Sternschnuppe

 

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„Hey Mum, was gibt es heute Mittag zu essen?“ „Ach Steffi, musst du denn immer ans Essen denken? Ich bin noch gar nicht zum Kochen gekommen. Bis eben habe ich mit deinem Bruder beim Kinderarzt gesessen.“ „Was ist denn mit ihm?“, fragte ich besorgt. „Er ist betrunken“, sagte Mutter kleinlaut. „Was ist er?“, In der Annahme mich verhört zu haben, wollte ich meine Frage wiederholen. Doch Mutter fiel mir ins Wort und schluchzte: „Wie oft habe ich deinen Vater gebeten, seine Whiskyflasche abends nicht auf dem Wohnzimmertisch stehen zu lassen. Es musste ja dazu kommen. Gottlob bin ich gerade noch rechtzeitig hinzugekommen. Doktor Lochte meinte, er habe zwar einen hübschen Rausch, eine Vergiftung sei es aber glücklicherweise noch nicht. Er sei eben wie sein Vater. Kenner eines guten schottischen Whiskys. Dicke Tränen rollten ihr über das Gesicht. Ehrlich gesagt, musste ich mir ein gewisses Schmunzeln schon verkneifen. Aber dann musste ich an den armen Paul denken und daran, dass es ihm nun sicher nicht so gut ging. „Wo ist er denn jetzt?“, wollte ich wissen. „Im Bett“, entgegnete sie mir, immer noch um Fassung ringend.

Mit seinen 3 Jahren hatte Brüderchen Paul, das Nesthäkchen der Familie, schon mehr Böcke geschossen, als ich mit meinen 16 Jahren. Aber dies stellte alles bisher da gewesene bei weitem in den Schatten. Ich erledigte in Windeseile meine Hausaufgaben. Als ich einige Zeit später sein Zimmer betrat, um nach ihm zu sehen, schlug mir das kräftige Aroma von Vaters zwölfjährigem Seligmacher, den ich ihm schon einige Male servieren durfte, entgegen. Der Übeltäter schlummerte, von alledem unbeeindruckt, den Schlaf des unschuldigen Kindes.

Als ich auf die Terrasse zurückkehrte, hatte sich Mutter wieder halbwegs beruhigt. „Ich habe uns schnell eine Pizza in den Ofen geschoben“, sagte sie und wartete auf meine Zustimmung. Mein knurrender Magen antwortete ihr mit dem nächsten Atemzug. „Ich muss nachher unbedingt zu Iris ins Atelier. Du bist sicher so lieb und passt so lange auf Paul auf.“ „Aber Mum!“, rief ich entsetzt. „Hast du denn vergessen, dass ich heute mein erstes Training habe?“, Vorwurfsvoll blickte ich auf sie herab. „Beim ersten Mal darfst du natürlich auf keinen Fall fehlen. Da muss ich Iris halt absagen.“ Wohlweislich hatte ich mich bereits auf einen längeren Kampf eingestellt. Umso mehr verblüffte mich ihr schnelles Einlenken. Wahrscheinlich war ihre Sorge um Paul der ausschlaggebende Faktor. Denn der Gedanke, nicht bei ihrem kleinen Liebling sein zu können, wenn er seine getrübten Äuglein auftut und nach seiner Muma verlangt, wäre ihr sicher unerträglich gewesen. Was immer auch dazu beigetragen hatte, es war mir egal. Erleichtert nahm ich sie in meine Arme und sah dabei, wie dunkle Rauchwolken aus dem geöffneten Küchenfenster nach draußen drangen. „Mum, die Pizzen!“, rief ich und stürmte in die Küche. Doch da gab es nichts mehr zu retten. Mutter hatte den Herd auf volle Leistung gestellt. Überall roch es verbrannt. Dicker, beißender Qualm schwebte durch alle Räume. Ich schnappte mir meine Sporttasche, die ich schon am Morgen gepackt und an der Flurgarderobe bereitgestellt hatte. „Tschüs, ich muss los!“, rief ich und jagte an Mum vorbei. Mit einem schlechten Gewissen versteht sich, weil ich sie in dem Chaos allein zurückließ. Ich stieg auf mein Mofa und fuhr davon.

An der Pommesbude in der Stadt hielt ich schließlich an. Irgendetwas brauchte ich jetzt zu essen. Mit einem Schälchen Pommes und einer Cola setzte ich mich auf eine der dort stehenden Parkbänke und schaute etwas bedröppelt auf das sich im Ententeich spiegelnde Wasser der Augustsonne. „Na, du bekommst wohl zu Hause nicht genug zu essen“, lästerte plötzlich die arrogante Stimme einer lieben Mitschülerin. Ausgerechnet die blöde Marie mit ihren zwei zickigen Freundinnen musste hier vorbeikommen. „Wenn du so viel futterst, musst du aufpassen, dass du nicht noch einen Meter länger wirst“, keifte sie und zog mit den anderen grölend weiter. Ich hatte mir schon vor einiger Zeit abgewöhnt, auf derartige Sprüche zu antworten. Denn damit hätte ich ihnen nur Nahrung für noch dümmere Anmache geliefert. Also hörte ich einfach nicht hin und ignorierte sie. Auch wenn es manchmal verdammt schwer fiel. Etwas sauer war ich schon, als ich mein Mofa bestieg, um die Fahrt fortzusetzen. Aber auf dem weiten Weg zur Sporthalle, am anderen Ende der Stadt, hatte ich genügend Zeit, mich wieder abzukühlen. Je näher ich meinem Ziel kam, desto mehr freute ich mich auf meine neue Aufgabe. Etwas flau war mir schon im Magen und das kam sicher nicht von den viel zu fettigen Pommes. Bestimmt würde es auch den anderen, die heute ihr erstes Training absolvierten, ähnlich gehen, versuchte ich meine Aufregung in den Griff zu bekommen. Was aber, wenn die anderen Mädchen schon viel besser spielen konnten als ich? Schließlich kannte ich Basketball nur aus dem Sportunterricht in der Schule. Aber da war ich unumstritten die Beste in meiner Klasse. Mit dieser aus meiner Sicht objektiven Selbsteinschätzung fasste ich gerade noch rechtzeitig genügend Mut, um mein Mofa auf den Parkplatz des Sportzentrums zu lenken.

Ich war schon oft mit Paul und den Eltern im Auto hier vorbeigefahren, aber zum ersten Mal betrat ich nun dieses Gebäude. Gut, dass ich noch etwas zu früh war, so hatte ich noch Zeit, mir alles anzuschauen und mir auf dem Hallenplan den Weg zu den Kabinen einzuprägen. Ich fand sie auf Anhieb. Doch anders als erwartet, war ich nicht die Erste. Schon fix und fertig umgezogen, hockte ein mir unbekanntes Mädchen auf einer der Holzbänke und las angestrengt in einem Buch. Als ich den Raum betrat und ihr, fast etwas erschrocken, ein freundliches: „Hallo“, entgegenwarf, blickte sie kurz auf, murmelte etwas Unverständliches zurück und las weiter. Das fängt ja gut an, dachte ich und schleuderte, um möglichst cool zu wirken, meine Sporttasche eine Idee zu flott auf die Bank neben ihr. Leider hatte ich nicht an die beiden Trinkpappen in ihrem Inneren gedacht. Erst als ich meine von Orangensaft triefenden Sportschuhe herauszog, bemerkte ich die Katastrophe. Nur gut, dass ich die Wäsche in der anderen Innentasche verstaut hatte. Was aber sollte ich bloß mit den total klebrigen Schuhen machen? Vor allem aber war die Sache peinlich. Meine Nachbarin grinste, sich schadenfroh hinter ihrem Buch versteckend, über das ganze Gesicht. Am liebsten wäre ich im Erdboden versunken. Aber was sagt Paps in solchen Situationen immer zu mir? „Dumm kannst du ruhig sein, du musst dir nur zu helfen wissen.“ Also schnappte ich mir meine Treter und hielt sie im Waschraum unter die Wasserleitung. Anschließend versuchte ich sie unter dem Händetrockner wieder trocken zu bekommen. Ich bemerkte nicht, wie sich während meiner Bemühungen der Umkleideraum mehr und mehr füllte. Als wäre nichts Besonderes geschehen, ging ich, mit immer noch etwas feuchten Schuhen, an den mich verdutzt anstarrenden Gesichtern cool vorbei, an meine Tasche und wischte sie mit Papiertüchern trocken. Nun war ich wirklich cool. Was konnte jetzt auch noch passieren? „Ich bin Bianca“, sagte das Mädchen neben mir. Sie hatte das Buch an die Seite gelegt und streckte mir ihre Hand entgegen. „Erfreut, dich kennen zu lernen. Bist du immer so spaßig?“, fragte sie mich verschmitzt. Ich schaute verlegen auf den Boden. Aber als mein Blick auf die feuchten Sportschuhe fiel, brach ich in lautes Gelächter aus. Auch Bianca, die wohl den gleichen Gedanken hatte, fing an mit zu lachen. Verständnislos schauten die anderen fragend zu uns herüber. Aber Bianca und ich konnten einfach nicht aufhören.

Dann ging die Tür zur Halle auf und eine Frau forderte uns auf, ihr zu folgen. Wenige Augenblicke später stellte sie sich als unsere Trainerin vor. „Mein Name ist Wolter. Wenn Ihr es wollt, mache ich eine gute Mannschaft aus euch. Merkt euch von Anfang an, mein Wort ist Gesetz! Ihr wisst, dass Ihr die erste Damenmannschaft seid, die der Verein ins Leben ruft. Man wird uns also ganz besonders im Auge behalten. Ich verspreche euch Mädels, es wird hart! Also macht das Beste draus.“ Der letzte Teil ihrer kurzen Rede sollte unser Schlachtruf werden. Als wir uns schließlich der Größe nach in einer Reihe aufgestellt hatten, war ich zwar immer noch die Längste, aber wenigstens der Abstand zu den anderen hatte sich verringert. Endlich brachte mir meine Körpergröße mal einen Vorteil. Ich bekam die äußerst wichtige Position der Centerin. Das Training sollte an zwei Nachmittagen in der Woche stattfinden. An einem dieser Tage sollte speziell die Technik geschult und am anderen an der Kondition gearbeitet werden. Natürlich waren gleich heute die Ausdauerübungen an der Reihe.

Als wir nach dem Training im Waschraum unter den Duschen standen, waren der Übermut und der Enthusiasmus aus den Gesichtern der Mädchen verschwunden. Stattdessen wurde über Schmerzen und abgebrochene Fingernägel geklagt. Mir taten vor allem die Füße weh. Beim Marathon, es war mindestens einer, hatte ich mir in meinen feuchten Sportschuhen an jedem Fuß mindestens zwei Blasen gelaufen. Die eine oder andere Unmutsbekundung wegen des harten Trainings wurde ausgesprochen. Zwei der Mädchen wollten sogar schon wieder aufhören. Zugegeben, uns gleich am ersten Tag derart hart ran zu nehmen, erschien auch mir etwas überzogen. Aber ich war mir sicher, dass man damit schon am Anfang die Weicheier aussondern wollte. Da ich die beiden sowieso nicht mochte, behielt ich meine Weisheit für mich. Mit allen anderen verstand ich mich recht gut. Ganz besonders aber mit Bianca. Wir hatten uns gleich für den nächsten Nachmittag bei ihr zu Hause verabredet. Sie wartete sogar in der Umkleide, bis ich fertig war. „Tschüss bis Dienstag!“, riefen wir den übrigen Mädchen zu, als wir gemeinsam in den Hallengang hinaustraten. Die ganze Zeit über war Bianca ruhig geblieben, hatte sich nicht wegen des Trainings zu Wort gemeldet. Doch nun wollte ich auch endlich ihre Meinung hören. „Bist du auch der Ansicht, dass das Training zu hart war?“ „Aber nein, was glaubst du denn, das war doch erst der Anfang. Nächstes Mal geht es sicher erst richtig los!“ Völlig entgeistert starrte ich sie an. „Meinst du wirklich?“ Sie blieb ruckartig stehen, hielt auch mich an der Schulter zurück, verdrehte die Augen, so dass schon das Weiße darin zu sehen war und ließ sich in meine Arme sinken. Dabei säuselte sie bühnenreif: „Steffi halt mich, ich glaub, ich muss sterben!“ Im ersten Augenblick wusste ich nicht, wie mir geschah. Doch dann wurde mir klar, dass sie mich die ganze Zeit nur hochgenommen hatte. Immer noch von mir gestützt, kicherte sie dreist und freute sich diebisch über den geglückten Streich. Im selben Moment öffnete ich die Hände, mit denen ich Bianca bis zu diesem Moment gehalten hatte und sie plumpste mit dem Gesäß voran auf den mit Linoleum belegten Boden des Ganges. „Du Biest!“, rief ich. „Bei dir ist man wohl vor Überraschungen nie sicher?“ Langsam hatte sie sich wieder aufgerappelt und fragte: „Wäre es dir lieber, wenn ich in das Gequatsche der anderen eingestimmt hätte?“ „Nein“, antwortete ich, „eigentlich nicht.“ „Na siehst du. Ich bin halt, wie ich bin. Wer mich nicht mag, soll es mir lieber gleich sagen. Ist das für dich okay?“, Endlich hatte ich jemanden kennen gelernt, der genauso war wie Paps und ich. „Es ist okay. Morgen Nachmittag um 4 Uhr bin ich bei dir.“ Ich drückte die schwere Eingangstür mit ganzer Kraft auf und stellte entsetzt fest, dass es geregnet hatte. Mofa und Helm waren pitschnass. Nur gut, dass ich ein Badetuch dabei hatte. Trocken war das zwar auch nicht mehr, aber so konnte ich wenigstens die Sitzbank etwas abreiben. Längst hatte auch Bianca ihr Tuch aus dem Rucksack geholt und sich meinen Helm vorgenommen. Obwohl wir uns erst wenige Stunden kannten, verstanden wir uns schon super. Ein Blick auf meine Armbanduhr mahnte mich zur Eile. Ich war bereits überfällig. Paps legte stets großen Wert auf ein gemeinsames Abendessen. Wenn ich da nicht pünktlich war, konnte er richtig sauer werden. Das war dann zwar nie für lange, aber ich wollte nicht, dass er sauer auf mich war. Dafür hatte ich ihn viel zu lieb. Ich bedankte mich bei Bianca, setzte den Helm auf und startete das Mofa. „Bis morgen dann um vier“, rief ich durch das Visier, bestieg meinen Feuerstuhl und raste mit annähernd 25 Stundenkilometern davon.

