Detektei Lessing

Band 32

Theaterblut

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„Was ist denn nun noch, Leopold?“, erkundigte sich Miriam ungeduldig. „Bist du sicher, dass die junge Frau mit Ramona klarkommt?“ Meine Liebste verdrehte ihre hübschen Augen. „Sollte ich nicht lieber doch Trude fragen, ob sie auf unseren Schatz aufpasst?“ „Wanda ist eine ausgebildete Fachkraft, die genau weiß, wie sie sich in allen erdenklichen Situationen verhalten muss.“ „Sie hat kein eigenes Kind und sie ist sehr jung.“ Miriam seufzte. „Trude hat auch keine Kinder und sie ist fast doppelt so alt wie Wanda.“ „Eben“, griff ich ihr Argument auf. „Trude verfügt über Lebenserfahrung.“

Miriam schüttelte genervt mit dem Kopf. „Also, jetzt mal im Ernst. Eigentlich dachte ich, dass ich einmal die Glucke sein würde und nicht du. Ramona ist erst drei Monate alt und es wird das erste Mal sein, dass wir unseren Schatz in andere Hände geben. So weit verstehe ich dich ja, aber es ist nötig, dass wir uns nun auch Zeit für uns nehmen.“ „Müssen es denn unbedingt völlig fremde Hände sein, denen wir unser Kind anvertrauen?“, äußerte ich nach wie vor Bedenken. „Wanda ist nicht fremd. Du hast sie durch die Verbrecherdatei gejagt, hast ein polizeiliches Führungszeugnis angefordert und sämtliche Zeugnisse überprüft, die sie uns vorgelegt hat. Ein Wunder, dass du sie nicht auch noch auf ansteckende Krankheiten überprüft hast.“ Ich entzog mich verlegen ihren Blicken. „Nein! Sag mir, dass du das nicht getan hast.“ „Und was, wenn sie Hepatitis oder HIV gehabt hätte?“

Es brauchte einige Sekunden, ehe sich Miriam wieder beruhigt hatte. „Wanda wird jeden Moment hier sein. Gehen wir nun aus oder nicht?“ Miriams Frage klang eher wie ein Ultimatum. Und obwohl mir alles andere als wohl bei meiner Antwort war, beließ ich es bei unserem Vorhaben. Abgesehen davon wollte ich die Theaterkarten nicht verfallen lassen. „Du hast ja Recht, mein Schatz, vielleicht übertreibe ich es ja tatsächlich ein wenig.“ „Ein wenig?“

Nachdem ich Wanda bis ins letzte Detail instruiert und ihr meine Telefonnummer quasi an die Stirn geheftet hatte, machten wir uns auf den Weg zum Theater. Anders als sonst freute ich mich diesmal auf die Veranstaltung. Auch wenn ich wieder auf einen Großteil von Miriams versnobten Freunden treffen würde, würde dies durch die Travestieshow bei weitem aufgewogen. Ich hatte das Ensemble Moulin Rouge bereits einige Jahre zuvor in Braunschweig gesehen und war begeistert. Dass wir nun sogar Karten für das Wolfenbütteler Theater bekommen hatten, war ein Glücksfall.

Den üblichen Smalltalk mit allen Heucheleien, Lügen und sonstigen niveaulosen Gequatsche ließ ich teilnahmslos über mich ergehen. Gottlob saß keiner von den Vögeln in unserer Nähe und so stand dem zu erwartenden Genuss nichts mehr im Wege. Ich hatte unsere Plätze aus gutem Grund im vorderen Drittel gewählt. Hier konnte mir selbst ein aufgeblähter Pfauenhut die Sicht auf die Bühne nicht verderben. Der letzte Besuch in diesem Theater hatte Spuren bei mir hinterlassen und immerhin dafür gesorgt, dass mir Gleiches nicht ein weiteres Mal widerfährt.

Die Show war auch diesmal ein Feuerwerk an Gags und Klamauk, rhythmischen Tanzdarbietungen in raffinierten Kostümen und tollen Songs, die perfekt inszeniert wurden. Hinzu kam, dass ein ehemaliger Wolfenbütteler als Hauptdarsteller und Conférencier durch das Programm führte. Eine Tatsache, die ganz sicher dazu beigetragen hatte, dass die Veranstaltung bis auf den letzten Platz ausverkauft war.

In der Pause traf sich natürlich wieder alles, was Rang und Namen hatte im Foyer, um bei Sekt und noch mehr Sekt zu fachsimpeln. Ich verstand es, mich diskret im Hintergrund zu halten und mich bei der erstbesten Gelegenheit davonzustehlen.

Zwei Mitglieder des Ensembles verkauften im Vorraum Livemitschnitte von der Show und allerlei Andenken. In einem Moment, in dem sie sich unbeobachtet fühlten, gerieten sie in heftigen Streit. Soweit ich mitbekam, ging es um eine Affäre. Gerade, als es interessant zu werden schien, beendete ein schrilles Klingeln die Pause und auch die Auseinandersetzung.

„Wo warst du denn so plötzlich?“, hatte mich Miriam offenbar doch vermisst. „Du glaubst gar nicht, was auf dem Klo los war“, erwiderte ich, ohne meinen Schatz belügen zu müssen. Welche Schlüsse sie aus meiner Antwort zog, stand freilich auf einem anderen Blatt. „Ich habe im Traum nicht damit gerechnet, dass dir ausgerechnet eine Travestieshow so viel Spaß macht“, verkündete sie zufrieden. „Warum nicht? Ich bin ein weltoffener, toleranter Mann, der immer für eine Überraschung gut ist“, erklärte ich selbstbewusst. „Das stimmt allerdings“, entgegnete meine Liebste mit einem verschmitzten Lächeln.

Während sich Miriam offenbar an irgendetwas erinnerte und herzlich darüber lachte, erlosch das Licht und der Vorhang öffnete sich zum zweiten Teil der Show. Ronny Schubal, alias Conni La Busch, lief zur Höchstform auf. Das Publikum war begeistert und sparte nicht mit Applaus. Für mich ist es immer wieder faszinierend, mit welcher Eleganz sich die eigentlichen Herren auf der Bühne bewegen. Manche Frau wäre glücklich, wenn sie solche Beine hätte. Einer der Höhepunkte der Show war jedoch die Demaskierung der vermeintlichen Damen, die stets für einen ergreifenden Abschluss des Spektakels sorgte.

Es war der Moment, als Conni La Busch ihr Kostüm auszog und damit begann, sich abzuschminken. Sie griff sich an die Brust und an den Hals, dann begann sie leicht zu schwanken. Im ersten Augenblick schien alles völlig normal zu sein. Das Publikum sah gebannt zur Bühne und wartete auf das, was kommen sollte. Die Musik von My Way und dem Songtext „So leb dein Leben“ von Mary und Gordy untermalte den Zauber, der das Ende der Show und das Ende der Verwandlung eindrucksvoll in Szene setzen sollte. Doch dann verdrehte Conni La Busch die Augen und sackte vor hunderten entsetzter Zuschauer zusammen.

„Da stimmt doch etwas nicht“, war sich Miriam sofort sicher. Wir sahen, wie Conni La Busch hart mit dem Kopf auf die Bretter schlug, die ihr Leben bedeuteten. Aus ihrem Mund quoll weißer Schaum, während ihre Glieder noch einige Male zuckten. Miriam und ich taten das, was die meisten Zuschauer taten, wir sprangen entsetzt auf. Nur das diejenigen, die in unmittelbarer Nähe zur Bühne saßen, in Richtung Ausgang drängten, während Miriam und ich bemüht waren zu Conni La Busch zu gelangen, um ihr zu helfen. Über allem lag ein panisches Kreischen.

