Habgier, Rache?

Die Leute der Spurensicherung stellten derweil große Scheinwerfer auf, die ihnen den Fortgang ihrer akribischen Arbeit auch weiterhin, wahrscheinlich bis tief in die Nacht, ermöglichen sollten. Alles und damit war wirklich alles gemeint, konnte bei der Lösung dieses Verbrechens eine Bedeutung erlangen. Eine achtlos fortgeworfene Zigarettenkippe oder Schleifspuren, die auf die Richtung deuten konnten, aus der jene tragischen Überreste eines offensichtlich relativ jungen Mannes an den See geschafft wurden. Schuhsohlen, die sich im weichen Uferbereich eindrückten und durch den plötzlich einsetzenden Frost der vergangenen Woche konservierten. All dies und vieles andere war möglich und musste deswegen umgehend sichergestellt werden.

Sie erschrak, als Hauptkommissar Wurzer plötzlich vor ihr stand und seine Hand nach ihr ausstreckte. „Es wird kalt. Ich habe gesehen, was wichtig war. Alles andere hat Zeit bis morgen. Jetzt fahre ich Sie erst einmal nach Hause.“ „Sollten wir nicht die Leute von der DLRG befragen?“, entgegnete Gesine verwundert. „Das hatte ich anschließend vor“, räumte der Mann mit dem Dreitagebart ein. „Das ist doch Quatsch. Wir müssen herausfinden, ob ihnen in der letzten Zeit irgendetwas Besonderes auffiel. Soweit ich weiß, ist die DLRG Station immer dann tagsüber besetzt, wenn der See zugefroren ist.“

Gesine Hoffmeister arbeitete erst seit kurzem für Hauptkommissar Jürgen Wurzer, der von seinen Freunden nur kurz Jogi genannt wurde, kam von der Sitte aus Salzgitter und wollte nun bei der Kripo in Braunschweig Karriere machen. Sie hatte Ergeiz, keine Frage, wenn sie auch gelegentlich dabei über das Ziel hinausschoss. Obendrein war sie auch noch unerhört hübsch, was ihre Ambition nicht unbedingt erleichterte. Von wegen blond und blöd. Nun, wie auch immer, in Jogi schien sie endlich einen Chef gefunden zu haben, der ihre Qualitäten eher auf ihre inneren Werte bezog.

„Tja, Frau Hoffmeister, wenn Sie davon überzeugt sind, dass es Ihnen wieder besser...“ „Aber klar, Chef“, fiel sie ihm ins Wort, „so etwas haut mich doch nicht um.“ Sie sprang förmlich von der Bank auf, um ihren Tatendrang unter Beweis zu stellen und geriet prompt ins Straucheln, was sie jedoch geschickt mit einem Lächeln zu überspielen vermochte. „Von mir aus können wir.“ Hauptkommissar Wurzer wäre nicht der anerkannt gute Ermittler, wenn ihm die kleine Unsicherheit seiner Kollegin verborgen geblieben wäre. Er nahm diese mit einem Seufzer hin und ließ sie gewähren.

Die Leute der DLRG hatten das Schlauchboot, in dem sie den Jungen aus dem Wasser gerettet hatten, inzwischen zur Überwachungsstation gebracht und saßen nun im Aufenthaltsraum beisammen, um sich über die Ereignisse zu unterhalten. Eine Art Therapie, mit der Erlebtes besser verarbeitet werden soll. Als Hauptkommissar Wurzer und seine Kollegin zu ihnen stießen, schilderte einer der Männer gerade die Situation, als er hinter dem Jungen den Torso aus dem Wasser auftauchen sah.

„Es war, als hüpfe ein Korken auf dem Wasser. Möglicherweise hat sich der Körper durch das wilde Strampeln des Jungen vom Boden des Sees gelöst und ist an die Oberfläche geschossen.“ Dieser eher nüchternen Aussage des Zeugen folgte ein schauderndes „Igitt“, welches beim Erzähler nur ein breites Grinsen hervorrief. Der Mann gehörte wohl er in die Kategorie ‚Supercool', wenngleich er mit dieser Abgeklärtheit wohl eher seine innere Erregung zu überspielen versuchte. Wurzer hatte während seiner Laufbahn schon viel zu viele dieser Typen erlebt, um auf ihre vorgeschobene Coolness hereinzufallen. Reiner Selbsterhaltungstrieb, sonst nichts.

„Haben Sie noch andere Körperteile unter dem Eis oder auf dem Wasser treibend gesehen?“, hakte Hauptkommissar Wurzer nach, seinen Dienstausweis in die Höhe haltend. Die Gruppe drehte sich zu ihm und Gesine Hoffmeister um. „Wie kommen Sie hier herein?“, erkundigte sich einer der Lebensretter überrascht. „Nun, die Tür war unverschlossen. Aber zurück zu meiner Frage: Haben Sie?“ Der gerade noch so Großspurige schüttelte nun nur noch ziemlich kleinlaut mit dem Kopf. „Nö.“

Womit sich der Hauptkommissar nun auch dem Rest der Gruppe zuwandte. „Ist irgendjemandem in den vergangenen Tagen etwas Ungewöhnliches aufgefallen?“ Allgemeines Kopfschütteln. „Jede Kleinigkeit kann von Bedeutung sein“, animierte Gesine die Anwesenden zu erneutem Nachdenken. „Wir sind heute den ersten Tag hier gewesen“, erklärte der Gruppenleiter. Der See wurde erst heute Morgen freigegeben. Vor ein paar Tagen noch war die Eisdecke viel zu dünn.“ „Wie dünn?“, wollte Wurzer wissen. Der Mann zog die Schultern nach oben. „Na, eben nicht tragfähig.“ „Wer kontrolliert das eigentlich?“ „Das ist verschieden, hier in Braunschweig ist dafür die Stadtverwaltung zuständig.“

Nicht sonderlich zufrieden mit den erhaltenen Auskünften verabschiedeten sich die beiden Ermittler. Auf dem Parkplatz am Restaurant war wieder etwas Ruhe eingekehrt. Krankenwagen und Feuerwehr hatten ihre Plätze an den Leichenwagen des Gerichtsmedizinischen Instituts und an den Gerätewagen der Spurensicherung abgegeben. Die schwarz gekleideten Männer, denen stets der unangenehme Geruch des Todes anhaftet, schoben die Tragbahre in den Wagen und schlossen klappend die Türen. Durch die beleuchteten Fenster des Seerestaurants drangen Musik und Gesprächsfetzen auf den nur schwach beleuchteten Parkplatz.

Der Blick der beiden Kriminalisten traf sich wie aufs Stichwort. „Was da drinnen wohl gerade gesprochen wird?“, fragte der Hauptkommissar nachdenklich. „Wie wäre es, wenn wir es herausfinden“, entgegnete seine Kollegin mit einem Schmunzeln auf den Lippen. „Das Gleiche wollte ich Ihnen auch gerade vorschlagen.“

Warme, von Zigarettenrauch geschwängerte Luft schlug ihnen entgegen, als sie die Tür zum Schankraum betraten. Es war keines dieser renommierten Restaurants, in denen einem der Oberkellner einen Tisch zuweist, sondern eher ein gediegenes Wirtshaus mit gutbürgerlicher Atmosphäre. Sämtliche Barhocker vor der Theke waren besetzt. Es waren ausnahmslos Männer, die sich herumdrehten, als die Ermittler den Raum betraten. Ihre Gespräche verstummten. Stattdessen durchschnitten musternde Blicke, die ihr Ziel in den beiden Unbekannten fanden, die Örtlichkeit.

Hauptkommissar Wurzer und seine Kollegin traten als Pärchen auf, setzten sich unweit der Theke an einen der noch freien Tische und taten so, als würden sie sich nur für sich selbst interessieren. Die Männer an der Bar kehrten sehr schnell zu ihren Gesprächen zurück. Keine Frage, welches Thema sie bewegte. Es waren Mutmaßungen, wilde Gerüchte und noch wildere Fantasien, die die Beteiligten zu immer waghalsigeren Ergebnissen kommen ließen.

„Möchten die Herrschaften speisen?“, fragte der Wirt, mitten hinein in dieses Gewusel verschiedener Stimmen. Ein kurzer Blick in Gesines Augen verriet dem Hauptkommissar, dass seine Kollegin bereits am Verhungern war. „Gern, gibt es etwas, was Sie uns empfehlen könnten?“ „Wie wäre es mit einem Südseetraum?“ Im Gesicht der Kommissarin zeichnete sich ein Fragezeichen ab. „Es handelt sich um ein Gericht aus meiner türkischen Heimat, das wir mit ein wenig Fantasie versehen haben.“ Was auch immer dies heißen mochte, allein die Beschreibung verhieß etwas Besonderes. „Also schön, lassen wir uns überraschen“, entschied Jürgen Wurzer spontan. „Ich empfehle einen trockenen Rotwein dazu. Vielleicht einen Bogazkere?“ „Warum nicht, hört sich gut an, aber bitte nur eine kleine Flasche, ich muss noch fahren.“ Der Wirt machte eine freundliche Geste und verschwand.

Fast schon hätte der Hauptkommissar den eigentlichen Grund ihres Besuchs vergessen, wären da nicht die Worte eines der Gäste gewesen, die von einem weißen Mercedes kündeten, der diesem einige Tage zuvor zu nächtlicher Zeit auf dem Parkplatz auffiel. Ein dicklicher Mann mit kräftiger Statur sei ziemlich aufgeregt vom See her kommend zu diesem Wagen geeilt und dann mit durchdrehenden Reifen davongefahren, erzählte er den Männern neben sich. Die Ermittler spitzten die Ohren, doch alles was nun noch folgte, waren unhaltbare Hypothesen.