Etwa 15 Minuten zu spät trudelte ich zu Hause ein. Der beißende Qualm der verbrannten Pizzen hatte sich verzogen. Dafür herrschte nun eine andere Art dicker Luft in der Küche. Ich ergriff sogleich die Initiative. „Hallo Paps, es tut mir Leid, dass ich ein wenig zu spät komme, aber eher werde ich es auch in Zukunft nicht schaffen, wenn ich Training habe. Ich habe mich sehr beeilt. Könnten wir an diesen Tagen nicht ein wenig später essen?“ „Wenn es so ist, wie du sagst, sehe ich kein Problem in einer Änderung“, entgegnete er mir und fügte hinzu: „Vorausgesetzt deine Mutter ist damit einverstanden.“ Oh je, dieser Satz sagte alles. Ich hatte die Lage völlig falsch gedeutet. Nicht ich war hier die Ursache für schlechte Luft. Vater und Mutter hatten sich gezofft. Dann fiel mir die Whiskyflasche wieder ein und der Zorn der Cassandra war begründet. Normalerweise hätte ich jetzt nach Paul gefragt, aber warum unnütz Benzin ins Feuer gießen, wo es noch so schön brannte? Ich nahm mir vor, nach dem Essen selbst nach ihm zu sehen. Nach einigen Minuten allseitigen Schweigens durchbrach Paps die Mauer und fragte nach dem Training und ob es mir gefallen hatte. Ich erzählte ihm begeistert von Bianca und log ihm vor, wie klasse die Ausdauerübungen gewesen waren. Selbst Mutter heuchelte plötzlich großes Interesse. Wo sie doch sonst solche Betätigungen als undamenhaft stets ablehnte. Für Mutter war einfach alles, was auch nur im Entferntesten mit Sport zu tun hatte, ein Gräuel. Gott allein weiß, wie sie es trotz ihrer Eßgewohnheiten schaffte, Figur zu bewahren. Eine sportliche Frisur war alles, was auf körperliche Bewegung hindeutete. Paps dagegen joggte regelmäßig noch vor dem Frühstück, weil Mum jeden Morgen frische Brötchen wollte. Als Produktmanager konnte er sich seine Arbeitszeit einteilen. Manchmal arbeitete er mit seinem Computer auch von zu Hause aus. Auch ihn hatte ich bereits um einige Zentimeter überwachsen. Manchmal kam es mir so vor, als sei ihm dieser Umstand etwas peinlich. Zwar versuchte er, es sich nicht anmerken zu lassen, aber ich kannte ihn besser, als er es dachte. Nachdem ich Mum beim Abräumen des Esstisches geholfen hatte und der Geschirrspüler munter vor sich hin klapperte, schaute ich auf dem Weg in mein Zimmer noch ganz leise bei Paul hinein. Er schlief inzwischen schon mehr als sieben Stunden. Die Alkoholfahne hatte sich mittlerweile aus seinem Zimmer verflüchtigt und er machte ein recht zufriedenes Gesicht. Das Babyfon auf seinem Nachttisch war eingeschaltet. Ich war sicher, dass Mum die ganze Nacht mit dem Ohr am Empfänger schlafen würde. Morgen war bestimmt alles vergessen.

In meinem Zimmer sah es mal wieder lustig aus. Ständig nahm ich mir vor, alles besser zu organisieren. Denn nur so, da war ich fest überzeugt, könne man der Flut von Müll und unnutzem Krimskrams Herr werden. Doch ständig blieb es bei guten Vorsätzen und theoretischer Organisation. Nachdem ich mich geschickt durch das Chaos auf dem Fußboden hindurch balanciert hatte, ließ ich mich völlig geschafft rücklings in mein Bett fallen. Dutzende Kuscheltiere, mit denen ich mein Bett teilte, hüpften daraufhin vor Freude auf und purzelten wild durcheinander. Doch ebenso schnell wie ich in die Kissen gesunken war, war ich auch wieder aus ihnen hoch geschreckt. Eines von Pauls gusseisernen Truckerautos hatte sich mir in den Rücken gebohrt. Ein schriller Schrei und ein schmerzverzerrtes Gesicht waren neben einem riesigen blauen Fleck gottlob alles, was ich davontrug. Der Schmerz ließ bald nach, aber der Bluterguss schimmerte noch Tage danach in den herrlichsten Farben. Ich nahm mir vor, mein Reich in Zukunft abzuschließen. Damit wollte ich die Sache dieses Mal auf sich beruhen lassen. Dem Wohnzimmer blieb ich angesichts der angespannten Atmosphäre und meiner größer werdenden Müdigkeit fern. Eines wusste ich jedoch trotz meiner Abwesenheit ganz genau, an diesem Abend wurde im Hause Baumann vor dem Zubettgehen kein Alkohol getrunken.

 

Am nächsten Morgen war alles wieder so wie immer. Paps hatte seinen Morgenlauf bereits absolviert und blockierte die Dusche. Wie immer musste ich also meine Morgentoilette mit dem Zähneputzen beginnen. Als ich mich endlich mal wieder als Letzte an den Frühstückstisch setzte, hatte Paps, wie üblich, bereits die Zeitung vor der Nase und fingerte vorsichtig nach seiner Tasse Kaffee. Paul löffelte in seinen Cornflakes herum und Mum versorgte uns alle mit dem Gewünschten. Abgesehen von der idyllischen Ruhe, war alles so, als hätte es nie einen Streit gegeben. Ist es euch recht, wenn ich heute Nachmittag meine neue Freundin besuche?“, fragte ich vorsichtig. „Du weißt, dass ich schon gestern zu Iris ins Atelier wollte. Wann hattet ihr euch denn verabredet?“ „Um 16 Uhr.“ „Wenn du nach dem Essen auf Paul aufpasst, will ich versuchen, rechtzeitig wieder hier zu sein.“ Bei soviel Edelmut legte sogar Paps seine Zeitung beiseite und erkundigte sich nach Bianca. Doch viel konnte ich ihm nicht mehr von ihr erzählen. Denn morgens war meine Zeit immer knapp bemessen. Da musste ich meistens sowieso schon laufen, um den Schulbus noch zu bekommen. Hatte ich ihn dann erreicht, war es längst nicht sicher, auch darin mitgenommen zu werden. Wie Ölsardinen, eingepfercht auf engstem Raum, stand eine Heerschar von mehr oder weniger Lernwilligen und drohte in jeder Kurve umzukippen. Hatte man diese Tortur halbwegs unbeschadet überstanden, begann das eigentliche Martyrium, die Schule.

Ich hasste sie und alle Mitschüler, die mich tagtäglich in ihr traktierten. Aber anstatt klein beizugeben, trotzte ich ihnen. Stand wie ein Fels in der Brandung. Freundinnen oder nette Klassenkameraden waren in der letzten Zeit Fehlanzeige. Aber genau das wollte ich heute Nachmittag ändern. Sicher, Bianca war nicht mein erster Versuch, mit jemandem eine Freundschaft aufzubauen, aber bei ihr hatte ich irgendwie ein gutes Gefühl.

Aber noch etwas anderes machte mir an diesem Morgen zu schaffen. Jeder einzelne Muskel schmerzte. Jedes Gelenk tat mir vom Konditionstraining weh. Ich hatte einen ordentlichen Muskelkater. Natürlich wollte ich mir nichts anmerken lassen, niemandem davon erzählen, denn ich hasste Warmduscher. Endlich wieder zu Hause, cremte ich mich von Kopf bis Fuß ein. Ich roch wie eine Arztpraxis, aber die ersehnte Linderung blieb aus. Ab 15 Uhr saß ich dann wie auf heißen Kohlen. Ständig schaute ich auf die Wohnzimmeruhr und hoffte, dass Mum ihr Wort hielt und pünktlich war. Dann war es soweit! Der große Zeiger sprang auf halb vier Nun hätte ich eigentlich los gemusst. Aber die Tür blieb zu. Enttäuschung stand mir im Gesicht. Plötzlich klingelte das Telefon. „Hey Mum, wo bleibst du denn?“, fragte ich sie beschwörend. „Tut mir Leid Kleines, ich schaffe es nicht. Es wird noch einige Zeit dauern. Sei bitte nicht traurig“, versuchte sie mich zu trösten. „Vielleicht könnt ihr euch für morgen verabreden?“ Total geknickt wollte ich schon das Gespräch beenden, als ein Geistesblitz neuen Lebensmut in mir entfachte. Schnell riss ich den Hörer wieder zurück an mein Ohr und rief: „Mum, bist du noch dran?“ Stille, einen Moment lang banges Warten, dann: „Ja, was ist denn noch?“ „Mum, wie wäre es, wenn ich Paul einfach mitnehmen würde? Dann käme er wenigstens auch noch an die frische Luft“, begründete ich meine Idee und hoffte auf eine positive Reaktion. „Also gut, zieh ihn aber bitte warm an und pass gut auf ihn auf. Spätestens um 7 Uhr seid Ihr wieder zu Hause“, mahnte sie und legte auf. Nun musste ich mich beeilen. Zwar würde ich auf jeden Fall zu spät kommen, aber besser spät als nie, dachte ich und rannte mit Paul zur Bushaltestelle. Das Glück blieb mir treu und wir erreichten gerade noch die richtige Linie. Die Hausmannstraße, in der Bianca wohnte, lag in unmittelbarer Nähe zum Einkaufscenter am Hölderlinplatz. Und den kannte ich gut. Nun musste ich nur noch nach der richtigen Hausnummer suchen und schon waren wir da. Zwar etwas später als verabredet, aber wir hatten es geschafft

Eine große, braun gebrannte Dame mit blondem, sich über die Schultern schlängelndem Haar, öffnete uns die Tür zu einem hübschen, kleinen Reihenhaus mit dem für diese Gegend typischen Vorgarten. „Hallo, du bist sicher Steffi und der kleine Mann dort ist sicher dein Bruder“, schlussfolgerte sie freundlich lächelnd. „Ja“, entgegnete ich. „Genauso ist es.“ „Bianca hat bis vor ein paar Minuten auf dich gewartet. Als sie annahm, dass du nicht mehr kommst, ist sie in das Einkaufscenter gegangen. Ihr müsst euch knapp verfehlt haben. Warum hast du denn nicht angerufen, dass es bei dir später wird?“ „Da bin ich in der Eile überhaupt nicht drauf gekommen. Wollte sie denn nach etwas Bestimmtem gucken?“, fragte ich. Meistens ist sie im Musikladen und hört sich dort die neusten CDs an.“ „Dann finde ich sie sicher“, entgegnete ich ihr, nahm Paul wieder an die Hand und öffnete die kleine Gartenpforte. „Ihr könnt aber auch gerne hier auf Bianca warten“, rief sie uns nach. „Sie wird bestimmt bald wieder nach Hause kommen.“ „Danke, das ist sehr nett von Ihnen, aber so kann ich noch nach einem Geburtstagsgeschenk für meinen Vater schauen.“ Paps hatte bald wieder ein Jahr rum und ich wusste immer noch nicht, was ich ihm schenken sollte. Dies war eine gute Gelegenheit, um in aller Ruhe zu stöbern. Natürlich suchte ich zunächst nach Bianca. Anders als erwartet, sah ich sie zufällig in einem Buchladen. Freudestrahlend umarmten wir uns wie gute alte Freundinnen. „Ich dachte schon, du kommst nicht mehr.“ „Meine Mutter hat mich versetzt. Darum musste ich auch meinen Bruder mitbringen“, erklärte ich ihr. „Ach, der Trinker“, feixte sie und beugte sich zu Paul herab, um ihn zu mustern. „Eigentlich sieht er ganz normal aus“, stellte sie verwundert fest und grinste.