Wieder andere drängten auf die Bühne, um alles genau zu sehen. Sie holten ihr Handy hervor und filmten, versperrten einem Arzt, der sich zufällig im Publikum befand und sich wie wir durch die Masse der Gaffer bis auf die Bühne vorgekämpft hatte, nun die Möglichkeit der ersten Hilfe. Gemeinsam mit einigen Mitgliedern des Ensembles sorgten Miriam und ich für den nötigen Platz.

Als der Arzt mit den Widerbelebungsmaßnahmen begann, senkte sich der Vorhang. Irgendwann trat ein Verantwortlicher vor das verbliebene Publikum und erklärte mit zitternder Stimme die Veranstaltung für beendet. Was so humorvoll und kurzweilig begann, hatte sein Ende in einem Desaster gefunden. Noch während wir das Theater verließen, ging das Gerücht um, dass es Conni La Busch nicht geschafft hatte.

Nicht einmal eine Stunde später bestätigte sich dieses Gerücht in einer Mitteilung, die ich im Internet fand. Zu den Umständen, die zum Tod von Ronny Schubal geführt hatten, war jedoch nichts zu erfahren. Sowohl Miriam als auch mich hatte das Ereignis derart mitgenommen, dass wir die ganze Nacht kein Auge zubekamen. Während meines Berufslebens hatte ich so einiges gesehen, doch die Bilder der sterbenden Conni La Busch ließen auch mich nicht los. Wir waren Augenzeugen des Todes geworden. Vielleicht verfolgte ich das weitere Geschehen um den Tod Ronny Schubals, auch deswegen sehr aufmerksam.

2

„Kannst du denn da nicht allein hingehen? Du weißt doch, wie ungern ich zum Arzt gehe“, seufzte ich. „Ja, weiß ich, aber dir dürfte es jawohl bekannt sein, wie wichtig mir deine Anwesenheit bei dieser Untersuchung ist“, entgegnete Miriam unzweideutig. Somit war klar, dass die letzte Chance, mich zu drücken, vertan war. „Die Gesundheit unserer Tochter sollte dir am Herzen liegen“, setzte sie noch eins drauf. „Ja, ja, schon gut, ich werde dich ja zum Kinderarzt begleiten.“ „Na also, warum nicht gleich so?“, schüttelte Miriam verständnislos den Kopf.

Die Praxis von Doktor Muffins war bereits gut besucht. Während sich Miriam und Ramona auf dem direkten Weg in den Warteraum begaben, war mir die Aufgabe der Anmeldung zugedacht. Nach einer gefühlten Ewigkeit kam ich endlich an die Reihe. „Leopold Lessing“, stellte ich mich vor. „Wir waren angemeldet.“ Die Sprechstundenhilfe hob die Brauen und sah mich schmunzelnd an. „Das Kind heißt also Leopold?“ „Nein, das ist mein Name.“ „Ach, dann wollen Sie sich also untersuchen lassen.“ „Ich? Nein, wieso?“ Die Frau hinter dem Tresen seufzte. „Wie heißt denn das Kind?“ „Na, Ramona“, entgegnete ich verwirrt.

Einige Tastenanschläge später hob sie erneut die Brauen. „Ihre Tochter kommt heute zur U4“, erklärte sie. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wovon die Sprechstundenhilfe sprach. Im nächsten Moment öffnete sich ihre Hand, um etwas von mir entgegenzunehmen. Ich reichte ihr die Karte meiner Krankenkasse. „Die brauche ich nicht“, verweigerte sie die Annahme. „Haben Sie das Untersuchungsheft Ihrer Tochter dabei?“ Die hinter mir in der Schlange stehenden Mütter drückten ihre Ungeduld bereits durch lautes Stöhnen aus. Bei dem gewünschten Objekt musste es sich um das DinA5 große Heftchen handeln, welches Miriam in der Tasche verstaut hatte, die an meiner Schulter herunterhing.

„Moment, ich sehe mal in der Tasche nach“, versprühte ich Zuversicht. „Meinen Sie das hier?“, erkundigte ich mich schließlich nach einer Weile angespannten Suchens. Hinter mir brandete Beifall auf. „Ihre Tochter wird aufgerufen“, versprach die Sprechstundenhilfe. Na also, dachte ich, war doch gar nicht so schwer.

Nachdem ich wahrscheinlich zum hundertsten Mal auf die Uhr gesehen hatte, war es endlich so weit. „Ramona Lessing bitte“, rief eine hübsche, junge Frau in den Warteraum. Warum eigentlich nicht Familie Lessing? Natürlich stand unsere Tochter im Mittelpunkt des Geschehens, aber irgendwie fand ich das Ganze übertrieben.

„Da ist ja der kleine Schatz“, empfing uns der Kinderarzt in der gleichen Weise. „Guten Tag, Herr Doktor“, reichte Miriam ihre Hand, stellvertretend für unsere Tochter. „Hallo“, schloss ich mich an. Wobei sich das Interesse des Mediziners bereits auf den Monitor seines Rechners konzentrierte. „Sieh an, da haben wir ja so etwas wie einen Geburtstag heute“, verkündete Doktor Muffins beschwingt. Miriam und ich sahen uns verwundert an. „Die kleine Ramona ist heute genau einhundert Tage alt.“

Nachdem Miriam zu den Trink- und Essgewohn-heiten unseres Kindes befragt worden war, wurde Ramona auf eine Waage gelegt. Während der Arzt die erhobenen Daten verkündete, wurden diese von der attraktiven Sprechstundenhilfe in den Computer getippt und in dem Untersuchungsheft vermerkt. Es folgten die Überprüfung der Wirbelsäule und der Motorik. Ramona versuchte ihr Köpfchen zu heben und sah interessiert nach einem Spielzeug, welches der Doktor an ihr vorbeirollte. Sie griff sogar schon danach. Als er sie dann so aufrecht hielt, dass ihre Beinchen den Boden berührten, wäre sie am liebsten losgelaufen.

„Ich kann Ihnen gratulieren“, lobte der Mediziner. „Ihre Tochter entwickelt sich bestens.“ Nun war ich doch froh, dass ich mitgegangen war. Mit Stolz geschwellter Brust und dem Gefühl, alles richtig gemacht zu haben, verließ ich kurz darauf mit meinen Lieben den Behandlungsraum und die Praxis. „Na, war das nun so schlimm?“, erkundigte sich Miriam. „Wieso schlimm? Beim nächsten Mal bin ich natürlich wieder mit dabei.“ Miriam gab mir einen Kuss. Sie war sichtlich erleichtert.

Das Wetter war einfach fantastisch. Aus diesem Grund hatten wir uns spontan zu einem Spaziergang entschlossen. Ramonas zitronengelber Kinderwagen funkelte in der Sonne wie eine fliegende Untertasse. Die hätte sicherlich auch nicht weniger gekostet. Dementsprechend dürfte klar sein, dass ich diese Nobelkarosse steuerte. Auf unserem Weg durch die Wolfenbütteler Fußgängerzone wurden wir von zahlreichen Bekannten angesprochen. Bei so viel Lob und anerkennenden Worten bekam ich immer breitere Schultern.

Unter den Krambuden setzten wir uns schließlich an einen der vor dem ‚City Brunch‘ aufgestellten Tische und fragten nach der Speisekarte. „Das gibt es ja nicht“, reagierte ich überrascht, als uns Yusuf bediente. Nachdem uns der Betreiber unseres Lieblingsrestaurants begrüßt hatte, erzählte er uns, dass sich sein Sohn mit diesem Bistro selbstständig gemacht hatte. Kein schlechter Standort, wenn man die unmittelbare Nähe zum künftigen Wolfenbütteler Shoppingcenter berücksichtigte.