„Entschuldigen Sie, wenn ich mich einfach in Ihr Gespräch einmische“, sprach der Hauptkommissar die Männer einige Minuten später an. „Ich wurde zufällig Zeuge Ihres Gesprächs.“ Zeitgleich ließ er seinen Dienstausweis aufblitzen, was sofort den aufkommenden Unmut im Keim erstickte. „Sie alle haben von dem schrecklichen Fund gehört, der heute am See gemacht wurde“, wandte sich Wurzer nun auch an die übrigen Gäste. „Wir haben gerade erst die Ermittlungen aufgenommen und sind daher über jeden Hinweis dankbar. Hat möglicherweise jemand von Ihnen Beobachtungen gemacht, die uns weiterbringen könnten?“

„Hat jemand eine Idee, um wen es sich bei dem Toten handeln könnte?“, lenkte die Kommissarin die Aufmerksamkeit der Anwesenden nun auch auf sich. „Es war also ein Mann“, schlussfolgerte einer der Gäste. „So ist es“, ergriff der Hauptkommissar nun wieder das Wort. „Sie sprachen doch gerade von einem Mercedes, den Sie auf dem Parkplatz da draußen beobachtet haben“, half er einem älteren Mann mit südländischem Aussehen auf die Sprünge. „Warum fragen Sie, wenn sie schon alles wissen?“, entgegnete der Angesprochene verdrossen. „Hören Sie, ich habe hier einen äußerst abscheulichen Mord aufzuklären. Einen Mord, der nicht ungesühnt bleiben darf, da wir sonst vor der Gewalt kapitulieren würden. Wollen Sie bei uns Zustände, wie sie bereits überall dort herrschen, wo das Gesetz keine Geltung mehr besitzt? Wollen Sie morgen schon vielleicht der Nächste sein?“

Eine Mauer des Schweigens umhüllte die Männer. Keiner von ihnen sagte auch nur noch ein einziges Wort. „Also schön, meine Herren, dann werden wir jetzt Ihre Personalien feststellen und sie einzeln ins Polizeipräsidium vorladen. Glauben Sie mir, dort werden Sie reden.“ „Ist ja schon gut“, lenkte der Südländer ein. „Fragen Sie, was Sie wissen wollen und dann lassen Sie uns endlich in Ruhe“

Gut gesättigt und nicht unzufrieden mit den ersten Ergebnissen ihrer Recherchen verließen die beiden Ermittler wenig später das Restaurant am See. Sie hatten einen Teil des Kennzeichens erfahren, welches zu einem weißen Mercedes gehörte, der wenige Nächte zuvor in verdächtiger Weise in Tatortnähe beobachtet wurde und sie hatten eine, wenn auch vage Beschreibung des Fahrers. Eines Mannes, der nie zuvor am See gesehen worden war. Nicht viel, aber der Anfang ihrer Ermittlungen, bei denen es darum ging, einen Mordfall aufzuklären, wie ihn Jürgen Wurzer nie zuvor auf dem Schreibtisch hatte.

 

-3-

 

Zwei Wochen zuvor.

 

Die Frau, die da auf dem Besucherstuhl vor meinem Schreibtisch saß, gab sich große Mühe, ihre Scham zu verbergen. Sie war attraktiv, ebenso alt wie ich und sie war viele Jahre zuvor meine große heimliche Liebe. Genauer gesagt vor 34 Jahren. Damals trafen wir uns täglich, dass heißt montags bis freitags und auch nur außerhalb der Ferien. Unser Treffpunkt war der Kindergarten in der Wolfenbütteler Wallstraße. Komisch, es gibt Dinge, die man nie vergisst. Oder sollte ich lieber sagen, die ich nie vergesse, denn die huldvolle Ruth hatte sich meiner bislang nicht erinnert. Sei's drum, ich hatte beschlossen, es erst einmal dabei zu belassen.

„Wie Sie sich denken können, Herr Lessing, fällt es mir nicht eben leicht, mein Privatleben vor Ihnen auszubreiten“, begann mir Ruth den Grund für ihren Besuch in meiner Kanzlei näher zu bringen. „Ich habe den Verdacht, dass mich mein Mann betrügt.“ Während sie diesen schicksalhaften Satz aussprach, sah sie betrübt auf meinen unaufgeräumten Schreibtisch und versuchte meinen forschenden Blicken zu entfliehen. „Worauf stützt sich dieser Verdacht?“, erkundigte ich mich geschäftsmäßig. Ruth Soltau, wie sie inzwischen hieß, öffnete ihre Handtasche und zog einen Briefumschlag heraus, den sie mir sogleich wortlos zureichte.

Wie ich den anonymen Zeilen entnahm, schrieb ihr eine unbekannte Person, was Ruths Ehemann trieb, wenn er eigentlich auf dem Schlachthof in Braunschweig oder andernorts sei. Demzufolge nahm er die Dienste einer ganz bestimmten Dame in Anspruch, welche in einem Braunschweiger Bordell tätig war. Unterschrieben war der Wisch mit folgendem Zusatz: jemand, der es gut mit Ihnen meint.

„Nun, bei anonymen Briefen rate ich stets zur Vorsicht“, relativierte ich das Gelesene, während ich den Zettel zusammenfaltete und zurück in den Umschlag bugsierte. „Sie sind ein probates Mittel, um jemanden in ein falsches Licht zu rücken.“ „Glauben Sie mir, Herr Lessing, eine Frau spürt so etwas. Es sind die Kleinigkeiten, die uns sagen, wenn etwas nicht stimmt. Die fehlenden Aufmerksamkeiten, ein fremdes Parfüm, Lippenstift am Hemdskragen oder das abrupte Beenden eines Gesprächs, wenn ich sein Büro betrat. Ich könnte Ihnen Dutzende solcher Merkmale nennen, ohne lange darüber nachdenken zu müssen.“

Ich tat einen tiefen Seufzer. Die Sache schien tatsächlich eindeutig zu sein, wenngleich ich mich im selben Moment fragte, was sie eigentlich dann noch von mir wollte. „Also schön, wie ich sehe, haben Sie bereits mit detektivischem Spürsinn herausgefunden, was einen endgültigen Entschluss nur begünstigen kann“, brachte ich es auf den Punkt. „Aber ich will mich nicht von meinem Mann trennen“, entgegnete sie energisch. In ihren Augen zeichnete sich wilde Entschlossenheit ab. „Jedenfalls nicht jetzt“, schob sie nach einer Weile der Besinnung nach. Verstehe einer die Frauen , dachte ich mir und wusste gar nicht mehr, was ich denken sollte.

Trude kam einmal mehr genau im richtigen Augenblick zur Tür herein. Das kräftige Aroma ihres einzigartigen Kaffees eilte ihr voraus. „Ah, der Kaffee“, begrüßte ich die willkommene Ablenkung. „Jetzt trinken wir erst einmal ein Tässchen dieses köstlichen Nektars und dann erzählen Sie mir einfach der Reihe nach, warum eine Scheidung momentan nicht in Betracht kommt.“

Ruth Soltau wartete, bis Trude das Büro verlassen hatte. „Ich weiß gar nicht, wie ich anfangen soll“, seufzte sie. „Beginnen Sie mit dem, was Ihnen gerade in den Sinn kommt, ordnen können wir später.“ „Also schön, mein Mann und ich betreiben hier in Wolfenbüttel eine Schlachterei. Das Geschäft geht mittlerweile gut, aber das war nicht immer so. Ich habe damals geerbt und das ganze Geld in den Laden gesteckt. Wenn ich meinen Mann heute verlasse, stehe ich völlig mittellos da.“ Das musste ich erst sortieren. „Sie sagten doch gerade, die Schlachterei liefe gut. Wenn es zur Scheidung kommt, gehört Ihnen von allem die Hälfte.“ „So einfach ist es leider nicht“, widersprach die potenzielle Auftraggeberin. „Das Geschäft wirft offiziell nur wenig Gewinn ab. Damit es nicht auffällt, hat mein Mann das Geld gewinnbringend angelegt.“ „Schwarzgeld“, brachte ich es auf den Punkt. Ruth nickte wie ein Kind, das gerade beim Diebstahl erwischt wurde. „Leider macht er ein Geheimnis daraus, wo er das Geld investiert.“ „Wissen Sie, um welche Summe es sich handelt?“, hakte ich nach. „Etwa eine viertel Million.“

Ein leiser Pfiff huschte über meine Lippen. „Also schön, was wollen Sie nun im Speziellen von mir?“ „Klarheit“, entgegnete sie vielsagend. „Zunächst möchte ich wissen, ob er mich tatsächlich betrügt und natürlich mit wem. Wenn sich der anonyme Brief bewahrheitet, wüsste ich gern, wo er das Geld angelegt hat.“ Ich dachte einen Moment lang nach und um letztendlich wegen meiner mal wieder angespannten Haushaltslage nachzugeben.

„Mein Honorar beträgt dreihundert Euro pro Tag, plus Spesen“, erklärte ich ohne Umschweife. Wobei es mir nicht schwer fiel, das Geschäftliche und die Gefühle voneinander zu trennen, die ich dem kleinen Mädchen entgegenbrachte, welches sie vor langer Zeit gewesen war. „Zweihundert“, entgegnete sie trocken. „Hören Sie, wir sind hier nicht in einem türkischen Bazar“, entgegnete ich schief lächelnd. Die Gute griff nach ihrer Handtasche und erhob sich. „Dann eben nicht.“ „Also schön“, gab ich klein bei, „…weil Sie es sind, zweihundertfünfzig.“ „Es hat mich sehr gefreut, Herr Lessing.“ Was für ein Luder, dachte ich mir und ärgerte mich, sie damals aus den Augen verloren zu haben. Was hätte alles aus diesem Gespann werden können. „In Gottes Namen“, willigte ich schließlich ein. „Aber im Erfolgsfall bekomme ich einen Bonus von tausend Euro“, streckte ich ihr meine Hand entgegen, um den Deal zu besiegeln. „Drei Tage in Vorkasse sind üblich“, schob ich nach.

Sie sah mir durchdringend in die Augen, lächelte während sie ihren hübschen Kopf schüttelte und reichte mir das Geld. „Ich bin gespannt, ob sich der kleine schüchterne Junge aus dem Kindergarten wirklich in einen guten Detektiv gewandelt hat“, sprach sie und verschwand, noch ehe ich meinen Schock überwunden hatte und ihr eine passende Antwort geben konnte.

 

 

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Freitag, 23.02.2007

 

Die Mordkommission ‚Torso' wird gebildet. Zum leitenden Ermittler wird Kriminalhauptkommissar Jürgen Wurzer bestellt. Neben ihm gehören Kommissarin Gesine Hoffmeister, Oberkommissar Machmud Hariri und Kommissarin Isabelle Brenner zum Team.