 

„Schön, dass du doch noch gekommen bist. Wollen wir zu mir gehen?“, fragte sie zum Abmarsch bereit. „Ich würde gern noch nach einem Geburtstagsgeschenk für meinen Vater gucken. Allerdings habe ich bisher noch überhaupt keine Idee, was ich ihm kaufen könnte“, klagte ich. „Dann komm, wir werden sicher etwas Passendes finden“, machte sie mir Mut und schon bummelten wir aus dem Laden in den nächsten hinein. Es machte riesigen Spaß, mit Bianca die Geschäfte durchzustöbern. Sich über Herrenunterwäsche lustig zu machen oder fremden Jungen nachzuschauen und sich dann über sie zu amüsieren. Mit einem Mal durchströmte es mich so, als hätte ich einen elektrischen Schlag bekommen. „Wo ist Paul?“, rief ich, mich nach allen Seiten aufgeregt nach ihm umsehend. „Meine Güte, ich habe ihn irgendwo verloren!“ Ich war erschüttert, fassungslos, keines klaren Gedankens mehr fähig. Mutter hatte ihn mir anvertraut und nun irrte er irgendwo schreiend durch das Einkaufscenter und war auf der Suche nach mir oder unserer Mum. Das Herz pochte mir bis an den Hals! Plötzlich tippte mir jemand auf die Schulter. Ich fuhr zusammen und drehte mich ruckartig um. „Hey, bist du nicht die Steffi? Und du bist doch Bianca“, hörte ich eine Stimme wie aus großer Ferne. „Stimmt“, entgegnete ihr Bianca. „Du warst doch gestern auch beim Basketball. Du bist die Conni, stimmt's?“ „Ja genau, schön dass du dich an mich erinnerst.“ Bianca erklärte ihr kurz die Situation und Conni bot sofort ihre Hilfe an

Um an möglichst vielen Stellen gleichzeitig suchen zu können, beschrieb ich ihr Pauls Kleidung und seine Haarfarbe. Dann trennten wir uns. Etwa 10 Minuten später, ich war gerade im Begriff zu hyperventilieren, sah ich, wie sich in der Musikabteilung eine größere Menschenmenge, rhythmisch klatschend, kreisförmig versammelt hatte. Mehr aus einem Gefühl heraus, als aus einer begründeten Annahme, gerade dort meinen Bruder zu finden, ging ich auf die Menschentraube zu. Nachdem ich mich durch sie hindurch, ganz nach vorn gekämpft hatte, sah ich Paul. Von allen entzückt beglotzt, tanzte er durchaus gekonnt zu brasilianischen Sambarhythmen. Ein zentnerschwerer Stein glitt mir von den Schultern. Ich beugte mich zu ihm herab und nahm ihn in meine Arme. Er schien sich prächtig amüsiert zu haben. Unter dem verschmitzten Grinsen der verbliebenen Passanten verließ ich mit Paul auf dem Arm den Laden. Überglücklich, ihn wohlbehalten wieder gefunden zu haben, machte ich mich auf den Weg in den ersten Stock. Der ausgemachte Treffpunkt war direkt vor dem Lift. Noch im Fahrstuhl hatte ich Paul fest in meinen Armen. Muskelkater und Blasen hatte ich längst vergessen. Doch da meine Kraft allmählich zu schwinden begann, setzte ich ihn neben mir ab. Freudestrahlend blickte ich aus der sich langsam öffnenden Tür des Aufzugs in die Gesichter von Conni und Bianca. „Wir haben ihn!“, rief mir Bianca mit melodischer Stimme entgegen. „Conni hat deinen kleinen Liebling im Spielzeugladen entd... Wer ist denn das dort?“, unterbrach sie abrupt ihren Satz und zeigte auf Paul, den ich nun langsam hinter mir her aus dem Fahrstuhl zog. „Mein Bruder! Wer sonst?“,

Fassungslos blickte sie zu Conni und fragte entgeistert.“ Aber wer ist dann das?“ Conni zuckte mit den Achseln. „Als ich ihn in der Ecke mit den Bauklötzen sitzen sah und er ebensolche Jeans wie du sie mir beschrieben hattest und einen gleichfarbenen Pullover trug, war ich mir sicher, dass es sich um deinen Bruder handeln müsse. Da auch kein Erwachsener in der Nähe war und auch er nichts dagegen hatte, mitgenommen zu werden, gab es für mich keine Zweifel mehr.“ „Hoffentlich hat dich niemand dabei beobachtet“, warf Bianca ängstlich dazwischen. „Die glauben uns doch nie, dass es nur eine Verwechslung war. Die denken glatt, wir wollten ihn entführen“, gab ich zu bedenken. „Hoffentlich erfahren meine Eltern nichts davon!“ Angstschweiß stand uns auf der Stirn. „Wir müssen ihn zurückbringen“, schlug Conni vor und Bianca und ich nickten zustimmend. Zeitgleich ertönte aus einem Lautsprecher die Suchmeldung nach dem kleinen Moritz. Es wurde darum gebeten ihn, an der Information abzugeben. „Dann muss das Moritz sein“, stellte Conni fest.

Mit einem flauen Gefühl im Bauch brachten wir den Kleinen an die gewünschte Stelle. Seine Mutter sah uns schon von weitem und kam mit ausgebreiteten Armen auf ihren Moritz zugelaufen. „Wie kann ich euch nur danken“, wandte sie sich einige Freudentränen später an uns. „Gar nicht“, blockte Bianca sofort ab. „Wir freuen uns, Ihnen geholfen zu haben“, ergänzte ich. „So einfach kommt Ihr mir jetzt aber nicht davon. Lasst euch wenigstens auf ein Eis einladen, bestand sie. Wir sahen uns gegenseitig an und nickten ihr zu. Das schlechte Gewissen drückte zwar, aber die Aussicht auf ein Eis beim Italiener ließ es verfliegen. Das Eis schmeckte trotz des faden Beigeschmacks ausgezeichnet. Doch als die freundliche Dame erwähnte, dass sie diese Geschichte lieber nicht ihrem Gatten, dem Kommissar erzählte, weil er sie immer zur Vorsicht mahnte, hatten wir es plötzlich richtig eilig und jede von uns musste ganz schnell nach Hause.

Von diesem Erlebnis an waren wir drei fast unzertrennlich. So oft wie möglich verabredeten wir uns, aber wenn ich auf Paul aufpassen musste, blieb ich mit ihm stets zu Hause. Mum erzählte ich natürlich nichts von dieser Sache und so blieb es unser Geheimnis. Aber noch etwas anderes hielt uns drei in diesem Jahr ziemlich in Atem. Es waren die Bewerbungszeugnisse. Für jede von uns war ein gutes Abschneiden von immenser Wichtigkeit. Sollte sich doch anhand des Zensuren-spiegels unsere berufliche Laufbahn entscheiden. Für Conni und mich war es etwas einfacher zu lernen. Glücklicherweise besuchten wir dieselbe Realschule. Der Lernstoff war in allen Parallelklassen annähernd der gleiche. So konnten wir oft zusammen arbeiten. Bianca hingegen, die auf dem Gymnasium für ihr Abi büffelte, hatte es da wesentlich schwerer. Mit viel Glück und Vitamin B, Paps guten Beziehungen, bekam ich gleich auf die erste Bewerbung einen positiven Bescheid. Am Morgen meines Vorstellungsgespräches hatte ich Durchfall. Ich war so aufgeregt, dass ich alles durcheinander brachte.

„Paps! Das geht nicht gut, ich weiß es genau. Das kann gar nicht gut gehen!“ Meine Hände zitterten, genau wie damals bei der Führerscheinprüfung. „Ach Kleines, wie sagtest du, ist euer Schlachtruf beim Basketball?“ „Macht das Beste draus, Mädels!“, „Wenn du das beherzigst und es geht trotzdem in die Hose, wird dir niemand einen Vorwurf daraus machen. Wahrscheinlich wäre es dann sowieso nicht der richtige Job für dich gewesen.“ „Ach Paps, du bist lieb. Ich werde denen in der Bank derart einheizen, dass sie sich hinterher fragen, wie sie die ganze Zeit ohne mich auskommen konnten.“ „Bravo mein Kind. Das war jetzt wieder meine Tochter. Du wirst sehen, so klappt es sicher.“ Der auszufüllende Arbeitsbogen war wirklich kein Problem. An manchen Stellen hatte er etwas von einem Idiotentest. Aber als ich anschließend mit drei weiteren Probanden im Vorzimmer des Personalchefs warten musste, waren alle guten Vorsätze und die Formel für sicheres Auftreten wie weggeblasen. Mein Mut schwand mit jeder Minute, die ich hier warten musste. Natürlich musste ich mich auch noch bis zum Schluss gedulden. Alle drei Mitbewerber kamen mit gesenktem Kopf aus der Höhle des Löwen. Mir wurde immer schlechter. Dann war es soweit. Die Sekretärin bat mich herein.

„Nehmen Sie bitte Platz, Frau Baumann.“ Er hatte wahrhaftig Frau zu mir gesagt. Noch nie hatte mich jemand so genannt. Umso mehr beschäftigte es mich. Seine Frage nach meiner Adresse konnte ich, immer noch irgendwie perplex, im ersten Moment nicht beantworten. Auf seine Frage, warum ich überhaupt Bankkauffrau werden wolle, wusste ich nichts Besseres zu sagen, als spontan die gute Ausbildungsvergütung hervorzuheben. „Das war's dann wohl“, sagte ich, stand auf und gab dem mich verdutzt ansehenden Herrn im grauen Anzug die Hand, um mich zu verabschieden. „Was ist los, wo wollen Sie denn hin? Unser Gespräch ist doch noch gar nicht beendet.“ „Ich weiß, wann ich verloren habe“, entgegnete ich ihm mit fester Stimme. „Weil Sie die Wahrheit sagen?“ Er schob die Brille auf die Spitze seiner Nase und schaute mich über deren Ränder väterlich an. „Der Wahrheit braucht man sich nicht zu schämen. Im Gegenteil, was glauben Sie, was ich auf diese Frage schon für geschminkte Antworten erhalten habe. Umso wohltuender ist es da, endlich mal jemanden vor sich zu haben, der ehrlich und geradeheraus ist.“ Die ganze Anspannung, die ich völlig unnötigerweise in mir aufgestaut hatte, fiel mit einem Male von mir ab. „Ihre Zeugnisse, das Testergebnis und der Gesundheitscheck waren in Ordnung. Übrigens kenne ich Ihren Herrn Vater, wir haben zusammen die Schulbank gedrückt. Bestellen Sie ihm doch bitte liebe Grüße. Ich kann es Ihnen noch nicht fest versprechen, da der Direktor noch sein Okay geben muss, aber ich schätze, Sie haben die Stelle!“ Ich weiß nicht, was ich sagen soll“, entgegnete ich ihm total happy. Am liebsten wäre ich ihm um den Hals gefallen. „Bis Ende der Woche bekommen Sie Post von uns. Darin werden Sie mit anderen Azubis zur Unterzeichnung der Ausbildungsverträge eingeladen. Also dann, ich freue mich schon auf den frischen Wind, den Sie mitbringen werden.“