Während wir auf unser Essen warteten und Miriam Ramona versorgte, verfolgte ich die Abrissarbeiten am ehemaligen Karstadt Kaufhaus. Viel war nicht mehr davon zu sehen, aber interessant war es dennoch, wie die Bagger die Wände zum einstigen Parkhaus einrissen. Ich erinnerte mich an die alten Fachwerkhäuser, die zu meiner Jugendzeit an gleicher Stelle eine Likörfabrik beherbergten. Ich erinnerte mich an die Schienen der Straßenbahn, die genau an mir vorbei in Richtung ‚Goßer Zimmerhof‘ fuhr und an den ‚Schluckpeter‘, einer historischen Kneipe in einem der markantesten Gebäude der Stadt. All das war unwiederbringlich verschwunden und einem Kommerztempel zum Opfer gefallen. Ob die Verantwortlichen wohl aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt hatten? Die Bilder, die ich im Hinblick auf das, was hier nun entstehen sollte, gesehen hatte, ließen zumindest Zweifel offen.

Das lieblich duftende Aroma der servierten Speisen riss mich aus meinen Gedanken. Selbst Ramona verschmähte plötzlich ihr Fläschchen und schielte nach dem, was Mama und Papa auf ihren Tellern hatten. „Lasst es euch schmecken“, wünschte uns Yusuf guten Appetit. Und den hatte ich jetzt auch. Unser Lieblingssyrer hatte nicht zu viel versprochen. Mein Gaumen wurde geradezu mit kulinarischen Leckerbissen verwöhnt. Zu allem Überfluss hatte uns Yusuf auch noch eingeladen. Wenn das kein guter Tag war. Während ich anschließend in meine Detektei verschwand, wollte Miriam eine Freundin in der Polizeidienststelle besuchen.

3

„Hallo Frau Herz“, begrüßte Oberkommissar Sinner die Staatsanwältin in der Polizeidienststelle an der ‚Lindener Straße‘. Miriam sah den Beamten pikiert an. Dieser konnte ihren Blick auch nach einigen Sekunden intensiven Nachdenkens nicht deuten. „Lessing“, half ihm meine Liebste. Sinner griff sich an die Stirn und stieß ein peinliches „Oh“ aus. „Ich fürchte, es wird eine Weile dauern, bis ich Ihren neuen Namen verinnerlicht habe.“ „Da sind Sie beileibe nicht der Einzige, Herr Sinner.“ „Und das wohl der Stammhalter?“, stellte der Oberkommissar fest, während er sich über den Maxi-Cosi beugte. „Ich muss Sie enttäuschen, Herr Sinner, der Stammhalter ist ein Mädchen.“ „Ja, ja, natürlich, wie dumm von mir, wo es doch so offensichtlich ist“, machte sich der Oberkommissar lächerlich.

„Guten Tag, Frau Lessing“, kehrte nun auch Kommissar Schubert in sein Büro zurück. „Ach, Sie haben den Nachwuchs mitgebracht? Das ist aber eine seute Deern“, schwärmte er. „Wie heißt sie denn?“ „Ramona“, entgegnete Miriam. „Na, das ist ja mal ein ausgefallener Name“, schwärmte Schubert weiter. „Ja, Leopold und ich wollten keinen Modenamen.“ „Und nun zeigen Sie der Kleinen ihre alte Wirkungsstätte“, brachte sich Sinner wieder in das Gespräch ein. „Ich wollte eigentlich, zumindest ein wenig, auf dem Laufenden bleiben“, ließ Miriam keinen Zweifel daran, dass ihr die Arbeit als Staatsanwältin auch im Babyjahr überaus wichtig war. „Wir kommen hier schon ganz gut zurecht“, empfand der Oberkommissar Miriams Interesse als Einmischung.

„Aber Herr Sinner, das bezweifle ich doch gar nicht“, erklärte Miriam. „Mein Mann und ich waren am Samstag im Theater und…“ „…haben den Tod des Travestiekünstlers live auf der Bühne miterlebt“, fiel ihr Sinner ins Wort. „So ist es“, nickte Miriam zustimmend. „Kein Wunder, wenn Ihre Neugier Sie zu uns führt“, begriff Schubert den Grund für den Besuch der Staatsanwältin. „Ich denke, es gibt keinen Grund, Ihnen einen Einblick zu verwehren“, überlegte der Kommissar. „Oder gibt es von Ihrer Seite Bedenken, Herr Sinner?“ „Frau Her… Lessing ist momentan zwar nicht für uns zuständig, aber das geht sicher in Ordnung.“

Miriam nahm die Antwort des Oberkommissars gelassen. „Nach derzeitigen Ermittlungsstand kann von einem Suizid ausgegangen werden“, reichte ihr Schubert den Obduktionsbericht. „Ronny Schubal hat einen Abschiedsbrief hinterlassen“, fuhr er fort, während Miriam den Befund las. „Wo hat er denn das Taipoxin her?“, sah sie unvermittelt auf. „Das ist eine der noch offenen Fragen“, grätschte Sinner in die Unterhaltung. „Am Kiosk nebenan wird man das sicherlich nicht kaufen können.“

Schubert und Miriam sahen sich irritiert an. Was war denn nur mit Sinner los? „Am einfachsten bekommt man so ein Nervengift wahrscheinlich im Internet“, blieb Schubert sachlich. „Um sich mit einem solchen Gift das Leben zu nehmen, muss man schon sehr verzweifelt sein“, seufzte Miriam. „Die Kollegen von der Technik untersuchen bereits das Handy und den Laptop des Opfers.“ „Was ist mit dem Umfeld des Toten? Sind die Eltern von Ronny Schubal nicht sogar in Wolfenbüttel ansässig?“ „Das ist richtig, Frau Staatsanwältin. Herr Sinner und ich haben bereits mit ihnen gesprochen.“ „Während der Vater sehr reserviert auf mich wirkte, war die Mutter sehr erschüttert“, gab Sinner seinen Eindruck wieder. „Ich hatte das Gefühl, der alte Herr habe die Homosexualität seines Sohnes nie akzeptiert.“

Miriam konzentrierte sich wieder auf den Bericht des pathologischen Instituts. „Ach ja“, fuhr sie plötzlich hoch, „…klischeehafter geht es nicht. Das Opfer hatte sich mit dem HIV-Virus infiziert. Die Krankheit war allerdings noch nicht zum Ausbruch gekommen.“ „Sie glauben, dass dies der Grund für den Suizid gewesen sein könnte?“, verzog Schubert skeptisch das Gesicht. „Es gibt inzwischen eine ganze Reihe von sehr wirksamen Medikamenten, die einen Ausbruch verhindern können.“ „Was für einen Grund gibt Herr Schubal denn in seinem Abschiedsbrief an?“

Schubert reichte Miriam das Dokument. „Die Schrift haben Sie bereits abgeglichen?“ „Wir können unseren Job“, stellte Sinner bärbeißig klar. „Ja natürlich, entschuldigen Sie.“ „Es besteht kein Zweifel an der Echtheit des Briefes“, bestätigte Schubert. Nachdem die Staatsanwältin gelesen hatte, sah sie zunächst den Oberkommissar, dann Schubert nachdenklich an. „Finden Sie nicht auch, dass dieser Abschiedsbrief sehr allgemein gehalten ist?“ „Wie meinen Sie das?“, schien Sinner nach einem weiteren Haar in seiner Suppe zu suchen. „Hier zum Beispiel“, deutete Miriam auf eine Stelle des Briefes. „Er schreibt zwar von seiner Krankheit und deutet an, die Kraft habe ihn verlassen, aber er wird weder konkret noch vermittelt er Dramatik.“

