Detektei Lessing

Schicksalhafte Visionen

 

Detektei Lessing

 

Band 27

 

Schicksalhafte Visionen

 

-1-

 

Es ist der Abend des 23. Septembers. Nach einem herrlichen Altweibersommertag, an dem sich Jasmin Röber den Nachmittag frei genommen hat, um sich vom Stress der vergangenen Tage zu erholen, muss sie noch einmal in ihr Steuerberatungsbüro nach Wolfenbüttel fahren. Wie so oft gibt es Probleme mit einem wichtigen Kunden. Nach den wärmenden Sonnenstrahlen des Nachmittags ist es nun, kaum dass die Sonne untergegangen ist, recht frisch geworden. Jasmin friert schnell an den Füßen und so schaltet sie die Heizung in ihrem BMW an.

Wie gewöhnlich herrscht zu dieser Tageszeit wenig Verkehr auf der Straße durch den Elm. Jasmin fährt die Strecke zwischen ihrem Wohnort Königslutter und Wolfenbüttel mindestens zweimal an jedem Tag. Nur im Winter, wenn Eis und Schnee die Fahrt durch den Lappwald zu gefährlich machen, wählt sie den Weg über Cremlingen. Sie liebt es, wenn sich am frühen Morgen Nebelfetzen in den Bäumen verfangen, oder wenn sich ihre Blätter im Herbst goldgelb verfärben.

Gerade ist sie an der Waldgaststätte Tetzelstein vorbeigefahren. Die Straße führt bergab. An dieser Stelle kuppelt die Steuerberaterin aus und lässt ihren Wagen wie immer bis nach Eitzum herunterrollen. Im Radio dudelt ein Song von Helene Fischer. Jasmin ist gut gelaunt und sie freut sich auf einen Besuch in ihrem Lieblingsrestaurant im alten Straßenbahndepot. Dass sie dort allein essen muss, bereitet ihr längst keinen Kummer mehr. Obwohl sie verheiratet ist, hat sie sich damit abgefunden.

Langsam werden ihre Füße wieder warm. Sie muss den Wagen abbremsen, weil er inzwischen zu viel Geschwindigkeit aufgenommen hat. Plötzlich spürt sie etwas an ihrem Bein. Sie greift danach, versucht es abzustreifen und beginnt zu schreien, als sie eine Schlange ertastet. Die junge Frau hat ihren Fuß nicht mehr auf dem Bremspedal, versucht, das sich immer höher schlängelnde Tier nur noch von ihrem Bein abzuschütteln. Sie konzentriert sich längst nicht mehr auf die Straße, bemerkt gar nicht, wie sie immer weiter auf die Gegenfahrspur gerät und schließlich ganz von der Straße abkommt und die Kontrolle über ihren Wagen verliert.

Der BMW schießt über einen schmalen Graben hinweg, zwischen mehreren Bäumen hindurch, einen Abhang hinunter. Ein Wunder, dass er mit keiner der hohen Buchen kollidiert, die zu beiden Seiten der sich formierenden Schneise zurückbleiben. Ein Ruck, wahrscheinlich ein niedriger Baumstumpf, katapultiert den Wagen kurz in die Luft. Die Airbags lösen aus und versperren ihr die Sicht. Alles geht so rasend schnell, dass Jasmin längst nicht mehr eingreifen kann, zu einem Spielball des Schicksals geworden ist.

Ihr Schutzengel kann das Unausweichliche nicht mehr verhindern. Nahezu ungebremst knallt der BMW frontal gegen einen wuchtigen Holzstapel. Ein lauter Knall, die wuchtige Motorhaube springt auf. Metall ächzt unter dem ungeheuren Druck, verformt sich, absorbiert die Wucht des Aufpralls nur zum Teil. Der Fahrgastraum verformt sich. Der Platz um Jasmins Beine wird knapp. Die Armaturen bersten, drücken nach unten und somit ebenfalls in den Fußraum. In derselben Sekunde wird die Windschutzscheibe von einem etwa einen Meter langen Holzklotz durchschlagen. Er knallt nahezu waagerecht durch die Scheibe und kracht auf den Beifahrersitz.

Die Wirkung der bereits viel zu früh ausgelösten Airbags verpufft wirkungslos, was zur Folge hat, dass Jasmin mit dem Kopf auf das Lenkrad schlägt. Anders als in Actionfilmen üblich, explodiert der Wagen nicht. Dennoch steigt heißer Wasserdampf auf und gibt der Situation etwas Gespenstisches. Der Sitz der jungen Frau wird aus der Laufschiene gerissen und mit ungeheurer Kraft nach vorn gegen das Armaturenbrett geschmettert. Es liegt auf der Hand, dass Jasmins Brustkorb dabei auf das Äußerste zusammengepresst wird.

Sie stöhnt vor Schmerz, ohne dabei einen lauten Ton herauszubringen. Sie war allein auf der Straße unterwegs. Niemand hat den Unfall gesehen, niemand würde ihr hier unten zu Hilfe kommen. Resignation macht sich in ihr breit und eine innere Stimme sagt ihr, dass sie sich für ihren letzten Weg bereit machen muss, doch noch gibt es diesen Widerstand in ihr. Der Wille, der in nahezu jedem Menschen auflodert, der zu etwas gezwungen wird, zu dem er eben nicht bereit ist.

Minuten verstreichen, ohne dass irgendetwas geschieht. Minuten, die wie Stunden vergehen. Minuten, von denen jede einzelne über ihren Tod entscheiden kann. Eine unsägliche Kälte kriecht durch ihre Glieder, lässt überall dort, wo sie von Jasmin Besitz ergreift, ein Gefühl der Taubheit zurück. Bleierne Müdigkeit überkommt sie, legt sich wie ein großer schwarzer Mantel über sie. Mehr und mehr schwinden ihre Kräfte, lassen sie kaum mehr atmen, ihre Augen offen halten.

Vor ihrem geistigen Auge reihen sich Bilder ihrer Kindheit an Erinnerungen aus ihrer Jugend. Freunde, Eltern und… ihren Ehemann. Doch das letzte Bild entspringt nicht ihren Gedanken, es ist real und es bringt neue Hoffnung. Aber wie kommt er an diesen Ort? Wie hat er sie finden können? Oder ist alles nur Einbildung? Jasmin beobachtet im Lichtschein seiner Taschenlampe, wie er sich in den Wagen beugt, ohne ihr jedoch zu helfen. Es scheint ihr…, ja, er sucht nach etwas und er findet es zwischen ihren Füßen.

„Bitte hilf mir“, fleht sie ihn an, während er die leblose Schlange an ihren Beinen entlang aus dem Fußraum zieht. Aus dem Mund der jungen Frau quillt dunkles Blut, tropft auf ihre Brust und versickert in den Falten des Airbags. „Du hast mir leider keine andere Wahl gelassen, Baby“, entschuldigt sich Robert mit diabolischem Gesichtsausdruck, während er ihr um den Hals greift und ihr die Kette auszieht, die er von seiner Mutter bekam, um sie an seine Zukünftige weiterzugeben. „Du hast diese Kette niemals wirklich verdient“, hörte sie ihn sagen, bevor er sie zurückließ und im Wald verschwand.

Als Jasmin im nächsten Augenblick das Bewusstsein verliert, denkt Robert, sie habe den Kampf verloren. Er nimmt die tote Schlange an sich, steckt sie in den mitgebrachten Leinenbeutel und sucht nach dem Waldweg, auf dem die Forstarbeiter die vorbereiteten Holzstämme abtransportieren. Er findet ihn und folgt ihm, bis er seinen Wagen erreicht. Er hat ihn in einigem Abstand zur Unfallstelle auf einem anderen Waldweg abgestellt. Auf dem Weg zurück nach Königslutter stoppt er den Wagen an einer abgelegenen Stelle und vergräbt die Schlange mit einem eigens zu diesem Zweck mitgeführten Spaten.

-2-

Was zuvor geschah.

„Es geht mich ja nichts an, Jasmin, aber unter den Buchungen, die ich gerade für das Fitnessstudio deines Mannes aufrief, ist eine Hotelrechnung für zwei Personen. Wenn ich mich recht entsinne, warst du zu der Zeit zu einer Tagung in Bad Tölz. Die Rechnung stammt allerdings von einem Hotel in Göttingen.“ Jasmin sah ihre Mitarbeiterin pikiert an. „Wir sind damals nicht zusammen auf die Tagung gefahren“, erklärte sie schnippisch. „Robert fuhr auf eine Messe, um neue Fitnessgeräte zu ordern.“ „Ich weiß, die Geräte hast du ja dann kurz darauf bezahlt“, fügte Isabel provozierend hinzu. „Aber darum geht es nicht“, griff sie den Faden wieder auf. „Wenn du in Bad Tölz warst, wer war dann die zweite Person, mit der sich Robert das Hotelzimmer in Göttingen teilte?“

Jasmin begriff, dass sie Isabel gegenüber nach keinerlei Ausflüchten suchen brauchte. Die Situation war zu eindeutig, um sie zu leugnen. Robert hatte sie ein weiteres Mal betrogen. „Ich verstehe dich nicht“, schüttelte ihre Mitarbeiterin und Freundin mit dem Kopf. „Du weißt doch, wie er ist. Er wird dich immer wieder hintergehen.“ „Du musst es ja wissen“, feuerte Jasmin. Isabel atmete tief durch, ehe sie die Spitze ihrer Chefin hinunterschluckte.

„Entschuldige, das war gerade ziemlich dumm von mir.“ „Ist schon gut, du hast ja recht. Ich weiß bis heute nicht, wie ich mich auf eine Affäre mit deinem Mann einlassen konnte. Um ein Haar wäre unsere Freundschaft daran zerbrochen.“ Isabel nahm ihre Angestellte in den Arm. „Das schafft keiner und ein Mann schon gar nicht.“ „Gut, dass wir uns damals ausgesprochen haben“, nickte ihr Jasmin zu. „Umso wichtiger ist es, offen über alles zu sprechen.“ „Ich weiß, worauf du hinaus willst“, begriff Jasmin. „Ich verstehe ja selbst nicht, weshalb ich ihn immer noch finanziell unterstütze.“ „Du musst damit aufhören“, mahnte Isabel. „Ich weiß, aber ich liebe ihn doch noch.“ „Was ist deine Liebe wert, wenn sie nicht erwidert wird?“

Jasmin zog sich in ihr Büro zurück. Sie wirkte angeschlagen. Natürlich wusste sie, wie Recht Isabel hatte. Natürlich war ihr klar, dass Robert sie immer wieder betrügen würde. Die Katze lässt das Mausen nicht. Klar, sie war eine selbstbewusste Frau, die auf eigenen Füßen stand, eine Frau, die wusste, was sie wollte und die obendrein auch noch attraktiv aussah, doch die Angst davor, allein zu sein, ließ sie die einzig vernünftige Konsequenz immer wieder aufschieben.