„Ich wünschte, ich könnte Ihnen schon mehr sagen, aber die Untersuchung eines zerstückelten Körpers gehört nicht gerade zu den Fällen, die tagtäglich auf meinem Seziertisch liegen“, warnte der Rechtsmediziner vor übertriebenen Erwartungen. „Der Mann wurde mittels eines gezielten Stichs ins Herz getötet und zwar aller Wahrscheinlichkeit nach, nachdem man zuvor aus nächster Nähe einen Schuss auf ihn abgab“, erklärte der Rechtsmediziner den Anwesenden.

„Der Stich ins Herz des Opfers erfolgte in vitales, lebendes Gewebe. Es wurde aspiriertes, also eingeatmetes Blut in der Lunge nachgewiesen. Folglich muss das Opfer nach dem Bauchschuss noch gelebt haben, da es sonst kein Blut hätte einatmen können. Dass erst der Schuss und dann der Stich erfolgte, erklärt sich daraus, dass der Stich mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit tödlich und ein Weiteratmen dadurch nicht möglich gewesen wäre. Ich kann nahezu ausschließen, dass es sich um einen versehentlich ausgelösten Schuss gehandelt haben könnte, da es sich meiner Meinung nach um einen aufgesetzten Bauchschuss handelte. Das Messer, mit dem der tödliche Stich ausgeführt wurde, besaß eine etwa zwanzig Zentimeter lange Klinge. Ob es auch zum Teilen der Leiche verwandt wurde, was post mortem geschah, kann ich erst sagen, wenn ich die fehlenden Körperteile untersucht habe.“

Hauptkommissar Wurzer und seine Kollegen hatten den Ausführungen des Mediziners aufmerksam gelauscht. „Ein Unfall ist also auszuschließen“, fasste Wurzer abschließend noch einmal zusammen, was keiner der Anwesenden auch nur einen Augenblick lang in Frage gestellt hatte. „Davon können Sie ausgehen“, bestätigte der Mann im weißen Kittel. „Wie groß ist in etwa die Zeitspanne zwischen dem Schuss und dem tödlichen Stich ins Herz, erkundigte sich Gesine Hoffmeister. „Mindestens zehn, höchstens zwanzig Minuten“, entgegnete der Mediziner. „Nun noch zur alles entscheidenden Frage“, holte der Hauptkommissar aus. „Der rhetorischen Frage nach dem Todeszeitpunkt“, brachte es Ruprecht Ramsauer philosophisch auf den Punkt. „So ist es.“ „Drei bis vier Tage“, sagte er beflissentlich „Präziser geht es nicht?“ „Bedaure, wir haben alle relevanten Größen bei der Berechnung einbezogen. Wassertemperatur, Zersetzungsgrad des Torsos, wir haben die im Körper verbliebenen Organe nach neusten Erkenntnissen untersucht, eine variable Unbekannte von etwa vierundzwanzig Stunden bleibt dennoch.“ „Dienstag der 20. wäre Ihrer Meinung nach also das wahrscheinlichste Datum“, mutmaßte Oberkommissar Hariri. Der Mediziner nickte zustimmend. „Bislang deutet zumindest alles darauf hin.“

Hauptkommissar Wurzer strich sich nachdenklich über den Kopf. „Was ist mit seiner Identität?“ „Nun, ich würde auf einen Südländer tippen. Die Pigmentierung seiner Haut deutet auf den Südosten Europas hin. Etwa Zypern, die Türkei oder Griechenland.“ „Gibt es markante Muttermale, Tätowierungen oder dergleichen?“, erkundigte sich die Kommissarin weiter. „Außer einer Verbrennung unterhalb der linken Achselhöhle gibt es da leider nichts. Bringen Sie mir die fehlenden Gliedmaßen und ich werde Ihnen mehr sagen können. Übrigens, die DNA Auswertung in der zentralen Datenbank hat leider ebenso wenig gebracht wie der Torsoabgleich mit unseren Namenlosen in der Vermisstendatei.“ „Was zu erwarten war“; seufzte Hariri „Es wird noch Jahre dauern, wenn nicht Jahrzehnte, bis sich dort genügend Daten angesammelt haben, um einen halbwegs relevanten Abgleich durchführen zu können.“ „Hoffen wir also auf die Marinetaucher aus Eckernförde.“

 

Sonntag, 25.02.2007

 

„Was soll das heißen, ihr habt das Auto des Opfers gefunden?“, fragte Hauptkommissar Jürgen Wurzer verblüfft. „Wir wissen doch noch nicht einmal, um wen es sich bei dem Toten handelt.“ Der Kollege von der Sitte zog ein unschuldsvolles Gesicht. „Der Mann war ein gewisser Kemal Baskara. Er hat hin und wieder als Informant für uns gearbeitet“, löste er den gordischen Knoten. „Seine Frau hat ihn vor drei Tagen bei uns als vermisst gemeldet. Woraufhin wir die Einzelverbindungsnachweise seines Mobilfunkanbieters gecheckt haben.“ Jürgen Wurzer lehnte sich perplex in seinen Drehstuhl zurück und schüttelte den Kopf. „Und woher wisst ihr, dass es sich bei dem gefundenen Torso um die Überreste dieses Kemal Baskara handelt?“

„Da der Vermisste auf keiner Passagierliste einer Fluggesellschaft auftauchte, konnten wir davon ausgehen, dass er nicht in seine Heimat geflogen war. Ich muss Ihnen nicht erklären, welcher Apparat in Gang gesetzt wird, wenn ein Informant spurlos verschwindet.“ Wurzer war lange genug im Geschäft, um erkennen zu können, wie wertvoll der Tote zu Lebzeiten für die Kollegen gewesen sein muss.

„Wir haben schließlich die Angaben der Ehefrau mit den unbekannten Leichenfunden verglichen, die seit dem Verschwinden ihres Mannes bundesweit gemacht wurden und sind so auf den Torso gestoßen.“ Aufgrund der Verbindungsnachweise wurde uns sehr schnell klar, dass sich der Vermisste noch bis kurz vor seinem Tod im Großraum Braunschweig aufgehalten haben muss. Zu Recht, wie uns inzwischen der in Salzgitter Bad sichergestellte Wagen bestätigte.“

Hauptkommissar Wurzer zeigte sich beeindruckt. „Wenn das alles tatsächlich zutrifft, sollten wir die vermeintliche Witwe zu einer Identifizierung ins rechtsmedizinische Institut bitten.“ Der Kollege von der Sitte schürzte die Lippen. „Genau das habe ich mir auch gedacht. Die Dame wartet vor der Tür.“ „Na, Sie sind wohl von der ganz schellen Truppe“, stellte Wurzer überrascht fest. „Ich möchte in zwei Tagen meinen wohlverdienten Urlaub antreten. Bis dahin will ich alles in trocknen Tüchern haben“, erklärte Oberkommissar Rittersporn. „Übrigens, der Tote war im Rotlichtmilieu kein unbeschriebenes Blatt. Er besaß einige Bars und war Teilhaber eines Bordells.“ Wurzer zeigte sich beeindruckt.

Eine gute Stunde später befanden sich die beiden Kriminologen mit der Ehefrau des Opfers in der Pathologie des Rechtsmedizinischen Instituts Hannover. Ruprecht Ramsauer stand neben ihnen. Er entriegelte den Sicherheitsverschluss an der Klappe zum Kühlraum, hinter der das Opfer bis zu seiner Beisetzung zwischengelagert wurde. Die sich an einem Griff befindlichen Teleskopschienen eines Metallschlittens glitten sachte heraus. Wie zuvor mit dem Mediziner abgesprochen, deckte er lediglich die Stelle auf, an der sich die Brandwunde befand. Den traurigen Rest des Körpers ließ er unter dem Laken verborgen.

Als die junge Türkin das Opfer als ihren vermissten Ehemann identifizierte, brach sie in lautes Wehklagen aus. Noch mit demselben Atemzug riss sie das Laken herunter. Völlig außer sich warf sie sich auf den Torso und klammerte sich schluchzend daran fest. Eine derart heftige Reaktion hatte keiner der Anwesenden erwartet. Sie schrie und jammerte, riss hysterisch am Körper des Toten und ließ sich auch durch gutes Zureden nicht beruhigen. Dass der Umgang mit dem Tod in anderen Kulturkreisen für einen Durchschnittseuropäer schwer nachzuvollziehen ist, lag auf der Hand und doch kam den Männern dieser Gefühlsausbruch mehr als theatralisch vor. Nach einigen Momenten des Gewährens fasste sich der Oberkommissar schließlich ein Herz und riss die Witwe aus ihrer Inbrunst.

Die Szene war nicht nur der Witwe gehörig unter die Haut gegangen. Selbst der sonst so glatt wirkende Rechtsmediziner rang nach Worten. Erst nachdem er ihr eine Beruhigungsspritze verabreicht hatte, legte sich ihre Erregung wieder. „Haben Sie einen Verdacht, wer Ihrem Mann so etwas angetan haben könnte?“, fragte der Hauptkommissar die junge Frau mit den rehbraunen Augen. Sie schüttelte den Kopf. „Hatte Ihr Mann Feinde, Schulden oder größere Probleme? In dem Gewerbe, in dem Ihr Mann tätig war, gibt es häufig Revierkämpfe. Hat er in diesem Zusammenhang etwas erwähnt.“ Die Schwarzhaarige versuchte sich zu erinnern. „Tut mir Leid, Herr Hauptkommissar, aber Kemal hat nur selten mit mir über seine Geschäfte gesprochen. Darüber kann sein Bruder sicher mehr sagen. Er ist Geschäftsführer des ‚Beduin Serail' in Salzgitter Bad.“

„Haben Sie die Telefonnummer Ihres Schwagers zufällig parat?“ Die Witwe fingerte nach ihrem Handy. „Die Nummer ist eingespeichert“, sagte sie, das Telefon an Wurzer weiterreichend. „Sein Name ist Ahmet.“ Bei der Durchsicht der abgespeicherten Telefonnummern fiel dem Hauptkommissar die Ziffernfolge eines gewissen Hasso ins Auge. Vielleicht, weil er diesen Namen sonst nur in Verbindung mit dem Hund eines Freundes kannte.