„Ich weiß gar nicht, was Sie wollen“, schüttelte Sinner verständnislos den Kopf. „Schubal hat seinen Suizid in diesem Schreiben eindeutig angekündigt. Was wollen Sie denn noch? Wenn die Sache jedes Mal so klar wäre, würden wir uns viel Zeit sparen.“ „Wer ist denn der ermittelnde Staatsanwalt und was meint der dazu?“, stellte Miriam die Frage, auf die Sinner schon eine ganze Weile gewartet hatte. „Oberstaatsanwalt Van der Waldt sieht es nicht anders als ich“, erklärte der Oberkommissar genüsslich. „Für Sie ist der Fall also abgeschlossen“, resümierte Miriam. „Es gab nie einen Fall, Frau Lessing.“

Miriam griff nach dem Maxi-Cosi, in dem Ramona nach wie vor selig schlummerte und erhob sich. „Ich hoffe für Sie, dass Sie sich die Sache nicht zu einfach machen, Herr Sinner“, mahnte meine Liebste. „Es wäre doch schade, wenn da im Hinblick auf Ihre baldige Beförderung zum Hauptkommissar ein Fleck auf Ihrer weißen Weste hängenbliebe.“ Der Oberkommissar verzog irritiert das Gesicht. „Wie meinen Sie das?“ „Muss ich Ihnen das wirklich erklären, Herr Sinner?“

Auf dem Flur vor dem Büro der Kommissare traf Miriam auf einen Mann, der offenbar nach einem bestimmten Büro suchte. „Kann ich Ihnen vielleicht weiterhelfen?“, sprach sie den betroffen wirkenden Herrn an. „Ich suche einen Kommissar Sinner“, erklärte er. „Unten sagte man mir, dass er den Fall Ronny Schubal bearbeitet.“ „Das stimmt“, bestätigte Miriam seufzend. „Das Büro von Oberkommissar Sinner befindet sich direkt hinter mir.“ Gleichzeitig griff sie mit der freien Hand in ihre Umhängetasche und förderte eine meiner Visitenkarten zutage. „Nur für den Fall, dass Sie Zweifel an einem Suizid haben sollten…“

Der Mann sah Miriam verwundert an, nahm aber die Karte und steckte sie ein. „Danke, aber wie kommen Sie zu der Ansicht, es könnte sich nicht um einen Freitod handeln?“ „Mein Mann und ich waren im Theater, als es geschah. Es ist mehr ein Gefühl.“ Unsere Tochter unterbrach die etwas merkwürdig anmutende Szene mit einem ausgiebigen Gähnen. „Sie haben ja die Karte“, blieb Miriam vage. Während der Mann das Büro der Kommissare betrat, setzte sie ihren Weg durch die Polizeidienststelle fort. Schließlich sollten auch die übrigen Kollegen einen Blick auf unsere hübsche Tochter werfen. Ramona hatte eben sehr viel von mir.

4

„Da gehen Sie endlich mal wieder ins Theater, Chef und dann müssen Sie ausgerechnet Zeuge werden, wie sich einer von diesen verkleideten Männern das Leben nimmt“, schüttelte Trude den Kopf. „Es sind Travestie Künstler, Trude“, präzisierte ich. Meine Putzsekretärin winkte ab. „Ich weiß nie so recht, ob ich nun Herr oder Frau zu denen sagen soll.“ „Ist doch ganz einfach“, erklärte ich. „Wenn sich der Mann zur Frau verkleidet hat, sprechen Sie ihn auch als Frau an, ist er wieder ein Mann, dann als Herr.“ „Aber was ist, wenn die Frau mal ein Mann war und nun auf Dauer wie eine Frau aussieht?“ Ich sah Trude nachdenklich an. „Sie meinen, so richtig mit allem Drum und Dran?“ „Ja genau“, bestätigte sie. „Wenn er in seinem Ausweis als Frau eingetragen ist, dann ist er eine Frau, das steht fest“, begründete ich.

„Aber…“, schien Trude die Sache immer noch nicht so ganz klar zu sein. „Können wir uns nun auch mal wieder unserer Arbeit widmen?“, riss mir allmählich der Geduldsfaden. „Es kommt doch nun wirklich nicht auf das Äußere eines Menschen an.“ „Stimmt, Chef, da haben Sie recht. Ob unsere Kanzlerin wohl ein anderes Klopapier nimmt als ich?“ Ich verdrehte die Augen und verschwand in meinem Büro.

Müde, wie ich war, ließ ich mich in meinen Bürosessel fallen, streifte die unbequemen Treter ab und legte die Beine über die Schreibtischkante. Auch wenn ich mein kleines Mädchen für nichts auf der Welt wieder hergeben würde, muss ich doch eingestehen, dass ich mir die Versorgung eines Babys einfacher vorgestellt habe. Alle paar Stunden das Fläschchen. Natürlich handwarm. Da ist es völlig egal, ob es nachmittags oder gerade mitten in der Nacht ist. Dann mit der Kleinen an der Schulter manchmal stundenlang dasitzen und auf ein Bäuerchen warten. Und ist es dann endlich so weit, kotzt einem der kleine Schatz über die Brust.

Dass ich da nicht immer ausgeschlafen bin, weil ich natürlich wach werde, wenn Miriam zurück ins Bett schleicht, ist wohl klar. Gerade eingeschlafen, fängt die Nachkommenschaft erneut an zu plärren, weil gerade ein Furz quer sitzt oder weil der Nunni aus dem Mund gerutscht ist. Ehe meine Liebste wieder ins Bett gekrochen ist, kann ich meist nicht wieder einschlafen. Ja, ja, auch so ein Vater hats nicht leicht.

„Chef, können Sie einen Augenblick erübrigen?“, krächzte Trudes Stimme aus dem Lautsprecher der Gegensprechanlage. „Ich sagte doch, dass ich nicht gestört werden möchte“, entgegnete ich in der abgesprochenen Variante Sieben. „Es ist wirklich sehr dringend“, beharrte sie, ebenfalls wie in dieser Variante üblich. „Also gut, wenn es so wichtig ist, unterbreche ich natürlich meine Arbeit.“

„Leopold Lessing“, begrüßte ich den jungen Mann, der im Wartebereich der Anmeldung auf mich wartete. „Malte Klarin“, entgegnete er, während wir uns die Hände reichten. „Was kann ich für Sie tun?“, zeigte ich mich interessiert, während ich ihn mittels Handbewegung in mein Büro bat. „Bringen Sie uns bitte einen Kaffee, Trude“, forderte ich meine Putzsekretärin auf. „Sie trinken doch Kaffee? Meine Mitarbeiterin ist berühmt für ihren Wachmacher." „Ich glaube, den kann ich jetzt vertragen“, spannte mich der Mann auf die Folter.

„Ich komme direkt von der Polizei“, begann er immer noch ziemlich aufgeregt. „Vielleicht haben Sie ja von dem Tod meines Lebensgefährten gehört. Ronny starb vorgestern, während einer Vorstellung, direkt auf der Theaterbühne.“ „Ich habe es nicht nur gehört, ich habe es gesehen“, erklärte ich Malte Klarin. „Zunächst möchte ich Ihnen mein tief empfundenes Mitgefühl ausdrücken. Meine Frau und ich waren vom Tod Ihres Lebensgefährten mehr als betroffen.“ „Danke.“

Trude brachte den Kaffee im richtigen Moment. Stellen Sie bitte bis auf Weiteres keine Anrufe durch“, wies ich die gute Seele an. Nachdem mein potentieller Auftraggeber an der Tasse genippt hatte, fuhr er mit seiner Einlassung fort.