An diesem Nachmittag fuhr sie nicht wie sonst üblich nach getaner Arbeit nach Hause, sondern in die Wolfenbütteler Innenstadt, um zur Ruhe zu kommen, um über ihre Situation nachzudenken und sich ein wenig abzulenken. In einem der vielen Schaufenster fiel ihr die schicke Bluse auf, an der sie bereits einige Male vorbeigegangen war, weil sie ihr einfach zu teuer erschien. Heute war ihr selbst dieser Preis egal. Warum sollte sie sich nicht auch mal etwas Schönes gönnen? Im nächsten Moment verschwand sie in dem Geschäft und kam wenig später mit einer Einkaufstasche wieder heraus. Jasmin hatte die neue Bluse gleich anbehalten und sich die alte einpacken lassen. Sie freute sich wie ein Teenager, dem gerade ein tolles Geschenk gemacht worden war. Labsal für eine geschundene Seele.

Jasmin setzte sich in eines der zahlreichen Cafés, die es in der Fußgängerzone gibt, bestellte sich einen Cappuccino und genoss die wärmenden Strahlen der langsam hinter der Häuserzeile abtauchenden Sonne. Sie dachte zurück an die Zeit, in der sie mit Robert glücklich war. Tage, Wochen und Monate, die noch keine vier Jahre zurücklagen. Immer und immer wieder hörte sie die Stimme ihrer Mutter, die sie vor Robert warnte. Sie mochte seine Art nicht, konnte einfach nicht mit ihm warm werden. Seinetwegen hatte sie mit ihr gebrochen, sie nicht einmal zu ihrer Hochzeit eingeladen. Jahre mussten vergehen, ehe die beiden Frauen wieder zueinanderfanden. Wann immer sie sich trafen, sparten sie dieses Thema aus.

Sie bummelte noch ein wenig durch die Altstadt, die Fußgängerzone hinab, vorbei an den Krambuden, die es schon seit den Zeiten gab, als die Lessingstadt noch Residenz der Herzöge Julius und August war. Sie schlenderte bis zum ehemaligen Hertie Kaufhaus und freute sich darüber, dass an dieser Stelle schon bald ein moderner Neubau entstehen sollte. Sie liebte diese Stadt mit ihren historischen Bauten und den kleinen Gassen mit den vielen liebevoll restaurierten Fachwerkhäusern. Nur wenn es gelang, das alte zu bewahren und mit den Ansprüchen der Moderne zu kombinieren, hatten Städte wie Wolfenbüttel eine Chance.

Jasmin hatte ihren BMW am ehemaligen Zeughaus geparkt. Bevor sie losfuhr, checkte sie ihr Handy. Kein Anruf von Robert. Offenbar wurde sie nicht von ihrem Ehemann vermisst. Jasmin sah auf das Armaturenbrett. Es war bereits nach 18 Uhr. Das Hungergefühl in ihrem Magen bestätigte dies. Sie dachte an die Stunden, die nun folgen würden, bis sie irgendwann ins Bett gehen würde, Kochen, Essen, Aufräumen, Lesen, Schlafen, ach ja, Streiten, oder nein, was sollte es bringen, wenn sie sich ein weiteres Mal über seine Untreue aufregen würde? Jasmin schlug mit den Händen auf das Lenkrad. Soll er sich seinen Fraß doch selber kochen, ich gehe essen! Womit sie ihren Wagen startete und trotzig, wie sie sein konnte über den 'Rosenwall' und den 'Neuer Weg' ins Rhodos fuhr.

Das griechisch syrische Restaurant befindet sich an historischer Stätte. In dem ehemaligen Depot war bis in die siebziger Jahre die Straßenbahn untergebracht, die über den Sternhausberg nach Braunschweig fuhr. Schon als junges Mädchen war sie mit ihren Eltern am liebsten hierher zum Essen gegangen. Dementsprechend familiär wurde sie von Yusef, dem Wirt, begrüßt. Er nahm sie in den Arm und freute sich aufrichtig. Genau das brauchte sie jetzt. Am liebsten hätte sie den smarten Syrer gar nicht mehr losgelassen. Es war seine aufrechte, väterliche Art, die sie so sehr an ihm schätzte.

Er kannte Jasmin lange genug, um ihren Kummer zu bemerken. Als er ihr das Essen brachte, setzte er sich daher zu ihr. „Oder möchtest du lieber allein sein?“, fragte er sie der Ordnung halber. Jasmin lächelte. „Du sitzt doch schon, da kannst du auch bleiben.“ „Ich dachte ja nur, damit du nicht allein essen musst.“ „Lieb von dir.“ „Ich esse auch nicht gern allein.“ Nach einer Weile betretenen Schweigens erkundigte sich Yusef schließlich, ob sie wieder Ärger mit Robert habe. Der Syrer wusste auch ohne ihre Antwort, dass er richtig lag. Bereits als sie zum ersten Mal mit ihm in seinem Restaurant zum Essen war, wusste er, dass dieser Mann nicht der Richtige für die war. So verliebt, wie sie damals in Robert war, wäre er jedoch nur auf taube Ohren gestoßen.

„Keine Frau muss sich ein solches Verhalten bieten lassen“, zeigte er sich verärgert, als er die Tränen in ihren Augen bemerkte. „Du hast ja Recht. Ich weiß das alles“, bemühte sie sich um Haltung. „Aber ich finde einfach nicht den Punkt, an dem ich mich von ihm trennen kann.“ Yusef ächzte angespannt. Wer ihn kennt, weiß wie sehr er in diesem Augenblick mit seinem Temperament kämpfen musste. „Wir waren so glücklich miteinander“, seufzte sie. „Du wirst das Richtige tun, da bin ich mir sicher, aber warte nicht zu lange. Du vergeudest deine besten Jahre mit diesem Mann.“

Als Jasmin nach Hause fuhr, war es bereits dunkel. Entgegen ihrer Gewohnheit hatte sie nach dem Essen einen Ouzo getrunken. Nicht dass dieser ihre Fahrtüchtigkeit gemindert hätte, aber er hinterließ bei der Polizeikontrolle, in die sie auf dem Weg nach Hause geriet, einen zweifelhaften Eindruck. Obwohl der Promillewert noch im grünen Bereich lag, musste sie die Belehrung des Polizeibeamten über sich ergehen lassen. Was kommt denn nun noch , fragte sie sich, während sie durch das Reitlingstal nach Hause fuhr.

Roberts Jeep stand noch auf der Straße vor dem Haus. Demnach wollte er offenbar noch einmal weg. Jasmin öffnete das Tor der Zufahrt und lenkte den Wagen in die offene Garage. Nachdem sie den Wagen verlassen hatte, schloss sie zunächst das Tor der Zufahrt, kehrte zurück und ließ das Garagentor langsam heruntergleiten. Die Verbindungstür ins Wohnhaus war noch verschlossen. Einer der Schlüssel befand sich an ihrem Bund. Sie betrat die Wohnung und bemerkte laute Musik.

Anders als erwartet war Robert jedoch weder dort noch in der Küche zu finden. Sie hing ihre Jacke an die Garderobe und begab sich nach oben, wo sie instinktiv ins Schlafzimmer ging. Nachdem sie die Tür geöffnet hatte, traute sie ihren Augen nicht. Ihr Ehemann war gerade in ihrem Ehebett mit einer fremden Frau zugange. Wie angewurzelt stand sie im Türrahmen, unfähig zu irgendeiner Reaktion starrte sie auf das, was sich in ihrem Bett abspielte,

„Was machst du denn hier?“, erschrak Robert, als er seine Frau nach einer gefühlten Ewigkeit im Türrahmen stehen sah. „Schon vergessen, ich wohne hier. Willst du mir die Dame in meinem Bett nicht vorstellen?“ „Ich dachte, du schläfst im Büro“, rechtfertigte sich Robert in völlig untauglicher Weise. „Und weil du dich allein fürchtest, hast du dir ein Kindermädchen ins Haus geholt“, entgegnete Jasmin so unglaublich gelassen, dass sie sich über sich selbst wunderte.

„Ich kann dir alles erklären, Liebling“, schälte sich Robert bis auf seinen String entblößt aus dem Bett. „Es ist nicht wie du denkst“, begann er sich nun auch noch lächerlich zu machen. „Mein Gott!“, blaffte sie ihn an. „Steh doch endlich mal dazu!“ Jasmin wandte sich angewidert von ihm ab. „Doro bedeutet mir nichts“, folgte er seiner Frau über den Flur ins Bad. „Es ist rein körperlich, sonst nichts.“ „Spare dir deine Luft, du wirst sie noch brauchen.“ „Wie meinst du das?“ „Das wirst du sehen, wenn es so weit ist“, ließ ihn Jasmin im Unklaren. „Ach ja, und nenne mich nie wieder Liebling, sonst muss ich mich übergeben.“

-3-

Einige Tage später fand Robert in der Post, die an die Adresse seines Fitnesscenters gerichtet war, einen Brief von Jasmins Scheidungsanwalt. Er fiel aus allen Wolken, als ihm darin mitgeteilt wurde, dass er das gemeinsame Haus verlassen sollte, weil Jasmin die Scheidung eingereicht hatte. Mit einem Mal wurde ihm klar, dass er es diesmal zu weit getrieben hatte. Allerdings glaubte er jedoch nicht, dass es Jasmin wirklich ernst meinte. Bislang hatte sie sich immer wieder beruhigt, weshalb sollte es diesmal anders sein?

„Sag mal, was soll dieser Blödsinn?“, warf er ihr den Brief vor die Füße, als sie am Abend aus dem Büro nach Hause kam. „Ganz ehrlich Robert, wenn du selbst jetzt nicht bemerkst, wie weh du mir getan hast, bestätigt dies meinen Entschluss nur allzu deutlich. Ich hoffe, du machst kein Theater, packst deine sieben Sachen und ziehst aus.“ „Das könnte dir so passen, meine Liebe“, stellte er sich wie von Jasmin erwartet quer. „Noch ist dieses Haus auf uns beide im Grundbuch eingetragen“, zeigte er sich kämpferisch. „Wenn du die Scheidung willst, dann zieh du doch aus. Mich wirst du hier jedenfalls nicht rauskriegen.“ Jasmin lächelte ihren Noch Ehemann provokant an. „Kein Problem, aber dann solltest du schon mal darüber nachdenken, woher du die nächsten Raten für den Kredit bekommst.“

Jasmin wusste nur zu genau, wie schlecht sein Fitnessstudio lief. Schließlich kümmerte sich Isabel seit langem um die Buchführung. Abgesehen davon bettelte er sie oft genug an, wenn er neue Geräte anschaffen musste. Die Rückzahlung lief dann eher schlecht als recht.

