Detektei Lessing

 

Die Tote vom Vilgensee

 

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Die Abenddämmerung spiegelte sich bereits in dem wie ein gläserner Teppich daliegendem Gewässer. Für Gerd und Rita Grunewald gab es nichts Schöneres als diese lauen Herbstabende. Sie nutzten sie mit Vorliebe für ihre ausgedehnten Spaziergänge an den malerischen See, ganz in der Nähe ihres Heimatortes. Wie so oft saßen sie auch an diesem Abend Hand in Hand auf einer der Bänke, die sich unweit des Ufers befanden und sogen die beschauliche Ruhe des wie unberührt daliegenden Biotops in sich auf, ließen die Mühen des Alltags weit hinter sich und lauschten der Glocke, die laut Überlieferung an jedem Abend zur gleichen Zeit aus den Tiefen des Wassers erklingen sollte.

„Wie friedlich es hier ist“, flüsterte Rita ihrem Mann zu. „An einem solchen Ort möchte ich einmal meine letzte Ruhe finden.“ „Wie wäre es, wenn du erst einmal für den Augenblick deine Ruhe finden könntest?“ Rita machte ein verärgertes Gesicht und schmollte. Nicht für lange, dafür redete sie viel zu gern, was Gerd wiederum nicht selten gehörig auf die Nerven ging. Wenigstens hier in der Natur wollte er etwas Ruhe haben. Notfalls auch schon mal mittels eines kleinen Seitenhiebs.

„Siehst du das da hinten?“, meldete sie sich nur Sekunden später wieder zu Wort. Gerd verdrehte seufzend die Augen. „Was soll da sein? Ich sehe nichts.“ „Bist du blind?“ Sie zeigte mit ihrem ausgestreckten Arm auf das kleine Entenhäuschen, welches sich unweit der Insel befand. „Da treibt doch etwas im Wasser!“ Rita sprang auf und ging einige Schritte vor, bis sie ganz nah am Ufer stand. „Fall bloß nicht rein!“, mahnte Gerd zur Vorsicht, während auch er sich von der Bank erhob, um besser sehen zu können. „Sieht aus wie ein Baumstamm. Sicher von ein paar Halbstarken ins Wasser geworfen. Wenn ich mal einen von den Bengeln erwische…“

Rita ließ sich nicht beirren. Das was dort, etwa fünfzehn Meter von ihr entfernt, im Wasser trieb war alles andere als ein Holzstück. Um besser sehen zu können, ging sie auf das Wäldchen zu, welches sich rechts vom See ausdehnte und für die zahlreichen Tiere Brut und Schutzstätte war. Plötzlich erschrak sie und stieß einen markerschütternden Schrei aus. „Meine Güte, was hast du denn?“, holte Gerd sie endlich ein. Rita starrte ihren Mann aus schreckgeweiteten Augen an. Ihre sonst so rosige Gesichtsfarbe war einem schlichten kalkweiß gewichen. „Um Himmels Willen, man könnte meinen, du hättest das Gespenst eines deiner Urahnen gesehen.“

„Da vorn…“, stammelte sie auf den vermeintlichen Baumstamm deutend. „Da schwimmt eine Leiche.“ Ungläubig starrte Gerd zum Entenhaus hinüber und sah schließlich selbst, was ihm und Rita noch viele schlaflose Nächte bereiten sollte.

 

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Was zuvor geschah.

 

„Nun, Frau Rose, ich darf Ihnen herzlich gratulieren, sie werden Mutter.“ Franziska hatte das Gefühl, einen heftigen Schlag gegen ihren Kopf bekommen zu haben. Die Worte des Arztes dröhnten darin, als hätte er durch ein Megaphon zu ihr gesprochen. Schwanger, schwanger, schwanger… schallte es ohne Unterlass. Der Mann im weißen Kittel hatte ausgesprochen, was sie längst befürcht hatte. Nun war es also wahr. Wie sollte sie es Mathias erklären? „Sie sind bereits im dritten Monat“, erklärte der Mediziner. „Ihrer doch eher verhaltenen Freude entnehme ich, dass die Schwangerschaft nicht unbedingt gewollt ist, oder irre ich mich mit meiner Vermutung?“, fügte er abwartend hinzu. Franziska sah beschämt zu Boden und schüttelte kaum merklich mit dem Kopf.

„Nun, Frau Rose, eine Schwangerschaft ist kein Beinbruch. Es gibt inzwischen zahlreiche Stiftungen und Organisationen, die werdenden Müttern sowohl finanziell als auch mit Rat und Tat zur Seite stehen.“ Die beruhigenden Worte des Gynäkologen zeigten ihre Wirkung. Franziska hob zögerlich den Kopf. Tränen liefen ihr über das Gesicht. „Ich weiß gar nicht, wie ich es meinem Freund beibringen soll. Wir hatten uns so vieles vorgenommen, hatten unsere Pläne. Ein Kind würde alles verändern.“ „Tja“, lachte der Arzt auf. „Diese kleinen Würmchen haben allesamt eines gemeinsam. Sie stellen ihr zukünftiges Umfeld bereits auf den Kopf, noch ehe sie überhaupt auf der Welt sind. Aber glauben Sie mir, wenn sie erst einmal da sind, möchte man sie keinen Augenblick mehr missen.“

Der Mann im weißen Kittel erhob sich und umrundete seinen Schreibtisch. „Sie werden sehen, nach dem ersten Schock wird Ihr Freund zu Ihnen und seinem Kind stehen.“ Er legte Franziska aufmunternd seine Hand auf die Schulter. „Lassen Sie sich von meiner Sprechstundenhilfe die Namen und Adressen der erwähnten Institutionen geben. Dort wird man Ihnen weiterhelfen.“

Dies waren die letzten Worte, die Franziska aus dem Mund ihres Arztes vernahm. Gut gemeinte Ratschläge, die ihr jedoch nicht die Angst vor der Reaktion ihres Freundes nehmen konnten. Wie würde Mathias die Nachricht aufnehmen? Würde er sich von ihr abwenden und sie mit dem Kind im Stich lassen? Franzi schämte sich schon fast für ihre Gedanken. Nein, Mathias liebte sie und auch sonst war er nicht der Typ, der sich aus der Verantwortung stahl. Die werdende Mutter schöpfte wieder Mut.

Es war 15.30 Uhr, als sie vor den Werkstoren der Firma Welger stand, um den neunzehnjährigen Azubi im dritten Lehrjahr von der Arbeit abzuholen. Mathias freute sich, als er seine hübsche Freundin erblickte. Er gab ihr einen innigen Kuss und genoss die neidischen Blicke seiner Kollegen. Er ahnte noch nicht, was auf ihn zukommen würde.

„Wie kommt es, dass du mich abholst? Es war doch gar nichts ausgemacht?“, fragte er erfreut. „Ich… ich wollte dich überraschen“, stammelte sie. Hand in Hand schlenderten sie über die Gebrüder-Welger-Straße dem Schützenplatz entgegen, auf dem Mathias seinen betagten Honda Civic abgestellt hatte. „Wollen wir noch etwas in der Stadt bummeln?“, fragte er mit einem breiten Grinsen auf den Lippen. „Weißt du was?“, schob er nach, noch ehe Franziska eine Antwort geben konnte. „Wir gehen ein Eis essen.“

Normalerweise liebte Franzi die Spontanität ihres Freundes, doch an diesem Tag war alles anders. „Nee, lass mal“, druckste sie herum. „Ich möchte nach Hause.“ „Verstehe ich nicht, warum holst du mich dann erst von der Arbeit ab?“ Die junge Frau ignorierte die Frage ihres Freundes, tat einfach so, als habe sie seine Worte nicht wahrgenommen. „Verstehe einer die Weiber“, brummte Mathias vor sich hin, während er auf die Fernbedienung des Türöffners drückte. Schweigend saßen sie nebeneinander und versuchten, sich gegenseitig zu ignorieren. Erst als der Wagen an der Ausfahrt der Feuerwehrwache vorbeirollte, legte Mathias versöhnlich seine Hand auf Franziskas Knie. Er konnte ihr nicht wirklich böse sein.

Anders als erwartet, blieb ihr übliches Lächeln jedoch aus. Immer wieder sah er erwartungsvoll zu ihr hinüber. Irgendetwas war diesmal anders. Mathias merkte seiner Freundin an, dass sie ein Problem hatte. „Was ist los, du hast doch was?“ Das Mädchen neben ihm schwieg. Fast hatte es den Eindruck, als säße sie gar nicht wirklich neben ihm. Zumindest ihre Gedanken befanden sich an einem ganz anderen Ort, der sich offensichtlich weit, weit weg befand. Der junge Mann hinter dem Steuer begann sich Sorgen zu machen. „Spuck's schon aus, hast du wieder Zoff mit deinen Eltern?“

Mathias wusste, das Franzi mitunter Stress mit ihrem Vater hatte, weil dieser der Meinung war, dass seine Tochter etwas Besseres als ausgerechnet ihn verdient hatte. Aus diesem Grund vermied es Mathias, seine Freundin zu Hause zu besuchen. Auch jetzt würde er sie nicht vor der Haustür absetzen, sondern bei Sander, dem einzigen Einzelhändler im Dorf, aus dem Auto lassen.

Der Wagen passierte den Ortsausgang von Ahlum. Mathias beschleunigte, steuerte seinen Civic den berüchtigten Todesberg hinunter und fuhr an der Abfahrt zum Reitlingstal vorbei. „Ich möchte zum Vilgensee“, meldete sich Franziska plötzlich zu Wort. Verwundert, aber zunächst einmal froh darüber, endlich eine Reaktion auf seine Fragen erhalten zu haben, setzte Mathias den Blinker und lenkte den Wagen in den nächsten Feldweg. Er kannte diesen Weg, hatte seinen Civic schon einige Male an dieser Stelle abgestellt, um mit Franzi spazieren zu gehen. Sie liebte den kleinen See, zu dem der Weg führte. Schon als Kinder hatten sie dort gespielt, die erste Zigarette geraucht und sich später den ersten Kuss gegeben.

Franziska griff nach seiner Hand, drückte sie, als wolle sie die ganze Anspannung, unter der sie stand, auf diese Weise aufheben. Mathias spürte, wie sehr es in ihr rumorte und er fragte sich, ob sie mit ihm Schluss machen wollte. Sie hatten den Weg zum See schweigend zurückgelegt. Als sie das kleine Wäldchen erreichten, welches das Biotop umschloss, schien niemand in der Nähe zu sein. Still und friedlich lag das Wasser vor ihnen. Die jungen Leute ließen sich auf ihrer Bank, unmittelbar am Ufer des Sees nieder.

„Nun gib dir schon einen Ruck. So schlimm kann's doch gar nicht sein“, versuchte Mathias seiner Freundin Mut zu machen. Franzi begann zu weinen, sah ihrem Freund in die Augen und holte tief Luft. „Ich..., ich bin schwanger“, brachte sie es schließlich über ihre Lippen. Mathias konnte nicht glauben, was er gerade vernommen hatte. „Du bist was?“ Franzi lächelte ihm mild zu. „Wir bekommen ein Baby.“ Der junge Mann, dessen Hand sie gerade noch umklammert hatte, sprang von der Bank auf. „Moment Mal, du erwartest ein Kind! Warum hast du nicht aufgepasst? Und überhaupt, wer sagt mir denn, dass ich der Vater des Kindes bin?“ „Sag mal, spinnst du?“, ereiferte sich Franziska erbost. „Was ist denn plötzlich in dich gefahren?“, fuhr sie ihn an. Mathias wandte sich von ihr ab, starrte auf das in der Nachmittagssonne funkelnde Wasser und machte ein finsteres Gesicht. Franziska riss ihn am Arm herum, um in seine Augen zu sehen. „Ich hatte ja schon damit gerechnet, dass du nicht gerade glücklich darüber bist, aber mir jetzt so eine Gemeinheit zu unterstellen, ist ja wohl das Letzte!“ Mathias zuckte mit den Schultern. „Du musst das Kind abtreiben lassen!“

Franziska konnte nicht fassen, welche Worte da soeben aus dem Mund des Jungen gekommen waren, den sie noch bis vor wenigen Minuten so uneingeschränkt liebte. Der Kerl, der da abgewandt neben ihr stand und auf das Wasser starrte, war nichts anderes als ein erbärmliches Arschloch. Sie fragte sich, wie es möglich war, dass sich ein Mensch von einer Minute zur anderen so sehr veränderte. Wer war der Junge eigentlich wirklich, dessen Frucht sie da in ihrem Körper trug?

Dies war der Moment, in dem die Welt um sie herum einzustürzen schien, in dem selbst der Boden unter ihren Füßen immer heftiger zu schwanken begann. „Ich habe keinen Bock, mein ganzes Leben für ein verdammtes Balg zu verkacken!“, verkündete Mathias mit einer Stimme, in der eine gewisse Endgültigkeit unverkennbar war. „Ich mache alles klar. Wir fahren so bald wie möglich nach Holland. Mit der nötigen Kohle kann man das Balg dort wegmachen lassen.“ Franziska starrte ihren Freund entsetzt an. „Wenn das alles ist, was du dazu zu sagen hast, sind wir ab sofort geschiedene Leute. Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben! Ich werde dieses Kind nicht töten und wenn du nicht dazu stehst, werde ich es eben ohne dich großziehen!“

Mathias ergriff Franzis Schultern und schüttelte sie. „Du hast doch keinen Plan von dem, was da auf dich zukommt. Wir hatten doch noch so viel vor. Mit einem Kind auf dem Buckel kannst du das alles vergessen. Werd klar im Kopf und komm endlich zur Vernunft!“ „Ich bin vernünftig…“, entgegnete Franzi, „… und ich war noch nie so klar. Mit dir will ich jedenfalls nichts mehr zu tun haben! Und damit du es weißt, für unser Kind wirst du trotzdem bezahlen!“

Damit war das Maß voll. Bislang hatte er sich einigermaßen im Griff, aber das war eindeutig zu viel. Woher sollte er wissen, ob das Kind tatsächlich von ihm war? Der Druck seiner Hände, mit denen er seine Freundin an den Schultern festhielt, verstärkte sich. Wütend schnauzte er sie an, beleidigte sie und warf ihr vor, ihn getäuscht zu haben. Franzi bekam Angst, versuchte sich verzweifelt seinem harten Griff zu entziehen. In ihrer Verzweiflung begann sie schließlich um Hilfe zu rufen. Die Situation eskalierte, je lauter sie zu schreien begann. Mathias geriet in Panik, versuchte ihr den Mund zuzuhalten. Schließlich schlug er der Schwangeren ins Gesicht und schubste sie rücklings zu Boden.