Ich hatte es geschafft. Auf dem Weg nach Hause hüpfte ich vor Freude. Ein wenig stolz war ich auch auf mich. Aber am meisten freute ich mich auf Paps. Als er am Abend nach Hause kam, erzählte ich ihm gleich alles haarklein und euphorisch. „Bis du den Vertrag unterzeichnet hast, müssen wir noch warten, aber dann gehen wir ganz groß Essen, das hast du dir verdient.“ Der Personalchef hatte Wort gehalten. Schon in der nächsten Woche wurden wir zur feierlichen Unterzeichnung der Ausbildungsverträge eingeladen. Außer mir wurden vier weitere Azubis eingestellt. Nach einer endlos langen Ansprache gab es ein kaltes Büfett und für alle Sekt. Am Abend gingen Mum, Paps und ich zum Italiener. Unsere Nachbarin und Eigentümerin der anderen Hälfte unseres Doppelhauses, Frau Wollschlägel, passte bei solchen Anlässen, „wenn möglich immer gern“, wie sie betonte, auf Paul auf. Paps hatte nicht übertrieben. Es war ein sehr vornehmes Restaurant. Gleich am Eingang empfing uns eine Dame, nahm sich unserer Garderobe an und begleitete uns an unseren Tisch. Paps schob erst Mum und dann mir den Stuhl heran. Das machte er sonst nie! Erst dann nahm auch er Platz. Sofort brachte die Empfangsdame die Speisekarten und verschwand wieder. Lauter mir unbekannte Gerichte wurden angeboten. „Paps, hier stehen gar keine Preise dabei“, flüsterte ich ihm zu. „Mach dir keine Gedanken, wähle aus, was dir schmeckt.“ „Ich weiß nicht, was mir schmeckt! Ich kenne nichts von alledem. Am liebsten würde ich einfach eine Pizza essen.“ Aber es gab keine Pizza! Schließlich machte ich die Augen zu und tippte mit meinem Finger auf ein Gericht, welches ich dann bestellte. Mein Mut wurde belohnt, ich wusste nicht, was ich aß, aber es schmeckte außerirdisch gut. Zum Essen gab es einen leckeren Rotwein und hinterher ein Eis mit heißen Früchten. Nachdem wir ausgiebig geschlemmt hatten, saßen wir noch lange gemütlich zusammen und tranken eine zweite Flasche Wein. Die Rechnung wurde auf einem Teller, in einer Serviette eingeschlagen, gereicht. Paps schluckte und bezahlte, ohne sich weiter etwas anmerken zu lassen. Ich erfuhr trotz mehrfacher Nachfrage nie, was ihn dieser einzigartige Abend gekostet hatte.

Auch Conni hatte Glück. Nachdem sie einige vergebliche Bewerbungen verschickt hatte, bekam sie bei einer hiesigen Druckerei einen Ausbildungsvertrag als Schriftsetzerin. Das war zwar nicht gerade ihr Traumberuf, aber dennoch eine für sie akzeptable Alternative. Bianca schaffte ihren Numerus Clausus und schrieb sich an der technischen Universität als Studentin für Kommunikationswissenschaften ein. Die Zeit, die wir seit Beginn unserer beruflichen Karrieren miteinander verbringen konnten, beschränkte sich meist nur noch auf die Wochenenden und das gemeinsame Training.

 

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Wie von Bianca scherzhaft vorausgesagt, ließ die Intensität unseres Basketballtrainings keineswegs nach, sondern verschärfte sich sogar noch. Nach einiger Zeit hatten wir uns jedoch daran gewöhnt. Diejenigen, die diese Qualen nicht auf sich nehmen konnten oder wollten, gaben sehr bald auf und blieben einfach weg. Wir anderen waren nach nur einem Jahr zu einer gut spielenden Mannschaft gereift. Das Wichtigste aber war, dass es uns allen von Woche zu Woche mehr Spaß machte. Außer gelegentlichen Freundschaftsspielen, von denen wir sogar das eine oder andere gewinnen konnten, hatten wir keine direkten Leistungsvergleiche. Das änderte sich im 2. Jahr mit der Aufnahme des Ligaspielbetriebes schlagartig.

Zu Connis 17. Geburtstag hatte sie neben unserem gesamten Team einige Jungen der Herrenmannschaft, mit der wir uns die Trainingshalle teilten, eingeladen. Sie benutzten die Halle immer nach uns. Manche von ihnen regten sich immer tierisch auf, wenn wir es nicht rechtzeitig schafften, die Umkleidekabine zu räumen. Vor allem nach ihrem letztjährigen Aufstieg in die höhere Spielklasse, sprudelten einige von ihnen gerade zu über vor Arroganz. Bei denen, die geduldig auf dem Gang auf uns warteten, war einer, der wirklich echt süß zu sein schien. Conni hatte sich bis über beide Ohren in ihn verknallt. Auf ihrer Party sollte er sich nun, wie von Geisterhand gelenkt, auch in sie verlieben. Um dem Schicksal etwas auf die Sprünge zu helfen, hatten wir uns einen guten Plan ausgeheckt. Connis Eltern waren zu ihrer Geburtstagsfeier leider, leider beruflich verreist. Im Fetenkeller ihres großen Hauses sollte die Feier steigen. Pünktlich um 8 Uhr trudelten die ersten Gäste ein. Noch etwas unsicher in ihren Stöckelschuhen und dem hautengen, langen, blauen Samtkleid, öffnete sie die Tür. „Wow! Du siehst stark aus“, überschlug sich die Stimme von Frau Wolter, unserer Trainerin, fast vor Begeisterung, als sie an der Spitze der Mädchen zur Tür herein trat. Noch etwas verlegen, aber jetzt mit mehr Selbstbewusstsein auf die positive Reaktion eines bestimmten Jungen hoffend, wartete sie nun auf das nächste Klingeln.

Wenn ich da an meinen 17. Geburtstag zurückdenke, der wenige Wochen zuvor im Kino und bei Mc Donalds mit lediglich zwei Gästen, nämlich Conni und Bianca, stattgefunden hatte, konnte ich schon ein wenig neidisch werden. Doch schließlich hatte ich mich für einen eigenen Computer entschieden. Auch wenn ihn Paps günstig aus einer Konkursmasse erstanden hatte, waren ein teures Geschenk und eine große Feier nicht möglich. Aber wie auch immer, heute wollten wir unseren Spaß haben. Die ganzen Vorbereitungen hatten viel Zeit und Mühen gekostet.

Dann war es endlich soweit. Conni öffnete Robert Ulrich, genannt Robbi, die Haustür. Er überreichte ihr das mitgebrachte Sträußchen Blumen und ein Präsent, umarmte sie und gratulierte ihr nachträglich zum Geburtstag. Während sie wie angewurzelt an der Tür zu kleben schien und hinter ihm herschmachtete, stürzte sich Robbi ins Getümmel. Bianca hatte eine heiße CD eingelegt und ich kümmerte mich um Conni. „Ich glaube nicht, dass sich dein Robbi für Statuen interessiert. Vielleicht solltest du ihm etwas zu trinken anbieten, um ein wenig mit ihm ins Gespräch zu kommen.“ „Das kann ich nicht, mach du das, Steffi.“ „Wenn du ihn nur ansehen willst, dann mach ich dir ein Foto von ihm“, höhnte ich, nahm ihr die Blumen aus der Hand und ging in die Küche, um sie in eine Vase zu stellen. Als ich zurückkam tanzten die beiden miteinander. Nun brauchte ich nur noch den richtigen Augenblick abzupassen, um unseren Plan in die Tat umzusetzen. Nachdem sie eine Weile zusammen getanzt hatten, kamen sie zu mir an die Bar, um etwas zu trinken. Ungeschickterweise goss ich Robbi die gewünschte Bloody Mary so unglücklich über die Hose, dass es aussah, als habe er gerade seine Tage bekommen. Total cool schaute er an sich herunter und sagte.“ „Scheiße!“ „Nein“, entgegnete ich ihm. „Tomatensaft!“ Er sah mich etwas mürrisch an, um jedoch im nächsten Moment herzlich darüber zu lachen. „Komm mit rauf“, entschied Conni und zog ihn am Arm vom Barhocker. „Die Hosen von meinem Vater müssten dir passen.“ Dann waren sie verschwunden.

Bianca hatte die Aktion von der Tanzfläche aus genau beobachtet. Sie legte noch schnell eine neue Musik auf und kam zu mir rüber, um auf das Gelingen unseres Plans mit mir anzustoßen. „Wollen wir auf die Uhr sehen?“, fragte sie mich verschmitzt. „Hoffentlich lohnt sich der Aufwand auch.“ „Wenn es heute nicht klappt, dann müssen sie sich ja bald wieder sehen, „beruhigte ich Bianca. „Wieso?“ „Na glaubst du, dass Robbi ewig mit der Hose von Connis Vater durch die Gegend läuft?“ Die Hosenanprobe dauerte leider doch nicht ganz so lange wie erwartet. Aber der weitere Verlauf des Abends ließ hoffen. Von allen schien sich jedoch Bianca am besten zu amüsieren. Sie tanzte den ganzen Abend mit ein und demselben Jungen und wurde, als sie nach Hause wollte, sogar von ihm gefahren. Mich brauchte niemand heimbringen, denn ich übernachtete bei Conni. Pünktlich am nächsten Vormittag trudelte Bianca wie versprochen zum Saubermachen ein. Total Happy erzählte sie uns, dass Robbis Freund Sven sie in seinem Auto nach Hause gebracht habe und sie dann noch eine ganze Weile vor ihrer Tür parkten. Dabei habe er sie sogar geküsst. Zuerst wegen der Dunkelheit zwar nur auf die Nase, aber dann richtig toll. „Leider hat dann mein Vater mit einer Taschenlampe ins Auto geleuchtet. Ihr könnt euch vielleicht vorstellen, wie peinlich das war.“ „Hat euch dein alter Herr eine Szene gemacht?“, wollte ich wissen. „Nein, das nicht gerade, aber mit dem Parken und der Romantik war's dann natürlich vorbei.“ „Hoffentlich lässt sich Sven davon nicht abschrecken?“, hatte Conni Bedenken. „Das glaube ich nicht, wir haben heute Morgen schon miteinander telefoniert und uns für nachher verabredet.“ „Na dann, viel Glück euch beiden!“, „Aber sag mal Conni, was ist denn nun mit dir und Robbi?“, fragte Bianca interessiert. „Wir haben uns zwar den ganzen Abend gut verstanden, aber sonst hat sich nichts getan. Er wollte sich wegen der Hose bei mir melden.“ „Tja“, sagte sie, den Kopf in beide Hände gestützt, gut Ding braucht Weile.“

Conni hatte ihren Robbi vorerst leider nicht bekommen. Sie war darüber sehr traurig und oft nachdenklich. Aber solange, wie er eine andere hatte, hielt sie sich von ihm fern. Bianca bekamen wir in den nächsten Wochen kaum noch zu sehen. Ab und zu waren wir zusammen beim Bowling oder im Kino. Dann gingen wir vier oft eingehakt und der sonst so zurückhaltende Sven fühlte sich wie der Hahn im Korb. Erst als ihr Sven zur Bundeswehr eingezogen wurde, trafen wir uns wieder öfter. Aber das ist wohl ganz normal. Leider veränderte ihn die Zeit bei der Bundeswehr und machte einen völlig anderen Menschen aus ihm. Plötzlich begann er zu trinken und als er eines Abends Bianca bei einer Eifersuchtsszene sogar eine herunterhaute, war es mit den beiden vorbei. Aber wer Bianca kennt, weiß, dass sie so etwas nicht einfach hinnimmt. Nachdem sie sich wieder an unseren Tisch gesetzt hatte, erzählte sie uns von ihrem Vorhaben. Kaum dass wir unser Gespräch beendet hatten, kam Sven hinzu und tat in machohafter Gönnerlaune so, als sei nichts geschehen. Bianca spielte zum Schein mit und lockte ihn mit der Aussicht auf mehr in die Damentoilette. In einer der Kabinen begann sie ihn auszuziehen. Seine Kleidung ließ sie so geschickt zu Boden sinken, dass Conni und ich sie unbemerkt unter der Tür hindurch ziehen konnten. Als er vor ihr stand wie Gott ihn geschaffen hatte, ließ sie ihn mit der Begründung, einen Gummi holen zu wollen, allein zurück. Erst als sein Blut wieder normale Temperatur erreicht hatte, begann er zu begreifen. Zunächst tobte er, als er jedoch merkte, dass dies nur die Aufmerksamkeit anderer auf ihn zog, lenkte er zum Schein ein und entschuldigte sich. Bianca nahm sein Eingeständnis an. Seine Kleidung wuschen wir vor der Rückgabe natürlich im Waschbecken erst einmal richtig durch. Schließlich war sie ja auf dem Fußboden schmutzig geworden. Es dauerte lange, bis sich der inzwischen Nüchterne in die immer noch feuchten Sachen gezwängt hatte. Tage später noch war Sven, wo immer er auftauchte, Anlass zu übergroßer Heiterkeit. Von Robbi erfuhr Conni, dass Sven dieses Kapitel noch nicht abgeschlossen hatte. Er fühlte sich von Bianca zu sehr gedemütigt und wollte sich bei passender Gelegenheit dafür revanchieren. Eine Mitschuld schob er jedoch weit von sich. Irgendwie, so schien es, hatte keine von uns viel Glück mit Jungs.