„Dieser Streit ist doch albern“, versuchte er die Situation zu beschwichtigen. „Wir sind doch keine Teenager mehr.“ „So ist es“, pflichtete sie ihm bei. „Ich habe mich oft genug von dir belatschern lassen. Damit ist jetzt Schluss. Meine Mutter hatte von Anfang an Recht. Ich könnte mich in den Hintern beißen, dass ich nicht auf sie gehört habe. Vielleicht können Männer wie du nicht treu sein, aber ich will nicht länger die Frau sein, die sich deine Eskapaden anschaut.“

Robert hatte offensichtlich verstanden. „Vielleicht habe ich ja wirklich Fehler gemacht“, zeigte er sich einsichtig. „Lass mich wenigstens so lange hier wohnen, bis ich eine Wohnung gefunden habe. Ich verspreche, dir während dieser Zeit aus dem Weg zu gehen.“ „Also gut, ich will kein Unmensch sein, aber bis zum Ende des Monats ziehst du aus“, lenkte Jasmin ein. „Gut.“ „Es wird das Beste sein, wenn du dir auch einen Anwalt nimmst, damit unsere Scheidung so unproblematisch wie möglich über die Bühne geht.“ „Ich halte das zwar für übertrieben, aber wenn du es für besser hältst...“

Die nachfolgenden Tage waren für beide Parteien aufreibend. Auch wenn sich die Eheleute in ihrem Haus weitestgehend aus dem Weg gingen, ließ sich ein gelegentliches Aufeinandertreffen nicht vollends vermeiden. Zumindest bei Jasmin hinterließen diese Begegnungen jedes Mal einen Kloß im Hals. Auch wenn ihr Robert mehr als wehgetan hatte, waren da auch jetzt noch Gefühle, die sich nicht ohne Weiteres abschalten ließen. Wenngleich diese Gefühle auch keine Zweifel an ihrer Entscheidung zuließen, waren sie schmerzhaft.

Zumindest hielt sich Robert im Hinblick auf seine Frauengeschichten insofern zurück, dass er während dieser Zeit keine seiner Affären mit nach Hause brachte. Was ihn allerdings nicht daran hinderte, die Beziehung mit seiner aktuellen Flamme aufrecht zu erhalten. Das Pärchen traf sich einstweilen halt im Fitnessstudio zum Schäferstündchen. Dort hatte er einen der Nebenräume kurzerhand mit einem Sofa ausgestattet. Auch wenn dies nun gar nicht seinem Stil entsprach, gab es für den Moment keine Alternative.

„Also lange mache ich das nicht mit“, rebellierte Doro nicht zum ersten Mal. „Eine Zumutung ist das hier!“ „Nun stell dich nicht so an. Ich habe dir doch erklärt, wie es läuft.“ „Warum schmeißt du sie nicht einfach aus dem Haus?“ Robert verdrehte die Augen. „Das habe ich dir doch schon tausendmal erklärt. Ich habe meine ganze Kohle in das verdammte Steuerbüro meiner Frau gesteckt“, log er, dass sich die Balken bogen. „Als Sicherheit musste ich mein Haus auf ihren Namen umschreiben lassen. Rechtlich gehört mir deshalb im Augenblick nur das Center und die Klamotten, die ich auf dem Hintern trage.“

Doro war entsetzt. Die blonde Schönheit glaubte ihm jedes Wort. „Aber das kannst du dir doch nicht gefallen lassen!“, schimpfte sie empört. „Keine Angst, mein Häschen, das habe ich auch nicht vor. Die wird ihr blaues Wunder schon noch erleben“, lächelte Robert verschwörerisch. „Kann sein, dass ich deine Hilfe dabei brauche.“ „Auf mich kannst du dich zu hundert Prozent verlassen.“ „Ich weiß, Baby, ich weiß.“

Um seinen Plan in die Tat umzusetzen, fehlte Robert noch ein wichtiges Accessoire. Er wusste, dass einer der Stammkunden aus dem Fitnesscenter Schlangen züchtete und verkaufte. Ebenso wusste er von Jasmins Phobie gegen diese Tiere. Genau diesen Umstand wollte er sich zu Nutze machen.

-4-

„Die Nächte werden merklich kühler“, befand einer der Forstarbeiter. „Tja, irgendwann neigt sich auch der schönste Altweibersommer seinem Ende zu.“ „Also ich bräuchte keinen Winter“, erklärte der Vorarbeiter der kleinen Kolonne. „Stimmt, ich hab's auch lieber warm.“ „Ach du Scheiße!“, platzte es aus einem der Männer heraus, als er den demolierten BMW hinter dem Holzstapel entdeckte. „Wie um alles in der Welt kommt der denn hier her?“ „Ach du dicker Vater, da sitzt ja noch jemand drinnen.“

„Die Fahrertür bewegt sich keinen Millimeter“, stellte der Vorarbeiter fest. „Die Beifahrerseite lässt sich öffnen!“, rief ihm ein Kollege zu. „Ich glaube, die Frau lebt noch.“ „Ich kriege hier kein Netz! Verdammt noch mal, ich kriege keine Verbindung!“, lief der jüngste der drei Männer aufgeregt zwischen den Bäumen herum. „Du musst weiter nach oben laufen“, rief ihm der Vorarbeiter zu. „Beeil dich, sie ist schon sehr schwach!“, trieb ihn der Mann auf dem Beifahrersitz zur Eile.

Der Jungspund nahm die Beine in die Hand und rannte, was er nur konnte, quer durch den Wald, den Berg hinauf. Unterdessen kümmerten sich seine Kollegen um das Unfallopfer. Während der Vorarbeiter inzwischen die Tür hinter dem Fahrersitz aufbekommen hatte, sprach sein Kollege auf die junge Frau ein. Jasmin nahm die Bemühungen ihres Retters nicht wirklich wahr. Ihr Gesicht war geschwollen und aus der Platzwunde an der Stirn quoll auch jetzt noch dunkles Blut. Jan beugte sich über sie und versuchte die Blutung mit dem Verbandsmaterial, welches sie immer bei sich trugen, wenn sie im Wald arbeiteten, notdürftig zu verbinden.

„Können Sie mich hören?“, griff der Vorarbeiter nach ihrer Hand, um die Verletzte zu beruhigen, doch Jasmin antwortete nicht. „Hatten Sie einen Unfall?“, fragte er weiter, ohne über seine Frage nachzudenken. Er hoffte, dass sie zumindest seine Stimme wahrnahm. „Sie ist von den Knien abwärts total eingeklemmt“, flüsterte ihm Jan von vorne zu. „Wenn sie nicht sehr bald professionelle Hilfe bekommt, sehe ich schwarz.“

„Polizei, Rettungshubschrauber und Feuerwehr sind unterwegs“, kehrte Paul zur Unfallstelle zurück. „Wir sollen uns irgendwie bemerkbar machen, damit sie wissen, wo sich der Wagen befindet“, erklärte er außer Atem. „Gut, dann solltest du dich wieder dorthin begeben, wo du gerade warst, damit dein Handy per GPS geortet werden kann“, schlug der Vorarbeiter vor. Während Paul dorthin zurückeilte, wo sein Handy Netz hatte, blieben seine Kollegen im Fahrzeug zurück. Immer wieder redeten sie auf Jasmin ein, ohne jedoch eine Antwort zu erhalten.

Die Rettung im unwegsamen Gelände durch die Feuerwehr gestaltete sich äußerst schwierig. Zunächst wurde das Dach des BMW mittels Rettungsschere an den Dachsäulen durchtrennt und nach hinten abgenommen. Pneumatische Spreizer wurden eingesetzt, um das verformte Blech aus dem Fußraum zurückzudrücken. Nachdem ihre Beine frei waren, wurde vorsichtig eine Vakuumtrage unter ihren Rücken geschoben. Erst jetzt wurde die Verletzte so schonend wie möglich geborgen.

Da eine Landung in unmittelbarer Nähe zum Unfallort nicht möglich war, musste Jasmin zu einer Lichtung transportiert werden, von der aus sie mittels Winde in den Helikopter gezogen wurde. Im Klinikum Braunschweig war derweil alles für ihre Ankunft vorbereitet. Trotz der sofort eingeleiteten Notoperation vermochte keine ärztliche Kunst ihr Leben zu erhalten. Dank des in ihren Habseligkeiten gefundenen Organspenderausweises wurden ihr noch während der Operation alle in Frage kommenden Organe entnommen.

„Das ist ja ungeheuerlich!“, erregte sich Robert lautstark, als er von der Organentnahme erfuhr. „Ein Skandal ist das!“ Der Mann im weißen Kittel reagierte gelassen. Selbstverständlich verstand er die Erregung des Mannes. Für nahe Angehörige ist es zunächst ein enormer Verlust, den der Tod eines geliebten Menschen mit sich bringt. Wenn man dann quasi im nächsten Satz erfahren muss, dass diesem Angehörigen bereits Organe entnommen wurden, ist dies ein weiterer Schock, den es erst einmal zu verarbeiten gilt.

„Zum einen besaß Ihre Frau einen gültigen Spenderpass“, erklärte der Operateur. „Dieser berechtigt uns zu sofortigem Handeln. Zum anderen waren wir bemüht, Sie telefonisch zu erreichen. Da jede Minute, die wir eine Entnahme herauszögern, schlecht für die Qualität des Organs ist, blieb uns folglich nichts anderes übrig, als gemäß dem Willen Ihrer Ehefrau zu handeln.“ Der Arzt legte seine Hand auf Roberts Schulter. „Ihre Frau hat mit ihrer Gabe Leben gerettet. So war ihr Tod nicht sinnlos.“

Robert wischte die Hand des Chirurgen zur Seite. „Ich möchte diese Verfügung sehen. Wahrscheinlich ist sie gefälscht. Jasmin hat mir nie etwas von einem Organspenderausweis erzählt.“ „Natürlich können Sie in diese Verfügung einsehen. Am besten vereinbaren Sie gleich einen Termin mit unserer Rechtsabteilung“, schien den Operateur nichts aus der Ruhe zu bringen. „Wer bekommt eigentlich die Organe meiner Frau?“ „Darüber kann und darf ich Ihnen leider keine Auskunft geben. Die Zuteilung erfolgt im Rahmen eines uns nicht bekannten Schlüssels über die Eurotrans. Und nun entschuldigen Sie mich bitte, der nächste Patient wartet bereits.“

Robert war zufrieden, sein Plan war aufgegangen. Niemand hatte ihn am Unfallwagen gesehen. Die Schlange hatte er entsorgt, nun musste er sich um den Wagen kümmern. Auch wenn er dem Wagen nachtrauerte, sagte er sich, dass es nötig war, ihn quasi als Opfer zu bringen. Um nach außen hin den trauernden Ehemann zu spielen, würde er das Fitnessstudio bis zur Beerdigung geschlossen lassen. Auch wenn es ihm schwer fiel, war es besser, die Treffen mit Dorothea bis dahin auf ein Mindestmaß zu reduzieren.