 

-3-

 

Zurück in der Gegenwart.

 

Ein Heer von Polizeibeamten hatte sich eingefunden, um den See weiträumig abzusperren. Techniker waren damit beschäftigt, mit riesigen Strahlern die Nacht zum Tag zu machen. Taucher der Wasser-schutzpolizei suchten den schlammigen Grund des Sees nach eventuell vorhandenen Anhaltspunkten ab, die in irgendeiner Weise mit dem Leichenfund in Zusammenhang stehen konnten. Leute der Kriminaltechnik überprüften das Ufer und die nähere Umgebung nach möglichen Spuren. Eine Hundestaffel durchkämmte das angrenzende Unter-holz. Noch wusste der ermittelnde Hauptkommissar von der Wolfenbütteler Kripo nicht, ob die junge Frau, die gerade aus dem See geborgen worden war, das Opfer eines Verbrechens wurde.

„Können Sie schon etwas Näheres über die Todesursache sagen, Doktor?“, erkundigte sich Gunnar Kleinschmidt. „Nun, Herr Hauptkommissar, die junge Frau weist einige Würgemale am Hals auf. Zudem gibt es Schürfwunden an ihren Beinen, die darauf hindeuten, dass sie zum See geschleift wurde und einige kleinere Hämatome an ihren Schultern und den Handgelenken. Inwieweit dies allerdings ursächlich mit dem Tod der jungen Frau zusammenhängt, kann ich beim besten Willen noch nicht sagen.“ Der Kriminologe machte ein zerknirschtes Gesicht. „Sie wurde also erdrosselt“, mutmaßte der Hauptkommissar. Doktor Wohlfahrt schüttelte den Kopf. „Das kann ich noch nicht abschließend sagen. Ein Erstickungstod infolge des Ertrinkens als mögliche Todesursache ist nach wie vor nicht auszuschließen.“

„Herr Hauptkommissar!“, unterbrach ihn einer der Polizeibeamten. „Die Leute, die die Tote fanden, sitzen noch im Rettungswagen. Sie...“ „...müssen sich noch einen Augenblick gedulden“, fuhr ihn Kleinschmidt genervt an. „Aber...“ „...Sie sehen doch, dass ich hier mitten in den Untersuchungen stecke. Ich komme, sobald ich es einrichten kann!“ Womit sich der Hauptkommissar mürrisch dem Rechtsmediziner zuwandte. „Bei diesen Grünschnä-beln muss immer alles sofort sein. Die werden auch noch kapieren, dass man nicht alles übers Knie brechen kann“, brummte er sich in den Bart.

„Schade um die Kleine. Ein hübsches Ding. Was ist mit dem Todeszeitpunkt?“, ließ Kleinschmidt nicht locker. „Nun, ihre Haut schält sich noch nicht ab, nach dem Grad der Wasserdurchsetzung und der Farbe der Totenflecken würde ich sagen, dass sie nicht länger als dreißig Stunden, aber mindestens einen Tag lang tot ist. Vorausgesetzt sie lag die ganze Zeit über im Wasser. Genaueres kann ich natürlich erst nach der Obduktion sagen.“

Kleinschmidt fuhr sich nachdenklich mit den Fingern durch seinen wuchtigen Schnauzer. „Aber bitte, Doktor Wohlfahrt…“ „Ja, ja, ich weiß, Sie brauchen den Befund am besten schon gestern.“ „Offensichtlich können Sie inzwischen auch Gedanken lesen.“ „Um diesen Wunsch zu erraten, braucht man nun wirklich keine übersinnlichen Kräfte“, entgegnete der Mediziner schmunzelnd.

Einige Meter weiter in Richtung einer Baumgruppe, die bis an das Ufer des Sees heranreichte, waren Marlis Knoop und Kleinschmidts Dienstpartner Tim Sinner mit der Sichtung möglicher Spuren beschäftigt. „Das hier könnte der Ort gewesen sein, an dem die junge Frau ins Wasser stürzte!“, rief er dem Hauptkommissar entgegen. Kleinschmidt ließ seinen Blick über das Terrain schweifen, während er sich seinem jungen Kollegen näherte. Dieser kniete hinter einer Art Barriere aus geflochtenen Ästen, die ganz sicher nicht von Natur aus in dieser Weise zusammengefügt waren. Der abgesägte Stumpf eines riesigen Baumstamms umschloss die kleine Mulde, die wie ein großes Nest wirkte. Dichtes Gestrüpp grenzte sie nach Norden ab.

„Sind Sie fündig geworden, Sinner?“, erkundigte sich der Hauptkommissar erwartungsvoll. „Frau Knoop und ich gehen davon aus, dass sich die junge Frau an dieser Stelle vor irgendetwas verbarg. Wir haben einige Fußspuren gefunden.“ „Abdrücke in verschiedenen Größen, von verschiedenen Schuhen, in unterschiedlicher Eindruckstärke“, präzisierte die Leiterin der KTU. „Die zweite Spur ist mit hoher Wahrscheinlichkeit die eines Mannes“, mutmaßte sie aus ihrer langjährigen Erfahrung heraus. „Ich würde sagen, Schuhgröße 46. Ein Sportschuh, wie er gern von jungen Leuten getragen wird.“

Marlis Knoop steckte an jeder dieser Spuren ein nummeriertes Fähnchen und machte dann ein Foto. „Sobald meine Kollegen die Abdrücke gesichert haben, wird sich auch die Marke des Schuhes bestimmen lassen“, bekundete sie zuversichtlich. „Ob uns das weiterhilft?“, brummte Kleinschmidt verdrossen. „Vielleicht bringt uns ja dieses hier weiter“, freute sich Kommissar Sinner, einen Stofffetzen triumphierend in die Luft haltend. „Mit etwas Glück gehört er dem Unbekannten, vor dem sich unser Opfer hier versteckte. Der Verfolger muss sich beim Überwinden der Barriere an diesem Dornengestrüpp verheddert haben. Vielleicht lassen sich an den Ästen DNA-Spuren sicherstellen?“, fasste Sinner die Summe der einzelnen Spuren zu einem möglichen Ablauf zusammen.

„So könnte es gewesen sein, aber anstatt hier irgendwelche Mutmaßungen anzustellen, sollten Sie sich einstweilen lieber auf das Wesentliche konzentrieren“, mahnte der Hauptkommissar, in seiner beliebt grantigen Art. „Wer weiß, wie lange der Fetzen dort bereits hängt.“ Dem hatte Sinner im Augenblick nichts entgegenzusetzen. „Im Moment würde mich eher interessieren, um wen es sich bei der jungen Frau handelt.“ „Ich habe die Tote natürlich sofort, nachdem sie geborgen war, auf eine eventuell vorhandene Legimitation untersucht. Leider hatte sie nichts bei sich.“ „Was denn?“, fragte Kleinschmidt erstaunt nach. „Kein Handtäschchen, keinen von diesen kleinen Rucksäcken, mit denen die jungen Leute heutzutage immer unterwegs sind?“ Marlis schüttelte den Kopf. „Nein, nichts.“ „Also schön, lassen Sie es mich wissen, wenn Sie etwas gefunden haben, was uns weiter bringt.“

Der Hauptkommissar stieß einen tiefen Seufzer aus. Im Grunde war er alles andere als zart besaitet, aber immer dann, wenn es sich bei einem Toten um einen jungen Menschen handelte, nahm es ihn mehr als üblicherweise mit. Geradezu bedrückt sah er zu, wie der Leichnam in den Zinksarg umgebettet und mit einem Deckel zugedeckt wurde. Gerade als sich die Männer der Rechtsmedizin nach den Tragegriffen bückten, wurde das Interesse des Hauptkommissars auf eine Staubwolke gelenkt, die zu einem schnell näher kommenden Fahrzeug gehörte.

Der weiße Mercedes stoppte mit blockierenden Reifen. Ein Mann Mitte fünfzig sprang aus dem Wagen und rannte sofort auf die Absperrung zu. Ein Polizeibeamter stellte sich ihm vergeblich in den Weg. Der kräftige Mann mit dem graumelierten Haar schubste ihn einfach zur Seite und nahm Kurs auf den Zinksarg. In einigem Abstand folgte ihm eine Frau. Kleinschmidt versuchte nicht einmal einzugreifen. Eine Ahnung sagte ihm, dass es sich bei den Leuten um nahe Angehörige des toten Mädchens handelte. Er fragte sich nur, woher sie von dem Fund wussten.

Auch die beiden Männer, die den Leichnam gerade noch in den Sarg gelegt hatten, wagten es nicht, den Mann zu stoppen. Wenigstens die Frau, die ihm gefolgt war, wurde von zwei Polizeibeamten zurück-gehalten. Der Mann riss ungestüm den Deckel des Transportsarges herunter und beugte sich über die Leiche. Im nächsten Augenblick wurde auch dem letzten Zweifler klar, dass es sich bei dem Mann um den Vater der Toten handelte. Immer wieder rief er ihren Namen, rüttelte sie, als wolle er das Mädchen aus einem tiefen Schlaf zu neuem Leben erwecken. Die Szene ging selbst dem sonst so dickhäutigen Kleinschmidt derart an die Nieren, dass sich ein dicker Kloß in seinem Hals bildete. Immer wieder strich ihr der zutiefst erschütterte Mann durch das nasse brünette Haar, immer wieder streichelte er ihre Wangen. Endlich hob er seinen Kopf, sah sich Hilfe suchend um, ohne jedoch seine Umwelt dabei wirklich wahrzunehmen.

Es war Rita Grunewald, die sich schließlich seiner annahm. Sie und ihr Mann hatten den Leichnam entdeckt und die Polizei alarmiert. Zu diesem Zeitpunkt ahnten sie ihren Angaben gemäß noch nicht, dass es sich bei der Toten um die Tochter eines befreundeten Ehepaars handelte. Erst später, als die Leiche geborgen wurde, erkannten sie das Mädchen. „Du musst jetzt stark sein, Günther. Sophia braucht dich jetzt.“ Der kräftige Mann legte seinen Kopf in den Nacken und begann hemmungslos zu schluchzen. Erst die Worte seines Feuerwehrkameraden konnten ihn zumindest ein wenig beruhigen.

Gerd Grunewald und Günther Rose kannten sich von klein auf, waren, wie man so sagt, in der Sandkiste zusammen groß geworden. Sie waren gemeinsam in die Jugendfeuerwehr eingetreten und hatten sogar im selben Jahr geheiratet. „Rita und ich werden zu euch stehen“, bat er seine Hilfe an. Doch was konnte er angesichts eines solchen Verlustes schon für seinen Freund tun? Nichts auf der Welt vermag einen solchen Schmerz auszulöschen, geschweige denn eine solche Wunde zu heilen. Gerd Grunewald wusste dies aus eigener Erfahrung, hatte er doch selbst vor einigen Jahren einen schweren Schicksalsschlag erleiden müssen.

„Mein Name ist Kleinschmidt, ich bin der leitende Hauptkommissar. Gehe ich recht in der Annahme, dass es sich bei der Toten um Ihre Tochter handelt?“ Der wie erschlagen wirkende Mann hatte sich mittlerweile seiner Frau angenommen. Die Worte des Ermittlers drangen nur bruchstückhaft zu ihm vor. Er und seine Frau schienen sich gegenseitig zu stützen. Die Trauer um den erlittenen Verlust schien keine Grenzen zu kennen. Keiner der Anwesenden wagte etwas zu sagen. Jeder spürte, dass dies ein Moment des Begreifens war, ein Moment, dem man den Eltern des Mädchens einfach zubilligen musste. Nur Kleinschmidt sah dies offensichtlich anders.

 

-4-

 

Seit einigen Wochen schon quälte ich mich mit kleineren Fällen über die Runden. Nichts, was das Herz eines Privatermittlers höher schlagen lassen konnte. Fälle, wie ich sie nur ungern annehme. Doch wenn einem das Wasser bis zum Hals steht, greift man halt nach jedem Rettungsring. Nachdem meine letzte Auftraggeberin in den Knast wanderte, konnte ich mein Honorar jedenfalls in den Wind schreiben. Wenigstens war meine Detektei nun auf dem neusten Stand der Computertechnik. Zu verdanken hatte ich dies der großzügigen Spende eines Wolfenbütteler Immobilienmaklers. Sein Schläger-trupp war bei Nacht und Nebel in meine Detektei eingedrungen und hatte alles kurz und klein geschlagen. Klar hatte ich überlegt, ob ich die Pakete des unbekannten Absenders annehmen sollte, ganz sauber war das Geld sicherlich nicht, mit dem der Inhalt bezahlt worden war, aber andererseits war es nicht mehr als recht und billig, wenn der Verursacher seinen Schaden wieder gut machte. So gesehen hatte ich keine Schwierigkeit damit, die Spende anzunehmen.

Trude, meine extrovertierte Putzsekretärin, freute sich geradezu diebisch darüber. Angesichts des ständigen Umgangs mit den immer leistungsfähige-ren Geräten, entwickelte sie sich zu einer wahren Computerspezialistin. Anfangs eher zurückhaltend flogen ihre Hände mittlerweile nur so über die Tastatur. Sie ist ohnehin ein Glücksgriff für mich. Ich staune immer wieder über ihre zahlreichen Verbindungen in die verschiedensten Ämter und Dienstleistungsbereiche. Seit sie bei mir beschäftigt ist, weiß ich, dass es nicht nur einen Ehrencodex für Brummifahrer und Ganoven sondern auch einen für Putzfrauen gibt.