Meine Ausbildung zur Bankkauffrau erwies sich für mich als genau das Richtige. Da ich in gewissen Zeitabständen verschiedene Abteilungen durchlaufen musste, lernte ich eine Menge interessanter Menschen kennen. Einige von ihnen mochte ich besonders, andere weniger. Da war zum Beispiel Herr Lampe, ein honoriger Herr von altem Stande. Ich erinnerte ihn an seine, nach Australien ausgewanderte Tochter. Außer ein paar Fotos war ihm nichts von ihr geblieben. Die Verbindung zwischen ihnen war irgendwie abgerissen. Immer dann, wenn er von ihr erzählte, bekam er feuchte Augen. Dann geriet er in eine merkwürdige melancholische Stimmung und wurde sehr nachdenklich. Doch irgendwie gelang es mir immer, ihn wieder aufzumuntern. An einsamen Abenden zu Hause goss sich Herr Lampe, wenn ihn die Erinnerung einholte, ein hinter die Binde und war dann morgens in der Bank schlecht gelaunt. Einzig für mich hatte er stets ein gutes Wort.

Dann waren da die Gänse. Zwei Damen in den Vierzigern, die ständig miteinander am Schnattern waren. Sie wohnten zusammen, fuhren gemeinsam in den Urlaub und hatten sich dennoch den ganzen Tag etwas zu erzählen. Ich durchlief die einzelnen Abteilungen der Bank, zusammen mit einem zweiten Azubi, einem gewissen Mark Schöne. Ein gutmütiger Zweizentnerkna-be, der mir bei jeder sich bietenden Gelegenheit seine männliche Reife beweisen musste. Aus Disco, Fußball und all den anderen spezifischen Schauplätzen, an denen sich Jungs sonst tummeln, machte sich Mark nichts. Dafür liebte er Schmuck und alles, was teuer war. Jedes Mal, wenn er etwas neu erstanden hatte, führte er es mir vor und sprach davon, als gäbe es auf Erden nichts vergleichbar Gutes. Abgesehen von dieser Marotte war er sehr lieb und immer hilfsbereit und höflich. Ich spürte auch bei all meiner Unerfahrenheit, dass er sich etwas erhoffte. Dabei wirkte er jedoch nie bedrängend. Ich gab ihm zwar frühzeitig zu verstehen, dass ich zwar an einer guten Bekanntschaft, jedoch nicht an mehr interessiert war. Dennoch schien er sich weiterhin Hoffnungen zu machen. In der Berufsschule setzte er sich neben mich und in den Pausen wich er mir nur selten von der Seite. Stets musste ich darauf achten, nicht unbewusst einen Wunsch zu äußern. Tat ich es, hatte ich ihn bei nächster Gelegenheit erfüllt. Ermahnungen halfen hier nur wenig. Sogar Bianca und Conni witzelten deswegen schon.

Schon lange hatte ich das Gefühl, dass Conni nur wartete, bis sich ihr geliebter Robbi von seiner Freundin trennte. Wie dem auch sei, ihre Geduld wurde belohnt. Eines Abends nach dem Training verabredeten sie sich und einige Tage später rief mich Conni aufgeregt an. „Stell dir vor, Steffi! Robbi und ich gehen jetzt zusammen! Gestern im Kino hat er seine Hand auf meine gelegt und sie nicht mehr losgelassen“, erzählte sie total happy. „Meine Güte, wie bist du denn da ins Bett gekommen?“, fragte ich ein bisschen neidisch. Fasste mich aber schnell wieder und schob meine Gratulation hinterher. Es ist schon ein dummes Gefühl, wenn man selbst für einen Jungen schwärmt, doch eine deiner besten Freundinnen macht das Rennen. „Ich freue mich für Dich“, fügte ich hinzu und es war wirklich ehrlich gemeint. Schließlich wäre ich eine schlechte Freundin gewesen, wenn es nicht so wäre.

Wenn wir an den Wochenenden in unserem alters-schwachen Vereinsbus die verschiedenen Spielstätten des Umlandes abklapperten, war immer eine tolle Stimmung in der Mannschaft. Wen wundert's, wir hatten die gesamte Hinrunde mit nur einer Niederlage abgeschlossen. Auch jetzt waren wir wieder mit drei Siegen in Folge in die Rückrunde gestartet. Für den Verein, in sportlicher Hinsicht, also eine überaus positive Entwicklung. Aber auch für mich und wahrscheinlich jede andere aus der Mannschaft, war es ein tolles Gefühl, bejubelt und gefeiert zu werden. Ein Gefühl, das oft ungeahnte Kräfte in mir freisetzte. Bei vielen unserer Heimspiele saßen Mum und Paps mit Brüderchen Paul, der mittlerweile den Kindergarten unsicher machte, auf der Tribüne und waren mächtig stolz auf mich.

Also alles, wie schon eingangs erwähnt, gute Gründe um ein glückliches, zufriedenes Mädchen zu sein. Wenn, ja wenn da nicht die Sache mit den Jungs wäre. Sollte Mark wirklich der Einzige bleiben, der sich für mich interessierte? Sollte ich ihm nachgeben? Nett war er ja. Nein! Lieber wollte ich als alte, Basketball spielende Jungfer, in die Vereinsgeschichte eingehen. Also gab ich mich und meinen Körper auch weiterhin, voller Hingabe, ausschließlich und mit ganzem Einsatz, dem Spiel mit zwei Körben hin.

Vier Spieltage vor Saisonende stand unsere Mannschaft bereits als Ligameister und somit als Aufsteiger in die nächsthöhere Spielklasse fest. Somit hatten wir es geschafft, in nur zwei Jahren zweimal aufzusteigen. Doch unsere Truppe hätte nie diese Klasse erreicht, wenn wir nicht auch versucht hätten, jedes der restlichen Spiele zu gewinnen. Dementsprechend verbissen gingen wir auch in diese Begegnungen. Vielleicht zu verbissen, wie der Chirurg in der Unfallklinik beim Eingipsen meines rechten Beines meinte. Natürlich war es auch kein unkomplizierter Bruch, wie jeder, der die Szene die zum Unfall führte, miterlebt hatte, schon vor der ersten Diagnose eines Arztes wusste. In einer spielentschei-denden Phase, wir hatten einen mehrere Körbe großen Rückstand ausgeglichen und waren im Begriff, das Spiel zu drehen, war ich auf der rechten Seite durch die gegnerische Abwehr gebrochen und bekam von Bianca einen Traumpass. Ich stieg empor und wollte den Ball gerade im Korb unterbringen, als mir von hinten jemand in den Wurfarm griff und mich nach hinten zurückriss. Ich stürzte und verdrehte mir dabei das Bein. Zu allem Überfluss stürzte eine der Abwehrspielerinnen aus Korbhöhe genau darauf. So lag ich dann, als mich die komplette Mannschaft nach dem ersten verlorenen Spiel der Rückrunde im Krankenhaus besuchte, mit dem Bein in einer Streckschiene. Conni und Bianca waren die ersten, die sich auf dem weißen Alabastergips verewigten. Sogar Frau Wolter, die uns zum Ende der Saison verlassen musste, gab ihr Andenken.

Somit rückte der Sommer näher und ich armes Würstchen durfte mit meinem Gips nicht einmal ins Wasser gehen. Zwar konnte ich das Krankenhaus bald wieder verlassen, musste mich aber auf zwei Krücken durch die Gegend hangeln. Eigentlich hatte ich die Sommerpause nutzen wollen, um meinen Autoführer-schein zu machen. Aber daraus wurde nun erst einmal nichts. Wenigstens hatte ich so genug Zeit, um mich in aller Ruhe auf die theoretische Prüfung vorzubereiten. Also humpelte ich zweimal die Woche zur Fahrschule, um dort am Unterricht teilzunehmen. Auf einem dieser Märsche überraschte mich ein Sommergewitter. Wie immer in solchen Situationen hatte ich keinen Schirm dabei und natürlich gab es auch weit und breit keine Gelegenheit, sich unterzustellen. Gerade noch rechtzeitig, kurz bevor mein Gips sich aufzulösen drohte, hielt neben mir ein Auto. Die Beifahrertür sprang auf und eine kernige Männerstimme rief, ich solle einsteigen. Da die Sicht durch die dunklen Wolken und den starken Regen sehr eingeschränkt war, trat ich näher an das Auto und beugte mich in die offene Tür, um zu sehen, wer am Steuer saß. Es war niemand, den ich kannte. „Danke schön, lieb gemeint von Ihnen, aber ich steige nicht zu fremden Onkels ins Auto und nun verzisch dich!“ Ich klatschte die Tür zu und humpelte weiter. Jetzt allerdings etwas schneller als zuvor. Noch einmal hielt der grüne Alfa Romeo neben mir und wieder öffnete sich die Tür. Angst durchströmte meinen Körper. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen, drehte mich herum, nahm eine meiner Krücken und hielt sie ihm drohend vor die Windschutzscheibe. Das zeigte Wirkung. Der Kerl gab sein Vorhaben auf und verschwand mit durchdrehenden Reifen in der Dunkelheit. Der Gips war zwar hin, aber wenigstens mich hatte ich gerettet. Tatsächlich musste mein Gips am nächsten Tag im Krankenhaus erneuert werden. Dies hatte aber auch etwas Gutes. Ich wurde geröntgt und bekam endlich einen Gehgips. Das war schon eine große Erleichterung. Wenigstens konnte ich so beim Gehen wieder etwas in den Händen halten.

 

Da ich nun nicht mehr krankgeschrieben war, trat ich, um nicht mit einem Gipsbein in die Arbeit zu müssen, meinen Jahresurlaub an. Ab und zu besuchte mich Mark und erzählte mir den neusten Tratsch aus der Bank. „Ich habe das Gefühl, du hast abgenommen. Oder täusche ich mich da?“ „Ja“, antwortete er mir ganz stolz an sich herunterschauend. „Sechs Pfund in der letzten Woche. Aber dass du es schon gesehen hast, ermutigt mich, weiter zu machen.“ Eigentlich war mir gar nicht wirklich aufgefallen, dass der Umfang seines Bauches weniger geworden war. Eigentlich wollte ich ihm nur eine kleine Freude machen. Umso mehr freute es mich, unbewusst ins Schwarze getroffen zu haben.

„Vor ein paar Tagen…“, erzählte er mir, „…hat es Ärger gegeben.“ Dabei kratzte er sich nachdenklich am Hinterkopf, um im nächsten Moment das aufgewühlte Haar wieder ordentlich glatt zu streichen. „Die schöne Claudia, du weißt schon, wurde mit dem Neuen aus der Immobilienabteilung in der Kundentoilette erwischt.“ „Meinst du den mit der Halbglatze?“, fragte ich ungläubig. „Bingo“, lachte Mark amüsiert. „Der ist jetzt bestimmt fällig. War sowieso ein Fehleinkauf!“ „Meinst du wirklich?“, fragte ich ziemlich naiv. „Der hat doch bisher noch nichts auf die Reihe gebracht. Außer vielleicht jetzt, wenn man die beiden nicht zu früh gestört hat“, machte er sich hinter vorgehaltener Hand über den Neuen lustig. Ich war schockiert! Von dieser Seite hatte ich Mark bisher noch nicht kennen gelernt. „Pfui, wie kannst du nur so schadenfroh sein?“ „Ach weißt du Steffi, der tat immer so großmäulig. Ist schon okay, wenn der mal eins draufbekommt.“

Nachdem ich uns zwei Gläser Cola geholt hatte, erzählte ich ihm von meinem Erlebnis mit dem grünen Alfa Romeo. Mark bewunderte meine Courage. „Warum läufst du auch bei solchem Wetter spät abends durch die Gegend?“ Direkt erregt von soviel Leichtsinn, bot er sich sofort an, mich bei meinen zukünftigen Unterrichtstunden zu fahren. „Womit denn“, wunderte ich mich. „Ich habe meinen Führerschein vor drei Wochen bestanden und seit zwei Wochen ein Auto“, erzählte er mir mit stolz geschwellter Brust. „Warum hast du denn das die ganze Zeit für dich behalten?“ „Das ist doch nichts Besonderes. Irgendwann hat doch jeder sein Auto.“ Diese plötzliche Bescheidenheit war die nächste unglaubliche Wandlung in ihm. Was hatte ihn nur so verändert? „Also gut, beim nächsten Mal rufe ich dich an“, versprach ich ihm. Mark verabschiedete sich auch von Mum, genau so wie es sich ihrer Meinung nach gehörte und ich sah vom Fenster aus zu, wie er sich in seinen silberfarbenen New Beetle setzte und davonfuhr.