 

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Montag, 12.02.07

 

„Sagen Sie nichts, Trude, ich weiß auch so, wie Sie über die Sache denken.“ „So?“, entgegnete meine Putzsekretärin gedehnt. „Ihrer werten Meinung nach entsprechen Fälle, bei denen ich einen Ehebruch nachweisen soll, doch nicht dem Ehrencodex eines Detektivs.“ „Ach wissen Sie, Chef, von der Ehre allein wird man auch nicht satt.“ Trude richtete ihren Blick auf die sechs Hunderter, die ich nach wie vor in meiner Hand hielt. „In diesem Fall empfinde ich den Auftrag sogar als eine glückliche Fügung. Wenn Sie gestatten?“ Blitzschnell fingerte sie fünf der sechs Scheine aus meiner Hand und steckte sie ein. „Schön, dass Sie an den Rest meines noch ausstehenden Lohnes vom letzten Monat gedacht haben.“

Da stand ich nun, mit einem einzigen übrig gebliebenen Schein in der Hand und überlegte, ob dieser ausreichen würde, um Miriam mal wieder zu einem leckeren Abendessen auszuführen. Bei der Vorstellung, was mich zum Nachtisch erwarten würde, konnte ich einfach nicht widerstehen. Die Rechnung über das bereits erhaltene Abhörequipment musste halt noch ein wenig warten.

Zunächst aber war da der neue Fall, den ich unverzüglich in Angriff nehmen wollte. „Sein Sie so lieb, Trude, schmeißen Sie den Computer an und suchen Sie mir alles über die Schlachterei Soltau heraus, was Sie im Internet finden können.“

Während ich meine Onlinekoryphäe für den Tag mit Arbeit versorgt wusste, machte ich mich auf, um die Spuren meiner Zielperson zu ergründen. Im Klartext, ich postierte mich an geeigneter Stelle, um Bruno Soltau wie ein Schatten zu folgen. Lange Zeit geschah gar nichts. Immer wieder starrte ich abwechselnd auf die Torausfahrt, die in den kleinen Hinterhof der Schlachterei führte und das Foto, welches mir Ruth Soltau überlassen hatte. Ein ums andere Mal fragte ich mich, was meine Sandkastenliebe an diesem Mann faszinierte. Ganz objektiv, ich fand mich attraktiver.

Es war bereits später Nachmittag, als sein weißer Mercedes 300 SL aus besagtem Tor auf die Straße rollte und in Richtung ‚Grüner Platz' abbog. Ich folgte ihm über den ‚Neuer Weg' den ‚Sternhausberg' nach Braunschweig, wo er schließlich in Höhe der Wilhelmstraße zielsicher in der Einfahrt des Moulin Rouge verschwand, einer einschlägig bekannten Nachtbar. Wobei das Objektiv meiner Kamera jede seiner Bewegungen festhielt.

Ich parkte meinen Wagen auf dem Seitenstreifen und folgte ihm. Mir war das Moulin Rouge noch aus meiner aktiven Zeit als Hauptkommissar bei der Braunschweiger Kriminalpolizei bekannt. Damals hieß der Laden allerdings ‚Oasis' und beherbergte offiziell einen Verein zur Förderung der Völkerverständigungen. Wobei jeder nur zu genau wusste, was dort wirklich gefördert wurde. Wie auch immer, jetzt wurde in den Räumlichkeiten eine Nachtbar betrieben.

Bruno Soltau schien sich bestens auszukennen. Er stellte seinen Wagen im Hinterhof ab und benutzte einen Seiteneingang. Ich wartete einige Minuten, ehe ich die Bar durch den Vordereingang betrat. Es war nicht mal 18 Uhr und doch war der Laden gut besucht. Ich staunte nicht schlecht über die gediegene Ausstattung. Samtroter Velours, an den Wänden freskenähnliche Gemälde, in denen altgriechische Liebesszenen nachgestellt waren. Überall kleine Nischen, die wie Separées wirkten. Im Hintergrund bizarre Musik, in dessen Rhythmus sich ein nackter Frauenleib an einer Stange herunterschlängelte.

Ich nahm mir vor, das Moulin Rouge irgendwann einmal, zusammen mit meinem alten Freund und ehemaligen Kollegen Jürgen Wurzer aufzusuchen. Meinen Blick nur äußerst ungern von jener sportlichen Dame an der Stange abwendend, suchte ich nach einem Platz, von dem aus ich eine gute Sicht auf das Geschehen hatte, selbst aber kaum gesehen wurde. Schließlich setzte ich mich an das Ende der Theke, wo ich mich hinter einigen Grünpflanzen klein machte. „N´ Abend Süßer“, begrüßte mich die Bardame mit rauchig kratziger Stimme. „N´ kleinen Piccolo?“ Ich dachte an meine begrenzte Barschaft und bestellte ein Mineralwasser. „Und für mich?“ warf mir die Wasserstoffblondine einen Blick zu, der selbst Eisberge zum schmelzen gebracht hätte. Wobei ihr üppiges Dekollete meine sämtlichen Blicke auffing. „Das kommt ganz auf dich an. Ich habe gesehen, dass man auch auf dem Hinterhof parken kann. Ist das privat oder kann ich meinen Wagen bei meinem nächsten Besuch auch da hinten parken? „N´ Witz, hä?“ Ich sah die Lady aus verkniffenen Augen an und schüttelte den Kopf. „Eigentlich nicht, wer will schon gern gesehen werden?“ „Ne Süßer, da hinten is nur für die Familie.“

Meine Zielperson war im Moulin Rouge also kein Unbekannter, soviel stand fest. „Was is nun mit meinem Piccolo?“ „Bedaure, aber mehr als ein Wasser war Ihre Auskunft nicht wert.“ „Weißt du, was ich nich abkann?“ Die Barfrau grinste angekratzt. „Klugscheißer und Pfennigfuchser.“ „Wer kauft schon die Katze im Sack“, entgegnete ich nüchtern. „Was bekommt man denn hier so geboten?“ „Das entscheiden die Mädchen selbst. Wenn du großzügig bist, werden sie es auch sein.“ „Also schön, heute habe ich keine Zeit mehr, aber nächstes Mal wirst du für mich tanzen.“ „Wenn du dich da mal nicht übernimmst, Kleiner“, entgegnete sie jovial.

Vierzehn Euro für eine Flasche Mineralwasser und sechs Euro Trinkgeld. Preise waren das… Ich war auf das Gesicht meiner Auftraggeberin gespannt, wenn ich ihr die Spesenabrechnung unter die Nase hielt. Im Augenblick war ich allerdings neugierig, wann der Schlachter das Moulin Rouge wieder verlassen würde. Da ich ihn in der Bar nicht gesehen hatte, konnte er nur mit einem der Mädchen auf dessen Zimmer verschwunden sein. Die Tatsache, dass er sich mit besagter Dame sehr schnell einig geworden sein musste und sein exklusiver Parkplatz sprachen dafür, dass meine Zielperson entweder ein Stammgast in diesem verkappten Bordell war oder hier irgendwelchen Geschäften nachging.

Ich dachte an meine Berufskollegen, von denen sich sicher einige nicht zu fein gewesen wären, ihre Zielperson auch mittels fragwürdiger Methoden in flagranti zu fotografieren. Ein solches Vorgehen ist meine Sache nicht. Ich ziehe es vor, mich auf weniger spektakuläre Fotos zu beschränken. Diese Vorgehensweise erfordert zwar erheblich mehr zeitlichen Einsatz, dokumentiert den Ehebruch dafür aber auch wesentlich präziser als es eine einzige Szene beschreiben könnte. Gerade heutzutage, wo es längst keine Kunst mehr ist, Fotos mittels eines einfachen Computers nach Belieben zu verändern, sagen detaillierte Aufzeichnungen bei der Klientel für erheblich mehr Sicherheit. Gleichzeitig sind sie der Arbeitsnachweis des Detektivs.

Der zu Observierende hielt sich länger als zwei Stunden im Moulin Rouge auf. Bevor sich der Schlachter in seinen Wagen setzte, warf er seiner Liebsten einen Handkuss zu. Die Dame stand hinter einem der Fenster im Obergeschoss. Auch diesen Moment trauter Zweisamkeit hielt ich selbstverständlich auf meiner Kamera fest. Leider spiegelte sich die Hofbeleuchtung so ungünstig im Fensterglas wider, dass ich nur darauf hoffen konnte, bei der Nachbearbeitung der Fotos etwas mehr zu erkennen.

Die Zielperson schien es plötzlich reichlich eilig zu haben. Der Mercedes schoss geradezu aus der Hofausfahrt. Ich hatte Mühe, Soltau auf der Fahrt durch die Stadt nicht zu verlieren.

Sein Ziel war die Metro. Gemeint ist nicht das Pariser U-Bahnsystem, sondern der Großeinkauf für Selbstständige im Ortsteil Rüningen. Auch hier blieb mir nur, in der Nähe seines Wagens auf seine Rückkehr zu warten. Eine Tätigkeit, die obwohl zumeist stinklangweilig, dem Ermittler ein gehöriges Maß an Aufmerksamkeit abverlangt. Muss man doch stets alles im Auge behalten, dabei so unauffällig wie möglich fungieren und gleichzeitig gegen die immer heftiger werdende Müdigkeit ankämpfen. Spätestens hier trennt sich die Spreu vom Weizen. Der gute Detektiv trifft diesbezüglich Vorkehrungen, wie eine Thermosflasche extra starken Kaffees oder wenn nötig auch durch einen grellen Pfeifton, der mittels Autoradio in kurzen Intervallen ertönt.

Nun, ich brauchte von alledem nichts. Zum einen war es noch verhältnismäßig früh, zum anderen hatte ich ständig Trude am Telefon. In ihrer Arbeitswut hatte sie einmal mehr sämtliches Zeitgefühl vergessen und war bei ihren Recherchen letztendlich auf sehr interessante Neuigkeiten gestoßen, die sie mir so schnell wie möglich zukommen ließ.