Ich saß gerade über der Spesenauflistung des letzten gerade abgeschlossenen Falles, als Trude ihre breite Knollnase zur Tür hereinstreckte. „Kann ich heute etwas früher Schluss machen, Chef? Meine Schwester kommt für einige Tage zu Besuch. Ich habe ihr versprochen, sie vom Bahnhof abzuholen.“ „Sie haben eine Schwester?“, entgegnete ich erstaunt. „Sie haben noch nie etwas von ihr erzählt.“ Trude seufzte. „Na ja, Melissa ist nicht gerade die Schwester, mit der man angeben könnte.“ Ich kniff ein Auge zusammen und sah sie mit dem anderen erwartungsvoll an. Trudes Stirn legte sich in Falten. „Was ist nun, kann ich dann Feierabend machen?“ So wortkarg kannte ich meine Sekretärin bislang eher nicht. Die bevorstehende Ankunft ihrer Schwester schien bereits erste dunkle Schatten vorauszuwerfen. „Natürlich können Sie eher gehen und grüßen Sie Ihre Schwester unbekannterweise.“ „Wenn Sie es wünschen.“ Mit diesen eher abstrus wirkenden Worten verabschiedete sich Trude. Wie sollte ich ahnen, wie geheimnisvoll ihre Schwester erst war.

Ich sah ebenfalls zu, dass ich den ollen Papierkram erledigte und blies den Schlussakkord. Schließlich war ich für den Abend mit Miriam verabredet. Unsere Beziehung hielt, allen Unkenrufen zum Trotz, inzwischen schon knapp fünf Monate. Abgesehen von meiner Ex, die ich nach über zwei Jahren glücklich verlassen hatte, gehörte eine solche Zeitspanne schon eher in die Kategorie meiner Langzeitpartnerschaften. Miriam war eine sehr selbstbewusste und nicht zuletzt deswegen auch sehr erfolgreiche Frau mit einem Aussehen, welches mir bei ihrem Anblick immer wieder das Blut in den Adern zum Kochen brachte. Seit ich sie kenne, weiß ich, dass es außer dem Job auch noch andere Dinge im Leben gibt.

Gerade als ich zu unserer Verabredung aufbrechen wollte, dudelte das Telefon. „Hi Leo, tut mir Leid, aber mir ist gerade eine Leiche dazwischen gekommen. So wie es aussieht wird es wohl heute nichts mehr.“ Da hatte ich mich also mal wieder zu früh gefreut. „Tja“, sagte ich denn auch etwas betreten. „Da kann man dann wohl nichts machen. Job ist eben Job.“ „Lieb von dir, dass du nicht böse bist. Ich melde mich morgen früh bei dir.“ Ehe ich noch etwas sagen konnte, hatte meine erfolgreiche Staatsanwältin das Gespräch auch schon beendet. Soviel zum Thema Privatleben. Wie auch immer, mein Magen knurrte trotzdem und dagegen half nur etwas Ordentliches zu essen. Ich entschied mich für den Griechen im ehemaligen Straßenbahndepot.

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„Darf ich fragen, woher Sie von dem Fund Ihrer Tochter wissen?“, erkundigte sich Kleinschmidt nicht gerade sehr rücksichtsvoll. „ Ich habe die Roses angerufen“, mischte sich Gerd Grunewald in das Gespräch. „Wir sind seit vielen Jahren befreundet.“ „Da brat mir doch einer einen Storch“, echauffierte sich der Hauptkommissar. „Meinen Sie nicht, dass Sie Ihr Wissen auch der Polizei hätten mitteilen sollen?“ „Der Zeuge hat mich über seine Beobachtung in Kenntnis gesetzt“, bekundete ein junger Polizist. „Ich habe mich daraufhin an Sie gewandt, aber Sie wollten ja nicht mit mir sprechen.“ Kleinschmidt erinnerte sich. Die Angelegenheit war ihm sichtlich peinlich, was er sogleich in Form eines verhaltenen Räusperns zum Ausdruck brachte.

„Nun gut, geschehen ist geschehen“, spielte er den Vorfall zur Lappalie herunter. „Bei der Toten handelt es sich also um Ihre Tochter“, wandte sich der Hauptkommissar nun wieder an das trauernde Ehepaar. „Dann möchte ich Ihnen hiermit mein Beileid aussprechen.“ Die Roses schienen sich allmählich etwas zu fassen, was ganz sicher nicht an den einfühlsamen Worten des Kriminologen lag. „Franziska ist unser einziges Kind“, erklärte der kräftige Mann. „Sie war unser einziges Kind“, schluchzte Sophia Rose hemmungslos. „Kommen Sie“, stützte sie der Notarzt, „ich gebe Ihnen etwas zur Beruhigung.“ Rita Grunewald begleitete ihre Freundin zum Rettungswagen. Derweil wurde der Zinksarg in den Leichenwagen geschoben.

„Wissen Sie schon, wie Franziska um Leben kam?“ „Es deutet alles darauf hin, dass Ihre Tochter in männlicher Begleitung war.“ „Sie war gern hier.“ Der gestandene Mann sah mit einem tiefen Seufzer über das grünlich schimmernde Wasser. „Franzi liebte die Abgeschiedenheit des Sees, die Ruhe, die von ihm ausging. Schon als sie noch klein war, fanden wir sie hier, wenn sie mal wieder die Zeit vergessen hatte.“ Er deutete auf eine alte Holzbank, die etwas abseits stand. „Da saß sie immer und starrte auf den See.“ Günther Rose wandte sich dem Ermittler zu. „Musste sie leiden?“ Wenigstens an dieser Stelle begriff Kleinschmidt, welche Rolle seinen Worten zukommen würde. „Es deutet alles auf einen schnellen, schmerzlosen Tod hin.“

Günther Rose wandte sich wieder dem See zu. Er legte seine Hände auf die Rückenlehne der Bank, auf der er seine Tochter so oft sitzen sah. Dann schloss er die Augen und holte einige Male tief Luft, um wieder langsam auszuatmen. Plötzlich schnellte er herum, rannte wie von der Tarantel gestochen auf seinen Wagen zu, sprang hinein und jagte mit quietschenden Reifen davon. Kleinschmidt und Sinner sahen sich verwundert an. „Was war das denn jetzt gerade?“, fragte der junge Kommissar, bevor es Kleinschmidt tat. Der zuckte nur mit den Schultern und sah zu dem Zeugen Grunewald hinüber, der nicht weniger verdutzt hinter dem davonrasenden Mercedes herblickte. „Können Sie mir das Verhalten Ihres Freundes erklären?“ „Ich habe nicht den geringsten Schimmer.“ Ein Blick zum RTW verriet dem Hauptkommissar, dass er die Mutter der Toten noch nicht befragen konnte.

„Wissen Sie, wie alt Franziska Rose war?“, fragte Kleinschmidt den Zeugen Grunewald nachdenklich. „Franzi wurde im März siebzehn.“ „Dann frage ich mich natürlich, warum die Roses ihre Tochter noch nicht als vermisst meldeten.“ Grunewald druckste ausweichend herum. „Nun reden Sie schon, da stimmt doch was nicht“, ließ Sinner nicht locker. „Na ja, Günter und Franzi hatten in letzter Zeit ein etwas angespanntes Verhältnis. Es ging um Mathias Reim.“ „Dem Sänger?“, fiel ihm Kleinschmidt ins Wort. „I wo, der Junge wohnt in Mönchevahlberg und war Franzis Freund.“ „Ah ja“, nickte Sinner wie jemand, dem ein Licht aufgegangen war. „Der junge Mann passte dem Vater der Toten nicht.“ „Er konnte ihn nicht ausstehen“, präzisierte Grunewald. „Gab es einen besonderen Grund für diese Antipathie?“, hakte Sinner nach. „Da war mal was mit dem Vater des Jungen. Liegt Jahre zurück. Keine Ahnung, um was es damals ging. Ich glaube, Günther weiß es selber nicht mehr. Sie müssen wissen, dass es mit dem Verhältnis zwischen den Dettumern und den Mönchevahlbergern nicht immer zum Besten bestellt war.“ „Eine alte Fehde?“, warf Kleinschmidt wie elektrisiert ein. „Alte Kammellen, weiter nichts.“

-6-

 

„Ist dein Sohn zu Hause?“, herrschte Günther Rose den Mann in der Haustür an. „Was willst du von Mathias?“, entgegnete Reinhardt Reim erzürnt. „Das geht dich einen feuchten Kehricht an“, entgegnete der aufgebrachte Mann vor der Haustür.

Einsetzender Regen hatte sein weißes Oberhemd an den Schultern bereits durchgeweicht. „Geh mir aus dem Weg!“, forderte er den Hausherrn auf, während er einen Satz auf den, um einen Kopf kleineren Mann im Türrahmen nach vorn machte. Dieser war völlig überrumpelt, verlor das Gleichgewicht und kippte nach hinten in den Flur.

Angelockt durch das Geschrei, kam Mathias die Treppe herunter. Als er den vor Wut schäumenden Vater seiner Freundin sah, ahnte er, was geschehen war. Der Junge machte auf dem Absatz kehrt und versuchte, sich über die Treppe nach oben davon-zustehlen. Der wütende Eindringling war jedoch schneller. Blitzschnell griff er durch das Geländer und packte ihn am Fuß. Mathias kam zu Fall, schlug lang hin und rutschte auf den Stufen nach unten. In der Zwischenzeit hatte sich auch der Hausherr wieder berappelt. Während Günther Rose dessen ungeachtet um das Geländer herumfuhr, um sich den Jungen zu schnappen, schlug Reinhardt Reim mit dem Knauf seines Wanderstocks auf den Hinterkopf des Angreifers. Der wütende Berber brach daraufhin blutüberströmt über dem Jungen zusammen.

„Kannst du mir mal verraten, was hier eigentlich los ist?“, schnaufte Reinhardt Reim, nachdem er seinen Sohn unter dem schweren Körper des Bewusstlosen hervor geholfen hatte. Mathias zuckte mit den Schultern und spielte den Ahnungslosen. „Wir sollten zusehen, dass wir die Polizei und einen Krankenwagen rufen, ehe er wieder zu sich kommt“, wich Mathias der Frage seines Vaters aus. „Da hast du wohl Recht, Junge.“

Reinhardt Reim hatte kaum ausgesprochen, als auch schon ein Streifenwagen und kurz darauf ein silbergrauer Mercedes mit blinkendem Blaulicht auf dem Dach der Beifahrerseite vorfuhren. Vater und Sohn sahen sich verwundert an. „Gut, dass Sie kommen“, empfing Reinhardt Reim die herbei-eilenden Polizisten. „Aber woher wissen Sie...?“ Erst jetzt erkannte er auch Gerd Grunewald, der aus dem zivilen Einsatzwagen ausstieg. „Was ist hier los, Gerd?“, fragte er, nach den Zusammenhängen suchend.

„Wir brauchen einen Rettungswagen“, hörte er einen der Polizeibeamten aus seinem Haus rufen. „Am besten, Sie fordern den vom See an. Der ist sicher am nächsten dran.“ Kommissar Sinner eilte aus dem Haus und tat, was ihm Kleinschmidt aufgetragen hatte. „Er kommt wieder zu sich“, sagte eine andere Stimme. Im nächsten Augenblick drang wütender Lärm aus dem Haus. Mathias und sein Vater waren froh, nicht mehr mit Günther Rose allein zu sein.

Der Ärmste hatte völlig den Bezug zur Realität verloren. „Du verdammtes Schwein!“, schrie er wie von Sinnen, als er Mathias vor dem Haus erblickte. Die beiden Polizisten hatten Mühe, ihn zu bändigen. „Du hast meine Tochter getötet!“ Wieder wollte er auf den Jungen losgehen. „Franzi ist tot?“, fragte Mathias schockiert. „Jetzt tu nicht so scheinheilig! Gib es zu, du hast sie umgebracht!“ „Wir hatten einen Streit“, gab der Junge beschwörend zu, „aber als ich sie am Vilgensee zurückließ, war sie okay.“ „Wusst ich's doch, du hast sie auf dem Gewissen und kein anderer!“

Der Rettungswagen fuhr im richtigen Moment vor. Als Günther Rose seine Frau erblickte, gab er endlich Ruhe. Widerstandslos ließ er sich von den Sanitätern in den RTW geleiten und an seiner Kopfwunde behandeln. Zeit für Hauptkommissar Kleinschmidt, etwas Ordnung in die verworrene Angelegenheit zu bringen.

Da der Tumult vor dem Haus der Reims inzwischen zahlreiche Interessierte angelockt hatte, begab sich Kleinschmidt mit dem Jungen ins Haus. Sinner befragte den Vater derweil vor der Tür.