„Ein netter, junger Mann, der Herr Seiler“, unkte Mum, als ich zu ihr ins Wohnzimmer kam.“ „Ja, ich liebe ihn! Wir wollen sechs Kinder, das Erste haben wir gerade gemacht.“ Mum starrte mich entsetzt an. Ihre Kinnlade war heruntergefallen und ihre Lungen rangen nach Luft. „Beruhige Dich, ich glaube es hat sowieso nicht geklappt.“ „Wir sollten einmal zu meinem Frauenarzt gehen, damit er dir die Pille aufschreibt“, versuchte Mum mich zu maßregeln. „Das ist nicht nötig, die hat mir mein Gynäkologe schon vor zwei Jahren verschrieben“, setzte ich sie schachmatt. Damit war sie sprachlos, was bei ihr sehr selten vorkommt. Jedes Mal, wenn sie ihre undamenhafte Tochter an diesem Abend in der Wohnung sah, schüttelte sie nur verständnislos mit dem Kopf. Paps dagegen grinste mich beim Abendessen an. Bislang war es nur ihm aufgefallen, dass ich kein kleines Mädchen mehr war. Umso mehr hatte Mum jetzt damit zu kämpfen. Wobei die Frage erlaubt sein muss, was ihr mehr zu schaffen machte: die Tatsache, dass ich erwachsen wurde, oder die Aussicht, bald Großmutter sein zu können.

Als ich Bianca davon am Telefon erzählte, musste sie nur lachen. Solche Geschichten hatte sie bereits bei ihrer Freundschaft mit Sven hinter sich bringen müssen. Bei ihr sei es allerdings der Vater gewesen, dem so schlagartig sein Alter bewusst gemacht wurde. „Aber dir ausgerechnet Mark aufs Auge zu drücken, das ist wirklich ein starkes Stück“, stimmte sie mir zu. „Er mag ja ganz nett sein, aber als Lover?“ Bianca schluckte: „Nein, ich glaube, da ist er für dich nicht der Richtige. Am Sonntag ist das letzte Punktspiel. Du willst doch sicher auch dabei sein, oder?“, fragte sie. „Na klar, schlimm genug, dass ich die letzten Spiele nicht dabei sein konnte!“ „Fährt dich dein Vater, oder sollen meine Mutter und ich dich abholen?“ „Danke nein, Bianca. Mein Vater fährt mich.“ „Hast du schon eine offizielle Einladung für das große Essen am Abend?“ „Ja, schon seit zwei Wochen. Ich weiß nur noch immer nicht, was ich anziehen soll. Hast du nicht etwas für mich übrig?“ „Leider nicht, ich muss mir selber etwas kaufen.“ „Schade, da kann man nichts machen. Also dann bis Samstag, zum Spiel.“

 

Mit dem Gips am Bein war es gar nicht so einfach, die richtige Kleidung zu finden. Bisher war auch wegen meiner Größe Blue Jeans die bevorzugte Garderobe. In den letzten Tagen bin ich mit meinen Trainingssachen herumgelaufen. Zum Unterricht in der Fahrschule hatte ich einen Rock getragen, aber den konnte ich unmöglich zur Meisterfeier anziehen. Mums Kleider passten auch nicht, sie hingen wie übergroße Säcke an mir herunter. Mum fand das natürlich nicht. Blieb mir also nichts anderes übrig, als mir ein neues anzuschaffen. Nach etlichen Geschäften und Kaufhäusern wurde ich schließlich in einer Boutique fündig. Da hing es! Ein Traum von einem Kleid. Ganz in Rot, passend zu meinem Haar. Es machte mich nicht, so wie die anderen Kleider, noch länger, sondern bewirkte das Gegenteil. Ich verliebte mich sofort darin. Dann der Schock! Es war für mich eigentlich unerschwinglich. Ich ließ es mir zurückhängen und lief, so schnell wie man eben mit einem Gipsbein laufen kann, zum nächsten Telefon. Paps war glücklicherweise schon zu Hause. Mit all meinem Charme gelang es mir, ihn zu besagter Boutique zu beordern. Er kam, sah mich in meinem Kleid und kaufte es mir, ohne auch nur ein Wort über den astronomischen Preis zu verlieren. Im Auto musste ich ihm dann versprechen, Mum niemals die tatsächliche Summe zu verraten. Die damenhafte Mum habe nämlich nie ein solch teures Kleid besessen. Ich versprach es ihm und wir machten einen bestimmten Betrag aus, den ich ihr nennen konnte.

Pünktlich am Samstag um 3 Uhr saßen Paps und ich auf der Tribüne und sahen zu, wie meine Mannschaft die letzte Begegnung der Saison gewann. Für das Spiel hatte ich den Trainingsanzug des Vereins angezogen. Dann die Schlusssirene. Conni, Bianca und all die anderen Mädchen kamen, wie verabredet, auf mich zugestürmt und trugen mich auf ihren Schultern auf das Spielfeld. Die Zuschauer, die heute besonders zahlreich erschienen waren, tobten förmlich vor Begeisterung. Dann stellten wir uns zum Gruppenfoto auf. Der Hallensprecher rief jeden unserer Namen auf und die Fans belohnten jeden von uns mit viel Beifall. Schließlich überreichte uns ein Vorstandsmitglied des Verbandes den Ligapokal und jedem von uns eine Urkunde. Ich werde diesen Moment sicher nie vergessen.

Am Abend fuhr mich Paps dann in das vornehme Tulip Inn Hotel. Natürlich hatte ich nun das extra zu diesem Anlass gekaufte Kleid an. Ich fühlte mich darin wie eine Prinzessin. Der flache Schuh, den ich wegen des Gipsbeines tragen musste, fiel kaum auf. Conni und Bianca hatten mir neben sich einen Platz frei gehalten. „Dafür dass du nichts zum Anziehen hast, siehst du verdammt gut aus!“, lobte Bianca. „Ihr seht aber auch echt toll aus. Habe ich schon irgendetwas verpasst?“ „Nein, aber ich glaube, es wird gleich die erste Ansprache geben.“ Und so war es dann auch. Lauter gewichtige Herren mit lauter wichtigen Reden überhäuften uns und Frau Wolter mit Lob und Anerkennung. Dann wurde uns ihr Nachfolger, ein Herr Nieber vorgestellt. Ich dachte, ich traute meinen Augen nicht. Es war der Mann aus dem grünen Alfa Romeo. Am liebsten hätte ich mich in Luft aufgelöst. Schließlich hatte ich ihn mit einer Krücke bedroht. Er stellte sich kurz vor und begrüßte jede von uns persönlich. Glücklicherweise schien er mich nicht wieder zu erkennen. So wurde es nach dem offiziellen Teil noch eine gelungene Meisterfeier.

Das Schönste aber waren die Fotos von uns in der Zeitung am nächsten Tag. Sogar eins nur von mir, in meinem roten Kleid und ohne dass man das Gipsbein sehen konnte. Auf diese Fotos hatte ich lange warten müssen. Waren sie doch so etwas wie eine Genugtuung gegenüber denen, die mich damals während meiner Schulzeit verspotteten. Zwei Wochen später wurde der Gips entfernt und mein Bein war wieder wie neu. Leider konnte ich die Sommerpause nicht mit Erholung und Faulenzen verbringen. Ich hatte durch meine Verletzung erheblichen Trainingsrückstand. Zwar wäre niemand da gewesen, der mich zu einem Sondertraining getrieben hätte, doch wenn ich zum Saisonauftakt wieder fit sein wollte, musste ich etwas tun. Bianca unterstützte mich dabei, so oft sie nur konnte. Conni machte währenddessen mit Robbi einen Rucksackurlaub in den Schweizer Alpen. In der Bank hatte ich nach meiner Rückkehr allerhand aufzuarbeiten. Mark war zwar während meiner Abwesenheit sehr fleißig gewesen, hatte aber nicht verhindern können, dass sich einiges ansammelte. Die Arbeit in der Bank, mein Konditionstraining und die Büffelei für die theoretische Führerscheinprüfung wären ohne die tolle Unterstützung meiner Freunde sicher zu viel gewesen. So schaffte ich alles, was ich mir in den Kopf gesetzt hatte. Die Fahrprüfung jedoch musste ich allein auf die Reihe kriegen. Davor hatte ich eigentlich am meisten Angst.

 

Wie immer bei solchen Anlässen, hatte ich die Nacht davor nicht schlafen können und am Morgen Durchfall. Wie immer machte Paps mir Mut und versuchte mir die Angst zu nehmen. Den Zettel mit den wichtigsten Vorfahrtsregeln in der Hand, ging ich jede praktische Bewegung noch einmal durch. Das Anfahren vom Fahrbahnrand, rückwärts um eine Ecke fahren, rückwärts einparken und das Anfahren am Berg. Irgendwie, da war ich mir sicher, würde ich das schaffen. Eine halbe Stunde vor Beginn der Prüfungsfahrten sollten wir uns in der Fahrschule einfinden. Der Prüfer hatte sich bereits zur Freude des Fahrlehrers telefonisch angemeldet. Alles ging nun ganz schnell. Noch ehe der erste Prüfling seine Fahrt absolvierte, wurden wir alle in drei Fahrschulwagen gepfercht und fuhren die Strecke ab, die dieser Prüfer meistens bevorzugte. Auf diese Weise wurden uns sämtliche Gefahrenpunkte auf dieser Route gezeigt. Nun erschien plötzlich alles so einfach, dass sogar ich guter Hoffnung war. Gerade noch rechtzeitig vor Beginn der ersten Prüfungsfahrt kamen wir wieder in der Fahrschule an. Nach fast einer Stunde war der Erste wieder zurück. Er erzählte uns, dass der Prüfer genau die vorher abgefahrene Strecke gewählt hatte. Natürlich hatte er bestanden. Es sei ein Kinderspiel gewesen, erzählte er.