„Warum lässt du denn das Studio zu?“, erkundigte sich die Blondine verwundert, als sie ihn am Nachmittag besuchte. „Du hast sie doch sowieso nicht mehr geliebt.“ „Ach Häschen, was glaubst du wohl, was die Leute denken, wenn ich weitermache, als sei nichts geschehen?“ Doro zuckte mit den Achseln. „Aber etwas Besseres als dieser Unfall hätte uns doch gar nicht passieren können.“ „Eben“, bestätigte Robert. „Und weil das so ist, könnten die Leute auf dumme Ideen kommen.“ „Auf was denn für Ideen, Hasi?“

Robert verdrehte genervt die Augen und seufzte. „Ist egal, Baby. Wichtig ist nur, dass du der Polizei erzählst, dass wir den ganzen Abend zusammen hier waren.“ „Ja, ja, mach dir keine Sorgen, aber weshalb sagst du denn nicht einfach, wo du wirklich warst?“ „Das habe ich dir doch erklärt, dass mich der Typ versetzt hat, der mir die Hantelbank verkaufen wollte. Folglich habe ich für die Zeit des Unfalls kein vernünftiges Alibi.“ „Ach so.“ Doro schien dennoch etwas bedrückt zu sein. „Du hast doch nichts mit dem Tod deiner Frau zu tun, oder?“ Robert nahm seine Liebste in den Arm und sah ihr dabei tief in die Augen. „Aber Häschen, so etwas Niederträchtiges traust du mir zu?“ Die Blondine schüttelte den Kopf.

-5-

Nach meinem voreilig gegebenen Versprechen, Miriam zu heiraten, ertappte ich mich immer wieder dabei, nach Auswegen aus diesem Dilemma zu suchen. Ja, natürlich liebe ich meine Freundin und man soll zu seinem Wort stehen. Noch dazu, wenn es in einem Moment gegeben wurde, in dem unser beider Leben kaum mehr einen Pfifferling wert war, aber da war diese Angst in mir, meine Freiheit auf immer und ewig aufgeben zu müssen. Bedenken, die mich über Wochen nicht in den Schlaf finden ließen. Letztendlich hatte ich die besagten Überlegungen jedoch irgendwann eingestellt, denn Miriam ließ mir die Zeit, drängte mich nicht und zeigte Verständnis.

So war es nun also doch so weit, das Leben des Leopold Lessing sollte ein anderes werden. Was im Grunde bereits seit unserer Partnerschaft bestand, würde nun durch ein amtlich beglaubigtes Pamphlet auf immer besiegelt. Mein durchtrainierter Körper würde nur noch einer einzigen Frau gehören. Was für eine Erkenntnis, mit der man als Mann erst klar kommen muss.

Es liegt auf der Hand, dass ein solcher Schritt einer gewissen Vorbereitung bedarf. Bereits der Antrag sollte etwas ganz Besonderes sein. Jogis Idee stand lange Zeit weit oben auf der Richterskala. Ein Antrag vor über zwanzigtausend Menschen im Braunschweiger Eintrachtstadion, der live auf der großen Leinwand übertragen wurde, hatte schon einen ganz besonderen Reiz, aber mit dieser Idee war ich leider nicht allein. Nein, ich wollte etwas, was noch kurioser war. Mein Antrag sollte einzigartig sein, etwas von dem ich noch nie etwas gehört hatte und somit für uns beide unvergesslich bleiben würde.

Wie so oft im Leben war es ein Zufall, der mich auf die richtige Idee brachte. Es war ein Nachmittag, von dem ich wusste, dass ihn meine Liebste mit irgendwelchen Papierkram hinter ihrem Schreibtisch verbringen würde. Freunde und Kollegen waren eingeweiht, als ich mich an einem herrlichen Septembertag in das Wolfenbütteler Amtsgericht begab und Miriam mit einer schwarzen Augenbinde überraschte.

„Waren wir verabredet?“, fragte sie mich total überrascht, als ich plötzlich in ihrem Büro stand. „Und was willst du mit diesem schwarzen Teil? Was ist das überhaupt?“ „Zunächst einmal möchte ich dich abholen“, entgegnete ich gelassen. „Wohin?“ „Das, mein Schatz, ist eine Überraschung.“ „Aber ich kann hier doch nicht einfach so...“ „...doch, du kannst“, widersprach ich amüsiert, während ich mich mit der Augenbinde hinter den Schreibtisch begab. Miriam war völlig konsterniert.

„Was glaubst du wohl, wie weit wir zwei kommen, wenn du mich mit einer Augenbinde aus dem Gebäude führst?“, versuchte sie mich von meinem Vorhaben abzuhalten. „Meine Kollegen rufen doch sofort das Überfallkommando.“ „Da kann ich dich beruhigen, mein Schatz. „Deine Kollegen wissen Bescheid und nun müssen wir los.“ Offenbar war ich überzeugend genug, denn nun ließ sich Miriam widerstandslos die Binde anlegen. Zum ersten Mal bestimmte ich, wohin die Reise ging. Ein gutes Gefühl und die beste Voraussetzung für eine glückliche Ehe. Wenn es nur so weiterginge.

Nachdem ich die Tür zum Flur geöffnet hatte, war ich selbst überrascht. Miriams Arbeitskollegen hatten sich allesamt vor ihrem Büro versammelt, um durch ihre Beifallsbekundung eine mehr als positive Stimmung zu verbreiten. Ihre aufmunternden Worte ließen Miriam sehr schnell auf den Grund für ihre Entführung schließen. Nun, ich war nicht so naiv zu glauben, sie wäre darauf nicht allein gekommen.

Insofern war es egal, ob sie ahnte, was auf sie zukommen würde, weil sie ja nicht wusste, in welcher Weise dies geschehen würde. Ich setzte die zukünftige Braut in meinen Wagen und fuhr mit ihr über den Rosenwall, am Schloss und der Feuerwehr vorbei und bog hinter der Sévres Brücke rechts ab. Dort, wo sich vor einigen Jahren noch das Glaubenszentrum befunden hatte, befand sich eine unbebaute Fläche, von der aus Ballonrundfahrten über die Stadt und den Landkreis gestartet wurden.

Der Ballonfahrer wartete bereits auf uns. Er stand im Korb, bereit um Miriam in Empfang zu nehmen. Eine angelehnte Leiter erleichterte ihr den Einstieg. Immerhin waren ihr nach wie vor die Augen verbunden. Alles klappte reibungslos und anders als erwartet versuchte Miriam nicht einmal die Binde abzusetzen. Wie sie uns im Nachhinein erzählte, hatte sie nicht die leiseste Ahnung, wo sie sich zu diesem Zeitpunkt befand.

Dies änderte sich freilich, als der Fahrer die Gasflaschen aufdrehte, die Leinen gekappt wurden und sich der riesige Ballon sanft in den Himmel erhob. „Als ich Miriam daraufhin die Binde von den Augen nahm, staunte sie nicht schlecht. „Woher wusstest du, dass ich mir schon immer eine solche Ballonfahrt erfüllen wollte?“ Meine bezaubernde Staatsanwältin gab mir einen innigen Kuss und wir stießen mit dem Sekt an, den ich hatte bereitstellen lassen. „Die Überraschung ist dir wirklich gelungen, aber dafür hättest du mir nicht extra die Augen verbinden müssen.“ „Wer weiß, vielleicht habe ich ja noch etwas in petto?“, entgegnete ich nebulös.

Unsere Fahrt ging über die Stadtgrenze hinaus, in südliche Richtung über Wendessen, Denkte und weiter immer am Rand der Asse entlang, bis wir in einen thermischen Aufwind gerieten, der uns über die Schachtanlage und Klein Vahlberg trieb. „Das Gebiet ist bei Segelfliegern sehr beliebt“, erzählte uns der Ballonfahrer. In der Nähe von Roklum näherte sich unsere Fahrt schließlich dem erhofften Ende, denn dort hatte ich meine eigentliche Überraschung geplant.

Bereits während wir uns dem Feld näherten, auf dem der Ballon niedergehen sollte, entdeckte Miriam, was ich an dieser Stelle für sie vorbereitet hatte. Das etwas fünfzig Meter große, rot schimmernde Herz war schon von weitem sichtbar. Ebenso die Worte, Miriam Herz, willst du meine Frau werden? Sie hatte Tränen in den Augen, als ich nach ihrer Antwort fragte. „Natürlich will ich dich heiraten!“ Der Ballonfahrer reichte uns das Kästchen mit ihrem Ring. Ich öffnete es und steckte meiner Liebsten den Verlobungsring an den Finger. Zu meiner Freude brachte es der Pilot fertig, den Ballon genau in der Mitte des Herzens zu landen. Wenn das kein gutes Omen ist...

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Paula stand regungslos neben dem Telefon. Sie konnte nicht fassen, was ihr gerade mitgeteilt worden war. „Was ist denn los?“, bemerkte ihr Vater als Erster, dass irgendetwas nicht stimmte. Da seine Tochter auch jetzt noch nicht zu einer Antwort fähig war, erhob er sich und ging auf sie zu. „Wer war das gerade?“ „Die Augenklinik“, stammelte sie verwirrt. „Ich soll sofort nach Braunschweig kommen. Sie haben Spenderaugen für mich.“ Kai Telkat und seine Frau sahen sich sprachlos an. Sollte sich das Leben ihrer Tochter tatsächlich von einer Minute auf die andere komplett ändern? Trat nun tatsächlich der Augenblick ein, den sie über Jahre herbeigesehnt hatten?

„Okay, wir müssen jetzt ganz ruhig bleiben“, versuchte Paulas Vater kühlen Kopf zu bewahren. „Wir haben diese Situation gedanklich tausend Mal miteinander durchgespielt. Roswitha, du gehst bitte mit Paula in ihr Zimmer, nimmst dir die Reisetasche und packst die notwendigsten Sachen ein, die Paula in der Klinik benötigen wird. Ich suche inzwischen alle Papiere zusammen, die wir brauchen. In fünfzehn Minuten sollten wir abfahrbereit sein.“

Nach nur zwölf Minuten saß die Familie im Auto und startete in Paulas neue Zukunft. Die junge Frau hatte im Alter von acht Jahren durch die Explosion eines Feuerwerkskörpers ihr Augenlicht verloren. Sie erfüllte alle Voraussetzungen, die für eine erfolgreiche Transplantation erforderlich waren. Trotz des Schicksalsschlags hatte sie sich zu einer selbstbewussten und lebensbejahenden jungen Frau entwickelt. Ihre Eltern waren sehr stolz auf ihre Tochter. Sie hatte ihr Abitur gemacht und studierte mittlerweile an der renommierten Welfen Akademie in Braunschweig Finanz und Versicherungswesen.

Nachdem der Ablauf der Operation noch einmal in groben Zügen durchgesprochen war, wurde Paula für den Eingriff vorbereitet. Sowie die Eurotrans die Augen angeliefert hatte, musste alles schnell gehen. Nach einem letzten Check, der den einwandfreien Zustand der Augen bestätigte, konnte der schwierige Eingriff beginnen.

Es waren mehr als neun Stunden bangen Wartens vergangen, obwohl die Operation bereits vor einer Stunde beendet sein sollte. Kai und Roswitha Telkat waren an einem Punkt angelangt, an dem sie einfach nicht mehr konnten. Die psychische Belastung, ob der schwierige Eingriff gelingen würde, zerrte wie eine tonnenschwere Last an ihren Nerven. Würde sich all die Hoffnung, all ihr Glaube an eine unbeschwerte Zukunft für Paula bestätigen?