„Ich bin hier, weil mir eine Frau mit Kind Ihre Karte gab.“ Obwohl es sicherlich Millionen Frauen mit Kind gibt, konnte mein Gegenüber nur von Miriam sprechen. „Ich traf die Frau vor dem Büro dieses Kommissars.“ „Sinner“, kombinierte ich. „Ja genau, so heißt dieser Crétin“, schimpfte Malte Klarin angefressen. „Dieser Kommissar ist der Ansicht, Ronny hätte sich das Leben genommen, weil er sich mit HIV infiziert hat. Das ist absoluter Blödsinn!“ „Was macht Sie so sicher, dass es nicht so ist?“, hakte ich nach. Mein Gegenüber holte tief Luft. „Die Krankheit war noch gar nicht zum Ausbruch gekommen.“

Ich kannte Oberkommissar Sinner lange genug, um zu wissen, dass er einen Suizid nicht ohne Weiteres für gegeben hält. „Es muss ein entscheidendes Indiz für die Auffassung des Kommissars geben“, erklärte ich. „Wie kommt er denn zu diesem Schluss?“ „Es gibt einen Abschiedsbrief, in dem Ronny davon spricht, sich ein qualvolles Ende ersparen zu wollen und dass er würdevoll gehen möchte, ehe er mir zur Last fällt.“

Damit gab es ein sehr starkes Indiz für einen Freitod. Es war klar, dass der Oberkommissar solche Zeilen nicht unberücksichtigt lassen konnte. „Er hat diesen Brief nicht ernst gemeint“, rechtfertigte Malte Klarin seine Zweifel. „Ronny hat öfter mal so einen Blödsinn gemacht.“ In meinem Gesicht zeichnete sich ein Fragezeichen ab. „Ja, ja, ich weiß, was Sie jetzt denken, aber Ronny hatte da so einen Tick. Er hat sehr an seiner Oma gehangen. Die hat ihn quasi mit großgezogen. Na jedenfalls war sie eines Tages tot, als er aus der Schule nach Hause kam. Er hat wohl sehr darunter gelitten, dass sie einfach so aus seinem Leben gegangen war, ohne ihm auch nur eine einzige Zeile hinterlassen zu haben.“ „Ich verstehe.“

In diesem Augenblick war ich froh, ebenfalls eine Tasse Kaffee vor mir zu sehen. Ich nahm erst einmal einen Schluck und überlegte, wie ich mit der Situation umgehen sollte. „Hat Ihnen der Oberkommissar erklärt, wie sich Ihr Lebensgefährte das Leben genommen haben soll?“ „Er hat sich offenbar mit einem Schlangengift umgebracht.“ Ich horchte auf. „Schlangengift?“, wiederholte ich ungläubig. „Hat der Kommissar gesagt, um welches es sich handelt?“ „Tai…, Tai…“, überlegte Klarin. „Taipoxin?“ „Ja genau, das war´s.“ „Das Gift der gefährlichsten Schlange überhaupt“, erinnerte ich mich.

„Wie kam Ronny Schubal an ein solches Gift?“ „Das fragte der Kommissar auch“, räumte mein Gegenüber ein. „Und, was haben Sie ihm geantwortet?“ Klarin stand die Ratlosigkeit ins Gesicht geschrieben. Er zuckte mit den Achseln und seufzte geräuschvoll. „Nichts. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sich Ronny dieses Zeug auf irgendwelchen dunklen Wegen beschafft hat. Er wüsste gar nicht, wie er es anstellen sollte.“ „Besaß Ihr Lebensgefährte ein Laptop?“ „Ronny erledigte einfach alles über sein Handy. Was anderes brauchte er nicht. Übrigens erkundigte sich dieser Sinner auch schon danach.“

Zumindest schien der Oberkommissar seinen Job ordentlich zu machen. „Er hat mir Ronnys Handy und die übrigen Sachen, die von der Polizei sichergestellt worden waren, wieder mitgegeben.“ Malte Klarin griff in die Innentasche seiner Jacke und holte das Handy hervor. „Die Polizei hat es gründlich gecheckt. Eine Bestellung oder einen Emailverkehr, der auf einschlägige Kontakte hindeuten würde, haben sie nicht gefunden.“ „Nicht gerade zufriedenstellend“, befand ich. „Aber dann kann dieser Kommissar doch nicht einfach so behaupten, dass sich Ronny selbst vergiftete.“ „Wenn der Beschaffungsweg bislang im Unklaren liegt, schließt dies den Suizid nicht aus“, musste ich objektiv einräumen.

„Wenn Ronny Andeutungen gemacht hätte, wenn der HIV-Virus ausgebrochen wäre oder wir miteinander Zoff gehabt hätten, müsste ich mich wohl schweren Herzens damit abfinden, aber so…?“ „Ich kann Sie verstehen. Wie sollen Sie loslassen, solange die Frage nach dem Warum ungeklärt ist.“ „Die Frau hatte Recht“, resümierte mein potentieller Auftraggeber. „Welche Frau?“ „Na, die mir Ihre Visitenkarte gab.“ Ich lachte kurz auf. „Wenn ich mich nicht allzu sehr täusche, haben Sie mit meiner Frau gesprochen.“ Ich drehte den Bilderrahmen mit Miriams Foto in seine Richtung. „Stimmt“, bestätigte er knapp. „Meine Frau ist Staatsanwältin“, schob ich die Erklärung nach. „Glauben Sie mir, die weiß, was gut ist.“ „Auf jeden Fall macht sie ausgezeichnete Werbung für Sie.“

„Also gut, wenn Sie wollen, übernehme ich den Fall. Für Sie hieße das, fünfhundert Euro pro Tag plus Spesen. Dafür steht Ihnen dann aber auch die gesamte Power meiner Detektei zur Verfügung. Ferner würde ich alles, was ich möglicherweise an Straftaten aufdecke, an die Polizei weitergeben.“ „Wie lange werden Ihre Ermittlungen dauern?“, erkundigte sich Malte Klarin. „Ich werde Sie jederzeit auf dem aktuellen Stand meiner Ermittlungen halten. So haben Sie die volle Kostenkontrolle. Sobald ich merke, dass meine Ermittlungen ins Leere führen, ziehe ich selbst die Reißleine. Es macht keinen Sinn, wenn ich auf meinen Kosten sitzen bleibe, weil Sie mich nicht mehr bezahlen können.“

Mein Gegenüber nickte mir zu. „Ich finde Ihre offene Art gut. Finden Sie heraus, wer meinen Partner auf dem Gewissen hat.“ „Dann brauche ich jetzt alle Daten des Toten, Bankverbindungen und die Erlaubnis der Einsichtnahme. Soweit er dies nicht mittels seines Handys erledigte, brauche ich sämtliche Aufzeichnungen von ihm. Ein Tagebuch, Notizhefte, einen eventuell vorhanden Terminplaner. All dies könnte mich voranbringen. Besonders wichtig ist ein Foto, auf dem er als Ronny Schubal und ein weiteres, auf dem er als Conni La Busch zu sehen ist.“ „Das sollte kein Problem sein. Ich habe alle Sachen, die er auf die Tournee mitgenommen hat, in meinem Wagen“, erklärte mein Klient. „Ich stelle Ihnen gern alles zur Verfügung.“

5

Wie heißt es so schön? Die Show muss weitergehen. Das dachten sich auch die Verantwortlichen, als sie dem Ensemble des Moulin Rouge grünes Licht zum Fortsetzen ihrer Tournee gegeben hatten. Nur gut, dass die nächste Stadt auf dem Spielplan keine zwanzig Kilometer weit von Wolfenbüttel entfernt liegt. Falls die Spielstätte in Braunschweig bis zum spektakulären Tod von Conni La Busch nicht ausverkauft war, so war sie es jetzt. Nachdem die Zeitungen ausführlich davon berichtet hatten, wollten natürlich alle dabei sein.