Einer nach dem anderen kam freudestrahlend von seiner Tour zurück. Dann endlich war ich an der Reihe. „Guten Tag, Sie sind Frau Stefanie Baumann?“, wollte sich der Prüfer von mir bestätigen lassen. „Ja, guten Tag.“ „Na dann wollen wir mal.“ Ich setzte den Blinker, schaute in die Spiegel, dann über die Schulter und fuhr nicht los weil ich die Handbremse vergessen hatte und den Motor abwürgte. „Kann es sein, dass sie ein wenig nervös sind?“ Genauso wie Mum es in solchen Situationen zu tun pflegt, lächelte ich ihn nur ein wenig an und versuchte es gleich noch einmal. Diesmal klappte es. Wenigstens schlugen wir sofort den richtigen Weg ein. Doch als ich nach einer Weile schon blinkte, bevor er die Richtung angegeben hatte, merkte er, dass etwas nicht stimmte und ließ mich eine andere Strecke fahren. Nun war ich erst recht nervös. Dann ging alles sehr schnell. Obwohl ich Vorfahrt hatte, schoss plötzlich von rechts ein Fahrradfahrer aus einer Seitenstraße heraus und fuhr mir direkt vors Auto. Ich machte eine Vollbremsung und wich nach links aus. Es gelang mir, einen Unfall zu vermeiden. Ganz im Unterbewusstsein drückte ich noch den Schalter der Warnblinkanlage. Der Radfahrer war gestürzt, rappelte sich aber gerade wieder auf, als der Fahrlehrer ausstieg. Mir war der Schreck in alle Glieder gefahren. „Steigen Sie bitte aus“, befahl der Prüfer, „und schauen Sie nach dem Verunfallten.“ Aber dem ging es besser als mir! „Das war es dann, Frau Baumann“, sagte der Prüfer mitleidig und schob mir seine Hand entgegen. „Herzlichen Glückwunsch! Sie haben mit Auszeichnung bestanden! Solch gute Bremsreaktion habe ich selten gesehen. Den Rest können wir uns sicher schenken. Sie können fahren, da bin ich mir sicher:“ Mein Fahrlehrer klopfte mir bewundernd auf die Schulter und meinte, ich hätte gerade die kürzeste, bestandene Prüfungsfahrt aller Zeiten absolviert. Ich brauchte nicht mal den Weg zur Fahrschule zurückzufahren. Aber das hätte ich sowieso nicht mehr geschafft. „Ihren Führerschein darf ich Ihnen heute leider noch nicht aushändigen. Aber das wissen Sie ja sicher schon.“ „Ja leider. Aber die paar Tage bringe ich schon noch ohne rum. Ein Auto besitze ich ohnehin noch nicht.“ „Na, dann ist es ja sowieso nicht so schlimm!“

Dann war er endlich da, mein lang ersehnter Geburtstag. Endlich volljährig und diesmal sollte es eine richtige Feier geben. Unser Häuschen war für eine solche Fete viel zu klein. Deshalb hatten Mum und Paps, ohne dass ich etwas davon ahnte, eine Überraschungsfeier in der Vereinsgaststätte organisiert. Conni und Bianca hatten alle Mädchen aus der Mannschaft und die Jungs, mit denen wir auch Connis Geburtstag schon gefeiert hatten, zusammengetrommelt. Alle konnten zwar nicht kommen, aber immerhin waren wir doch über 30 Leute. Ich hatte mich eine Woche zuvor, nach den Absagen von Conni und Bianca, eigentlich schweren Herzens damit abgefunden, lediglich mit den Eltern nett Essen zu gehen. Umso mehr wunderte ich mich, dass sie die Vereinsgaststätte vorschlugen. Sicher, man konnte dort gut essen, aber die Atmosphäre war nicht so besonders. Als wir die Tür zum Schankraum öffnen wollten, war sie verschlossen und innen schien alles dunkel. „Das gibt es doch nicht“, meinte Paps, „Hier muss doch jemand sein! Heute ist doch kein Ruhetag.“ Gerade als ich vorschlug, woanders hinzugehen, kam Herr Schlüter, der Wirt und Hausmeister. „Ist heute geschlossen?“, fragte Paps scheinheilig. „Nein, nein! Ich war nur schnell in meiner Wohnung. Leider ist es heute sehr ruhig. Aber kommen Sie doch bitte, ich mache nur schnell das Licht an“, beruhigte er uns und hielt mir die Tür auf. Der matte Schein der Außenbeleuchtung erlaubte gerade genug Sicht, um einem Ortsunkundigen den Weg zu weisen.

Als ich mitten im Raum stand und mich nach Paps umsah, ging endlich das Licht an. Aus allen Ecken, hinter der Theke und überall dort, wo sich nur jemand verstecken konnte, kamen die Überraschungsgäste hervor und sangen Happy Birthday. Völlig verdattert stand ich da und wusste nicht, wie mir geschah. So etwas hatte ich mir schon immer gewünscht. Alle kamen und gratulierten. Dann erst sah ich den Tisch mit den vielen Geschenken und mir kamen die Tränen. „Du sollst hier nicht herumstehen und heulen“, meinte Paps, „sondern dich amüsieren.“ Er nahm mich in den Arm, gab mir einen dicken Schmatz und zog mich zum Fenster. Mitten auf dem Rasen, hinter der Vereinsgaststätte, stand ein Auto. Ein weißer Opel Corsa mit einer riesigen, roten Schleife auf dem Dach. „Der ist für dich, mein Schatz. Nicht ganz neu, aber technisch okay. „Herzlichen Glückwunsch!“, Ich konnte mein Glück kaum fassen. „Danke Paps. Danke Mum, das ist der schönste Tag in meinem Leben!“ „Hier sind die Autoschlüssel.“ Natürlich stürzte ich sofort nach draußen, um mir mein Auto aus der Nähe anzusehen. Paps kam nach einigen Minuten mit einem Fotoapparat nach. Nachdem dieser Moment der Freude für die Ewigkeit festgehalten war, gingen wir Arm in Arm wieder hinein. Schließlich musste ich mich auch um meine Gäste kümmern. Es wurde eine echt kultige Party, bei der niemand vor dem Morgengrauen nach Hause ging.

Als ich am Nachmittag des nächsten Tages in meinem Bett aufwachte, war mir nicht ganz klar, wie ich dorthin gelangt war. Ich hatte einen gewaltigen Brummschädel. Erst nach und nach kamen die Erinnerungen der vergangenen Nacht schemenhaft in mein Gedächtnis zurück. Mein Bedarf an Alkohol war auf Jahre gedeckt. Erst nach dem Abendessen ging es mir allmählich wieder besser. „Sag mal Steffi, wann kannst du eigentlich deinen Führerschein abholen?“, fragte Mum. Sie unterbrach ihre Arbeit in der Küche und setzte sich mit einer Tasse Kaffee zu mir in die Essecke. „Wenn ich es schaffe, dann schon morgen. Mark wollte mich in der Frühstückspause schnell mit seinem Auto hinfahren.“ „Das ist gut, ich schlafe ruhiger, wenn der Wagen in unserer Einfahrt steht.“ Mum pustete behutsam in die Tasse und nippte vorsichtig Schluck für Schluck von dem heißen Kaffee. „Ich bin damals bei meiner ersten Fahrprüfung durchgefallen.“ Solange ich denken kann, war es das erste Mal, dass Mum mir gegenüber etwas Derartiges eingestand. „Warum hast du nie darüber gesprochen?“ Etwas nachdenklich antwortete sie mir: „Wer gibt so etwas schon gerne zu? Außerdem ist es mir peinlich.“ Sie hatte jetzt einen Gesichtsausdruck, der mich erahnen ließ, dass es ihr schon fast wieder Leid tat, mit mir darüber gesprochen zu haben. „Das ist schon ganz anderen passiert“, tröstete ich sie. Mum strich sich verlegen ihr blond getöntes Haar aus dem Gesicht. „Du wirst es doch niemandem erzählen, oder?“ „Natürlich nicht!“, entgegnete ich ihr entrüstet. „Für wen hältst du mich?“

 

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Wenige Wochen später begann endlich wieder das Basketballtraining. Ich hatte mich konditionell gut herangearbeitet und fühlte mich topfit. Mit meinem Corsa hatte ich mich inzwischen gut eingefahren und in der Bank lief alles wie gewohnt. Schon in der Umkleidekabine ging es vor diesem ersten Training nach der Sommerpause hoch her. Alle erzählten, was sie erlebt hatten, von neuen Freunden, oder von Urlaubsbekannt-schaften. Es ging zu wie in einem Hühnerhaufen. Anders als sonst schminkten sich sogar einige. Solange uns Frau Wolter trainiert hatte, gehörte dies nicht zu den Vorbereitungen. Aber nun schienen die meisten besonders viel Wert auf ein gepflegtes Äußeres zu legen. Ich dagegen war bestrebt, möglichst wenig aufzufallen. Aber dafür gab es ja einen Grund, von dem niemand etwas wusste.

Nahezu geschlossen betraten wir die Halle. Da stand er nun also, keine 10 Meter von mir entfernt. Ich betete, dass er mich nicht erkennen möge und versuchte krampfhaft, meine Nervosität zu überspielen. Er kam auf uns zu, seine Augen musterten jede einzelne von uns genau. „Ihr kennt mich ja schon alle von der Meisterfeier im Tulip Inn Hotel. Ich möchte mich trotzdem noch einmal vorstellen. Mein Name ist Chris Nieber. Da Frau Wolter das Training aus persönlichen Gründen abgeben musste, werde nun ich also bemüht sein, euch das Beste abzuverlangen. Bei mir wird jede von euch gleich behandelt, Extrawünsche gibt es nicht. Folgendes zu meiner Person: Ich bin 28 Jahre, ledig, aber schon in festen Händen. Ich habe das Training bei euch übernommen, weil ich auf Grund einer Sportverletzung leider nicht mehr selber aktiv spielen darf. Sind noch irgendwelche Fragen?“ Wir schauten uns gegenseitig an und schüttelten die Köpfe. Der Mann hatte Eindruck gemacht! Dann schwenkte er direkt auf mich und kam näher. Meine Knie begannen zu zittern. Genau vor mir blieb er stehen und flüsterte mir ins Ohr. „Es wäre vielleicht ratsam, wenn Sie Ihre Trikothose richtig herum tragen würden.“ Oh Gott, war das peinlich! „Ach, und ehe ich es vergesse“, fügte er seiner kurzen Ansprache noch hinzu, „ich möchte während des Trainings niemanden sehen, der in einen Pudertopf gefallen ist.“ Das hatte gesessen! Bis auf wenige Ausnahmen stürmten alle, die sich noch vor wenigen Minuten kunstvoll geschminkt und bemalt hatten, in den Waschraum. Nun war ich zwar doch aufgefallen, aber wenigstens positiv.

Glücklicherweise konnte er sich wohl nicht an mich erinnern. Wahrscheinlich war seine Sicht aus dem Auto noch schlechter gewesen als meine, um ihn zu erkennen. Wenn ich den grünen Alfa Romeo nicht vor der Trainingshalle gesehen hätte, wäre ich sogar selbst im Zweifel. Das Training stellte alles bisher Gewohnte weit in den Schatten. Es war absolut hart! Aber Chris verstand es mit lockeren Sprüchen und viel Humor, die Sache erträglich zu machen. In den kleinen Verschnaufpausen, zwischen den Kraft und Ausdauerübungen, erzählte er, dass er unsere letzten drei Spiele von der Tribüne aus beobachtet hatte. So konnte er sich ein gutes Bild von uns machen. Es seien viele gute Spielansätze vorhanden, die allerdings noch einen gewissen Feinschliff benötigten. Wir saßen, alle Viere von uns gestreckt, auf dem Hallenboden und hörten ihm ehrfurchtsvoll zu. Ausgepumpt wie wir waren, war es wohl eher seine kernige Stimme, der wir zuhörten, als dem, was er sagte. Sein braun gebrannter, athletischer Körper, seine fast schwarzen Haare und das sichere Auftreten, zeigten bereits bei einigen Mädels Wirkung. Seine Größe beeindruckte mich allerdings am meisten. Er überragte mich um mindestens 10 Zentimeter. Seine mandel-farbenen Augen durchdrangen die meinen und bewirkten ein wohliges Gefühl in mir, welches wie ein Prickeln über den Rücken schlich. Es bildete sich ein Kloß in meinem Hals, der wiederum einen Schluckauf verursachte. Und zwar derart heftig, dass ich mich nicht mehr auf das Trainingsspiel konzentrieren konnte und mir ganz heiß im Gesicht wurde.

Chris unterbrach das Spiel, und jede versuchte mich auf andere Art davon zu erlösen. Bianca versuchte mich zu erschrecken. Conni und Gundi meinten, dass solch hartnäckiger Schluckauf nur mit Kopfstehen weg zu bekommen sei. Nach drei Minuten Handstand hatte ich zwar einen puterroten Kopf, musste aber immer noch schlucken. Als nächstes versuchte ich die Luft anzuhalten, bis mir schwindelig wurde. Aber auch das half nichts! Chris stand etwas abseits und amüsierte sich. Nach dem siebten vergeblichen Versuch, zeigte er Mitleid. „Komm“, sagte er, griff meine Hand und zog mich hinter sich her, in den Waschraum. „Nimm einen großen Schluck Wasser und behalte ihn im Mund. Nun mach ganz kleine Schlucke.“ Das klappte. „Weg, er ist wirklich weg!“, jubelte ich. „Das war die sanfte Methode. Hätte die keinen Erfolg gehabt, hätte ich dir mit einer Krücke aufs Dach geschlagen!“, lachte er und ging triumphierend zurück in die Halle. Oh Gott, er wusste es! Jetzt war mir schlecht.