„Sie waren also der Freund von Franziska Rose“, kam der Hauptkommissar ohne Umschweife zur Sache. Mathias nickte. „Ist Franzi wirklich tot?“ „Es gibt keinen Zweifel daran“, entgegnete Kleinschmidt mit durchdringendem Blick. „Sie sprachen gerade von einem Streit zwischen Ihnen und Ihrer Freundin. Worum ging es dabei?“ Mathias kaute nervös an seinen Fingernägeln. Sollte er sagen, dass seine Freundin von ihm schwanger war? Er ahnte, dass ihn dieser Umstand verdächtig machte. „Franzi wollte Schluss machen“, verdrehte er die Tatsachen weil ihm nichts anderes einfallen wollte. „Gab es einen Grund?“, hakte der Ermittler nach. „Sie hatte einen Anderen.“ „Und das hat Ihnen natürlich mächtig gestunken“, griff Kleinschmidt den Faden auf. „Klar Mann! Immerhin waren wir schon über drei Jahre zusammen.“ „Da war die Ankündigung Ihrer Freundin wie ein Dolchstoß, der Sie unvorbereitet mitten ins Herz traf“, heuchelte der Hauptkommissar Verständnis. „Was denken Sie denn? Ich war wie vor den Kopf geschlagen.“ „Ein Wort gab das andere, Ihre Freundin provozierte Sie, woraufhin es zu einer handfesten Auseinandersetzung kam. Sie holten aus und schlugen Franziska. Sie wollten es gar nicht, aber plötzlich würgten Sie ihren Hals. Das Mädchen verlor das Bewusstsein, fiel zu Boden. Sie glaubten, sie sei tot und schleiften sie zum Ufer. Dort warfen Sie sie schließlich im Affekt ins Wasser.“

„Aber so war es nicht!“, beteuerte Mathias entsetzt. „Ich habe Franzi nicht getötet! Ich habe sie doch geliebt. Außerdem wusste ich doch, dass sie zu mir zurückkehrt.“ Auf Kleinschmidts Gesicht zeichnete sich ein Fragezeichen ab. „Sie hat schon mehrmals Schluss gemacht und kam immer wieder zu mir zurück“, erklärte Mathias mit allem Nachdruck. „Dann haben Sie sicherlich nichts gegen eine Speichelprobe einzuwenden.“

Vor dem Haus in der Dorfstraße war inzwischen ein Massenauflauf wie bei einem Volksfest. Es hatte den Anschein, als habe sich inzwischen das gesamte Dorf vor dem Haus der Roses eingefunden. Jeder wollte wissen, was geschehen war und jeder wusste mehr als der, von dem er gefragt wurde. Als sich die Haustür öffnete, verstummte das Getuschel, als hätte jemand den Ton an einem Lautsprecher abgedreht. Erst als Kleinschmidt mit dem Jungen auf der Rücksitzbank des Mercedes verschwand und Sinner sich hinter das Steuer klemmte, ging ein Raunen durch die Menge.

In kurzen Abständen folgten der Rettungswagen, der Günther Rose und seine Frau ins Krankenhaus brachte und der Streifenwagen mit den Grunewalds. Einige Minuten später bahnte sich auch das Taxi von Reinhard Reim den Weg durch die Menge. Mathias war das einzige, was ihm nach dem Fortgang seiner Frau geblieben war. Er würde nicht zulassen, dass man seinem Sohn etwas anhängt, nur weil die Polizei einen Schuldigen brauchte.

 

-7-

 

Staatsanwältin Miriam Herz hatte sich inzwischen am Fundort der Leiche über den Stand der Ermittlungen informiert. Sie kam hinzu, als Sinner und Kleinschmidt den Tatverdächtigen in den Dienststelle verhörten. Um die Befragung nicht zu stören, begab sie sich mit einem Becher Automatenkaffee in den Nebenraum des Verhör-zimmers und machte es sich gemütlich. Von dort aus konnte sie das Geschehen in aller Ruhe durch die verspiegelte Glasscheibe beobachten.

Hauptkommissar Kleinschmidt legte in väterlicher Weise seine Hand auf die Schulter des Jungen und blickte ihm freundlich lächelnd in die Augen. „So, dann erzählen Sie uns noch einmal von Anfang an, was sich gestern Nachmittag ereignete.“ „Was denn, noch mal?“, fragte Mathias Reim erschöpft. „Tja, glauben Sie mir, mein Kollege und ich würden auch lieber Feierabend machen, aber so lange wir hier nicht vorankommen, bleibt uns nichts anderes übrig, als Ihre Aussage wieder und wieder durchzugehen. Wenn Sie Ihnen und uns also einen Gefallen tun wollen, dann hören Sie endlich auf, uns mit Ihren Märchen den Schlaf zu rauben.“

„Also“, ergriff Kommissar Sinner das Wort, während sich Kleinschmidt auf dem Stuhl zurücklehnte und seine Hände hinter dem Nacken verschränkte. „Sie kamen aus dem Werkstor und wunderten sich darüber, dass Ihre Freundin Sie abholte. Was geschah dann?“ Der Tatverdächtige seufzte. „Na ja, ich fragte sie nach dem Grund.“ „Ja, freuten Sie sich denn gar nicht darüber, von ihr abgeholt zu werden?“ „Doch natürlich, aber es kam sehr selten vor, dass mich Franzi von der Arbeit abholte.“ „Es lag also ein besonderer Grund vor“, schlussfolgerte Sinner. „Sehen Sie, das habe ich mir auch gedacht, deshalb fragte ich sie.“ „Gut, welchen Grund nannte sie Ihnen?“ „Keinen, sie schwieg mehr oder weniger die ganze Fahrt über. Sie lehnte es sogar ab, mit mir ein Eis essen zu gehen. Und das, obwohl sie sonst für Eis gestorben wäre.“ „Das tat sie ja dann auch so“, konnte sich Kleinschmidt einmal mehr seinen mit unter recht derbe ausfallenden Sarkasmus nicht verkneifen.

„Sie waren also mit Ihrer Freundin auf dem Heimweg“, knüpfte Sinner an. „Warum stoppten Sie den Wagen dann auf dem Feldweg?“ „Na, weil Franzi dann doch plötzlich quatschen wollte.“ „Warum ausgerechnet am Vilgensee?“ „Der See war ihr Lieblingsort. Sie war immer dort, wenn sie Kummer hatte.“ „War Ihre Freundin oft am See?“ Mathias nickte. „Dann hatte sie wohl viele Sorgen?“, schlussfolgerte der Kommissar. „Eigentlich ging es immer nur um ihren Vater. Er kann mich nicht leiden.“ „Was glauben Sie, woran das liegt?“, mischte sich Kleinschmidt wieder in die Befragung ein. Mathias zog die Schultern hoch. „Keine Ahnung, ich war ihm wohl nicht gut genug für Franzi.“ „Wollte sie deswegen mit Ihnen Schluss machen?“, fragte Sinner herausfordernd. Mathias wusste nur zu gut, dass es seiner Freundin völlig egal war, wie ihr Vater über ihn dachte, doch welchen Grund sollte er dem Kommissar sonst für den Streit mit seiner Freundin nennen? „Kann schon sein. Das ewige Gezeter ihres Alten ging ihr mächtig auf den Keks. Es verging kein einziger Tag, an dem er ihr nicht damit in den Ohren lag. Möglich, dass sie deswegen Schluss machen wollte. Gesagt hat sie es aber nicht.“ „Stritten Sie sich mit ihr, weil sie Ihnen die Antwort schuldig blieb?“, hakte Sinner nach. Mathias versuchte der Antwort auszuweichen. „Kann schon sein.“

„Sie wurden wütend“, ergriff Kleinschmidt wieder die Initiative. „Sie nahmen Ihre Freundin bei den Schultern und schüttelten sie. Wir haben deutliche Hämatome auf beiden Schultern gefunden. Es wird ein Leichtes für unsere Spezialisten sein, diese Spuren äußerer Gewalteinwirkung Ihren Händen zuzuordnen.“ „Ja, ja, ich gebe ja zu, Franzi etwas kräftiger angefasst zu haben.“ „Angefasst? Sie haben das Mädchen geschlagen! Völlig außer sich vor Wut, nach all den Jahren von ihr einfach so abserviert zu werden, griffen sie Ihre Freundin am Hals und würgten sie!“ „Nein, nein, so war es nicht! So glauben Sie mir doch, ich habe Franzi nicht getötet!“, flehte er mit Tränen in den Augen. „Ich habe sie doch geliebt.“ „Und genau deshalb wollten Sie nicht, dass ein anderer sie bekommt“, schluss-folgerte der Hauptkommissar erbarmungslos.

Sein Blick fiel auf die Schuhe des Jungen. „Sie leben nicht gerade auf kleinem Fuß, wie ich sehe. Welche Größe tragen Sie?“ „Sechsundvierzig“, entgegnete Mathias. „Warum?“ „Weil am See die Abdrücke von Sportschuhen in genau dieser Größe sichergestellt werden konnten.“ „Da bin ich wohl nicht der Einzige, der mit einer solchen Schuhgröße herumläuft“, entgegnete Mathias selbstbewusst. „Es wird zu einer Hausdurchsuchung kommen, bei der wir jeden Stein Ihres Elternhauses umdrehen. Ich bin mir sicher, genau die Sportschuhe dabei zu finden, die zu den Abdrücken passen, die wir an der Stelle fanden, an der Ihre Freundin ermordet wurde“, erklärte Kleinschmidt überzeugt, wobei sein Blick auf den Ring an der linken Hand des Jungen fiel.

„Schöner Schmuck, den Sie da tragen.“ „Ein Freundschaftsring“, entgegnete Mathias arglos. „Wenn Sie so nett sein wollen und das gute Stück einmal abziehen?“ Der Junge tat, um was ihn der Hauptkommissar gebeten hatte. Der Ermittler sah sich den Ring genauer an. „Unsere Spezialisten in der Rechtsmedizin werden genau prüfen, ob der Abdruck Ihres Ringes am Hals der Toten Spuren hinterlassen hat. Wenn dem so ist, wird sich die Schlinge der Justiz auch um Ihren Hals legen. Noch haben Sie die Möglichkeit, durch Ihr Bekenntnis zur Tat zumindest Reue zu zeigen und den Richter bei der Strafzumessung mild zu stimmen“, versuchte ihm Kleinschmidt ein Geständnis zu entlocken.

Fast hatte es den Anschein, als waren die Worte des Hauptkommissars auf fruchtbaren Boden gestoßen. Hinter der Stirn des jungen Mannes rumorte es unaufhörlich. Miriam Herz hielt den Atem an. So, wie sich der Junge verhielt, würde man ihn nach dem Jugendstrafrecht behandeln müssen. Totschlag, bei allem Wohlwollen vielleicht im Affekt, dazu sein Geständnis, all dies würde ihm mit einem guten Anwalt und einem milden Richter etwa drei Jahre einbringen. Bei guter Führung käme er vielleicht schon nach zwei Jahren wieder auf freien Fuß.

Die Staatsanwältin hoffte um des Jungen Willen auf sein Geständnis, lauschte gebannt auf die erlösenden Worte, doch dieser beharrte auch weiterhin darauf, seine Freundin nicht getötet zu haben. Sie wusste, dass eine weitere Befragung nun nichts mehr bringen würde. Da der junge Mann immer noch ohne Anwalt war, bewegte man sich ohnehin auf dünnem Eis. Da die Schwere der Tat und die Indizienlage dem Untersuchungsrichter allemal ausreichen würden, den Tatverdächtigen in die Untersuchungshaft zu überstellen, war keine besondere Eile angesagt. Wenn Miriam Herz eines in ihrer bisherigen Laufbahn gelernt hatte, dann war es, nichts zu überstürzen.

 

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„Es kann doch nicht sein, dass die Polizei den Jungen nur deshalb zum Sündenbock macht, weil er einige Stunden vor dem bedauerlichen Tod seiner Freundin mit ihr am späteren Fundort der Leiche war“, erregte sich Reinhardt Reim. „Ich kann Ihre Bestürzung natürlich verstehen“, bekundete Doktor Nicolas Börner, Rechtsanwalt und Notar. „Gehen Sie aber bitte davon aus, dass der Richter die Untersuchungshaft nicht aufs Geratewohl anordnet. Da muss ein begründeter Tatverdacht vorliegen.“

„Ich kenne meinen Jungen. Schön, er hat dem Kommissar gegenüber einen Streit eingeräumt, den er am Vortag mit Franziska hatte und er ist manchmal etwas hitzig, aber deswegen bringt er doch nicht gleich seine Freundin um.“ Börner stieß einen tiefen Seufzer aus. „Da hat Ihr Sohn schon viel zu viel gesagt. Wissen Sie, wer der ermittelnde Kommissar in der Sache ist?“ „Ich glaube, ein gewisser Kleinschmidt“, entgegnete der Mann auf dem Besucherstuhl. „Ach je, ausgerechnet der. So wie es aussieht, hat Ihr Sohn nicht nur eine gute Verteidigung, sondern auch einen ausgezeichneten Privatermittler nötig. Hat sich dieser Kleinschmidt nämlich erst einmal auf einen Tatverdächtigen festgelegt, versucht er ihn auch um jeden Preis ans Kreuz zu nageln.“

Reinhardt Reim stand das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. „Ich würde nichts unversucht lassen, um die Unschuld meines Sohnes zu beweisen“, beschwor er den Anwalt. „Notfalls verkaufe ich mein Haus.“ „Na, wir wollen mal nicht hoffen, dass dies nötig sein wird. Ich kenne da einen wirklich guten Detektiv, mit dem ich bereits erfolgreich zusammengearbeitet habe. Sie sollten Herrn Lessing mit Nachforschungen beauftragen. Er wird Ihnen schon nicht das Fell über die Ohren ziehen.“ „Alles was Sie für nötig halten, wenn Sie nur meinen Sohn verteidigen?“ „Wenn er mich als Anwalt akzeptiert und Sie die Rechnungen übernehmen?“, nickte Börner dem erleichtert wirkenden Mann vor seinem Schreibtisch zu.

„Was geschieht denn jetzt als nächstes?“, fragte Reinhardt Reim ungeduldig. „Nun, ich werde mich zunächst mit Herrn Lessing in Verbindung setzen. Ich hoffe, er kann sich für die Recherchen in diesem Fall frei machen. Sollte dies möglich sein, werde ich gemeinsam mit Herrn Lessing Ihren Sohn in der Untersuchungshaft aufsuchen und die Formalitäten erledigen. Sobald er mir alle Vollmachten erteilt hat, werden Herr Lessing und ich aktiv.“ „Ist es möglich, dass ich mit Ihnen fahre?“, erkundigte sich der besorgte Vater. „Möglich schon, aber ich halte es für sinnvoller, wenn Sie ihren Sohn erst nach einer wahrscheinlichen Hausdurchsuchung durch die Polizei besuchen. Am besten fahren Sie jetzt heim. Wie ich Hauptkommissar Kleinschmidt kenne, wird er schon bald mit einigen Beamten anrücken und ihr Haus auf den Kopf stellen.“ „Darf er das denn einfach so?“, fragte Reinhardt Reim bestürzt. „Wenn ihm der Untersuchungsrichter die rechtliche Handhabe dafür gibt, darf er das Unterste nach oben kehren.“

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„Ich habe die Kanzlei Börner in der Leitung“, flüsterte Trude mir zu. „Sind Sie zu sprechen?“ Ich schob den Plastikteller mit dem restlichen Gyros, den ich mir am Vorabend hatte einpacken lassen, zur Seite und putzte mir die Finger an der beiliegenden Serviette ab. „Sagen Sie, ich wäre gerade in einer Besprechung und bitten Sie um einen Augenblick Geduld. Dann legen Sie den Anruf in mein Büro hinüber.“ Es macht immer einen guten Eindruck, wenn es wenigstens den Anschein hat, es ginge geschäftig zu.