So hatte sie beispielsweise herausgefunden, dass der Sohn des Schlachters in Salzgitter Bad ein Tanzlokal betrieb. Ich fragte mich, weshalb meine Auftraggeberin nichts davon erwähnt hatte. Überdies konnte die Zielperson nicht gerade auf eine Sturm und Drangzeit verweisen, die man als ereignislos bezeichnen würde. Wie Trude von einer Bekannten wusste, die zu besagter Zeit für die Eltern des Schlachters arbeitete, war der Ehemann meiner Klientin wegen Diebstahl und Körperverletzung zu Wochenendarresten und Arbeitsstunden in sozialen Einrichtungen verurteilt worden. Aber dies lag viele Jahre zurück.

Es war bereits nach 21 Uhr, als der Schlachter einen gut bepackten Einkaufswagen über den Parkplatz zog. Getränkekisten, Gewürze, Obst, große Säcke mit Zwiebeln, Gurken, mehrere Eimer mit Senf und einen großen Karton mit Eiern. Alles in allem nichts Ungewöhnliches. Es dauerte eine Weile, ehe er alles im Wagen verstaut hatte. Schließlich setzte er sich wieder hinter das Steuer und fuhr über Leiferde zurück nach Wolfenbüttel. An der Schlachterei angekommen, fuhr er rückwärts in den kleinen Hof und lud den Einkauf aus.

Ich hatte meinen Skoda auf der gegenüberliegenden Straßenseite abgestellt und erstellte das Bewegungsprofil des ersten Observationstages, als sich das Tor abermals öffnete und der Mercedes ein weiteres Mal zum Vorschein kam. Auch jetzt schien es der Schlachter wieder eilig zu haben. Dieses Mal setzte er den Blinker allerdings auf der linken Seite. An Feierabend war also noch nicht zu denken. Ich folgte ihm über die ‚Lindener Straße', die ‚Halberstädter', am TÜV vorbei, in Richtung Salzgitter.

Zwanzig Minuten später stoppte der Mercedes vor einem Tanzlokal. Das musste die Bar seines Sohnes sein. Ich fragte mich, woher ein Dreiundzwanzigjähriger das nötige Kleingeld hatte, um einen solchen Laden zu eröffnen. Konnte es sein, dass die verschwundenen Schwarzgelder ohne Wissen meiner Auftraggeberin an dieser Stelle angelegt waren? Es gab nur einen Weg, um dies herauszufinden. Ich musste Einsicht in die Geschäftsunterlagen nehmen. Doch zuvor richtete sich meine Aufmerksamkeit allein auf den weißen Mercedes meiner Zielperson, denn gerade, als ich damit rechnete, dass sich Soltau in die ‚Waikikibar' begeben würde, hielt ein weiteres Fahrzeug vor dem Lokal.

Ein silbergrauer Camaro etwas älteren Baujahrs, aber noch immer top in Schuss, soviel ich in der matten Beleuchtung der Neonreklame der Bar erkennen konnte. Ein toller amerikanischer Wagen und doch haftete ihm das Klischee an, ein typisches Ludenauto zu sein. Der Typ, der sich da aus dem halbdunkel des Lichtschattens schälte und gemächlichen Schrittes auf Bruno Soltau zuging, steckte in einem edlen Zwirn. Ich schätzte ihn auf Mitte dreißig, nicht älter. Er begrüßte Soltau wie einen alten Bekannten. Mir fiel auf, dass er sich etwas zur Seite drehte, als einige Gäste die Bar verließen. Nicht betont, aber eben weit genug, um nicht erkannt zu werden.

Die Männer begaben sich entgegen meiner Erwartung nicht in das Lokal, sondern setzten sich in den Mercedes um sich dort zu unterhalten. Endlich konnte ich mein neues Richtmikrophon einsetzen. Bis es allerdings zusammengebaut und einsatzbereit war, verging wertvolle Zeit. Ich nahm mir vor, die Handgriffe bei Gelegenheit und unter ähnlichen Umständen zu üben.

„Wenn Sie glauben, dass ich mich noch länger von Ihnen vertrösten lasse, sind Sie schief gewickelt“, drohte die, nach meinem Dafürhalten, ältere Stimme. „Bleib locker, Meister. Im Moment läuft es nicht so gut“, entgegnete der Mann auf dem Beifahrersitz mit südländischem Slang. „So, da hatte ich vorhin aber einen ganz anderen Eindruck“, ließ sich Soltau nicht abkochen. „Ich habe gar nichts mehr mit der Sache zu tun“, behauptete der Camarofahrer. „Was soll das heißen?“, fuhr Soltau ihn an, jetzt um einiges erregter. Das hätte ich auch gern gewusst, doch genau in diesem Augenblick klappte die zuvor so mühsam zusammen gebastelte Gerätschaft auseinander und vorbei war's mit dem kleinen Lauschangriff.

Noch bevor ich das Teil wieder zusammengesteckt hatte, wurde die Unterredung abgebrochen und das sicher nicht mit einem Ergebnis, welches für beide Seiten zufrieden stellend war. Zumindest deutete die aufgebrachte Mimik in ihren Gesichtern darauf. Der Südländer warf die Autotür des Mercedes mit einem lauten Klappen zu und warf dem hinter dem Steuer sitzenden Schlachter einige wütende Worte in seiner Muttersprache zu. Die wenigen, die ich verstand, reichten aus, um mir ein Bild von der Intensität ihres Streits machen zu können. Reichlich verärgert legte ich das Stativ nicht gerade vorsichtig auf den Beifahrersitz ab und beobachtete, was auf der anderen Straßenseite weiter geschah. Zu gern hätte ich gewusst, weshalb sich die Männer im Zorn getrennt hatten.

Noch während der Camaro mit quietschenden Reifen davonbrauste, stieg meine Zielperson aus und verschwand in der Tanzbar. Ich ließ einige Minuten verstreichen, ehe ich seinem Beispiel folgte. Meinen Stetson ließ ich schweren Herzens im Auto zurück. Ich legte ihn auf den Beifahrersitz, um die Einzelteile des Peilsenders abzudecken. So toll mir der Hut auch steht, so auffällig ist er leider auch. Im Rahmen der Eingangstür warf ich einen Blick auf das kleine, in Messing gehaltene Inhaberschild. Meine Vermutung bestätigte sich, das Lokal gehörte tatsächlich Frank Soltau, dem Sohn meiner Auftraggeberin.

Der Zweimetermann hinter der Eingangstür musterte mich von Kopf bis Fuß, ehe er mir die zehn Euro Eintritt abnahm. „Das erste Gedeck ist frei“, brummte er mir eine Plastikmarke reichend. Die Frage nach einer Quittung verkniff ich mir. Die kleine Frau hinter dem Garderobentresen wollte mir zwei weitere Euro für mein Jackett abnehmen. Ich behielt es ohnehin lieber an.

Der Tanzpalast war zu meiner Überraschung sehr geschmackvoll ausgestattet. Mittelpunkt eines großen Saals war eine Theke, die über etliche Ecken verwinkelt annähernd die Hälfte des gesamten Raumes einnahm. Gegenüber der Bar befand sich die Tanzfläche, die wiederum von gemütlichen Nischen umgeben wurde. Unzählige Pflanzen und Palmen, welche scheinbar aus einem Meer von Steinen und Sand emporwuchsen, vermittelten dem Besucher das Gefühl inmitten einer Oase zu sitzen. Besonderer Clou war ein beleuchteter Wasserfall, der eine Wand über eine Fläche von etwa zehn Quadratmetern in den Teil eines tropischen Regenwaldes verwandelte. Die Waikikibar trug ihren Namen zu Recht. Leider war der Grund für meinen Besuch rein beruflicher Natur, aber ich nahm mir vor, bei Gelegenheit mit Miriam wieder zu kommen.

Obwohl noch nicht Wochenende, war der Laden gut besucht, was sicherlich auch an der angenehmen Atmosphäre lag. Es dauerte eine Weile, ehe ich einen Platz gefunden hatte, von dem aus ich alles überblicken konnte. Bruno Soltau konnte ich nicht entdecken. Ich bestellte einstweilen das freie Gedeck und sah mich nach altbekannten Gesichtern um. Immerhin hatte ich es während meiner Zeit bei der Braunschweiger Kripo mit so manchem Ganoven zu tun. „Die Musik ist so laut. Kann man hier irgendwo ungestört telefonieren?“, fragte ich die, nur mit einem raffiniert geschnittenen Korsage und einem pfiffigen Baströckchen bekleidete Bedienung, als sie das bestellte Getränk brachte. „Sie haben Glück. Es ist kaum zu glauben, aber wir haben tatsächlich noch einen alten Münzfernsprecher.“

Angesichts meiner Rückständigkeit deutete sie amüsiert auf eine Tür, die sich direkt neben dem Ausgang befand. Natürlich hätte ich auch mit meinem Handy telefonieren können, doch darum ging es mir gar nicht. Ich spekulierte, auf diesem Wege die Örtlichkeiten besser auszuloten. Einerseits interessierte mich brennend, wo Bruno Soltau abgeblieben war, andererseits musste ich herausfinden, wie ich an die Geschäftspapiere gelangen konnte.

Was den Raum betraf, in dem sich das Münztelefon befand, hatte ich Glück. Es handelte sich eher um einen Flur, von dem drei weitere Türen abgingen. Links, dem Fernsprecher gegenüber, befand sich die erste Tür. Auf ihr prangte ein Schild mit der Aufschrift ‚Privat'. Einige Meter weiter befand sich die Küche und am Ende des Ganges der Notausgang. Ich nahm mir Letztere zuerst vor. Vielleicht gab es eine Möglichkeit, den Schließmechanismus so einzustellen, dass ich auf diesem Wege nach Feierabend zurückkehren konnte.

Leider musste ich meine Überlegungen sehr schnell revidieren. Die Tür war entgegen der Feuersicherheitsbestimmungen verschlossen. Blieb die Küche. Vielleicht führte von dort aus eine weitere Tür nach draußen oder aber es bot sich der Einstieg durch ein Fenster. Vorsichtig öffnete ich die Tür. Obwohl das Licht brannte, schien niemand da zu sein. Blitzschnell sondierte ich den Raum. Fehlanzeige, einen weiteren Ausgang gab es nicht und die Fenster waren vergittert.