„Ich verstehe das nicht“, schüttelte Kai verunsichert den Kopf, während er immer wieder aufgeregt durch den Warteraum schritt. „Da muss doch irgendetwas passiert sein.“ „Nun setz dich bitte wieder hin, du machst mich ja ganz kirre“, bat Rosmarie ihren Mann. „Ich kann mich jetzt nicht setzen“, erregte sich Kai. „Woher du diese Ruhe nimmst, ist mir schleierhaft.“ „Könnte ich etwas an der Tatsache ändern, indem ich wie ein aufgescheuchtes Huhn herumrenne?“

Natürlich hatte Rosi Recht, aber wenn er sich neben sie setzen würde, wäre es eine Frage der Zeit, bis er verrückt würde. Ziellos herumzulaufen war seine Art, mit einem Problem umzugehen. Er verglich es mit dem Überdruckventil eines Schnellkochtopfes. Wenn er keinen Dampf ablassen würde, würde er explodieren.

Rosi war schon immer stärker als er. Solange sie ihn den Mann im Hause spielen ließ, war es Kai egal. Hauptsache, er stand vor den Kumpels nicht als Pantoffelheld dar. Er schämte sich dessen zwar etwas, aber seine Qualitäten lagen auf anderen Gebieten. Abgesehen davon hatte diese Konstellation durchaus Vorteile für ihn. Ruhe! Im Übrigen ziehen sich Gegensätze an. Wäre er wie Rosi, gäbe es sicher jeden Tag Streit und das war ihm im höchsten Maße zuwider. So, wie es war, lief es gut und das seit über 24 Jahren.

„Herr und Frau Telkat?“, betrat eine OP Schwester den Warteraum. „Was ist mit unserer Tochter?“, stürmte Kai sofort auf sie zu. „Der Herr Professor möchte Sie sprechen“, vermied es die Frau, auf Kais Frage einzugehen. „Wenn Sie mir bitte in das Büro des Oberarztes folgen würden.“ Rosi und Kai nahmen sich an die Hand und folgten der Schwester. „Nehmen Sie bitte Platz“, deutete der Oberarzt auf die beiden Stühle, die sich vor seinem Schreibtisch befanden. „Danke, ich stehe lieber.“ „Kai!“ Er setzte sich.

„Gleichmal vorweg, die Operation ist im Großen und Ganzen gut verlaufen“, nahm der Oberarzt einen Teil der Anspannung aus dem Gespräch. „Was heißt das?“, hakte Rosi nach. „Nun, es gab leider einige Komplikationen.“ „Nun lassen Sie sich doch nicht jeden Wurm einzeln aus der Nase ziehen!“, wurde es Kai zu bunt. „Es kam zu einer unkontrollierten Einblutung im linken Auge. Dies führte zu einer Art Kettenreaktion, die wir allerdings in einem zeitlich adäquaten Zeitraum in den Griff bekamen.“

„Wird unsere Tochter wieder sehen können?“, stellte Kai die für ihn alles entscheidende Frage. „Was das rechte Auge angeht, kann ich dies bei aller gebotenen Zurückhaltung bejahen. Wobei eine solche Prognose natürlich vom Genesungsverlauf abhängig ist.“ „Was ist mit dem linken Auge?“ „Wie ich bereits sagte, kam es zu einer Einblutung. Wir müssen hoffen. Der Verband muss drei Tage drauf bleiben. Danach sind wir schlauer.“

„Können wir jetzt zu unserer Tochter?“, hielt es Kai kaum mehr aus. „Sie befindet sich zurzeit noch im Aufwachraum, aber in einer halben Stunde können Sie zu ihr“, versprach der Oberarzt. „Bitte bedenken Sie, dass Ihre Tochter zunächst nach etwas konfus auf Sie wirken wird. Daher ist es umso wichtiger, dass Sie nichts von den Komplikationen erzählen. Je mehr Zuversicht sie während der nächsten Tage in sich trägt, umso günstiger wird ihre Genesung verlaufen.“

So nervös Kai während der folgenden Tage war, saß er nicht allzu oft. Die Sorge um seine Tochter brachte ihn fast um den Verstand. Besonders schwer fielen ihm die Besuche bei Paula. Vater und Tochter hatten sich schon immer sehr nahe gestanden. Da Paula nicht sehen konnte, wie es ihrem Vater ging, achtete sie umso mehr auf jedes Wort, was er von sich gab. Der Tonfall, seine Atmung und natürlich, was er sagte, reichten ihr aus, um ihn zu durchschauen. Bereits am Tag nach der Operation wusste sie, dass nicht alles glatt gelaufen war. Sie beließ es dabei, denn im Grunde hatte sie nichts zu verlieren. So, wie sie ihr Leben bislang meisterte, war es okay. Wenn sie wieder sehen würde, hieß das Veränderung. Auch damit müsste sie erst einmal klar kommen. Wie immer auch die Operation ausgefallen war, sie war dankbar für die Chance und für die Mühe, die sich alle um sie machten.

-7-

Wie es bei der Taufe von Ballonfahrern allgemein üblich ist, wurden auch Miriam und mir bei dieser Zeremonie einige Haare angesengt, mit Champagner gelöscht und jeweils ein Taufname verlesen. Dieser sollte beim Zusammentreffen mit dem Piloten jederzeit auswendig aufgesagt werden können, da sonst eine Lage fällig wäre. Miriam, königliche Maid und Gespielin von blauem Blute und Leopold, königlicher Luftbeobachter im lauen Sommerwind zu Wolfenbüttel. So lauteten nun unsere Namen.

„Woher wusstest du eigentlich, dass uns der Wind genau in die richtige Richtung trägt?“, erkundigte sich Miriam, während der Fahrt zurück nach Wolfenbüttel. „Höhere Mächte sind mir gewogen“, entgegnete ich verschwörerisch. Meine Liebste legte ihre Hand auf meine Stirn. „Fieber hast du offenbar nicht.“ „Also schön, so ganz wollte ich es dann doch nicht dem Schicksal überlassen. Ich habe vorsorglich vier Herzen in dieser Weise vorbereitet.“ Miriams Augen funkelten wie zwei Rohdiamanten. „Oh, wie süß von dir. Mit diesem Antrag hast du dich wirklich selbst übertroffen. Meine Freundinnen und Kollegen werden mich beneiden.“

Wir fuhren gerade über den Wendessener Berg, als Miriam plötzlich übel wurde. „Können Sie bitte kurz anhalten?“, bat sie den Fahrer von der Eventargentur. Dieser schien nicht sonderlich erstaunt zu sein. Während sich Miriam auf dem Parkplatz vor der Kalkgrube in die Büsche schlug, erklärte der Fahrer, dass es nichts Außergewöhnliches sei, wenn sich die Fluggäste übergeben müssten. „Bei manchen geht es schon in der Luft los“, lächelte er. „Meistens habe ich eine Tüte parat.“ „Und wenn nicht?“, dachte ich den Satz laut zu Ende. „Dann ist es gut, dass wir oben im Korb und nicht darunter sind.“

Wenn ich eines während meiner Beziehung mit Miriam gelernt habe, dann ist es, niemals wegen irgendwelcher Peinlichkeiten nachzufragen. Daran hielt ich mich auch dieses mal. Als wir jedoch am Abend auf dem Balkon in ihrer Wohnung standen und ihr schwindelig wurde, kaum dass sie an ihrem Rotwein nippte, kam mir die Sache doch irgendwie merkwürdig vor.

„Du solltest dich vielleicht doch mal von deinem Arzt durchchecken lassen“, empfahl ich, nachdem sich Miriam auf einen der Stühle gesetzt hatte. „Erst dein Unwohlsein und nun dieser Schwindel. Möglicherweise hast du Probleme mit dem Kreislauf.“ „So ein Quatsch“, widersprach sie vehement. „Die Übelkeit hatte sicherlich mit der Ballonfahrt zu tun. Ich hatte schon immer Angst vor großen Höhen. Dafür habe ich mich jawohl gut gehalten.“ „Das hast du, keine Frage“, stimmte ich anerkennend zu. „Na also und damit ist es jetzt gut!“

Frauen, die etwas verbergen wollen, soll man nicht widersprechen und meiner schon gar nicht. Dies gilt in einem ganz besonderen Maße, wenn es um ihre Gesundheit geht. Miriam möchte als eine starke Persönlichkeit wahrgenommen werden, da könnte ihr jeder Schnupfen als Schwäche ausgelegt werden. Ein Charakterzug, der ihr schon als Kind mit auf den Weg gegeben wurde. Ich hatte mich mit der Zeit damit abgefunden. Umso mehr wunderte ich mich, als sie mich am nächsten Vormittag in der Detektei aufsuchte.

„Hallo, Frau Berlitz. Ist mein Verlobter da?“ „Guten Morgen, Frau Herz. Das ist aber schön, dass Sie uns mal wieder besuchen. Herr Lessing ist in seinem Büro. Er hat allerdings gerade eine Besprechung.“ „Aha, ein Klient?“ „Wahrscheinlich“, entgegnete meine Putzsekretärin. „Es dürfte allerdings nicht mehr lange dauern.“ „Steht denn sonst noch etwas an?“, erkundigte sich meine Liebste. „Axel ist zwar gerade mit der Observation eines Dauerkranken beschäftigt, aber das bekommt er auch ohne den Chef hin, hoffe ich.“ „Bestimmt.“

„Seien Sie unbesorgt, Frau Meier-Schote, ich werde herausfinden, was es mit diesem Eigenbedarf auf sich hat“, machte ich der Klientin beim Verlassen meines Büros neuen Mut. „So einfach, wie es sich ihr Vermieter machen möchte, ist es dann auch nicht, um Sie aus der Wohnung zu vertreiben.“ „Hoffentlich haben Sie Recht, Herr Lessing“, reichte mir die völlig verunsicherte Frau ihre zitterige Hand. „Ich melde mich, sobald ich Näheres weiß“, versprach ich. Sie nickte betreten und verabschiedete sich.

„Hallo Schatz“, begrüßte ich meine Lebensgefährtin. „Was treibt dich denn hier her?“ Miriam deutete mit einer Handbewegung auf die offen stehende Tür zu meinem Büro. Ihr Besuch schien einen besonderen Grund zu haben. Einen Grund, von dem Trude offenbar nichts mitbekommen sollte. „Was gibt es denn wieder so Geheimnisvolles?“, erkundigte ich mich, nachdem wir die Tür hinter uns geschlossen hatten. „Nun ja, ich habe mir deine Worte zu Herzen genommen und habe heute Morgen meinem Hausarzt aufgesucht.“ Ich staunte nicht schlecht. „Da ist aber jemand mit einem mächtigen Satz über seinen Schatten gesprungen.“ „Ja, ja, schon gut.“ „Und was fehlt dir jetzt?“ Miriam schien beunruhigt. „Das konnte mir der Hausarzt nicht abschließend sagen.“ Ich sah meine Liebste immer noch irritiert an.