„Lessing“, meldete ich mich daher nach einer kurzen Zeit des Wartens. „Börner! Hallo Herr Lessing, sie erinnern sich an mich?“ „Selbstverständlich“, entgegnete ich höflich. „Wie geht es Ihnen? Seit unserem kleinen Umtrunk im Cafe Klatsch haben wir uns ja leider etwas aus den Augen verloren.“ „Danke der Nachfrage. Die Arbeit frisst einen förmlich auf, aber Sie kennen das ja sicher.“ „Zur Genüge, lieber Herr Lessing, zur Genüge.“ „Was kann ich für Sie tun? Sie rufen doch sicherlich nicht aus langer Weile an.“ „So ist es. Ich habe da gerade einen aktuellen Fall hereinbekommen, bei dem ich die Mitarbeit eines guten Ermittlers gebrauchen könnte. Wie ist es, könnten Sie noch etwas Zeit erübrigen.“

Ich hatte die Antwort bereits auf den Lippen, als ich mir noch schnell auf dieselbigen biss. „Autsch!“ „Wie bitte?“ Jetzt nur nicht zu schnell zusagen, dachte ich mir. „Ich meinte, dass es verdammt eng wird.“ „Das ist ausgesprochen schade, aber da kann man dann wohl nichts machen.“ Mist! Entweder hatte das Schlitzohr mein kleines Spiel durchschaut und machte sich nun seinerseits einen Spaß daraus, mich zu foppen, oder aber er hatte noch eine andere Detektei in petto. „Es kommt natürlich auch darauf an, ob mich der Fall interessiert“, spielte ich meinen letzten Trumpf aus. „Also schön“, entgegnete Börner aufhorchend. „Ich besuche meinen Klienten heute Nachmittag in der Untersuchungshaft. Am besten, Sie begleiten mich und machen sich dabei Ihr eigenes Bild.“ „Untersuchungshaft?“, fragte ich forschend. „Meinem Mandanten wird der Mord an seiner Freundin zur Last gelegt.“ Endlich mal wieder ein interessanter Fall , dachte ich mir.

„Wenn es Ihnen recht ist, Herr Lessing, hole ich Sie gegen 12 Uhr an Ihrer Detektei ab. Dann können wir vorher noch gemeinsam zu Mittag essen.“ Ich schielte auf den Plastikteller mit meinem Frühstück und schob ihn weit von mir. „Okay, wie könnte ich Ihre freundliche Einladung ausschlagen?“ „Schön, dann also bis um zwölf. Ich freue mich.“ Ich freute mich auch, endlich mal wieder etwas anderes als Pizza oder Gyros zwischen die Zähne zu kriegen.

Gut gelaunt ging ich zu Trude hinüber und setzte mich auf die Kante ihres Schreibtischs. „Wie lief denn gestern die große Widersehensfeier mit Ihrer Schwester?“, fragte ich gespannt nach. Trude winkte gefrustet ab. „Hören Sie bloß auf, Herr Lessing. Ich zähle schon die Tage bis zu ihrer Abreise.“ „Na, na, so schlimm kann sie doch nicht sein.“ „Noch schlimmer! Stellen Sie sich vor, Chef, ausgerechnet Melissa, die noch nie in ihrem Leben wirklich gearbeitet hat, zieht sich einen weißen Handschuh über und wischt mit den Fingern über Glas und Schränke in meiner Wohnung. Ich hätte sie dafür vierteilen können!“ „Also, das ist wirklich ein starkes Stück, Trude. Da kann ich Sie gut verstehen.“ „Und das mir, einer Frau vom Fach. Bei mir hat sich bislang noch niemand über meine Reinigungsqualitäten beklagt.“ „Das wäre ja auch noch schöner“, stimmte ich mit ein. „Sie sind doch zufrieden mit mir, Chef – oder?“

Ich legte ihr meine Hand auf die Schulter. „Sie sind die beste Putzsekretärin, die ich je hatte.“ Trude grinste über das ganze Gesicht. Im Grunde war sie bislang die einzige Sekretärin, die ich hatte, aber daran hatte ich im Moment gar nicht gedacht und Trude war's anscheinend auch nicht aufgefallen.

„Ich habe in einer halben Stunde einen Termin mit Doktor Börner. Ich werde erst am späten Nachmittag wieder zurück sein. In dringenden Fällen erreichen Sie mich über das Handy und nun muss ich mindestens ebenso dringend etwas gegen diesen verfluchten Zazikigeruch unternehmen.“ Trude rümpfte die Nase. „Bei aller Wertschätzung, Chef, das Gleiche wollte ich Ihnen auch gerade vorschlagen.“

Geschlagene zwanzig Minuten verbrachte ich vor dem Waschbecken. Die Länge der Borsten an meiner Zahnbürste reduzierte sich dabei mindestens um die Hälfte. Von dem teuren Mundwassers ganz zu schweigen. Den Rest des hartnäckigen Geruchs überdeckte der Hauch eines erlesenen Eau de Toilette, welches ich vor einigen Jahren von einer Urlaubsreise nach Tunesien mitgebracht hatte. Isabelle hatte mir das Duftwässerchen seinerzeit ausgesucht. Ich hatte es zwischenzeitlich völlig vergessen. Der Umzug in die neue Wohnung hatte es wieder zu Tage gefördert.

Um Punkt zwölf Uhr war es dann so weit. Börners schwarzer Jaguar rollte vor dem Haupteingang meiner Detektei vor. Es gab nur den einen. Beim Anblick der Blechkarosse nahm ich mir vor, den Tagessatz für meine Dienstleistungen kräftig zu erhöhen.

„Schön, dass Sie es ermöglichen konnten“, empfing mich Börner mit einem freundlichen Lächeln, welches sich bereits im nächsten Moment in einen absurden Gesichtsausdruck verwandeln sollte. „Stimmt etwas nicht?“, fragte ich, die Veränderung bemerkend. „Doch, doch“, wich er irgendwie abwesend aus. Ich registrierte zwar während unserer Fahrt, dass er das Seitenfenster ein Stück weit geöffnet hatte und immer wieder nach frischer Luft schöpfte, brachte dies jedoch paradoxerweise nicht mit mir in Verbindung.

„So, wir sind da“, erklärte Börner nach kurzer Fahrt. Wir standen unmittelbar vor der Leuchtreklame eines italienischen Restaurants. Am liebsten hätte ich ihm irgendetwas von einer Allergie vorgelogen, doch Börner hatte bereits den Wagen verlassen. Also doch wieder Pizza. Ich freute mich irrsinnig.

„Was ist eigentlich aus Liane Pieper geworden? Das Mädchen wollte doch eine Therapie machen“, fragte der Anwalt interessiert, nachdem wir an einem der Tische Platz genommen hatten. Es ging um einen Mord, der mittels vergifteter Pralinen bei der Weihnachtsfeier einer Mietergemeinschaft begangen wurde. Ich ermittelte für einen guten Bekannten, der ebenso ein Freund des Tatverdächtigen war. Damals brachten Börner und ich den wahren Täter gemeinsam hinter Gitter. „Nun, ich habe Pieper erst kürzlich zusammen mit meinem griechischen Freund Jannis getroffen. Er erzählte mir, dass es seiner Tochter inzwischen wieder gut ginge. Auch ihm selber ginge es besser, da er sich endlich von seiner Frau getrennt habe.“ „Dann hat die Sache ja doch noch etwas Gutes gehabt“, lachte mein Gegenüber. Wobei ich nur allzu gern einstimmte.

Unser gemeinsames Mittagessen wurde mit zunehmender Zeit mehr und mehr zu einem einzigen Sammelsurium komischer und grotesker Anekdoten und Geschichten, die wir abwechselnd zum Besten gaben. Der Mann wurde mir zusehends sympathischer. Anstatt Pizza empfahl er mir frische Scampis al Vino Bianco, eine Spezialität des Hauses. Ich habe selten zuvor etwas Besseres gegessen. Als die Rechnung kam, wusste ich warum. „Eines muss der Neid Ihnen lassen, Sie wissen, wie man dem Leben die angenehmen Seiten abgewinnt.“ „Schauen Sie Leopold, ich darf Sie doch Leopold nennen, oder?“ Ich nickte ihm wie selbstverständlich zu. „Mein Vorname ist übrigens Constantin. Solange es noch keine feste Frau in meinem Leben gibt, genieße ich das Geld, welches ich durch harte Arbeit verdiene. Sollte es einmal soweit sein, dass ich mich auf ewig binde, will ich nicht das Gefühl haben, irgendetwas verpasst zu haben.“

Im Grunde waren Börner und ich in unserer Lebensanschauung nicht weit auseinander. Nur, dass ich nicht über die finanziellen Mittel verfügte, um mir die Hörner mit der gleichen Klasse abzustoßen. Mein Tischpartner erhob das Wasserglas und prostete mir lächelnd zu. „Leben und Leben lassen, wie ich immer sage.“ „Womit wir beim Thema wären“, brachte ich unser Gespräch auf den eigentlichen Grund unserer Verabredung.

„Geschäftliches und Privates verbinde ich zwar nur äußerst ungern, aber ich kann ihre Neugier natürlich nachvollziehen, Leopold.“ Wie sollte ich ahnen, dass ich gerade ein Tabu gebrochen hatte? „Wir können auch später...“ „Nein, nein“, winkte Börner lächelnd ab. „Es geht um den Mord an einem jungen Mädchen. Der Vater des Tatverdächtigen war heute Vormittag in meiner Kanzlei und hat mich um die Verteidigung seines Sohnes gebeten.“ Meine Stirn krauste sich. „Ich verstehe noch nicht so ganz, welche Rolle ich bei der Sache spielen soll?“ „Nun, der Junge beteuert seine Unschuld. Er räumt zwar einen Streit mit seiner Freundin ein, behauptet aber steif und fest, nichts mit dem Tod des Mädchens zu tun zu haben.“ „Na ja, das würde ich an seiner Stelle auch“, relativierte ich.

„Ich schlage vor, uns die Geschichte des Jungen erst einmal anzuhören. Wenn er glaubwürdig ist, braucht er dringend unsere Hilfe, soviel ist klar.“ Ich verstand immer noch nicht, warum meine Dienste so unentbehrlich sein sollten, aber so, wie ich Börner inzwischen einschätzte, musste es einen triftigen Grund für meine Mitwirkung geben.

Eine gute halbe Stunde später wusste ich, was die Stunde geschlagen hatte. Constantin und ich waren inzwischen in der Justizvollzugsanstalt angelangt. Da der Tatverdächtige noch Besuch hatte, mussten wir auf dem Flur vor dem Besprechungszimmer warten. Als sich die Tür nach einer Weile öffnete und das griesgrämige Gesicht von Hauptkommissar Kleinschmidt zum Vorschein kam, wurde mir alles klar.

„Ach sieh an, Rechtsanwalt Börner und der allseits geschätzte Herr Lessing“, begegnete uns mein ganz spezieller Freund mit aufgesetztem Lächeln und triefender Höflichkeit. „Wie schön, dass Sie sich des jungen Mannes annehmen. „Kleinschmidt ergriff meine Hand und schüttelte sie wie besessen. „Auch wenn es ihm nichts nutzen wird. Die Beweislage ist erdrückend. Da können nicht mal Sie etwas dran ändern.“ „Sie wissen doch, Herr Hauptkommissar“, entgegnete ich verschwörerisch, „manchmal sind es unscheinbare Kleinigkeiten, wie ein Jeansknopf oder ein Kaffeefleck, die einen Fall in einem ganz anderen Licht erscheinen lassen.“

Kleinschmidt hatte meinen Seitenhieb verstanden. Seine Gemütslage veränderte sich sprunghaft. Zu frisch war die Schmach, die ich ihm bei unserem letzten Aufeinandertreffen beigebracht hatte. „Sie sollten dringend etwas gegen Ihren Mundgeruch unternehmen“, konterte er wie ein schlechter Verlierer. „Sie stinken aus dem Hals wie eine Kuh aus dem Arsch.“ „Es ist beachtlich, verehrter Hauptkommissar, wo Sie überall Ihre Nase rein stecken“, parierte ich seine üble Attacke. „Wir sprechen uns noch!“, entgegnete Kleinschmidt mit hochrotem Kopf und einer sich vor Wut überschlagenden Stimme.

„Kann es sein, dass Sie und der Hauptkommissar nicht gerade die besten Freunde sind?“, lächelte mir Constantin amüsiert zu. „Wie kommen Sie denn auf diese Idee?“ „Aber Hand aufs Herz, so ganz Unrecht hat der werte Kommissar dann doch nicht. Ich tippe auf Gyros mit einer ordentlichen Portion Zaziki.“ Ich schluckte trocken. „Ich dachte, man riecht's nicht mehr.“ „Zugegeben, bei all dem Lavendelduft, der Sie umhüllt, war die Analyse nicht ganz einfach.“ Ach, hätte ich mich doch nur komplett unter meinem Stetson verstecken können. „Machen Sie sich nichts daraus, ich esse auch gern griechisch.“

Peinlich berührt folgte ich dem Anwalt in das Besprechungszimmer. Der junge Mann, der tief in seinen Gedanken versunken am Tisch saß und mehr oder weniger auf uns wartete, war in einem geradezu erbärmlichen Zustand. Er bemerkte nicht einmal, wie wir den Raum betraten.