Für mich war es zunächst einmal wichtig, möglichst viele Eindrücke vom Umfeld des Verstorbenen zu gewinnen. Hierzu gehörten vor allem die Dinge, die nicht an der Oberfläche trieben und die ganz sicher nicht der Polizei erzählt wurden. Hierbei kam es ganz wesentlich darauf an, ob es mir gelang, diese Begebenheiten herauszukitzeln.

Trude hatte herausgefunden, wo das Ensemble für die Dauer ihres Engagements abgestiegen war. Das City Hotel war mir bereits aus vorangegangenen Recherchen bekannt. Dementsprechend wurde ich bei meinem Eintreffen durch die Rezeptionistin begrüßt. „Guten Tag, Herr Lessing, Sie sind doch wohl nicht wieder beruflich hier?“ „Leider doch“, erwiderte ich knapp. Das Ensemble Moulin Rouge hat gestern bei Ihnen eingecheckt. Sie haben sicherlich von dem Tod eines der Travestie Künstler gehört.“ Die Dame am Empfang nickte betroffen. „Schrecklich, wenn sich jemand auf solche Weise das Leben nimmt.“ Sie überlegte. „Oder war es am Ende gar kein Suizid?“

Neu eintreffende Gäste unterbrachen unser Gespräch. Für mich Gelegenheit, eines der in der Hotellobby ausgehängten Plakate genauer unter die Lupe zu nehmen. Offenbar war eine Änderung in der kurzen Zeit nicht möglich gewesen. Conni La Busch war immer noch auf dem Plakat abgebildet. Ein Umstand, der alles andere als glücklich war, den man aber im Hinblick auf die Vorbereitungen, die eine solche Tournee erforderte, als unumgänglich verbuchen musste. Im Grunde würde ich mich viel mehr wundern, wenn die Plakate bereits verändert worden wären.

„Es gibt also Zweifel an einem Selbstmord“, kam Annett Lüders kurze Zeit später auf unser Gespräch zurück. „Denn sonst wären Sie ja wohl nicht hier.“ „Sagen wir mal so, es gibt jemanden, der davon überzeugt ist.“ „Ihr Klient“, kombinierte Annett. Ich nickte zustimmend. „Wie aufregend“, strahlte die niedliche Lady enthusiastisch. „Jetzt ganz ruhig bleiben, Leopold“, versuchte ich meinen Blutdruck im unteren Bereich zu halten. ‚Du bist verheiratet‘.

„Und nun sind Sie hier, weil Sie den Mörder überführen wollen“, hörte ich sie sagen. Ich lachte. „Nun, ganz so einfach wird es nicht sein, aber prinzipiell spricht nichts dagegen.“ „Ich habe die Travestie Künstler vorhin auf der Terrasse gesehen.“ Ich bedankte mich brav und begab mich ins Freie, wo ich zunächst vergebens Ausschau hielt. Ohne ihre Kostüme sehen die Damen nicht anders als mein Nachbar aus.

„Verzeihen Sie die Störung“, sprach ich schließlich einen Herrn an, von dem ich mir sicher war, dass er zum Ensemble gehörte. „Ich suche die Künstler vom Moulin Rouge.“ „Ich bin nur Gast hier“, erwiderte der Mann irritiert. Das war ich angesichts seiner Antwort ebenfalls. Ein gerade vorbeilaufender Kellner brachte Aufklärung.

„Guten Tag, mein Name ist Lessing“, stellte ich mich vor. „Wenn Sie ein Autogramm wollen, müssen Sie heute Abend in die Vorstellung kommen“, entgegnete der Angesprochene. „Ich bin Privatermittler“, stellte ich klar. „Es geht um den Tod von Ronny Schubal. Ich würde Ihnen gern einige Fragen dazu stellen.“ „Was gibt es da noch zu fragen? Sind die Umstände nicht tragisch genug?“ „Nun, aus genau diesem Grund würde ich Sie gern befragen.“ „Die von der Polizei haben bereits alle möglichen Fragen gestellt. Ich wüsste nicht, was ich Ihnen noch sagen sollte.“ „Wie geht es denn nun mit der Tournee weiter“, lenkte ich seine Aufmerksamkeit auf eine Frage, die sich wahrscheinlich jedes Mitglied des Ensembles nach dem Tod ihres Kollegen gestellt hat. „Genauso als wäre Ronny krank. So lange nur einer ausfällt, lässt sich jeder von uns ersetzen.“ „Offen gesagt wundert es mich, dass Sie die Tournee fortführen.“ „The Show must go on. Was glauben Sie wohl, was eine solche Tour kostet? Die Hallen sind weit im Voraus gebucht. Die müssen bezahlt werden, egal ob der Veranstalter das Geld dafür einnimmt oder nicht. Auch wenn es sich für Sie sicherlich unmenschlich anhört, dieses Geschäft ist knallhart und jedem, der sich darauf einlässt, muss klar sein, auf was er sich einlässt.“

„Bleibt Ihre Kunst dabei nicht auf der Strecke?“, machte ich meine Verwunderung über seine Aussage deutlich. Norbert Worms, wie ich später erfuhr, lachte zynisch. „Unter dieser Prämisse haben wir alle mal angefangen. Glauben Sie mir, Herr Lessing, den Idealismus legen Sie hier als erstes ab. Während der eine damit klarkommt, schmeißt der andere irgendwann alles hin.“ „Wie kam Ronny Schubal damit klar?“, hakte ich nach. „Ronny tat sich leider besonders schwer damit. Er reagierte immer dann besonders zickig, wenn er seine Identität als Conni La Busch gefährdet sah.“ „Wie muss ich das verstehen?“ „Seine Rolle war ausgelutscht“, stellte Worms klar. „Aber fragen Sie den Choreographen. Der kann Ihnen mehr dazu sagen.“

„Ronnys Rolle innerhalb des Ensembles war also umstritten“, fasste ich zusammen. „Das ist wohl eher gelinde ausgedrückt. Wenn Sie mich fragen, war es nur noch eine Frage der Zeit, wann man ihn abgesägt hätte.“ Wo immer sich beruflicher Misserfolg einstellt, hat dies Auswirkungen auf die Psyche des Menschen und damit auch auf sein Wesen. Charaktere verändern sich, zeigen die dunklen, bis dato verborgenen Seiten eines Menschen. „Wie kompensierte der Tote die zunehmende Kritik an seiner Rolle?“ „Ich will hier keine Behauptungen aufstellen und schon gar nicht böse nachreden, aber wenn Sie mich fragen, zog er öfter mal eine Linie.“

Ich wurde hellhörig. „Er kokste?“ Worms zuckte mit den Achseln. „Ich persönlich halte ja nichts davon, aber so ein kleiner Gemütsaufheller ist in unserer Branche schon üblich.“ Ich fragte mich, ob davon etwas im Obduktionsbefund zu lesen war. Zumindest hatte mein Klient nichts davon erwähnt. „Dann können Sie mir doch sicherlich auch sagen, wie der Tote an die Drogen gelangte.“ „Bin ich Wikipedia?“, reagierte Worms plötzlich ungewohnt genervt. „Und überhaupt, möchte ich mich jetzt nicht weiter mit ihnen unterhalten. Ich muss mich auf meinen Auftritt vorbereiten.“

Als ich mich nach einem weiteren Gesprächspartner umsah, bemerkte ich einen besonders kleinen und zierlichen Mann, der mir bereits auf der Bühne des Lessing Theaters aufgefallen war. Sein bohrender Blick wollte nicht so recht zu seinem Körper passen. Er hatte offensichtlich dennoch ausgereicht, um Norbert Worms zum Schweigen zu bringen. Da ich in solchen Fällen stets die Konfrontation suche, stellte ich mich dem Herrn vor und bat um einen Platz an seinem Tisch.