Da ich hinter der Tür mit der Aufschrift ‚Privat' den Ehemann meiner Auftraggeberin und den gemeinsamen Sohn vermutete, verzichtete ich darauf, die Tür sofort zu öffnen. Die Arbeit eines Detektivs wird von Jahr zu Jahr schwieriger. Mal eben so durch ein Schlüsselloch zu schauen, ist kaum noch möglich, da es inzwischen auch in den Gebäuden immer mehr Türen mit Sicherheitsschlössern gibt. Nun ja, man muss mit der Zeit gehen. In diesem Fall bedeutet dies eine kleine Funkkamera, die flach genug ist, um sie unter der Tür hindurch zu schieben. Die Bilder, die ich auf diese Weise auf dem Display meines Handys empfangen und sogar speichern kann, sind von erstaunlich guter Qualität.

Ich hatte richtig vermutet. Bruno Soltau und sein Sohn Frank befanden sich in einem offensichtlich kontroversen Streitgespräch. Ein surrendes Geräusch verhinderte jedoch, dass ich ihrer Unterredung auch akustisch folgen konnte. Mehr als Gesprächsfetzen, in denen es um viel Geld zu gehen schien, waren leider nicht zu vernehmen. Lippenlesen müsste man können, dachte ich mir, als sich hinter mir die Tür zum Gastraum öffnete. „Ich denke, Sie haben kein Handy?“, stemmte die Bedienung die Hände in ihre schmalen Hüften. „Das habe ich nicht gesagt, ich hatte mich lediglich nach einem ruhigen Ort zum Telefonieren erkundigt.“ Die niedliche Thekenkraft sah mich skeptisch an. „Dann haben Sie wohl keine Verbindung bekommen?“ „Oh doch“, entgegnete ich bestimmt. „Nun wollte ich noch Mutti anrufen, um ihr zu sagen, dass ich später komme.“ Die Waikiki Schönheit musste lachen, denn das wollte sie mir dann doch nicht abnehmen.

Kopfschüttelnd verschwand sie in die Küche. Zeit genug, um die kleine Kamera wieder an mich zu nehmen. Keine Sekunde zu früh, wie sich herausstellte, denn kaum, dass ich das gute Stück wieder verstaut hatte, trat Frank Soltau aus seinem Büro in den Flur. „Was haben Sie hier zu suchen?“, erkundigte er sich forsch. Ich hielt ihm mein Handy entgegen. „Ihre Bedienung war so freundlich, mich hier in Ruhe telefonieren zu lassen.“ „Und, haben Sie ihr Gespräch beendet?“, fragte er genervt. „Ja, danke. Ich gehe dann mal wieder in die Bar.“

Ich hätte mich vor Wut in den Allerwertesten beißen können. Besonders geschickt hatte ich mich nun wirklich nicht verhalten. Zu meinem Glück hatte mich Bruno Soltau nicht gesehen. Zumindest da war ich mir sicher. Eine Enttarnung hätte meine Arbeit um einiges erschwert.

Es dauerte einen Moment, ehe die attraktive Bedienung wieder hinter der Theke zu sehen war. Sie hatte einem der Gäste zwei Frikadellen aus der Küche geholt. Wenn ich's nicht besser wüsste, müsste ich davon ausgehen, dass mein Magen Augen hat, wie sonst hätte ich mir sein wütendes Knurren sonst erklären sollen? Zugegeben, seit dem Frühstück hatte ich nichts mehr gegessen, aber was macht das schon, wenn man der Gerechtigkeit zum Sieg und mir zu einem ordentlichen Honorar verhelfen will?

„Ein wirklich tolles Tanzlokal“, plauderte ich anerkennend, als die Baströckchenträgerin wieder in meiner Ecke der Bar zu tun hatte. „Arbeiten Sie schon lange hier?“ „Ein paar Monate“, entgegnete sie knapp. „Komisch, ich habe von Zeit zu Zeit in der Gegend zu tun, aber an diese Bar kann ich mich gar nicht erinnern.“ „Kann schon sein“, erklärte sie. „Den Laden gibt es ja auch noch keine zwei Jahre.“ „Im Gang ist mir gerade ein junger Mann begegnet“, erzählte ich ihr. „Ach so, das wird wohl der Chef gewesen sein.“ Ich stellte mich verdutzt. „Ein so junger Boss, da wird er wohl nur der Geschäftsführer sein?“ „Nee, nee, so viel ich weiß, gehört dem Frank der Laden.“ Ich stieß einen leisen Pfiff aus und nickte anerkennend. „Alle Achtung, da ist Ihr Chef ja eine richtig gute Partie.“ „Na, wenn Sie meinen“, entgegnete sie alles andere als bejahend. Der beste Chef war Frank Soltau demnach wohl nicht gerade. Mein Blick folgte ihr, während sie sich der übrigen Gäste widmete.

„Ein Job für die Ewigkeit ist das hier ganz sicher nicht“, stellte sie unumwunden klar. „Ich mache das hier nur, um mir mein Studium zu finanzieren.“ „Etwas anderes hatte ich auch gar nicht vermutet“, schmeichelte ich ihr. „In welche Richtung soll's denn gehen?“ „BWL“, entgegnete sie knapp. Ich nickte ihr anerkennend zu. „Und was macht ein BWL Mädchen nach Feierabend?“ „Es lernt für die nächsten Klausuren.“ „Wenn es jemanden braucht, der es dabei abhört…?“, zwinkerte ich ihr zu.

 

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Sonntag, 25.02.2007

 

Ahmet Baskara bewohnte ein geräumiges Apartment über dem Beduin Serails in Salzgitter Bad. Jürgen Wurzer und sein Kollege Oberkommissar Machmud Hariri hatten sich mit dem Geschäftsführer in dessen Wohnung verabredet, um ihm die Nachricht vom Tod des Bruders persönlich und in Ruhe zu überbringen.

„Unser aufrichtiges Beileid“, bekundete Wurzer mit belegter Stimme. „Wie ist es geschehen?“, fragte der Mann mit dem Body eines Zehnkämpfers. „Das können wir leider noch nicht sagen. Ihre Schwägerin hat ihn erst vor wenigen Stunden identifiziert.“ Der Südländer sah mich misstrauisch an. „Was soll das heißen? Sie müssen doch wissen, ob Kemal einen Unfall erlitt oder wie er sonst ums Leben kam.“ Das Gespräch war an genau der Stelle angelangt, vor der sich nahezu jeder Kriminalbeamte fürchtet. Das war auch bei Hauptkommissar Wurzer nicht anders. Er holte noch einmal tief Luft und erklärte, in welchem Zustand der Leichnam von Kemal Baskara aufgefunden worden war.

Der Bruder des Opfers versuchte gefasst zu wirken, was ihm nur bedingt gelang. „Ich möchte ihn sehen. Jetzt sofort!“ „Tun Sie sich das nicht an“, bemühte sich Machmud Hariri, den verständlichen Wunsch seines Landsmanns noch einige Tage herauszuzögern. „Glauben Sie mir, es ist besser, wenn Sie sich erst dann von Ihrem Bruder verabschieden, wenn er für seine letzte Reise hergerichtet wurde.“ Hasserfüllt biss sich Ahmet Baskara in den Ringfinger. Aus seinen Augen loderte Feuer und seine Lippen zitterten vor Erregung. Seine Stimme überschlug sich, wobei er die folgenden Worte in seiner Muttersprache herausschrie. „Welcher verfluchte Hurensohn hat ihm das angetan?“

Hariri, der selber Moslem ist, konnte nur allzu gut nachvollziehen, welche Gedanken Baskara in diesem Augenblick durch den Kopf gingen. Blutrache ist in einigen Teilen der Türkei auch heute noch sehr verbreitet. „Überlassen Sie es uns, den Schuldigen zu ermitteln und nach dem Gesetz zu bestrafen“, erriet Hariri die Gedanken Baskaras. „Sie helfen uns am besten, den Täter zu ermitteln, wenn Sie unsere Fragen lückenlos beantworten.“

Hauptkommissar Wurzer hatte sich zurückgehalten, den Dialog der Landsleute aufmerksam verfolgend. Er gewann jedoch zunehmend die Überzeugung, dass der Bruder des Opfers gar nicht mehr zuhörte. „Der Wagen Ihres Bruders wurde in der Hauptstraße in Salzgitter Bad gefunden“, erklärte Wurzer. „Haben Sie eine Idee, was Ihr Bruder dort wollte?“ Baskara zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, Herr Kommissar. Wirklich, keine Ahnung.“

Es lag auf der Hand, dass die Ermittler den Worten des Türken keinen Glauben schenkten. Obwohl sie kaum mehr auf Informationen hofften, setzten sie die Befragung Baskaras fort. „Wie standen Sie zu Ihrem Bruder?“, fragte Wurzer weiter. „Kemal war der beste Bruder, den Sie sich vorstellen können. Wir sind gemeinsam durch die Hölle gegangen. Er hat mich nach Deutschland geholt und zu seinem Geschäftsführer gemacht. Ich habe ihn geliebt.“ „Die Geschäfte Ihres Bruders müssen gut gelaufen sein“, mutmaßte Machmud Hariri. „Er hat viel gearbeitet“, wich Baskara aus. „Erfolg schürt Neid“, entgegnete Wurzer lauernd, doch mehr als ein flüchtiges Achselzucken erwiderte der Geschäftsführer des Beduin Serails nicht. „Hatte Ihr Bruder Feinde?“ „Sie sagten es bereits“, betonte Baskara. „Neider, nicht mehr.“ Der Hauptkommissar nickte bejahend. „Eine Frage noch, Herr Baskara. Leben Ihre Eltern auch in Deutschland?“ Der Blick des Türken ging ins Leere. Eine Träne suchte ihren Weg über sein Gesicht. Seine Lungen pumpten Luft. „Sie sind vor drei Jahren bei einem schlimmen Busunglück ums Leben gekommen.“ „Das tut mir sehr Leid“, zeigte Wurzer Anteilnahme.

„Tja, dann soll es das für heute gewesen sein. Wir geben Ihnen Bescheid, wann Sie Ihren Bruder sehen können. Ich kann allerdings noch nicht sagen, wann dies der Fall sein wird, da es davon abhängt, wann wir die fehlenden Körperteile finden.“ Der Türke konnte nicht länger an sich halten. Er wandte sich von den beiden Ermittlern ab, legte seinen Kopf in den Nacken, ballte seine Fäuste und durchschlug das Holz der Zimmertür.