„Guten Tag, Herr Reim“, begrüßte Börner ihn, indem er dem jungen Mann seine Hand über den Tisch reichte. Der Tatverdächtige zwang sich regelrecht den Kopf und damit seine Augen zu heben, um uns mit einem Blick anzusehen, den ich wahrscheinlich zeitlebens nicht mehr vergessen werde. Seine Pupillen waren blutunterlaufen. Jegliches Feuer darin schien erloschen. Offensicht-lich hatte sich der Junge bereits in sein Schicksal ergeben.

„Ich bin Rechtsanwalt Börner und der Herr neben mir ist Herr Lessing, ein privater Ermittler. Ihr Vater hat uns gebeten, Ihre Verteidigung zu übernehmen.“ „Wozu denn noch?“, reagierte der Beschuldigte kraftlos. „Das hat doch alles keinen Zweck mehr.“ Börner horchte auf. „Haben Sie etwa inzwischen gestanden?“ Der Blick des Jungen richtete sich auf den Anwalt. „Sie glauben also auch, dass ich meine Freundin getötet habe.“ „Im Augenblick glaube ich gar nichts. Überzeugen Sie mich davon, dass Sie die Tat nicht begangen haben, dann bekomme ich Sie hier auch wieder heraus.“

Ein eigentümliches Lächeln umspielte seine Lippen. „Wissen Sie, Herr Anwalt, allmählich bin ich mir gar nicht mehr so sicher, dass ich es nicht doch getan habe.“ Kleinschmidt musste den Jungen gehörig durch die Mangel gedreht haben. Wut kam in mir auf. Dieser Kerl war wie ein Kampfhund, der, wenn er erst einmal Blut geleckt hatte, nicht eher von seinem Opfer abließ, bis er es zur Strecke gebracht hatte. Dass er dabei mitunter auch schon mal die Grenze des Anstands überschritt, ließ ihn in meinen Augen noch unsympathischer erscheinen.

„Ich weiß, dass Sie mit Ihren Kräften am Ende sind, aber wenn Sie wollen, dass wir Ihnen helfen, müssen Sie sich jetzt noch einmal zusammenreißen und uns alles und damit meine ich wirklich alles erzählen.“ Der Tatverdächtige lehnte sich zurück, faltete seine Hände hinter dem Nacken zusammen und atmete tief durch. „Aber ich habe diesem Kommissar doch schon alles tausendmal gesagt.“ „Schauen Sie, Herr Reim. Ich werde Sie nur dann verteidigen, wenn ich davon überzeugt bin, dass Sie unschuldig sind. Das gleiche gilt auch für Herrn Lessing. Wir müssen uns unser eigenes Bild von den Geschehnissen machen, also erzählen Sie uns, was sich bei dem Treffen mit Ihrer Freundin am Vilgensee abgespielt hat.“

Börners kurze Ansprache hatte offensichtlich die erhoffte Wirkung erzielt. Der Junge nickte kurz, holte noch einmal tief Luft und begann zu erzählen. Es schien, als ließe er nichts aus, schonte sich auch da nicht, als er von dem Streit mit seiner Freundin erzählte. Er räumte sogar ein, sie geschlagen zu haben. Nur als Börner nach dem Grund für die Auseinandersetzung fragte, hatte ich das Gefühl, dass er uns etwas Entscheidendes verschwieg.

„Ich habe Franzi nicht getötet, das müssen Sie mir glauben“, flehte er abschließend, mit diesem Blick, der mein Herz verkrampfen ließ. Auch wenn ein Zweifel an der Vollständigkeit seiner Angaben bestehen blieb, glaubte ich ihm, die Tat nicht begangen zu haben. „Schauen Sie, Herr Reim“, verzog Börner das Gesicht. „Ich weiß nicht, ob Sie wirklich verstanden haben, dass Herr Lessing und ich auf Ihrer Seite sind. Alles, was hier besprochen wird, unterliegt der Schweigepflicht.“ Ich spitzte die Ohren, wartete gespannt ab, auf was der Anwalt hinaus wollte. „Wir kommen hier nur weiter, wenn Sie uns vertrauen und die ungeschminkte Wahrheit auf den Tisch legen. Ist das bei Ihnen jetzt angekommen?“

Mathias Reim nickte betreten. „Gut, dann erzählen Sie uns jetzt bitte, was der wirkliche Grund für den Streit mit Ihrer Freundin war.“ Der junge Mann schien nicht weniger erstaunt als ich es war. „Franzi war von mir schwanger“, kam es kaum hörbar über seine spröden Lippen. Ich hatte mit einigem gerechnet, aber damit... Börner dagegen wirkte geradezu erleichtert. Wusste er im Vorfeld bereits davon? „Haben Sie geglaubt, dass Sie so etwas auf lange Sicht verheimlichen können?“ Der Mandant zuckte mit den Schultern. „Der Kommissar hätte doch sofort angenommen, dass ich Franzi deswegen umgebracht hätte“, rechtfertigte sich der Junge voller Angst. „Was glauben Sie, zu welchem Schluss Kleinschmidt kommt, wenn er das Ergebnis der Obduktion in die Finger bekommt? Sie müssen Ihre Aussage sofort ergänzen!“

 

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Als Anwalt des Beschuldigten bekam Börner natürlich Akteneinsicht, was mir die Arbeit bei meinen Recherchen erheblich erleichterte. Zunächst musste ich herausfinden, was Franziska Rose für ein Mensch war. Konnte es sein, dass es neben dem Tatverdächtigen einen weiteren Mann in ihrem Leben gab? Wenn die Obduktion eine Schwanger-schaft bestätigen würde, war noch lange nicht klar, ob Mathias Reim wirklich der Vater des Kindes war. Ein Vaterschaftstest an einem Fötus ist nicht nur sehr aufwendig und zeitintensiv, sondern in seiner Unfehlbarkeit auch weniger aussagekräftig.

Darüber hinaus wollte ich wissen, weshalb sich der Vater der Toten so sehr gegen die Verbindung seiner Tochter mit Mathias Reim sträubte. Waren es wirklich nur die Diskrepanzen, die es zwischen den Vätern gab, oder spielte da noch ein ganz anderer Grund eine Rolle? Ein Motiv, welches bislang im Verborgenen lag? Welche Umstände auch immer zu dieser Tragödie führten, sie mussten nicht zwangs-läufig im direkten Umfeld der Ermordeten zu finden sein. Vielmehr war die Wahrscheinlichkeit einer Zufallstat in diesem Fall, anders als sonst, in hohem Maße gegeben. Doch diese Möglichkeit hing sehr stark vom Obduktionsergebnis ab. Würde doch erst daraus ersichtlich, ob das Mädchen kurz vor ihrem Tode missbraucht wurde. Falls dies der Fall war, wäre es zumindest ein wichtiges Indiz für eine solche Annahme. Denn eines war klar, nachdem der Tatverdächtige die Nachricht von seiner Vaterschaft erhalten hatte, stand ihm sicherlich nicht der Sinn danach, seine Freundin zu vergewaltigen.

All diese Umstände einmal ganz außer Acht gelassen, stellte sich überdies die Frage nach dem Verbleib des Rucksacks von Franziska Rose. Polizeitaucher waren immer noch dabei, den Grund des Vilgensee danach abzusuchen. Da ich die Gegend nicht kannte, beschloss ich, mir den Tatort erst einmal anzusehen. Im Grunde unerlässlich, wenn man ein Gefühl für den Fall bekommen will. Ich setzte mich also in meinen Skoda und fuhr über Ahlum in Richtung Schöppenstedt. Kurz vor Dettum bog ich dann in einen Feldweg, der direkt bis an den See führte.

Die am Wegrand abgestellten Fahrzeuge der Polizei und das weiträumig mit Trassierband abgesperrte Terrain ließen keinen Zweifel in mir aufkommen, dass ich den Tatort gefunden hatte. Marlis Knoop war das erste bekannte Gesicht, was ich bereits vom Weg aus wahrnehmen konnte. Die Spurensicherung war also immer noch in voller Aktion. Eigentlich nicht verwunderlich, wenn man sich das große und sehr unübersichtliche Gelände ansah.

Ich steuerte auf einen der Polizeibeamten zu, der, wie ich vermutete, dazu verdonnert war, die Einhaltung der Absperrung zu gewährleisten. „Mein Name ist Lessing“, stellte ich mich vor, während ich meine Zulassung zum Privatermittler zückte. Wie ich erst jetzt bemerkte, handelte es sich um eine junge Polizistin mit einem Augenaufschlag wie die Pekinesendame meiner Vermieterin. „Ich arbeite für den Anwalt des Tatverdächtigen“, erklärte ich der attraktiven Beamtin. „Aus diesem Grund würde ich mir gern den Ort ansehen, an dem das Verbrechen begangen wurde, welches man meinem Klienten zur Last legt.“ „Es tut mir Leid, aber ich habe die strikte Anweisung, niemanden durchzulassen.“ „Das ist auch ganz in Ordnung“, zeigte ich Verständnis, „aber bei mir können Sie ruhig eine Ausnahme machen.“ Ich nahm meinen Stetson ab und versuchte sie mit all meinem Charme umzustimmen. „Und wenn Sie sich noch so ins Zeug legen, Cowboy“, lächelte sie bestimmt, „mich werden Sie nicht erweichen.“

„Wie es aussieht, wirst du dir an dieser Lady die Zähne ausbeißen, Leo“, vernahm ich plötzlich die vertraute Stimme der Staatsanwältin. Miriam hatte sich offensichtlich in einem der Einsatzfahrzeuge aufgehalten, die am Wegrand geparkt waren. „Nun sag nur noch, dass dies der Grund ist, wegen dem ich gestern auf deine Gesellschaft verzichten musste?“ Miriam gab der standhaften Polizeibeamtin durch ein Kopfnicken zu verstehen, dass sie mich durchlassen durfte. Die eiserne Lady gab mit einem verschmitzten Lächeln den Weg frei. „Übrigens“, sagte sie augenzwinkernd, „der Stetson passt zu Ihnen.“

„Du hast bei der Kleinen offensichtlich Eindruck geschunden“, stellte Miriam argwöhnisch fest. „So, davon habe ich nicht sonderlich viel bemerkt. Ohne dich würde ich mir noch immer jenseits der Absperrung die Beine in den Bauch stehen.“ „Nimm es nicht so schwer, Leo“, lächelte die Frau meines Herzens mitfühlend. „Du ermittelst also in dieser Sache. Schön, kann mir nur Recht sein.“ Ich sah meiner Freundin kritisch in die Augen. „Wie soll ich denn das verstehen?“ „Du kennst mich, Leo. Für mich ist ein Mensch erst dann schuldig, wenn ihn der Richter verurteilt hat, aber in diesem Fall ist die Beweislage so eindeutig, dass selbst ein Blinder sie erkennen könnte.“ „Wie du schon sagtest, noch ist der Junge nichts als ein Tatverdächtiger. Aber du kannst gern versuchen, mich von der Schuld des Jungen zu überzeugen.“

„Leopold Lessing, du bist ja ein Schlitzohr“, grinste Miriam wie jemand, der einem anderen nicht auf den Leim gegangen war. „Du möchtest wissen, was ich gegen deinen Klienten in der Hand habe? Warum nicht?“, entgegnete sie selbstbewusst. „Wenn es der Gerechtigkeit dient…“

Es war das erste Mal, dass ich im Grunde gegen Miriam arbeiten musste. Es war mir von vornherein klar gewesen, dass es irgendwann dazu kommen würde. Gespannt war ich nur, wie sich dieser Umstand auf unsere Beziehung auswirken würde. War es uns wirklich möglich, Berufliches und Privates voneinander zu trennen? Sie war von dem, was sie tat, überzeugt. Wie sonst hätte sie eine derart gute Staatsanwältin werden sollen? Die Frage war nur, ob sie eine Niederlage eingestehen konnte, denn Mathias Reim war nach meiner Überzeugung unschuldig und das würde ich ihr und Justitia beweisen.

Erst am späten Nachmittag wurde die Suche im See nach weiteren Beweismitteln eingestellt. Die Taucher der Polizei hatten drei Fahrräder oder besser gesagt, das was von ihnen übrig geblieben war, sowie einen Kinderwagen, mehrere Fußbälle, einen Staubsauger und einen alten Rasenmäher vom Grund des Sees ans Tageslicht befördert. Vom verschwundenen Rucksack des Opfers gab es nach wie vor keine Spur. Obwohl der See nicht tiefer als drei Meter war, musste dies nicht zwangsläufig heißen, dass die Tasche nicht doch noch irgendwo darin verborgen war.

Ich hatte mitbekommen, wie sich die Taucher über die Algenbildung und die damit einhergehende geringe Sichtweite unterhalten hatten. Selbst das Licht der hellen Suchscheinwerfer brachte nicht mehr als einen halben Meter. Es war, als tauchte man in einer dichten Nebelbank. Hinzu kam der morastige Grund des Sees, der sofort aufwirbelte, wenn in die Taucher auch nur berührten.

Andererseits hatte Miriam den möglichen Tather-gang in nahezu allen Einzelheiten rekonstruiert und anhand von Indizien untermauert, die von der Spurensicherung am Ufer und in der näheren Umgebung des Sees sichergestellt worden waren. Sie wusste mit ihren Argumenten äußerst überzeugend umzugehen und mir sämtliche Details so plausibel darzulegen, dass ich beinahe versucht war, ihr in ihrer Beweisführung zu folgen. Während ich Miriam um den halben See hinterher latschte und mir jede Einzelheit einprägte, die sie mir aufzählte, war mir jenseits der Absperrung ein Mann aufgefallen. Es hatte den Anschein, als würde er jede unserer Bewegungen akribisch beobachten.