„Ich bekam eine Überweisung zum Frauenarzt“, konkretisierte Miriam, ohne dass ich begriff, was sie mir sagen wollte. Dementsprechend verdattert starrte ich sie an. „Mein Hausarzt meint, es könnte sich um eine Entzündung der Eierstöcke handeln.“ „Ist das etwas Schlimmes?“, erkundigte ich mich verhalten. „Ich habe Angst, es könnte etwas anderes sein. Würdest du mich begleiten?“

Oh nein, nicht schon wieder. Mein letzter Besuch bei Miriams Frauenärztin war mir noch in lebhafter Erinnerung. Auch wenn ich damals nur im Wartezimmer saß, hatten die mit mir im Raum versammelten Damen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen. Schließlich bekommt man nicht jeden Tag gesagt, dass der Lack bereits an einigen Stellen abblättere. Eine Feststellung, die im Leben eines jeden Mannes für Entsetzen sorgt. „Meine Antwort musste daher gut überlegt sein, denn im Grunde blieb mir in Anbetracht der Situation nichts anderes übrig, als meine Liebste in die Höhle der Löwinnen zu begleiten. „Aber klar, mein Schatz. Natürlich gehe ich mit dir dorthin.“ „Ich hatte nichts anderes von dir erwartet“, freute sich Miriam und gab mir einen Kuss. „Ist doch selbstverständlich.“ Eigentlich hätte mir die Schamesröte im Gesicht stehen müssen, aber als Privatermittler lernt man es, seine Gefühle zu kontrollieren.

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„Ich habe Angst“, seufzte Paula bedrückt. „Das ist ganz normal“, beruhigte sie der Professor. „Sie dürfen nur nicht erwarten, von Anfang an klar sehen zu können. Ihre Augen müssen sich erst langsam an das Licht gewöhnen.“ „Es sind nicht meine Augen“, widersprach Paula. „Sie sind ein Geschenk des Schicksals“, definierte der Professor. „Sie sollten diese Augen als ein solches annehmen. Wer auch immer einmal mit ihnen sehen konnte, ist viel zu früh aus dem Leben geschieden. Sie geben, indem Sie das Geschenk annehmen, der Spenderin postum das Gefühl, nicht unnütz gestorben zu sein.“

Die Worte des Arztes verfehlten ihre Wirkung nicht. Paula schien ihre Einstellung zu überdenken. „Seien Sie versichert, auch diese Reaktion ist völlig normal. Wenn Sie erst mit ihren neuen Augen sehen können, werden sie diese auch als die ihren akzeptieren.“ „Angst habe ich trotzdem“, verzog Paula kritisch das Gesicht. „Wäre es Ihnen lieber, wenn Ihre Eltern dabei sind, wenn ich den Verband abnehme?“ „Nein, nur das nicht. Mein Vater würde mich nur noch mehr aufregen.“ „Also schön, wenn Sie dann so weit sind, kann es ja losgehen“, verbreitete der Professor Zuversicht.

Zunächst entfernte er vorsichtig den Verband. Ehe er ihr auch die dunklen Augenklappen abnahm, bat er Paula, die Augen weiterhin geschlossen zu halten. „Ich werde Ihnen nun eine spezielle Sonnenbrille aufsetzen. Die behalten Sie bitte während der nächsten Stunden auf. Das ist ganz wichtig, weil Sie den Augen ansonsten schaden würden“, erklärte er. Bei all der Anspannung freute sich Paula ebenso darauf, möglicherweise schon bald wieder sehen zu können. „Gut.“

„Sie können die Augen nun langsam öffnen“, gab der Mediziner kurz darauf grünes Licht. Paula fasste allen Mut zusammen. „Ich kann Sie sehen, Herr Doktor“, stammelte sie. „Ich kann Sie sehen!“ „Das Bild, welches sich Ihnen bietet, dürfte noch etwas verschwommen sein“, erklärte der Professor. „Das gibt sich mit der Zeit.“ „Nein, eigentlich kann ich Sie klar erkennen.“ „Umso besser“, freute sich der Oberarzt. Nachdem er einige Tests mit seiner Patientin durchgeführt hatte, bat er Paulas Eltern in das Behandlungszimmer.

„Was ist, Kind, kannst du schon etwas erkennen?“, stürmte Kai herein. „Meine Güte, Paps, du bist aber alt geworden“, entgegnete Paula so scherzhaft, wie es ihre Art war. „Offenbar kann sie schon wieder recht gut sehen“, sprang Roswitha auf den Zug auf. „Macht euch man auf meine Kosten lustig, das ist mir heute auch einerlei“, freute sich Kai. „Die Hauptsache ist, Paula kann wieder sehen!“

„Ihre Tochter muss die Verdunkelungsbrille noch etwas tragen, Die Augen sollen sich langsam an das Tageslicht gewöhnen. Es ist gut möglich, dass sie während der ersten Tage etwas tränen. Für den Fall habe ich Ihnen Tropfen aufgeschrieben, die Sie bitte mehrmals am Tag in die Augen träufeln. Ebenso könnte ein gelegentlicher Schwindel auftreten. Auch dies ist kein Grund zur Beunruhigung. In diesem Fall setzen Sie sich einfach etwas und ruhen sich einen Moment aus. Der Schwindel sollte dann wieder verschwinden.“ „Und wenn nicht?“, hakte Kai nach. „Dann kommen Sie mit Ihrer Tochter in die Klinik.“

„Können wir unsere Tochter denn jetzt mitnehmen?“ „Von meiner Seite aus spricht nichts dagegen“, reichte der Professor Kai die Hand. „Sie sollten allerdings unbedingt an den Termin zur Nachsorge und an das Gespräch mit unserem Psychologen denken“, mahnte der Mediziner, während er den Behandlungsraum verließ. „Geh klar, Herr Professor und vielen Dank für alles“, rief Paula dem Oberarzt nach. „Ist mein Job“, entgegnete dieser knapp und verschwand auf dem Klinikflur.

„Na, dann wollen wir mal“, hakte Rosi ihre Tochter ein. „Bis zum Auto sollten wir vielleicht noch zusammengehen, oder hast du noch etwas anderes vor?“ Paula war es im Augenblick recht, so ganz sicher fühlte sie sich noch nicht. „Was soll sie denn vor haben?“, mischte sich Kai ein, der mal wieder nur die Hälfte verstanden hatte. Rosi winkte den Kopf schüttelnd ab.

Als sie die Klinik verließen und Paula zum ersten Mal seit Jahren sehen konnte, wie sich die Welt unterdessen verändert hatte, weinte sie Tränen des Glücks. All diese Jahre waren es die Bilder aus ihren Erinnerungen, von denen sie zehrte. Mit jedem Jahr ihrer Erblindung verblassten diese Bilder mehr. Ihre Angst davor, sie gänzlich zu vergessen, hatte sie manchmal sehr traurig werden lassen. Sie konnte immer noch nicht so recht glauben, dass sie nun wieder ohne diese Ängste leben konnte.

Paula sog die frische Herbstluft ein, atmete tief durch und fieberte dem Augenblick entgegen, an dem sie ohne die Brille sehen durfte und all die leuchtenden Farben der Natur und all die anderen schönen Dinge wieder in vollen Zügen genießen konnte. „Können wir weiter, Schatz?“, riss Rosi sie aus ihren Gedanken. „Sorry, aber…“ „Schon gut, du hast alle Zeit der Welt“, entgegnete ihre Mutter verständnisvoll.

Kai hatte inzwischen das Auto vom Parkplatz geholt und stoppte es direkt vor Mutter und Tochter. „Du musst dich noch etwas schonen“, eilte er um den Wagen herum, um Paula galant beim Einsteigen zu helfen. „Und was ist mit mir, du alter Stoffel?“, beschwerte sich Rosi, weil sich Kai bereits wieder auf dem Rückweg befand. „Oh, Entschuldigung. Ich war ganz in Gedanken.“ Insgeheim lächelte sie verschmitzt. Sie kannte ihren Ehemann lange genug, um genau zu wissen, wie aufgeregt er gerade war.

Den eigentlichen Grund für diese Aufregung kannte sie jedoch nicht wirklich. Dies änderte sich, als sie die Tür zu ihrem Haus in der Ernst-Moritz-Arndt-Straße öffnete. Ein ganzer Pulk von Menschen kam ihr fröhlich lärmend entgegen. Während Rosi bis ins Mark erschrak, freute sich Kai über die gelungene Überraschung. Er hatte heimlich Paulas Freunde eingeladen, um ihr einen tollen Empfang zu bereiten. Die war erwartungsgemäß völlig perplex. Es dauerte einige Minuten, bis sich das Durcheinander soweit gelegt hatte, dass sie ihre Party genießen konnte.

Als sie Stunden später in die Federn sank, war sie total erschöpft von den Ereignissen und den vielen alten Eindrücken, die sich, bei Licht betrachtet, plötzlich so neu anfühlten. Nachdem sie endlich zur Ruhe gekommen und eingeschlafen war, träumte sie von hunderten kleiner und großer Zahlen, die sich in einer schier unendlichen Reihe tanzend durch das Dunkel der Nacht bewegten.

Auch in den darauf folgenden Nächten ließen sie diese Zahlen nicht los. Nur das Dunkel der Nacht klarte allmählich auf und die Konturen eines Hauses wurden nach und nach sichtbar. Und noch etwas war ungewöhnlich, Paula konnte sich am nächsten Tag stets an diese Träume erinnern. Da die nächsten Tage vollgestopft waren mit neuen Erkenntnissen und anderen fantastischen Erlebnissen, verblassten diese Träume jeweils, ohne von Paula mit weiterem Interesse bedacht zu werden. Ihr altes neues Leben forderte ihre ganze Aufmerksamkeit.

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„Und nun will ich von dir wissen, was dieser Unfug mit dem Schamanen sollte“, ließ Miriam nicht locker, während wir auf ihren Termin beim Frauenarzt warteten. „Das kannst du nur von Trude wissen“, ärgerte ich mich über das Plappermaul. „Ich hätte dich eigentlich für gescheiter gehalten. Wie kannst du so einem Quacksalber nur einen Haufen Geld in den Rachen werfen?“ „Bei dieser Gelegenheit fällt mir ein, dass ich den Meister noch gar nicht bezahlt habe.“ „Na, wenigstens ein Lichtblick“, beruhigte sich Miriam. „Frau Herz bitte!“, unterbrach die Sprechstundenhilfe unser Gespräch. Als ich aufstehen wollte, um meiner Liebsten zu folgen, bedeutete sie mir, mit einer Handbewegung sitzen zu bleiben.

Während ich also weiterhin auf dem Besucherstuhl saß und mich hinter einer Zeitschrift verbarg, die sich ausnahmslos mit dem blaublütigen Geschlecht des europäischen Hochadels beschäftigte, befand sich Miriam in einem der Behandlungszimmer. Ich fragte mich, weshalb ich sie überhaupt begleiten sollte, wo es quasi in dem Moment, in dem sie zu ihrer Ärztin hereingerufen und es somit interessant wurde, von mir verlangte, dass ich draußen bleiben sollte. Wieder so ein Stück weit Frauenlogik, die ich nicht verstand.