„Musste das sein?“, fragte Machmud Hariri seinen Kollegen, während der Dienstwagen anrollte. „Ja!“, entgegnete Hauptkommissar Wurzer knapp, aber bestimmt. „Glaub nicht, dass es mir leicht fiel, in dieser Form mit dem Typen zu sprechen, aber manchmal muss man eben aufs Gras schlagen, wenn man die Schlange herauslocken will." Bei Machmud Hariri gingen die Lichter an.

Wurzer fuhr nur so weit, bis der Wagen von der Bar aus nicht mehr zu sehen war. Schließlich parkte er ihn von einer Mauer verdeckt, jedoch noch nahe genug, um das Geschehen vor dem Beduin Serail beobachten zu können.

Es dauerte tatsächlich nicht lange, bis die Schlange das schützende Gras verließ. Ahmet Baskara sprang in seinen weißen Audi Quattro und jagte mit quietschenden Reifen davon. „Alle Achtung, Chef, du scheinst recht heftig auf das Gras geschlagen zu haben. Unserem ahnungslosen Bruder scheint eine Idee gekommen zu sein. Zumindest scheint er es gerade ziemlich eilig zu haben.“ Hauptkommissar Wurzer schürzte zufrieden die Lippen. „Siehst du, die alten Jagdweisheiten scheinen doch noch die besten zu sein.“

Der Audi jagte über die Braunschweiger Straße stadtauswärts in Richtung Flöthe, wo er schließlich auf die Autobahn 395 in Richtung Braunschweig abbog. Er nahm die erste Abfahrt nach Wolfenbüttel und raste weiter, als habe er heißes Blei in den Schuhen. Die Fahrt ging am Tüv vorbei, über die ‚Halberstädter' und die ‚Lindener Straße'. „Wären wir bei den Kollegen vom Verkehr, hätte der Gute inzwischen ein rundes Dutzend Strafzettel auf seinem Konto“, stellte Machmud Hariri fest, während der Audi direkt vor einer Schlachterei stoppte.

Der Bruder des Opfers sprang ungestüm aus dem Wagen, eilte zur Haustür, die sich an der Stirnseite des Gebäudes befand und läutete Sturm. Die Ermittler parkten den Wagen unterdessen, von Baskara unbemerkt, am Straßenrand und beobachteten, was geschah. Wütend hämmerte er gegen die Tür, rief nach einem Bruno und forderte diesen immer wieder lautstark auf, die Tür zu öffnen. Da niemand seiner Aufforderung folgte, begab er sich zu einer Einfahrt, die sich einige Meter weiter befand und offensichtlich zu einem Hinterhof führte. Auch dort polterte er ungestüm herum.

Die Ermittler hatten genug gesehen. Sie verließen den Wagen und näherten sich Baskara. „Ihr Freund scheint nicht daheim zu sein“, stellte Hauptkommissar Wurzer nüchtern fest. Im ersten Moment erschrocken, fasste sich der Bruder des Opfers recht schnell. „Dieser Mann ist nicht mein Freund!“, wehrte er entschieden ab. „Ich glaube, Sie haben uns einiges zu erklären“, nahm Wurzer den jungen Mann ins Visier. „Folgen Sie mir bitte ins Präsidium. Mein Kollege wird bei Ihnen mitfahren.“

Ahmet Baskara sah sich im nüchtern eingerichteten Büro des Hauptkommissars um und nahm auf einem der Besucherstühle Platz. Außer einigen Kakteen und einem Gummibaum mit gelbbraunen Blättern gab es nichts, was auch nur im Entferntesten auf so etwas wie Gemütlichkeit hindeutete. Während Hariri das Mikrophon für das Tonbandprotokoll aufstellte, holte sein Chef drei Becher Automatenkaffee.

„Es gab leider nur noch schwarzen Kaffee“, erklärte er Baskara, einen der Becher vor ihm absetzend. „Ist okay“, entgegnete der Türke. „So und nun erzählen Sie uns bitte, was Sie bei der Schlachterei wollten“, Baskara rieb sich angespannt das Kinn. „Viel weiß ich nicht, nur soviel, dass es mit diesem Mann Schwierigkeiten gab.“ „Was für Probleme waren das?“ Der Mann auf dem Besucherstuhl zögerte mit einer Antwort. „Besser Sie reden, wir bekommen es ohnehin heraus“, trieb ihn Hariri an. „Soviel ich weiß, hat Kemal diesem Soltau eine Teilhaberschaft am Moulin Rouge angeboten.“ „Sie sprechen von der Nachtbar in der Wilhelmstraße?“, hakte Wurzer nach. Baskara schlürfte einen Schluck Kaffee und nickte.

„Es gab also Probleme mit dem Geld“, schoss Hariri ins Blaue. „Das weiß ich nicht“, reagierte der Befragte lammfromm. Kemal hat nicht über diese Dinge gesprochen. Ich weiß nur, dass er in letzter Zeit ziemlich nervös war. Dieser Soltau muss ihm ganz schön zugesetzt haben. Er hat mich am Tag vor seinem Verschwinden angerufen. Dabei hat er mir nur erzählt, dass der Mann plötzlich sein Geld zurück fordert.“ „Nun gut“, nahm Hariri die Antwort des Befragten erst einmal hin. „Ihr Bruder war offensichtlich ein erfolgreicher Geschäftsmann, da drängt sich für mich die Frage auf, weshalb er Herrn Soltau überhaupt eine Beteiligung anbot?“ Baskara zuckte mit den Schultern. „Wie gesagt, mein Bruder sprach nicht über seine Geschäfte.“

Hauptkommissar Wurzer beendete die Vernehmung, indem er auf die Stopptaste des Aufnahmegerätes drückte. „Halten Sie sich bitte zu unserer Verfügung und vor allem...“ Wurzer sah den Mann auf dem Besucherstuhl scharf an, „...halten Sie sich aus meinen Ermittlungen heraus. Sollte ich Sie nochmals in Sachen Selbstjustiz antreffen, werde ich Sie aus dem Verkehr ziehen!“

 

 

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Montag, 12.02.07

 

Die niedliche ‚BWL' Studentin aus der Waikikibar ließ sich lieber vom Türsteher als von mir abfragen. Ich nahm es mit weltmännischer Geste hin. Was sollte ich auch tun, der Kerl war ein Kopf größer als ich und hatte Oberarme wie ich Schenkel. Ich dankte dem Herrn, der mich vor einer Versuchung bewahrt hatte und wartete geduldig in meinem Wagen, bis auch der letzte Gast die Bar verlassen hatte. Knapp drei Uhr und der Mercedes von Bruno Soltau stand nach wie vor auf dem Parkplatz vor der Bar.

Das viele Mineralwasser, welches ich in den letzten Stunden zu mir genommen hatte, trieb mich aus dem Wagen. Die kleine Grünfläche neben der Bar machte einen einladenden Eindruck. Ich zögerte nicht lange, trat hinter einen der mannshohen Büsche und erledigte, was zu erledigen war. Nebenbei fragte ich mich, ob er bei seinem Sohn übernachten wollte. Zeitgleich wurde die Tür zur Bar geöffnet und Vater und Sohn traten in das Dunkel der Nacht. „Lass dich nicht von diesen Türken verarschen!“, trieb Frank Soltau seinen Vater an. „Am besten du nimmst dir diese Thekenkraft mal so richtig vor. Die Tussi weiß sicher mehr, als sie bislang vorgibt. Wenn dich die Kanaken wirklich über den Tisch ziehen wollen, wird es sicher Mittel und Wege geben, wie wir das Geld zurückholen können.“ „Ach Junge, wie konnte ich mich nur auf ein solches Geschäft einlassen?“

Wenn zwei und zwei vier ist, konnte dies nur bedeuten, dass Soltau das verschwundene Schwarzgeld im Moulin Rouge investiert hatte. Die Männer umarmten und verabschiedeten sich. „Halt mich bitte auf dem Laufenden!“, rief Frank Soltau seinem Vater nach, während dieser in seinen Mercedes stieg. Der hob noch einmal die Hand und schlug die Wagentür zu. Ich stand gewissermaßen auf heißen Kohlen. Um meine Zielperson nicht zu verlieren, musste ich zu meinem Wagen gelangen, doch dazu hätte ich meine Deckung aufgeben müssen, blieb also nur zu hoffen, dass der Besitzer der Waikikibar möglichst bald wieder in seinen Laden ging.

Der Mercedes brauste davon und ich hockte nach wie vor hinter meinem Busch. Zu meinem Entsetzen steckte sich der Kerl nun auch noch eine Zigarette an und sog so genüsslich daran herum, als wäre es seine Letzte. Soviel zum Thema Bedürfnisse. Nun ja, zumindest hatte ich während meiner unplanmäßigen Abhöraktion einige viel versprechende Worte aufgeschnappt, die ich allerdings noch in den richtigen Zusammenhang bringen musste. Doch dazu musste ich unbedingt herausfinden, wo der Ehemann meiner Auftraggeberin sein Geld gebunkert hatte.

Man kann vieles vermuten, doch wenn man etwas wirklich wissen will, muss man der Sache auf den Grund gehen. Einen Zugang zu den Räumlichkeiten des Moulin Rouge hatte ich bei meinem kurzen Besuch nicht entdecken können, also blieb nur, es mit einer kleinen List zu versuchen. Da es noch einige Zeit dauerte, bis ich endlich zu meinem Wagen gelangte, brach ich die Observation von Bruno Soltau an dieser Stelle ab. Im Grunde war ich gar nicht so böse über diese Entwicklung, hatte ich mein Bett doch seit über zwanzig Stunden schon nicht mehr gesehen.

Der neue Tag brachte endlich wieder einmal etwas Positives. Die Onlineabfrage meines Bankkontos offenbarte den Eingang einer größeren Zahlung. Ein ehemaliger Klient hatte endlich seine Schulden bei mir beglichen. Das Schreiben eines Anwalts, für den ich in letzter Zeit öfter tätig war, hatte also doch die erhoffte Wirkung gezeigt. Es war ein gutes, wenn auch viel zu seltenes Gefühl, endlich wieder flüssig zu sein. So konnte ich in üblicher Weise investieren. Soll heißen, ich konnte wieder Schmiergelder, kleine Belohnungen und dergleichen an richtiger Stelle hilfreich einsetzen, wenn es darum geht, verschlossene Türen zu öffnen.