„Sag mal, ist dir der Typ auf dem Weg auch schon aufgefallen?“, fragte ich Miriam irgendwann eher beiläufig. „Der treibt sich schon den ganzen Tag hier herum. Du kennst doch diese Leute. Vielleicht ohne Arbeit, wissen den ganzen Tag vor langer Weile nichts mit sich anzufangen. Da kommt ihnen ein solches Spektakel natürlich gerade recht.“ Ich sah noch einmal unauffällig hinüber. Die Kleidung des Mannes wirkte in der Tat reichlich abgerissen. Ich rümpfte die Nase. Wahrscheinlich hatte Miriam Recht und doch kam mir der Typ irgendwie suspekt vor. Wenn er so viel Zeit hatte, um die Polizei den ganzen Tag lang zu beobachten, konnte es ebenso gut sein, dass er auch am Tag des Verbrechens in der Nähe war und ihm irgendetwas aufgefallen war, was mir weiterhelfen würde.

Ich beschloss, die standhafte Polizistin nach dem Mann zu fragen. Immerhin war sie von der Polizeistation in Cremlingen, der für Dettum zuständigen Dienststelle und kannte möglicherweise den sonderbaren Herrn. Abgesehen davon bot sich auf diese Weise die Gelegenheit; noch ein wenig mit der eisernen Lady zu flirten.

„Klar kenne ich den Mann“, winkte die Polizistin lächelnd ab. „Das ist Jochen. Zumindest nennen ihn im Dorf alle so. Der ist zwar etwas neben der Spur, wenn Sie verstehen, was ich meine, aber völlig harmlos.“ „Das bin ich übrigens auch“, grinste ich, den Faden aufnehmend. „Schade“, entgegnete sie kess. „Langweilige Männer sind mir ein Gräuel.“ Tja, irgendwie war es wohl nicht mein Tag. „Jochen wohnt übrigens im Ortsteil Zuckerfabrik“, lenkte die hübsche Polizistin die Aufmerksamkeit wieder auf den eigentlichen Grund unsres Gesprächs. „Seinen Nachnamen kenne ich leider nicht.“ „Schon gut, ich war nur auf ihn aufmerksam geworden, weil er sich bereits seit Stunden hier herumtreibt.“ „Wie gesagt, Jochen ist zwar manchmal etwas sonderbar, aber er würde keiner Fliege etwas zu Leide tun.“ „Kommen Sie hier aus der Gegend?“, unternahm ich einen letzten Versuch, etwas mehr über die eiserne Lady herauszufinden. „Meine Lebensgefährtin kommt aus Dettum.“ Ich schluckte zweimal trocken, bedankte mich bei ihr für die Auskunft und fragte mich, warum ich immer wieder in derartige Fettnäpfchen treten musste.

 

-11-

 

Während ich meinen Wagen von der Wolfenbütteler Straße kommend, über die Parkstraße quer durch Dettum lenkte und der Hausnummer der Grunewalds allmählich näher kam, konnte ich zwischen den weit auseinander stehenden Häusern zu meiner Rechten die untergehende Sonne betrachten. Es hatte etwas Märchenhaftes, wie sie sich in den Baumkronen brach, die den Vilgensee umschlossen. Das Haus der Zeugen war etwas von der Straße nach hinten versetzt. Ein weiß getünchtes Einfamilienhaus. Nichts Aufregendes, aber nett und solide. Ebenso, wie man sich sein Heim allgemein hin vorstellt. Links am Haus eine Garage, nach rechts ein Weg, der in den Garten führte. In den Fenstern halbhohe Scheibengardinen, darüber ein selbst gemaltes Fensterbild. Ein weißes Schaf mit grünem Hut zwischen den Ohren und einem roten Band mit einem Glöckchen um den Hals. Keine Ahnung, weshalb ich plötzlich nach den Zwergen suchte. Na ja , dachte ich, vielleicht im Garten hinter dem Haus.

Ich legte meinen Finger auf die etwas abgegriffene Klingelplatte, unter der ich den Namen der Hausbewohner nur noch mit Mühe erkennen konnte. Es dauerte nicht lange, bis ich von drinnen Schritte hörte, die sich hastig näherten. „Hast wohl deinen Schlüssel vergessen, Schatz.“ Die Tür öffnete sich nur einen Spalt breit. Ehe ich das Missverständnis aufklären konnte, entfernten sich die Schritte ebenso hastig wieder, wie sie gekommen waren. Ich betrachtete es als Einladung, näher zu treten. Da stand ich nun auf dem kleinen Flur, der durch eine Glastür von der Essdiele abgeteilt war und wusste nicht, wohin ich sollte. Schritte waren jedenfalls nicht mehr zu vernehmen. Rechts und links gingen weitere Türen ab. Eine steile Treppe führte in den Keller hinunter. Ich spitzte die Ohren. Irgendwo klapperte es. Geschirr? Dem Geräusch folgten weitere. Es war dennoch schwierig, ihren Ursprungsort zu deuten.

Irgendwie gelangte ich in einen großen hellen Raum, dessen hintere Wand aus einer einzigen Glasfläche bestand, welche eine ungetrübte Sicht auf den Garten, die sich anschließenden Felder, bis hin zum Vilgensee freigab. Die Sonne war inzwischen so weit abgetaucht, dass sich nur noch vereinzelte Strahlen in mein Gesicht verirrten. Wie das feine Laserlicht eines Printers huschte es über die Wände, an denen einige Repliken moderner Meister um die Gunst des Betrachters buhlten. Ich war überrascht. Von außen war dem Haus nicht anzusehen, was den Besucher im Inneren erwartete.

„Bist du dann soweit, Liebling? Ich kann das Essen nicht länger warm halten“, drang eine freundliche Männerstimme aus dem Nebenraum zu mir herüber. Ich räusperte mich etwas verlegen. „Ich muss Sie leider enttäuschen“, erklärte ich bübisch, als der vermeintliche Hausherr seinen Kopf neugierig um die Ecke streckte. „Ich bin leider nicht die Dame, für die Sie mich offenbar halten.“ „Das ist allerdings unverkennbar“, nahm es der Mann humorvoll. „Aber wo Sie schon einmal da sind, hätte ich doch gern gewusst, mit wem ich eigentlich das Vergnügen habe.“ „Entschuldigen Sie bitte mein Eindringen. Es ist sonst nicht meine Art, aber nachdem Sie mir die Haustür geöffnet hatten, war niemand mehr da, dem ich mich vorstellen konnte.“

Der maskuline Mann, Ende dreißig, band sich die Halbschürze ab und warf sie betont lässig über einen Stuhl. „Geschenkt! Aber mit wem habe ich denn nun die Ehre?“ Ich griff mir an den Kopf. „Sorry, mein Name ist Lessing.“ Ich ließ meine Legimitation aufblitzen und erklärte ihm den Grund meines Besuches.

„Meine Frau ist gerade bei Sophia. Wir sind mit Franziskas Eltern befreundet, müssen Sie wissen. Günther ist nach Braunschweig gefahren, um seine Tochter ein letztes Mal zu sehen.“ Grunewald stieß einen tiefen Seufzer aus. „Schrecklich, es ist alles so unfassbar. Letztes Wochenende haben wir alle zusammen noch da draußen gegrillt.“ Der Zeuge deutete auf eine gemütliche Sitzecke in seinem Garten. „Die Kleine war gern bei uns.“ Er schüttelte fassungslos mit dem Kopf. „Aber bitte setzten Sie sich doch, Herr Lessing. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“

In meinem Magen rumorte es, als feierten darin zwanzig Kobolde ein rauschendes Fest. Leider hatte keiner von ihnen etwas zu essen mitgebracht. „Ein Mineralwasser wäre jetzt tatsächlich nicht schlecht“, nahm ich dankbar an. „Ich verstehe gar nicht, wo meine Frau so lange bleibt. Sie wollte längst zu Hause sein.“, erklärte der Adonis, während er in die Küche hinübereilte. „In der Gerichtsmedizin hat es sicher länger gedauert“, rief ich ihm nach. „Möglich, aber in so einem Fall gibt es Telefone“, hörte ich ein wenig Ärger durchklingen. „Wenn Rita nicht bald kommt, kann ich das Essen in den Müll kippen.“ „Das wäre ja eine Sünde. Was gibt es denn Schönes?“, fragte ich begierig. „Pilzauflauf, nach einem Rezept meiner Großmutter.“ In meinem Mund wurde es feucht.

„Wissen Sie was, Herr Lessing? Wenn meine Frau jetzt nicht kommt, werden wir uns darüber her-machen.“ „Aber ich bitte Sie, das kann ich Ihrer Frau doch nun wirklich nicht antun.“ „Ach, papperlapapp! Wer nicht kommt zur rechten Zeit, der bekommt, was übrig bleibt.“ Der Hausherr hatte mich gerade mit einer aufmunternden Geste aufgefordert, ihm in die Küche zu folgen, als die Haustür ins Schloss fiel. Mein Speichelfluss versiegte abrupt.

„Oh, du hast Besuch?“, fragte Rita Grunewald, als sie mich unmittelbar vor der Tür zu ihrer Küche erblickte. „Das ist Herr Lessing“, stellte mich ihr Mann vor. „Herr Lessing ist privater Ermittler und recherchiert...“ Er hielt inne. „Für wen arbeiten Sie eigentlich?“ Ich sah mein Abendbrot in weite Ferne rückend. „Für den Anwalt von Mathias Reim“, kam es zögerlich über meine Lippen. „Das ist gut“, reagierte Grunewald völlig unerwartet. „Ich glaube nämlich nicht, dass der Junge seine Freundin umgebracht hat.“ Die Frau mit den langen roten Haaren starrte ihren Mann mit großen Augen an. Mir hingegen wurde der Mann mit jeder Minute sympathischer.

„Ja, ja, ja, ich weiß, was du sagen willst. Wir sind mit Günther und Sophia befreundet, aber müssen wir deshalb ihrer Ansicht sein? Ich kenne den Jungen und ich kenne auch den Vater. Nachdem Roswitha die beiden damals hat sitzen lassen, mussten sie allein klar kommen. Ich bewundere Reinhardt, wie er die Situation meisterte. Nein, nein, der Junge ist ein feiner Kerl. Der hat Franziska nicht getötet, für den lege ich meine Hand ins Feuer.“ „Hauptsache, du verbrennst sie dir nicht“, entgegnete Rita Grunewald zynisch. „Wie du weißt, war Günther heute Nachmittag bei der Gerichtsmedizin. Der Ärmste war völlig aufgelöst, als er nach Hause kam.“ „Was erwartest du? Der Mann hat sich von seinem einzigen Kind verabschiedet.“ „Das allein war es nicht. Wenn man sich von klein auf kennt, spürt man, wenn der andere etwas auf dem Herzen hat. Zunächst wollte Günther nicht damit heraus. Ich musste ihm quasi jedes Wort einzeln aus den Rippen leiern.“ „Nun mach's nicht so spannend“, bekniete Grunewald seine Frau. „Franziska war schwanger“, platzte es über ihre Lippen.

Gerd Grunewald machte dicke Backen. „Ach du heiliges Kanonenrohr, auch das noch.“ Es war mehr als deutlich, was sich hinter der Stirn meines Gegenübers abspielte. Wenn Mathias Reim in seinen Augen bislang noch kein wirkliches Motiv für den Mord an seiner Freundin hatte, so hatte er es jetzt. Selbst wenn er schwor, nichts davon gewusst zu haben, würde ihm dies keiner glauben. Kleinschmidt und die Staatsanwaltschaft mussten nun davon ausgehen, dass dies der Anlass für den Streit war, den der Tatverdächtige bereitwillig eingeräumt hatte.

„Deshalb kam ich auch so spät“, entschuldigte sich Rita Grunewald. Adonis seufzte. „Schon gut, jetzt ist eh alles vergurkert.“ „Ehrlich gesagt, habe ich sowieso keinen Hunger mehr.“ „Dann gebe ich eben alles in den Müll“, resignierte der Hobbykoch. „Also ich fände es schade“, meldete ich mich kleinlaut zu Wort. „Vielleicht schmeckt es ja noch, duften tut es jedenfalls ausgezeichnet.“ Ein erfreutes Lächeln huschte über seine Züge. „Meinen Sie wirklich?“ „Ein Versuch ist's allemal wert.“

Adonis schnappte sich sein Schürzchen und stürmte an den Backofen. Sekunden später war die Luft von einem paradiesischen Duft erfüllt. Die Kobolde in meinem Magen schlugen Purzelbäume. So lecker die italienische Küche auch war, sie schien nicht lange vorzuhalten. Egal, wie der Pilzauflauf auch aussah, er schmeckte nicht schlechter als das Fünfsterne-menü, zu dem mich Börner eingeladen hatte.

„Sie haben Franziska also im See gefunden“, stellte ich während des gemeinsamen Essens meine erste Frage. „Erinnern Sie mich bloß nicht daran, ob ich diese Bilder jemals wieder aus dem Kopf bekomme, weiß ich nicht. Es war einfach furchtbar, wie das Mädchen da zwischen all den Blättern und diesem glitschigen Zeugs herumtrieb.“ Grunewald stocherte geistesabwesend in seinem Essen herum. „Ich sehe sie noch, wie sie mit unserem Hund durch den Garten sprang. Nur schwer vorstellbar, dass sich diese Bilder nicht wiederholen werden.“ Er schob seinen Teller beiseite, nippte am Weinglas und starrte verloren durch die Panoramaglasscheibe seines Wohnzimmers in die Ferne.

„Wie lange waren die beiden schon ein Paar“, fragte ich schmatzend weiter. Grunewald sah seine Frau nachdenklich an. „Drei Jahre müssten es schon sein.“ „Und während dieser ganzen Zeit hat sich Günther Rose nicht mit der Beziehung abfinden können?“, erkundigte ich mich grüblerisch. „Nicht nur das, er hat nichts unversucht gelassen, die Kinder auseinander zu bringen“, erklärte Rita Grunewald. „Es muss doch einen Grund für diese Ablehnung geben“, hakte ich nach. Meine Gastgeber schauten einander an, bis Adonis schließlich nickte.