„Stellen Sie Ihre Fragen, Herr Lessing und dann lassen Sie meine Jungs in Ruhe“, nahm sich Timo Rettich sehr wichtig. „Sind Sie innerhalb des Ensembles so etwas wie der gute Geist?“, hakte ich daher nach. „Wohl eher wie der Hund des Schäfers, der seine Herde beisammen hält“, entgegnete Rettich grinsend. „Wie ich bereits sagte, ermittle ich wegen des Todes von Ronny Schubal.“ „Ich wüsste nicht, was es da noch zu ermitteln gibt.“ „Mich interessiert beispielsweise der Ablauf hinter den Kulissen. Ich bin jedes Mal fasziniert, wie schnell die Darsteller ihre aufwendigen Kostüme wechseln. Da sich der Tote nach derzeitigem Kenntnisstand vergiftete und er dieses in flüssiger Form oral zu sich nahm, muss der Giftcocktail schon irgendwo bereitgestanden haben.“ Rettich sah mich nachdenklich an. Ich konnte sehen, wie es zwischen seinen Ohren rumorte.

„Er kann das Gift doch schon vor dem Beginn der Show geschluckt haben“, überlegte er auffällig lange. „Nein, das kann er deshalb nicht, weil das verwendete Gift innerhalb weniger Minuten wirkt. Herr Schubal muss die Einnahme schon genau taxiert haben.“ „Vorausgesetzt, Ronny wollte sich tatsächlich ein letztes Mal auf der Bühne in Szene setzen und noch einmal einen ganz großen Abgang haben.“ „Trauen Sie ihm das zu?“ „Guter Mann, im Showbusiness sind alle Selbstdarsteller. Abgesehen davon habe ich gehört, dass Ronny HIV infiziert war. Da liegt es doch nahe, dass man nicht auf das Ende wartet.“

„Besteht die Möglichkeit, mir den Ablauf einer Show hinter den Kulissen ansehen?“, wechselte ich meine Taktik. „Da bin ich leider nicht der richtige Ansprechpartner, aber kommen Sie doch heute Abend zur Stadthalle. Ich will sehen, was ich für Sie arrangieren kann.“ „Das ist ein Wort“, freute ich mich wirklich. „Am besten sind Sie etwa eine Stunde vor Beginn der Vorstellung da.“ „Ich werde pünktlich sein.“

6

„Sag mal Schatz, kann es sein, dass du meine Visitenkarte an den Lebensgefährten von Conni La Busch weitergegeben hast?“, erkundigte ich mich bei Miriam. „Ich wusste nicht, dass es sich bei dem Herrn um den Lebensgefährten handelte. Mir war allerdings sofort klar, dass sich der Ärmste nicht mit dem zufrieden geben konnte, was ihm Sinner zu diesem Fall mitteilen würde.“ Ich sah meine Liebste durchdringend an. „Sag mal, kann es sein, dass du mit Sinners Auskunft ebenso unzufrieden warst?“ Miriam lächelte zurück. „Ich war nicht unzufrieden, ich habe mich über seine Arroganz so sehr geärgert, dass mein Blutdruck mit mir Achterbahn fuhr.“

„Wie dem auch sei, kurz darauf saß Malte Klarin in meinem Büro und bat mich in der Sache zu recherchieren. Er glaubt nicht an einen Suizid.“ „Was sagt er denn zu dem Abschiedsbrief?“, hakte Miriam nach. „Er tat ihn als eine Art Tick seines Partners ab.“ Miriam sah mich forschend an. „Eine Begebenheit in seiner Kindheit“, fasste ich mich kurz. „Es muss eine Möglichkeit geben, irgendwie an das Obduktionsergebnis zu gelangen.“ Meine Liebste zog dieses gefährliche Lächeln auf, welches sie immer dann zeigte, wenn sie jemanden durchschaut hatte.

„Es ist mir klar, dass ich deine Position ausnutze“, ging ich in die Offensive. „Glaube mir, Schatz, wenn es eine andere Möglichkeit gäbe, dann würde ich dich ganz sicher nicht um diese Gefälligkeit bitten.“ Miriams Mine hellte auf. Sie sah mich nun eher mitfühlend an. Natürlich wusste sie ganz genau, dass ich keine andere Wahl hatte. Im Hinblick auf den Umstand, dass Ronny Schubals Leichnam in der Rechtsmedizin Hannover obduziert worden war, waren mir schlicht die Verbindungen ausgegangen. Ich hatte das Gefühl, dass sie die Situation genau deswegen bis zum Anschlag auskosten würde. „Aber Schatz, du weißt doch, wie gern ich dir helfe.“ Ich glaubte meinen Ohren nicht zu trauen.

„Dann bist du mir gar nicht böse?“ „Aber nein, als Eheleute müssen wir doch füreinander einstehen und uns gegenseitig unterstützen, oder nicht?“ Mit dieser Feststellung brachen goldene Zeiten für mich an. Die Frage war nur, ob sich diese gegenseitige Unterstützung nur auf die Fälle beschränkte, in denen wir gleicher Meinung waren. „Ich habe den Bericht nur überflogen, weil mir Sinner im Nacken saß, aber wenn ich Schubert um eine Kopie bitte, wird er mir diese sicherlich zukommen lassen.“

„Vielleicht sollte Schubert und nicht Sinner zum Hauptkommissar befördert werden", „Das ist leider nicht möglich, aber zumindest wird Sinner so lange bleiben, was er ist, wie ihm das Verständnis für das Außergewöhnliche abgeht.“ „So lange er auf Teufel komm raus an seinen Einschätzungen festhält, obwohl alle anderen erkannt haben, dass er in eine Sackgasse geraten ist, wird ihm das letzte Quäntchen zu einem guten Ermittler fehlen.“

„Was hast du nun vor?“, erkundigte sich Miriam. „Ehe ich heute Abend hinter die Kulissen einer Travestie Show gucke, werde ich Ronnys Eltern einen Besuch abstatten. Ich bin gespannt, was die zu Sinners Selbstmordtheorie sagen.“ Miriam horchte auf. „Was hältst du davon, wenn ich dich nach Braunschweig in die Stadthalle begleite?“ „Woher weißt du, dass ich zur Stadthalle fahre?“ Meine Liebste sah mich erhaben an. „Ich kenne den Tourneeplan der Moulin Rouge.“ „Ich weiß zwar nicht, wo du in der kurzen Zeit einen Babysitter hernehmen willst, aber wenn es dir Spaß macht, habe ich natürlich nichts dagegen.“

Da ich wusste, dass unsere standardmäßige Sitterin nicht verfügbar war, konnte ich davon ausgehen, dass sich dieser Wunsch nicht erfüllen würde und ich nicht mit Miriams Begleitung rechnen musste. Folglich konnte ich mich ganz entspannt auf den Weg zu den Eltern des Opfers machen.

Nachdem ich mich den Herrschaften vorgestellt und den Grund für meinen Besuch erläutert hatte, wurde ich in das kleine Siedlungshäuschen gebeten. „Schön haben Sie es hier“, log ich. In Wahrheit schien die Zeit hier stehen geblieben zu sein. Ich kam mir vor, wie in einem Museum aus den frühen Achtzigern. Die Möbel waren derart antiquiert, dass sie schon wieder hip waren. Die Tapeten waren vergilbt und an den Decken klebten Styroporplatten mit eingestanztem Muster, wie ich sie von früher her kannte.