„Sagen Sie mal, junger Mann, kennen wir uns nicht?“, schallte es plötzlich zu mir herüber. Wenn ich es nicht besser wüsste, hätte ich geglaubt, die extrovertierte Dame wäre auf der Suche nach einem Papa für ihre sechs Kinder. Da ich die besagte Mama aber bereits von einem meiner letzten Besuche bei Miriams Frauenärztin kannte, zog ich es vor, die Zeitschrift noch ein Stückchen höher zu halten, sie zu ignorieren und mich weiterhin dahinter zu verbergen.

Hat es denn immer noch nicht geklappt?“, ließ sie nicht locker. Ich hätte es wissen müssen, die Masche mit dem Ignorieren hatte auch schon beim letzten Mal nicht funktioniert. „Na ja, mein Willi hat das gleiche Problem“, tat sie lauthals kund. Die übrigen Frauen unterbrachen ihre Tätigkeiten und hörten ihr aufmerksam zu. „Mit zunehmendem Alter lässt die Manneskraft eben nach. So ist halt die Natur.“ „Seien Sie versichert, bei mir lässt nichts nach“, wehrte ich mich nach Leibeskräften. Mehr als ein munteres Gekicher löste ich damit allerdings nicht aus.

„Was es zu beweisen gilt!“, konterte sie provokativ. Gefahr war im Verzug! Sechs Ohrenpaare erwarteten meine Reaktion. Die Rettung nahte in der Gestalt der Sprechstundenhilfe. Sie betrat das Wartezimmer im richtigen Moment, um mich in den Behandlungsraum zu bitten. „Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, Cowboy.“ Ich folgte lieber der Frau im weißen Kittel. In der Annahme, ich dürfte nun lediglich einer abschließenden Besprechung beiwohnen, war ich umso erstaunter, als ich in einen abgedunkelten Raum geführt wurde, in dem ich Miriam auf einer Liege entdeckte. Ich muss eingestehen, im ersten Moment recht erschrocken zu sein, denn als ich meine Liebste unter den Händen der Ärztin sah, erwartete ich das Schlimmste.

„Kommen Sie bitte zu mir herüber, Herr Lessing.“ Sie deutete auf einen Stuhl, der neben ihr stand. Während ich mich setzte, versuchte ich in Miriams Augen zu sehen. Ihr Kopf lag jedoch im Lichtschatten des Monitors, auf den ich nun sehen sollte. Die Ärztin deutete auf ein verschwommenes Bild, welches wie ein durchgekämmter Teller mit Milchreis aussah. Mittendrinn ein Loch, in dem bereits der Boden zu sehen war. „Sehen Sie das hier?“, zeigte die Ärztin auf einen kleinen Punkt in der Mitte des Loches. „Was um Himmels Willen ist das?“, rang ich um Fassung. „Kann man es entfernen?“

Frau Doktor sah mich irritiert an. Miriams Oberkörper richtete sich auf. Nun konnte ich auch in ihre Augen sehen. In ihnen brannte pures Entsetzen. „Ich nahm an, dass Sie ein gemeinsames Kind wollten“, fasste sich die Ärztin als Erste. „Kind? Wieso Kind? Ich dachte wir sprechen über einen Tumor oder so.“ Der Oberkörper meiner Liebsten sackte stöhnend zurück. „Meine Güte, Leo, ich bin schwanger!“ „Wir bekommen ein Kind?“, sinnierte ich mit eigenen Worten. „Was denn sonst?“, ereiferte sich Miriam. „Manchmal bist du aber auch…“ „Aber das ist ja wunderbar!“

Ich stockte. „Ist denn mit dem Kind alles in Ordnung?“, fragte ich besorgt nach. „Es sieht eigentlich recht gut aus“, entgegnete die Ärztin. „Ich sehe Ihre Sorge. Gibt es einen speziellen Grund dafür?“ „Na ja, wie soll ich sagen? Vor ein paar Wochen hatte sich meine Partnerin über einen längeren Zeitraum verkühlt. Überdies geschah dies während einer emotionalen Stresssituation.“ Die Ärztin machte ein angespanntes Gesicht. „Es ist zu früh, um diesbezüglich etwas zu erkennen“ räumte sie ein. „Bislang sieht aber eigentlich alles recht gut aus. Dennoch würde ich, schon wegen des Alters von Frau Herz, zu einer Fruchtwasseruntersuchung raten.“

Miriam fuhr entsetzt auf. „Ich habe viel Negatives über diese Untersuchung gehört.“ „Es ist richtig, dass es bereits zu tragischen Zwischenfällen kam, aber wenn die Fruchtwasserbestimmung akkurat durchgeführt wird, ist ihr Nutzen ungleich höher als das Risiko zu bewerten.“ Miriam und ich sahen einander an und kannten unsere Antwort. „Nun seien Sie erst einmal ohne Sorge“, schnitt uns die Ärztin das Wort ab, ehe wir zu unserer Antwort angesetzt hatten. „Für den Fall, dass es im Laufe Ihrer Schwangerschaft zu einer Notwendigkeit kommen sollte, werden wir vorher ausführlich darüber sprechen.“ Meine Liebste und ich atmeten erleichtert auf.

„Na, hat es denn endlich geklappt?“, wollte die Dame mit den sechs Kindern wissen, als wir uns vor dem Tresen in der Anmeldung begegneten. „Ich sagte ja, was lange währt, wird gut. Die Herztöne unseres Stammhalters erinnern stark an Sweet home Alabama .“ „Er soll einmal Komponist werden“, fügte Miriam geistesgegenwärtig hinzu. Ich hätte sie dafür knutschen können.

Nachdem wir die frohe Botschaft mit einem kleinen Essen bei Francesco ein wenig gefeiert hatten, trennten sich unsere Wege für den Nachmittag. Irgendwie befanden wir uns in einer merkwürdigen Situation. Im Grunde hätten wir uns über die Maßen freuen müssen, doch anstatt dessen wurde unser besagtes Essen von eher nüchternen Gesprächen bestimmt. Hierin ging es um eine größere Wohnung, die Gestaltung des Kinderzimmers und um den Namen für unseren Nachwuchs. Ich war froh, als ich meine Detektei betrat und alles hinter mir lassen konnte.

Fast alles, denn Trude hatte natürlich nichts Eiligeres zu tun, als mich nach dem Befund der Frauenärztin zu befragen. „Es ist unglaublich, wie haben Sie denn das schon wieder mitbekommen?“ „Na hören Sie mal, man hat ja schließlich Augen und Ohren im Kopf.“ „Ja und Sie offensichtlich von beiden jeweils zwei besonders große Exemplare.“ „Dass Frau Herz schwanger ist, habe ich bereits vor zwei Wochen gesehen. Dafür brauche ich keine Untersuchung beim Frauenarzt. Ich wollte nur wissen, ob alles in Ordnung ist.“ „Ich war von den Socken. Woher...?“ „...ich das wusste? Ganz einfach. Der Mundhof bei Frau Herz wurde immer blasser.“ „Was für ein Hof?“ Meine Putzsekretärin fuhr sich mit dem Zeigefinger um den Mund. „Der Bereich um den Mund wird bei uns Frauen besonders gut durchblutet. Wenn sich hier also eine zunehmende Blässe einstellt, ist in den allermeisten Fällen eine Schwangerschaft der Grund dafür.“

Ich fragte mich, weshalb Miriam all die teuren Tests gekauft hatte, wo wir doch nur Trude hätten fragen müssen. „Also schön, Sie hatten tatsächlich Recht. Miriam ist schwanger und offenbar ist alles in Ordnung.“ „Oh wie schön“, jubelte sie. „Es liegt wohl auf der Hand, dass der Schamane seinen Teil dazu beigetragen hat“, erklärte ich herausfordernd. „Woher Miriam davon wusste, ist mir allerdings schleierhaft. Von Ihnen wird sie es ja sicherlich nicht erfahren haben, wir hatten ja diesbezüglich eine Abmachung, nicht wahr?“

Ich konnte direkt sehen, wie es hinter der Stirn meiner Putzsekretärin rumorte. „Ich fürchte, ich habe mich ein wenig verquatscht, Chefchen. Eigentlich wollte ich gar nichts sagen, aber dann schoss es einfach so aus mir heraus.“ „Ein für alle Mal, was auch immer zwischen diesen Wänden gesprochen wird, bleibt hier“, machte ich ihr eine Ansage. „Egal, was es ist!“ „Jawohl, Herr Lessing. Ich werde mich zukünftig daran halten.“ Endlich hatte ich mich mal wieder bei Trude durchgesetzt. „Ach, übrigens, herzlichen Glückwunsch! Auch von Herrn Doktor Börner.“

Da ich ihre letzten Worte kaum mehr vernahm, weil ich im selben Moment die Tür zu meinem Büro hinter mir schloss, hoffte ich, mich verhört zu haben. Natürlich hatte die gute Seele längst dafür gesorgt, dass unsere Schwangerschaft zum Stadtgespräch geworden war. Auch wenn Miriam anderer Meinung war, stand für mich zweifelsfrei fest, dass der Schamane maßgeblich zum Erfolg der Mission Schwangerschaft beigetragen hatte. Es versteht sich von selbst, dass es mir nun eine Herzensangelegenheit für mich war, so bald wie möglich bei ihm vorbeizufahren und mit dem Geld auch meinen persönlichen Dank zu überbringen.

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„Was ist los mit dir?“ „Nichts, alles gut“, wich Paula der Frage ihres Vaters aus. „Ich wäre ein schlechter Vater, wenn ich dir deinen Kummer nicht anmerken würde“, widersprach Kai. „Es kommt mir so vor, als hättest du Probleme mit deinen Augen.“ Paula zögerte mit ihrer Antwort. Einerseits wünschte sie sich, mit ihrem Vater über den Traum zu sprechen, andererseits hatte sie Angst davor, von ihm nicht ernst genommen zu werden. „Es ist wie mit allem anderen im Leben“, philosophierte er. „Wer nicht wagt, wird nicht gewinnen.“ Kai hatte Recht. Natürlich hatte er Recht, aber es war halt auch nicht so einfach, über ihr Problem, wenn es denn überhaupt eins war, zu reden.

„Also schön“, lenkte sie schließlich ein. Kai spürte, wie schwer es seiner Tochter fiel, die richtigen Worte zu finden. „Seit einigen Tagen verfolgt mich in jeder Nacht derselbe Traum. Immer und immer wieder drängen sich die Bilder daraus nun auch schon tagsüber in meinen Kopf. Ich weiß nicht mehr, ob ich mir diese Bilder einbilde, oder ob sie real sind.“ Kai hörte ihr aufmerksam zu. Er bemerkte an ihrer Mimik und an der Art, wie sie davon erzählte, wie nah ihr diese Bilder gingen.