„Also schön, aber Sie müssen uns versprechen, dass Sie das Folgende nicht von uns haben.“ Ich sicherte es zu, obwohl ich wusste, dass ich diese Zusage möglicherweise nicht einhalten konnte. Die Zukunft eines jungen Lebens stand auf dem Spiel, da kann man keine Rücksicht auf irgendwelche Freundschaf-ten nehmen. „Es ist schon viele Jahre her und im Grunde wissen wir auch gar nicht, ob an dem Gerücht etwas dran ist, aber angeblich soll es auf einem Feuerwehrfest zwischen Roswitha und Günter mal gewaltig gefunkt haben.“ Ich kniff skeptisch ein Auge zu. „Ja und? So etwas kommt vor.“ „Günther und Sophia hatten gerade das Aufgebot bestellt und Reinhardt und Roswitha waren seit drei Jahren verheiratet“, schob Adonis erklärend nach.

Ich merkte auf. Dass es unter diesen Umständen zwischen den beiden Männern Diskrepanzen gab, war nachzuvollziehen. Doch weshalb Günther Rose und nicht Reinhardt Reim der treibende Keil war, wollte mir dennoch nicht in den Kopf. „War dies der Grund, weshalb Roswitha Reim ihre Familie verließ?“ Grunewalds zuckten mit den Schultern. „Keine Ahnung. Wir haben nicht weiter nachgefragt. Es ging uns ja auch nichts an.“ „Wie war das damals, als die Mutter meines Klienten plötzlich verschwand?“, ließ ich nicht locker. „Wie gesagt, viel wissen wir darüber nicht. Sie war einfach so, von einen Tag auf den anderen verschwunden.“ „Ja, aber wurde in der Sache denn nicht ermittelt?“ „Klar, Reinhardt hat damals ja auch eine Vermisstenanzeige aufgegeben, aber als dann ein paar Wochen später eine Karte von ihr aus Damaskus kam, wurde die Suche eingestellt. So viel ich weiß, wurden die beiden nie geschieden.“ „Ich glaube, Reinhardt hofft immer noch, dass Roswitha eines Tages zu ihm zurückkehrt“, ergänzte Gerd Grunewald kopfschüttelnd. „Was Sie sich nicht vorstellen können“, entnahm ich seinen Worten. „Sie hat seit dieser Ansichtskarte nichts mehr von sich hören lassen. Warum sollte sie nach so langer Zeit einfach so, mir nichts, dir nichts wieder auftauchen?“ „Nun, sie ist ja auch einfach so abgetaucht“, entgegnete ich trocken.

„Ich will Sie nicht länger stören. Haben Sie vielen Dank für das ausgezeichnete Abendessen.“ Der Adonis winkte verlegen ab. „Na, nun übertreiben Sie mal nicht. Eigentlich hätte man den Auflauf in den Müll geben müssen.“ „Jetzt übertreiben Sie aber.“ Rita Grunewald verdrehte angesichts derartiger Lobhudelei seufzend die Augen. „Ich habe hier doch irgendwo meinen Stetson abgelegt“, sah ich mich, im Flur angelangt, suchend um. „Ist er das dort?“, fragte der Hausherr mit belegter Stimme. Als ich auf die kleine Kommode blickte und nur noch die Krempe unter einer Einkaufstasche hervorstehen sah, befiel mich ein Gefühl blanken Entsetzens.

Grunewald hob die Tasche an und starrte auf das platt gedrückte Etwas, welches darunter zum Vorschein kam. „Ich fürchte, Ihr Hut hat etwas gelitten“, kam es zögerlich über seine Lippen. Ich konnte es nicht fassen. Drei Tage war es gerade her, als ich ihn aus der Reparatur abgeholt hatte und nun dies. „Es tut mir schrecklich Leid, wir werden Ihnen den Hut natürlich ersetzen“, fügte seine Frau hinzu. „Lassen Sie mal. Mein Stetson und ich haben schon ganz andere Sachen gemeinsam durchgestanden.“ Ich griff nach meiner Kopfbedeckung, beulte sie notdürftig aus, bedankte mich nochmals für das Abendessen und für die Auskünfte. Dann setzte ich wie gewohnt meinen Hut auf und ging zum Auto. „Bitte scheuen Sie sich nicht, uns die Rechnung für die Reparatur zuzuschicken“, rief mir Grunewald nach.

Es muss ziemlich albern ausgesehen haben, als ich mit meinem reichlich verbeulten Stetson auf dem Kopf zum Auto latschte. Sei's drum, man hat ja schließlich seinen Stolz.

 

-12-

 

Es war bereits dunkel. Die grünlichen Ziffern meiner Digitaluhr in der Instrumentenkonsole zeigten 21:35 Uhr, als ich meinen Skoda die Parkstraße weiter in südlicher Richtung fuhr und schließlich in die Königsberger Straße abbog. Verdammt, irgendetwas stimmte in der letzten Zeit nicht mit mir, allein der Straßenname reichte aus, um sofort an eines meiner Lieblingsessen zu denken. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich meinen, ich sei schwanger. Seit Tagen schon hatte ich dieses permanente Hungergefühl. Wenn Liebe tatsächlich durch den Magen ging, musste es mich furchtbar erwischt haben.

21:40 Uhr: Im Haus der Familie Rose brannte noch Licht. Im Grunde schon viel zu spät für einen Besuch, aber angesichts der Umstände konnte ich davon ausgehen, dass die Eltern der Ermordeten ohnehin noch keine Ruhe fanden. Ich musste diese Leute kennen lernen, musste herausfinden, was für Menschen hinter diesen Fenstern lebten. Vor allem aber konnte ich mir nur dann ein Bild von Franziska machen, wenn es mir möglich war, einen Blick in ihr Zimmer zu werfen.

„Entschuldigen Sie bitte die späte Störung, aber ich sah noch Licht...“ „Wer sind Sie und was wollen Sie?“, fragte der Mann in der Haustür, von dem ich wegen der grellen Flurbeleuchtung nicht mehr als seine Silhouetten sah. „Mein Name ist Lessing, ich ermittele wegen des Todes Ihrer Tochter. Übrigens, mein herzliches Beileid.“ Ich ließ für einen kurzen Augenblick meinen Ausweis aufblitzen. Nicht lange genug, um ihn wirklich zu entziffern. „Treten Sie näher, Herr Lessing.“ Ich folgte seiner Aufforderung mit einem gewissen Unwohlsein.

„Ich nahm an, dass lediglich Herr Kleinschmidt mit dem Fall betraut ist“, betrachtete mich Günther Rose nachdenklich. „Wir ermitteln auf verschiedenen Ebenen“, vermied ich es bewusst, für klare Verhältnisse zu sorgen. „Ich hätte mir zunächst gern das Zimmer Ihrer Tochter angesehen“, kam ich ohne Umschweife zur Sache. „Ich möchte mir ein Bild von Franziska machen.“ „Aber der Hauptkommissar hat doch schon...“, ächzte der trauernde Vater. Ich kam mir schäbig vor, ihn in einer solchen Situation auch noch belügen zu müssen, aber wenn er auch nur geahnt hätte, dass ich für den Jungen arbeitete, dem der Tod seiner Tochter zur Last gelegt wurde, hätte er mich in hohem Bogen vor die Tür gesetzt.

„Also schön, ich kann zwar nicht so recht nachvoll-ziehen, was das bringen soll, aber wenn Sie davon überzeugt sind, dass es dazu beiträgt, den Mistkerl hinter Gitter zu bringen, soll es mir recht sein.“ „Es würde sicherlich dazu beitragen, die Wahrheit ans Licht zu bringen.“ „Ich möchte Sie allerdings bitten, jeglichen Lärm zu vermeiden. Ich bin froh, dass meine Frau endlich eingeschlafen ist.“ Der Hausherr führte mich über eine schmale Wendeltreppe ins Obergeschoss des Einfamilienhauses.

„Franziska hatte hier oben ihr eigenes kleines Reich. Meine Frau und ich waren selten hier oben, Franzi wollte das so. Ich habe ihr erst im vergangenen Jahr ein kleines Bad eingebaut“, erklärte Günther Rose. „Sie hat sich hier sehr wohl gefühlt.“ „Das will ich gern glauben“, sah ich mich um. Der etwa acht Meter lange Raum wies auf der einen Seite eine Dachschräge auf, die in einem Kniestock mündete. Die gesamte Fläche war mit Postern irgendwelcher Showstars zugekleistert. In einem Regal über dem Bett drängten sich dutzende Plüschtiere, die mich allesamt zu beobachten schienen.

„Wie Sie sehen, war Franziska sehr ordentlich.“ Der Vater der Ermordeten öffnete demonstrativ eine Schranktür. „Bei Franzi hatte alles seinen festen Platz. Sie war beinahe schon pedantisch, wenn es um ihre Schränke ging. Die Ordnung, die man mir erst mühsam bei der Bundeswehr beibrachte, wurde ihr quasi in die Wiege gelegt.“ Der Hausherr hielt inne, holte tief Luft, um nach einem Moment der Besinnung die Luft geräuschvoll auszustoßen. „Ich weiß noch gar nicht, wie es nun weiter gehen soll. Mit unserer Tochter haben meine Frau und ich den Sinn unseres Lebens verloren.“

Ich hasse diese Situationen, in denen ich nicht weiß, mit welchen Worten ich Trost spenden kann. Dies überlasse ich gern anderen, die sich besser auszudrücken wissen. Etwas verlegen schaute ich daher auf die vielen Bilderrahmen, die in einer beleuchteten Glasvitrine aufgestellt waren. Ging die Angst des Mädchens vor dem Ärger mit ihrem Vater wirklich so weit, dass sie auf ein Foto ihres Freundes verzichtete? In der Vitrine befand sich zumindest keins. Während ich meinen Blick auf der Suche nach einem Bild meines Klienten durch den Raum schweifen ließ, vernahm ich eine aufgeregte Stimme.

„Bitte entschuldigen Sie mich, Herr Lessing, meine Frau ruft nach mir.“ „Gehen Sie ruhig, Herr Rose, ich komme schon zurecht.“ Ich lauschte den Schritten, wie sie sich über die Treppe nach unten entfernten. Endlich konnte ich mich ungestört umsehen. Ich hatte längst einige vermeintliche Verstecke ausgemacht. Mit den Jahren stellt sich ein Blick dafür ein. Gleich im ersten Kuscheltier wurde ich fündig. Zwischen den Wattekissen, mit denen der kleine Elefant ausgestopft war, befand sich eine Tube mit einem Gel zur Kontrazeption. Franziska hatte also selbst für Verhütung gesorgt, was folglich darauf hindeutete, dass sie von meinem Klienten zu nichts gezwungen wurde.

Ich dachte an meine eigene Sturm und Drangzeit zurück und ein zufriedenes Grinsen huschte über mein Gesicht. Ja, ja, das waren noch Zeiten, seufzte ich gedankenverloren, während ich weitersuchte. Unter dem Boden einer Kommodenschublade entdeckte ich schließlich ein angeklebtes Kuvert, worin ich die Fotos und Liebesbriefchen meines Klienten fand. Ich steckte sie erst einmal ein, zum Lesen war jetzt keine Zeit.

Gerade als ich mir den Kleiderschrank vornehmen wollte, hörte ich, wie die Schritte zurückkehrten. Sie kamen schneller und lauter zurück und es waren eindeutig mehr Schritte, die zu mehreren Personen gehörten. Die Tür zu Franziskas Zimmer flog förmlich auf und ehe ich mich versah, packte mich der Hausherr am Schlafittchen. „Sie verdammter Mistkerl!“, schrie er mich an. „Sie sind gar nicht bei der Polizei! Sie arbeiten für das Schwein, das meine Tochter umbrachte.“

Ich musste meine ganze Kraft aufbieten, um seine Hände von meiner Garderobe zu lösen. Kommissar Sinner, dem ich den Wutausbruch des Hausherrn aller Wahrscheinlichkeit nach zu verdanken hatte, half mir dabei und versuchte die Situation zu beruhigen. „Ich habe mit keinem Wort behauptet, für die Polizei zu arbeiten. Ich sprach lediglich von Ermittlungen im Zusammenhang mit dem Tod Ihrer Tochter. Außerdem habe ich Ihnen meinen Ausweis gezeigt“, stellte ich klar. „Stimmt das, Herr Rose?“, mischte sich Sinner ein. Der zornige Hausherr sah mich mürrisch an. „Na ja, er hat mir irgend so einen Fetzen unter die Nase gehalten“, räumte er ärgerlich ein. „Tja, wenn das so ist, hat sich Herr Lessing keines Vergehens schuldig gemacht“, musste der Kommissar feststellen. „Verlassen Sie unverzüglich mein Haus!“, befahl Günther Rose unmissverständ-lich.

Sinner war nicht allein gekommen, Kleinschmidt wartete im Flur, bis wir hinunterkamen. „So spät noch bei der Arbeit, Herr Hauptkommissar?“ „Sie ja wohl offensichtlich auch, Lessing“, entgegnete der Mann mit dem wuchtigen Schnauzer. „Das heißt, was Sie so Arbeit nennen.“ Aus den Augenwinkeln konnte ich erkennen, wie ihm Sinner kopfschüttelnd ein Zeichen gab. Mir war sofort klar, was er damit zum Ausdruck bringen wollte. Überdies war ich nicht in der Stimmung, um mich von Kleinschmidt provozieren zu lassen. „Mir gefiel ihre Art noch nie, Lessing, aber diese Nummer hier macht Sie in meinen Augen noch um einiges unsympathischer“, ließ Kleinschmidt keinen Zweifel an der Meinung, die er von mir hatte. „Alles, was ich will, ist die Wahrheit“, entgegnete ich rechtfertigend. „Daran sollte vor allem den Eltern des Opfers gelegen sein.“

 

 

Frohe Weihnachten

Auch Engel sterben einsam

 

 

 

 

 

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