Trude wirkte hinter ihrem einmal mehr chaotisch aussehenden Schreibtisch wie eine Spinne, die sich in ihrem eigenen Netz verfangen hatte. Es war mir ein Rätsel, wie sie in all dem Durcheinander noch zurechtkam. „Haben Sie etwas über die Schlachterei herausfinden können?“, fragte ich die gute Seele. „Ja, ja, warten Sie, Chef…“ Trude stöberte durch den Papierhaufen, der sich von links nach rechts über den gesamten Schreibtisch zog. Ich verfolgte amüsiert ihre Bemühungen. „Ah ja, hier ist ja der Zettel“, lächelte sie verlegen. „Es geht doch nichts über das richtige Ordnungssystem.“

Mehr als ein ungläubiges Kopfschütteln und einen tiefen Seufzer hatte ich dem nicht entgegenzusetzen. Man ist wie man ist. Es gibt Dinge, die sich nicht wirklich ändern. Aber letzten Endes haben wir ja alle unsere kleinen oder großen Macken. Charaktere, die uns vielleicht gerade deshalb in den Augen unserer Mitmenschen liebeswürdig erscheinen lassen. Mit Trude ging es mir jedenfalls so.

„Die Schlachterei Soltau ist ein alt eingesessener Familienbetrieb. Bruno Soltau hat die Schlachterei nach einigen Eskapaden während seiner Sturm und Drangzeit von seinem Vater übernommen und fast in den Ruin getrieben. Erst die Heirat mit einer gewissen Ruth Sperling brachte die Wende. Der Betrieb wurde modernisiert und erweitert. Leider fiel meine Bekannte dieser Umstrukturierung zum Opfer.“ Ich wunderte mich einmal mehr über Trudes vielschichtige Beziehungen. Somit bestätigten sich die Angaben meiner Auftraggeberin. „Was sagt denn der Boulevardklatsch“, erkundigte ich mich abschließend. In einer verhältnismäßig kleinen Stadt wie Wolfenbüttel, wo beinahe jeder jeden kennt, gehört besagter Tratsch ebenso zur täglichen Berichterstattung wie der Lokalteil der Zeitung. Für einen Detektiv sind sie geradezu ein Fundus.

Trude zierte sich plötzlich etwas. „Ich weiß nicht, was dran ist, ich habe die Information aus nicht ganz so zuverlässiger Quelle.“ „Na, nun schießen Sie schon los“, ermutigte ich meine Putzsekretärin. „Ich werde schon meine eigenen Schlüsse daraus ziehen.“ „Es heißt, dieser Soltau würde regelmäßig nach Braunschweig ins Bordell fahren und dort eine Menge Geld ausgeben. Von Glücksspiel in Bad Harzburg ist auch die Rede.“ Ich wog nachdenklich den Kopf. „Es wird sich zeigen, ob an den Gerüchten etwas dran ist.“

Ich kramte meinen Koffer mit den Theaterrequisiten hervor, den ich von einem alten Freund bekommen hatte, der lange Jahre als Beleuchter beim Braunschweiger Theater beschäftigt war. Damit konnte ich mein Äußeres so gut verändern, dass ich mich selbst nicht mehr im Spiegel erkannte. An jenem Tag musste meine Verkleidung einen Steuerprüfer vom Finanzamt hergeben. Kein leichter Part, der gut vorzubereiten war. Auch Trude, die mich im Moulin Rouge anmelden sollte, fiel eine nicht unwichtige Rolle zu. Wie immer, wenn es darum ging, in eine andere Identität zu schlüpfen, machte sie ihre Sache gut.

Wie zuvor besprochen, meldete mich Trude für den frühen Nachmittag an. Eine grässliche Honeckerbrille, ein breiter Oberlippenbart und eine andere Frisur machten einen klassischen Steuerprüfer aus mir. Der biedere graue Anzug, den ich speziell bei solchen Auftritten trug, rundete das Bild vom pflichtgemäßen Finanzbeamten ab. Obwohl ich erst am Abend zuvor mit der Bedienung hinter der Theke gesprochen hatte, schöpfte sie keinerlei Verdacht.

„Haste dich auch nich verlaufen, Süßer?“, fragte sie von meinem Erscheinungsbild sichtlich amüsiert. Ich hielt ihr den Dienstausweis einer Finanzbehörde unter die Nase. „Steuerfahndung“ Ihre Kinnlade klappte herunter. Merkwürdig, ich hatte schon oft erlebt, dass ich auf diese Weise für erheblich mehr Unbehagen sorgte, als wenn ich mich als Kommissar oder dergleichen zu erkennen gab. „Ich bin angemeldet“, erklärte ich lapidar.

„Schon gut, Rosie, der Herr möchte zu mir.“ Wie klein doch die Welt ist, dachte ich mir, jenem Südländer die Hand reichend, den ich am Abend zuvor mit meiner Zielperson vor der Waikikibar in dessen Mercedes streiten sah. Der Kreis schloss sich also.

„Mein Name ist Kemal Baskara. Ich bin Teilhaber und Geschäftsführer des Moulin Rouge. Ehrlich gesagt, verstehe ich nicht so recht, was Sie hier eigentlich wollen. Bislang habe ich noch immer pünktlich meine Steuern gezahlt.“ „Es geht nicht darum, ob Sie die Steuern mehr oder weniger pünktlich abführen, uns liegen vielmehr Hinweise vor, dass Sie zu wenig angeben“, entgegnete ich vorwurfsvoll über den Rand meiner Brille sehend. Dem jungen Mann war deutlich anzumerken, wie sehr es hinter seiner Stirn rumorte. Ich hatte ihm offensichtlich eine harte Nuss zu knacken gegeben.

„Es wird das Einfachste sein, wenn Sie mir für die Dauer der Überprüfung Ihr Büro zur Verfügung stellen.“ „Dürfen Sie das eigentlich? Ich meine, so ohne Hausdurchsuchungsbefehl?“, wand er sich wie eine Schlange. „Sollten Sie einer sofortigen Prüfung jetzt nicht zustimmen wollen, haben Sie selbstverständlich das Recht dazu. In diesem Fall muss ich leider Ihr Büro versiegeln und Ihren Entschluss an die zuständige Ermittlungsbehörde weitergeben. Wenn es Ihnen lieber ist, dass sämtliche Unterlagen beschlagnahmt und abtransportiert werden…? Ich wartete seine Reaktion geduldig ab.

„Schon gut, schon gut. Es wäre doch Unfug, so viel Aufhebens um so eine kleine Sache zu machen“, lenkte er schließlich ein. „Warum sollten Sie nicht gleich nach dem Rechten sehen? Wo Sie nun schon einmal da sind.“ „Also bitte, dann aber jetzt pronto ! So sagt man doch in Ihrem Land?“ „Ich bin Türke!“ „Ja, ja, sicher“, pflichtete ich ihm zerstreut wirkend bei, während er mir die Tür zu seinem Büro öffnete. „Dann brauche ich nur noch Ihre Geschäftsunterlagen“, ließ ich ihm kaum Zeit zum Luft holen. „Aber die sind doch bei meinem Steuerberater“, entgegnete er verwundert. „Das wissen wir, darum kümmert sich bereits ein Kollege. Ich rede vom Kassenbuch und vom Wareneingangsbuch. Sie führen doch eins - oder?“, erkundigte ich mich streng. Kemal Baskara nickte beflissentlich. „Ja, ja! Am besten, Sie nehmen sich selbst, was Sie brauchen.“ Er deutete auf einen Aktenschrank neben der Tür. „Da sind alle Papiere drin.“

Endlich hatte ich ihn da, wo ich ihn haben wollte. „Gibt es hier einen Kaffee?“, fragte ich dreist. „Ich werde Ihnen einen Türkischen Mocca zubereiten, wie Sie ihn noch nicht getrunken haben.“ „Ein Kaffee wäre mir zwar lieber, aber wenn Sie meinen...“ Endlich ließ mich der vermeintliche Teilhaber Bruno Soltaus allein. Natürlich interessierte ich mich nicht für das Kassenbuch, sondern für die Schankerlaubnis und die Steuernummer, mit dessen Hilfe Trude am Computer aktiv werden konnte.

Ich hatte Glück, gleich im ersten Ordner fiel mir ein Schreiben des Gewerbeaufsichtsamtes in die Hand. Daraus war ersichtlich, dass neben meinem türkischen Gastgeber ein gewisser Robert Engel als Betreiber des Moulin Rouge eingetragen war. Nach dem Namen meiner Zielperson suchte ich vergebens. Nichts, was auch nur im Entferntesten auf den Verbleib des Geldes hindeutete. Wenn es einen Vertrag gab, da war ich mir allerdings sicher, würde dieser gewiss nicht in einem der Ordner, sondern unter Verschluss aufbewahrt werden.

Ich lauschte in Richtung Tür. Auf dem Gang davor schien alles ruhig. Vielleicht blieb mir noch etwas Zeit, um mich etwas genauer in den privaten Räumlichkeiten umzusehen. Ich hoffte auf einen Tresor, den ich hinter einem der Bilder vermutete. Landschaftsmalereien, die Kemal Baskara ein Stück seiner türkischen Heimat in das ansonsten eher nüchtern eingerichtete Büro trugen. Meine Hoffnung wurde enttäuscht. An keiner der adäquaten Stellen war ein Safe zu finden. Was blieb, war eine Tür, die in einen weiteren Raum führte. Verblieb mir noch genügend Zeit, um einen schnellen Blick zu riskieren?

Ich entschied mich, zuvor einen Blick auf den Flur zu riskieren. Die Luft war noch rein. Das Risiko, dennoch erwischt zu werden, musste ich eingehen. Die Tür war unverschlossen. Eine Ledercouch und zwei Sessel, die sich um einen Glastisch gruppierten, an der Seite eine Kommode, mehr konnte ich auf den ersten Blick nicht erkennen. Eilig trat ich näher, stieß mit dem Fuß gegen irgendetwas Weiches und erschrak fast zu Tode.