„Ich möchte Ihnen mein aufrichtiges Mitgefühl aussprechen. Der Tod Ihres Sohnes war auch für meine Frau und mich ein Schock.“ „Mein Sohn ist schon vor Jahren gestorben“, entgegnete der alte Herr, während mir seine Ehefrau einen Platz auf dem durchgesessenen Spiralfedersofa anbot. „Sie kannten meinen Sohn?“, horchte Frau Schubal auf. „Das nicht, aber wir waren im Theater, als es passierte.“ „Sie entschuldigen mich bitte, ich habe noch zu tun“, verabschiedete sich der Alte. „Sie dürfen es meinem Mann nicht übelnehmen, er leidet sehr unter dem Tod unseres Sohnes“, flüsterte mir Ronnys Mutter zu. „Und Sie waren wirklich dabei, als mein Junge starb?“ „Ja, das war ich.“ „Musste er sehr leiden?“ „Tja, was soll ich Ihnen sagen? Durch eine Vergiftung zu sterben, ist sicherlich kein schöner Tod, aber ich kann Sie zumindest dahingehend beruhigen, dass es sich bei dem Gift um ein sehr schnell wirkendes handelt.“

Ein Trost war dies sicherlich auch nicht, aber durch eine Lüge schafft man kein Vertrauen und genau dies musste ich gewinnen, wenn ich etwas über das Leben des Verstorbenen herausfinden wollte. Wenn Ronny Schubal tatsächlich ermordet worden war, dann musste es schließlich einen Grund dafür geben.

„Ronny hatte es schon immer schwerer als andere", erklärte seine Mutter. „Das begann bereits in der Schule, als seine Kammeraden bemerkten, dass er anders war als sie. Ronny hatte keine Freunde, war nicht zu bolzen oder in einem Sportverein. Stattdessen machten sie sich über seine sensible Art lustig, hänselten ihn, weil er bei der Wahl seiner Kleidung andere Farben bevorzugte und später, als sie bemerkten, dass sich Ronny nichts aus Mädchen machte, nannten sie ihn nur noch Schwuli.“

„Wie ging Ihr Ehemann mit der Neigung seines Sohnes um?“, erkundigte ich mich. „Gar nicht, Anton schwieg dieses Thema tot. Er gehört zu einer Generation, die Homosexualität nicht thematisiert. Für Anton war sein Sohn krank.“ „Das muss für beide ein mehr als schwieriges Verhältnis gewesen sein“, sinnierte ich. „Anfangs versuchte ich mit meinem Mann darüber zu reden, aber er blockte immer wieder ab, bis ich es schließlich aufgab. Ich glaube, er hat in all den Jahren keine fünf Worte mit Ronny gesprochen.“ „Das ist sehr schlimm“, befand ich nachdenklich. „Schlimm für beide.“ „Nein, Herr Lessing, schlimm für die ganze Familie.“

„Vor ein paar Tagen stand Ronny dann plötzlich in der Tür. „Wir haben in all den Jahren, in denen er nicht mehr zu Hause lebt, zwar immer mal wieder miteinander telefoniert, aber als er plötzlich, ohne jede Vorankündigung, vor mir stand und mich in die Arme nahm, hatte ich das Gefühl, seine Odyssee habe endlich ein Ende gefunden.“ Meine Stirn krauste sich. „Was meinen Sie?“ „Der Mensch, der da vor mir stand, hatte sich selbst gefunden. Er sah schick aus, war sehr gepflegt und wenn ich nicht gewusst hätte, dass mein Junge vor mir steht, wäre nicht der geringste Zweifel in mir aufgekommen, dass es sich um eine attraktive Frau handelte.“

„Ihr Sohn bevorzugte also auch während seiner Freizeit weibliche Garderobe“, schlussfolgerte ich. „Er hatte mir von seinem Beruf geschrieben und ich habe seine Tourneen heimlich verfolgt. Ich wusste, dass er in Wolfenbüttel gastierte und ich habe wirklich darüber nachgedacht, ob ich mir die Show ansehe. Erst recht als mir Ronny eine Freikarte mitbrachte.“ „Moment“, horchte ich auf. „Sprachen Sie mit Ihrem Sohn über die Möglichkeit, an der Vorstellung teilzunehmen?“ „Ja sicher, er machte mir ja den Vorschlag diese zusammen mit meinem Mann zu besuchen“, erklärte Frau Schubal. „Er ließ mir die Karten sogar hier, falls ich seinen Vater doch noch überzeugen konnte.“

Damit war für mich klar, dass sich Ronny nicht das Leben nahm. „Ihr Sohn begeht doch keinen Suizid, wenn die Möglichkeit besteht, dass Sie und möglicherweise Ihr Mann im Publikum sitzen“, überlegte ich kopfschüttelnd. „Das sagte ich dem Kommissar auch“, bekundete Frau Schubal. „Aber der ließ ja nicht mit sich reden.“ „Ronny besuchte Sie also, um einen Neuanfang mit seinem Vater in die Wege zu leiten“, überlegte ich. „So war mein Eindruck“, bestätigte die Mutter des Verstorbenen. „Ihr Ehemann zeigte sich jedoch uneinsichtig“, kombinierte ich. „Anton war gar nicht zu Hause. Insofern war alles beim Alten, als Ronny ging.“

Frau Schubal griff sich unvermittelt an die Stirn und erhob sich. „Warten Sie, Herr Lessing, fast hätte ich es vergessen. Ronny gab mir noch eine Tasche, bevor er ging.“ Ich stutzte. „Ich hole sie eben.“ Kurz darauf kehrte sie mit einer Sporttasche zurück. „Mein Sohn bat mich, das Gepäckstück für ihn aufzubewahren. Ich hatte die Tasche vollkommen vergessen.“ „Wissen Sie, was sich darin befindet?“ „Nein, Ronny sagte nichts und ich habe nicht hineingesehen, aber schauen Sie doch bitte mal nach.“ Ich öffnete den Reißverschluss und tat, zu was ich gebeten wurde. „Das glauben Sie nicht“, sah ich überrascht auf. „Die Tasche ist voller Geld.“

Frau Schubal sah mich ungläubig an. „Was meinen Sie?“ Ich hielt ihr die Tasche entgegen. „Sehen Sie selbst.“ Sie griff hinein und nahm eines der Bündel heraus. Sie konnte nicht fassen, was sie sah. „Wo hat Ronny so viel Geld her?“, fragte sie mich schließlich. Eine Frage, auf die ich noch viel weniger eine Antwort wusste als sie selbst. „Wieviel Geld mag das sein?“, sah sie erneut in die Tasche. „Zählen wir es, dann wissen wir es“, entgegnete ich, während ich das ganze Geld auf den Tisch kippte.

Nach einer Weile war klar, dass es sich um eine runde Million handelte. „Das kann doch nicht Ronnys Geld sein“, teilte Frau Schubal meine Befürchtung. „Ob er wohl deswegen vergiftet wurde?“ „Wir sollten nicht den zweiten Schritt vor dem ersten gehen.“ „Ich will dieses Geld nicht in meinem Haus haben. Nehmen Sie es bitte mit.“ Ich war überrascht. „Wie stellen Sie sich das vor? Ich kann das Geld doch nicht einfach…“ „Bitte, Herr Lessing, nehmen Sie es an sich. Von mir aus bringen Sie es zur Polizei oder geben Sie es dem Eigentümer zurück.“ „Dazu müsste ich erst einmal herausfinden, wem das Geld gehört“, gab ich zu bedenken. „Mir ist alles recht, aber nehmen Sie die Tasche bitte mit. Dieses Geld ist sicher der Grund für den Tod meines Sohnes.“

Letztlich ließ ich mich von Frau Schubal überzeugen. Ich stellte ihr eine Quittung aus und nahm das Geld an mich. Bevor ich die Tasche zur Polizei brachte, wollte ich herausfinden, woher das Geld stammte. Dass es sich dabei nicht um das Geld des Ermordeten handelte, lag auf der Hand. Wahrscheinlich hatte es sogar mit seinem Tod zu tun. Ich beschloss daher zunächst, weder dem Oberkommissar noch meinem Auftraggeber etwas von dem Geld zu sagen.