„Was sind das für Bilder?“, zeigte er ihr sein Interesse. „Zuerst sehe ich nur Zahlen, die durcheinanderwirbeln, dann Bäume, die wie überdimensionale Schatten an mir vorbeifliegen und schließlich fliege ich selbst. Mit dem nächsten Augenblick falle ich in eine Wolke und wache auf.“ „Du sagst, du träumst dies jede Nacht?“, hakte Kai nach. „Mittlerweile sehe ich die Bilder auch am Tage und das mit offenen Augen.“ Kai sank in den Sessel zurück und grübelte. Was sollte er seiner Tochter sagen? Wie konnte er sie beruhigen, ohne dabei ihre Geschichte als Hirngespinst abzutun?

„Ich weiß nicht, was dir diese Bilder sagen sollen und ich weiß auch nicht, welchem Ursprungs sie sind“, begann er unsicher. „Mir ist keine Begebenheit aus deiner Kindheit bekannt, die sich mit derartigen Bilder assoziieren ließen“, versuchte sich Paulas Vater zu erinnern. „Hast du denn das Gefühl, dass es sich um Bilder handelt, die aus der Zeit vor deiner Erblindung stammen könnten?“ „Nicht wirklich“, schüttelte Paula den Kopf. „Weißt du, Schatz, nicht zu wissen, woher etwas stammt, was uns nicht loslassen will, ist sicherlich unangenehm und es verunsichert uns, aber solange sie keine bösen Eindrücke vermitteln, sollten wir sie als einen Teil unserer Fantasie hinnehmen.“ Paula zeigte sich von den Worten ihres Vaters beeindruckt. Es war ihm tatsächlich gelungen, sie ein Stück weit zu beruhigen.

Auch wenn ihr die Bilder nach wie vor erschienen, so stand Paula ihnen offener und unbekümmerter gegenüber. Sie nahm sie als das, was sie letztendlich waren, Erinnerungen. Erst als den vertrauten Bildern weitere folgten, kehrten auch die Gedanken zurück, die ihr Sorgen machten. Es waren wiederum Bilder, die zunächst ebenso verschwommen waren wie die Zahlen, die sie zuallererst in ihren Träumen sah.

Auch wenn sich in ihrem Leben, seitdem sie wieder sehen konnte, so einiges geändert hatte, so blieb der sonntägliche Familienausflug nach wie vor ein Ritual, auf das niemand verzichten wollte. An diesem Sonntag sollte es zur Schlangenfarm nach Schladen gehen. Paula freute sich riesig darauf. So wie vieles andere dieser Tage völlig neu für sie war, so begeisterte sie die Vorstellung, lebende Reptilien und Schlangen zu sehen. Es war das Mystische, das Unheimliche, welches von ihnen ausging. Es war das Böse und Berechnende in ihnen, das auch schon Eva dazu trieb, Adam zu verführen, um das Paradies für sich allein zu haben.

Die Show war bereits im Gang, als der Tiertrainer mit einer der Schlangen nah an das Publikum herantrat, um ihnen den Melkvorgang zu demonstrieren. Für einen winzigen Moment hatte der Veranstalter die Schlange nicht unter Kontrolle. Das flinke Tier reckte sich gefährlich nah in Paulas Richtung. Entgegen ihrer sonst so besonnenen Art begann Paula hysterisch zu schreien und ließ sich auch Minuten später nicht beruhigen. Erst ein unter den Zuschauern befindlicher Arzt, der seinen Medikamentenkoffer gottlob im Wagen hatte, konnte sie durch eine Beruhigungsspritze wieder zur Ruhe bringen.

„Kann es sein, dass Ihre Tochter unter einer Phobie gegen Schlangen leidet?“, erkundigte sich der Arzt. „Kai schüttelte ratlos den Kopf. „Eigentlich nicht, aber derzeit birgt jeder Tag Überraschungen.“ Nachdem er dem Mediziner von der Augentransplantation und von Paulas Wahrnehmungen erzählt hatte, riet ihm dieser, mit seiner Tochter einen Psychologen aufzusuchen, der eng mit der Augenklinik zusammenarbeitet. „Das Verhalten Ihrer Tochter könnte psychosomatische Ursachen haben.“ In Kais Gesicht zeichnete sich ein Fragezeichen ab. „Die Psyche Ihrer Tochter hat die Spenderaugen noch nicht akzeptiert. Auch wenn Paula aus Ihrer Sicht glücklich und zufrieden sein müsste, endlich wieder sehen zu können, ist es für Ihre Tochter eine schwere Zeit.“

Da die folgenden Untersuchungen in der Augenklinik zu einem aus medizinischer Sicht durchweg positiven Ergebnis führten, wurde Paula durch den behandelnden Oberarzt an den Psychologen überwiesen, der sie bereits während der ersten Tage nach der Transplantation betreut hatte.

„Sie unterliegen doch der ärztlichen Schweigepflicht, oder?“, erkundigte sich Paula zaghaft. Der Mann mit dem Notizblock auf dem Schoß lächelte einfühlsam. „Na klar, ohne Ihre Zustimmung darf ich nichts von dem, was Sie mir erzählen, an andere Stelle weitergeben.“ „Weshalb schreiben Sie dann alles auf?“ „Das dient einzig meinen Studien und der besseren Übersicht. Aber wenn es Sie stört…“ Der Psychologe legte den Block zur Seite, ohne Paulas Antwort abzuwarten. Woraufhin sich die junge Frau erleichtert zurücklehnte.

„Wie ich Ihnen ja bereits bei unserem ersten Gespräch erklärte, ist es eine ganz natürliche Reaktion, wenn Sie Bedenken gegen Ihre neuen Augen haben. Ihre Psyche funktioniert nicht auf Knopfdruck. Es gibt viele Empfänger, bei denen sich die endgültige Akzeptanz fremder Organe über Jahre hinzieht“, erklärte er weiter. Paula zuckte mit den Achseln. „Aber das ist es doch gar nicht. Ich komme inzwischen recht gut damit klar. Ich sehe mit meinen neuen Augen Bilder, die ich nicht einordnen kann. Bilder von Dingen, die ich nie zuvor sah und seit meinem Zusammenbruch in der Schlangenfarm sehe ich mich hinter dem Steuer eines demolierten Autos und ich sehe einen Mann, der eine Schlange dicht an mir vorbei aus dem Wagen zieht.“

„Hatten diese Bilder mit Ihrem Zusammenbruch zu tun?“ „Ich denke schon, denn vorher gab es diese Bilder nicht. In dem Moment, als der Trainer die Schlange mit dem Stock genau in meine Richtung hielt, waren sie plötzlich da. So real und lebendig, als spielten sie sich genau in diesem Augenblick erst ab.“ „Verstehe ich richtig, dass Sie die beschriebene Szene bis dato nicht kannten?“, hakte der Psychologe nach. Paula nickte zustimmend. „Bis dahin waren es Zahlen, Bäume und Wolken, die ich sah.“

Etwas Derartiges hatte der Psychologe während seiner langjährigen Praxis nicht erlebt und auch noch von keinem seiner Kollegen gehört. Dementsprechend irritiert reagierte er auf Paulas Schilderungen. „Wie muss ich mir diese Bilder vorstellen? Sind es Bilder in Form von Fotos oder erscheinen sie Ihnen in der Art eines Films?“ „Es sind eher Videoclips“, erklärte Paula. „Deshalb dachte ich ja zunächst, es würde sich nur um Träume handeln.“ „Erzählen Sie mir von dem Mann“, versuchte der Psychologe ihre Angaben zu konkretisieren. „Was macht er, wobei beobachten Sie ihn?“ „Ich sehe, wie er eine Schlange in der Hand hält und dicht an mir vorbei zur Seite nimmt.“ „Okay, was dann?“ „Ich weiß es nicht, der Mann verschwindet aus meinem Sichtbereich.“ Der Psychologe horchte auf. Es war ein einziges Wort, welches ihn skeptisch werden ließ.

„Sie sagten, der Mann entfernte die Schlange aus Ihrem Sichtbereich“, zitierte er. „Ihnen ist schon klar, dass es sich um den Sichtbereich des Spenders handeln müsste, nicht wahr?“ „Ja natürlich, daran habe ich im Augenblick gar nicht gedacht.“ „So ist es“, bestätigte der Psychologe knapp. Da es bislang keinerlei vergleichbare Berichte von ähnlich gelagerten Fällen gab und somit kein Vergleich möglich war, stand für ihn die Sache fest. Was immer die junge Frau auch dazu trieb, ihre Geschichte entsprang nach seinem Dafürhalten allein ihrer Einbildungskraft. „Versuchen Sie einfach Realität und Fantasie besser auseinanderzuhalten, indem Sie die Eindrücke, die Sie beschäftigen, objektiver hinterfragen. Sie werden sehen, dass sich diese Bilder mit der Zeit verflüchtigen und schon bald gänzlich verschwinden.“

Der Psychologe erhob sich und streckte Paula seine Hand entgegen. „Ich schreibe Ihnen ein leichtes Sedativum auf. Damit sollten diese Bilder schon bald der Vergangenheit angehören. Falls widererwarten noch etwas sein sollte, können Sie sich gern wieder an mich wenden.“ Paula fühlte sich unverstanden und auf billige Art und Weise abserviert. Letztendlich war sie ratlos, an wen sie sich nun noch wenden konnte. Sollte sie die Bilder ignorieren, sie als ein Produkt ihrer Fantasie abtun? Auch wenn es ihr bislang niemand direkt sagte, hatte sie dennoch das Gefühl, man würde an ihrem Verstand zweifeln.

So konnte und wollte sie nicht nach Hause gehen. Paula war ratlos, sie war durcheinander und so intensiv sie auch versuchte, die Bilder aus ihrem Bewusstsein zu verbannen, sie blieben fest darin verankert. Ziellos ging sie durch die Stadt. Vorbei an dem ehemaligen Bähr Kaufhaus, die Lange Herzogstraße hinunter, bis ihr plötzlich ein lustiger Mann mit zwei Pappplakaten auf Bauch und Rücken begegnete. Detektei Lessing, günstig und diskret, wir wissen wie es geht , las sie darauf. Wenn die Bilder tatsächlich ein Verbrechen reflektierten, dann konnte sie dies nicht ignorieren.

„Entschuldigen Sie bitte“, sprach sie meinen Mitarbeiter an. „Wo befindet sich denn die Detektei Lessing?“ „Ist gleich da vorn“, deutete Axel mit seinem Arm in die Richtung. „Ach, wissen Sie was, ich begleite Sie einfach dorthin.“ „Na, das nenne ich mal Service.“ „Der wird bei uns großgeschrieben“, schwärmte Axel in den höchsten Tönen. „Sie werden sehen, egal um was es sich handelt, Herr Lessing ist jeden Euro wert.“ „Ich habe gar keine Vorstellungen, was so ein Detektiv kostet“, verzog Paula nachdenklich ihr Gesicht. „Ach, wissen Sie, junge Frau, mein Chef ist wirklich fair, der reißt ihnen ganz sicher nicht den Kopf ab.“ „Hoffentlich.“

 

Lebensrettungssong zur Herzdruckmassage