Fast unentwegt beschäftigte mich dieser Zustand, auch an den folgenden Tagen. Da halfen kein Magensaft und keine Tablette. Diese Übelkeit hatte wohl eher psychischen Ursprung. Um ein Haar hätte ich sogar Mark die ganze Geschichte erzählt. Aber wie sollte ich ihm erklären, was ich selbst nicht wusste. Irgendetwas, bisher Unbekanntes war mit mir geschehen. Im ersten Moment war mir einfach schlecht, im nächsten war mir so, als schlugen tausend Schmetterlinge aufgeregt mit ihren Flügeln in meinem Bauch. Ich hatte mich verliebt! Ganz anders, als damals die Schwärmerei für Robbi. Auch wenn Mark inzwischen ein guter Freund geworden war, das konnte ich ihm nicht erzählen, ohne ihm weh zu tun. Eigentlich machten mich diese neuen Gefühle für Chris auch zornig. Wie konnte ich mich in einen Mann verlieben, den ich noch gar nicht richtig kannte? Auf gar keinen Fall wollte ich mich lächerlich machen, indem ich hinter einem Mann herlief. Nein, mein Entschluss stand fest, der Mann der mich wollte, sollte auch um mich kämpfen. Ich beschloss also, niemandem mein Innerstes zu offenbaren.

Gerade rechtzeitig hatte ich es geschafft, beim Training zu erscheinen. In der Bank war wieder einmal der Teufel los gewesen. Vorsorglich hatte ich schon am Morgen die Sporttasche ins Auto gepackt und konnte somit gleich zur Halle fahren. Nicht einmal zum Essen war ich gekommen. Mein Magen knurrte die schmächtigen Müsliriegel, die ich ihm anbot, nur verächtlich an und sog sie förmlich in sich ein. Ich war aufgeregt. Wie würde sich Chris heute mir gegenüber verhalten? Würde er mich vor den anderen bloßstellen? Nein, das traute ich ihm dann doch nicht zu. Ich nahm also allen Mut zusammen und lief als Letzte in die Halle ein. Mein Blick fiel sofort auf eine üppig ausgestattete Blondine, die neben Chris am Spielfeldrand saß. Ein Mäuschen Marke, wer hat noch nicht, wer will noch mal? Die Dame mochte gut und gerne 35 sein. Ich konnte beobachten, wie sie ihn ständig am Rücken herum tätschelte. Besonders angenehm schien ihm dies allerdings nicht zu sein.

Die Mannschaftskameradinnen waren bereits dabei, Turnmatten in der Mitte des Hallenbodens auszulegen. „Wozu soll das gut sein?“, fragte ich Conni, als sie mir mit einer der Matten entgegenkam. „Er will mit uns das richtige Fallen trainieren.“ Sie rümpfte die Nase und schüttelte mit dem Kopf. „Damit wir uns nicht jedes Mal, wenn wir in einem Zweikampf zu Boden gehen, etwas brechen.“ Natürlich nahm ich den geworfenen Knochen sofort auf und rechtfertigte mich. „Aber ich konnte doch überhaupt nichts dafür. Die dicke Kuh war mir doch aufs Bein geflogen.“ „Mir brauchst du das doch nicht zu erklären, ich weiß das!“

Inzwischen hatte sich auch Bianca zu uns gesellt. „Habt Ihr schon seine Freundin gesehen?“, fragte sie. Conni schaute vorsichtig zur Trainerbank. „Heißer Feger, was?“, fügte Bianca hinzu. „Ich hätte ihm einen besseren Geschmack zugetraut. Neben ihm sieht die doch wie ein Zwerg aus, findet Ihr nicht auch?“, lästerte Conni. Die braucht sich doch beim Limbo tanzen nicht mal zu bücken.“ Über ihre Schulter konnte ich sehen, wie Chris aufstand und sich langsam auf uns zu bewegte. „Lass gut sein, Conni“, beschwor ich sie. Aber nun fing es ihr erst richtig an Spaß zu machen. „Habt Ihr die Fingernägel gesehen? Wir sind uns vorhin auf der Toilette begegnet, da hat sie soviel Rouge aufgelegt, dass sie die sicher braucht, um abends die ganze Paste wieder herunter zu kratzen!“, Bianca hatte nun auch bemerkt, dass der Trainer bereits hinter Conni stand und interessiert zuhörte. Mehrmals knuffte sie ihr vergeblich in die Seite. Aber Conni ließ sich nicht stören. „Und uns mault er wegen etwas Lidschatten und Lippenstift schon an.“ „Meine Bekannte ist auch nicht zum Basketballtraining hier!“, unterbrach er ihre Ausführungen jäh. Conni bekam einen hochroten Kopf und suchte fieberhaft nach einer Ausrede, die sie nicht fand. „Ich denke, wir sollten nun lieber mit dem Training beginnen. Zuviel Langeweile schadet nur, scheint mir.“ Er sah uns an, grinste und machte allen mit einer Handbewegung klar, dass wir mit einem leichten Ausdauerlauf beginnen sollten. Er selbst lief vorweg. „Wie konntet Ihr mich nur so gemein ins offene Messer laufen lassen?“, empörte sich Conni. „Wir haben dich mehrere Male gewarnt, aber du hast es nicht geschnallt“, versuchte ich ihr klar zu machen. Aber Conni war und blieb beleidigt. Kein Wunder, sie hatte sich arg blamiert!

Leider ereilte sie schon am selben Abend der nächste Schicksalsschlag. Vielleicht war ihre schlechte Laune, die sie auch nach dem Training nicht ablegen konnte, zum Teil mit dafür verantwortlich, dass sie mit Robbi gewaltigen Zoff bekam. Als sie mich am Nachmittag des folgenden Tages anrief, war sie völlig außer sich. Ich setzte mich ins Auto und fuhr sofort zu ihr. Ihre Mutter öffnete mir die Haustür. Als sie mich sah, schien sie erleichtert. „Gut, dass du kommst, Stefanie.“ Sehr besorgt erzählte sie mir, dass Conni den ganzen Tag noch nichts gegessen habe. „Stell dir vor, zur Arbeit war sie auch nicht! Sie hat sich einfach telefonisch krank gemeldet. Ich weiß gar nicht, was in sie gefahren ist. Vielleicht kannst du sie zur Vernunft bringen.“

Bevor ich die Tür zu ihrem Zimmer öffnete, klopfte ich an und wartete auf eine Antwort. „Lass mich doch endlich in Ruhe“, schallte es von drinnen. Ich öffnete trotzdem die unverschlossene Tür und trat ein. Conni lag weinend auf dem Bett und haderte mit ihrem Schicksal. Als sie mich bemerkte, drehte sie sich langsam zu mir um. „Ach du bist es, ich dachte schon, dass mir meine Mutter wieder etwas zu essen brächte.“ Sie nahm das letzte Papiertaschentuch aus der Packung, trocknete sich die Tränen und schnaubte einmal kräftig hinein. Grad so, als wolle sie damit sagen, dass es nun mit der Trauer reichte. „Nun erzähl doch mal, was ist denn eigentlich los? Am Telefon habe ich dich ja kaum verstehen können.“ „Da gibt es nicht viel zu erzählen. Robbi und ich hatten wegen eines albernen Knutschfleckes einen heftigen Streit. Ich habe völlig falsch reagiert. Anstatt ihm Vorwürfe zu machen, hätte ich darüber lachen sollen“, schluchzte sie. „Du hast also einen Knutschfleck von einer anderen an ihm entdeckt“, wiederholte ich sicherheitshalber. Es war nicht ganz einfach, ihre Worte zu entschlüsseln. Zu abgehackt entsprangen sie ihrem, sich immer noch zu einer Mitleid erregenden Mine verziehenden Mund. „Ja, an seinem Hals!“ „Also, ich hätte ihn sicher auch zur Rede gestellt. Ich denke, du hast dich da ganz richtig verhalten“, beruhigte ich sie. „Wie hat er sich denn wenigstens versucht zu rechtfertigen?“ „Gar nicht, er meinte nur, es sei ein Jux gewesen. Woraufhin ich ihm sagte, dass er sich in Zukunft doch immer woanders amüsieren solle.“ Weiter konnte sie nicht sprechen, weil sie sich erneut in unzähligen Tränen ergoss.

„Ich gebe zu, da warst du vielleicht wirklich etwas ungeschickt. Aber erzähl weiter, was war dann?“, Sie wischte sich die Tränen mit einem Zipfel ihres Bettzeugs aus dem Gesicht. „Hast du ein Tempo?“, schniefte sie. „Bestimmt, Moment.“ Ich durchkramte meinen Rucksack und fand darin tatsächlich ein schon etwas angeschmuddeltes Päckchen. „Hier.“ „Danke.“ Ohne groß auf dessen Zustand zu achten, benutzte sie es und atmete tief durch. „Er sagte, dass er genau dies jetzt machen werde und ging.“ „Aber dann habt Ihr euch doch nur gestritten. Keiner von euch hat Schluss gemacht.“ Ich nahm sie in den Arm und versuchte sie aufzumuntern. „Das renkt sich wieder ein.“ „Aber du weißt ja noch nicht alles. Etwas eine Stunde später rief er mich noch einmal an. Bis dahin hatte ich die ganze Sache überdacht und wollte mich bei ihm entschuldigen. Umso mehr freute es mich, als Mutter mich ans Telefon rief. Ehe ich jedoch eine Silbe sagen konnte, ergriff Robbi das Wort und sagte, dass es keinen Sinn mehr mit uns habe. Er bräuchte seine Freiheit und keine Meduse, die über ihn wache. Dann hängte er ein, ohne auf meine Antwort zu warten.“ „Soll ich morgen mal mit ihm reden?“, bot ich ihr meine Hilfe an. „Danke, das ist lieb von dir. Aber ich schätze, das sollte ich selber probieren.“ Allmählich schien sie sich wieder zu sammeln.

Geschickt wechselte ich das Thema und schon unterhielten wir uns angeregt über unseren neuen Trainer. „Der ist doch echt toll“, schwärmte ich ihr vor. „Das hört sich so an, als ob du dich in ihn verschossen hättest.“ „Quatsch!“, wiegelte ich ab. „Ich finde ihn einfach bloß nett. Außerdem ist er ja wohl in festen Händen.“ „Die Blondine ist doch grufti! Das hält sicher nicht lange. Ich möchte bloß wissen, was er an der gefressen hat.“ Conni brachte es auf den Punkt. Was müsste ich also an mir verändern, um seine Aufmerksamkeit zu erregen? „Was glaubst du, Conni, was gefällt Chris an der?“ „Um das herauszufinden, müsste man sie besser kennen. Wir können sie ja beim nächsten Training in ein Gespräch verwickeln und sie vorsichtig dabei aushorchen“, schlug Conni vor. „Stell Dir das nicht so einfach vor, relativierte ich und stand auf, um mich zu verabschieden. „Warum willst Du denn schon gehen?“ „Es wird Zeit, ich habe nach deinem Anruf zu Hause alles stehen und liegen lassen. Da wartet noch viel Arbeit auf mich.“ „Schade. Es war lieb von dir, dass du gleich gekommen bist.“ „Ehrensache! Aber eins musst du mir jetzt versprechen, geh bitte endlich runter und iss etwas.“ „Versprochen. Dann begleite ich dich gleich noch zur Tür.“ Schon als wir die Treppe hinunterpolterten, kam uns Frau Welger mit sorgenvollem Gesicht entgegen. „Sag bitte nichts, Mutti, es ist alles soweit in Ordnung. Ich habe Hunger!“ Mutter Welgers Stimmungslage wechselte zusehends in ein breites Grinsen. „Na Gott sei Dank!“, säuselte sie erleichtert und verschwand in ihrer Küche, wo sie sogleich die Töpfe klappern ließ. „Also dann mach's gut, Steffi. Bis Donnerstag beim Training.“

Leider war Madame Blondie beim nächsten Training nicht anwesend. Wahrscheinlich hatte Chris ihr klargemacht, dass sie unsere Konzentration störte. Das aber konnten wir uns im Hinblick auf den bevorstehenden Beginn der neuen Saison nicht leisten. Neben dem Einstudieren neuer Spielzüge, Freiwürfen und dem Kurzpassspiel, besprachen wir taktisches Auswechseln und wurden von Chris in Einzelgesprächen psychisch an unsere Aufgaben herangeführt. Alles war nun viel professioneller. Chris strahlte eine unglaubliche Ruhe aus, ohne jedoch dabei an Autorität zu verlieren. Im Gegenteil! Es folgten zwei weitere Trainingseinheiten, an denen seine Bekannte ebenfalls nicht teilnahm. Schnell kamen die ersten Gerüchte von einer Trennung auf. Dieses Wunschdenken einiger Mädchen machte Chris für alle noch interessanter.

Conni und Robbi hatten sich zwar ausgesprochen, wollten aber nur noch gute Freunde bleiben. Der Grund war ein Mädchen aus Biancas Nachbarschaft. Conni steckte diesen Verlust erstaunlich gut weg. Der Grund dafür sollte mir schon bald klar werden.

Endlich war es so weit. Das erste Spiel der Saison stand unmittelbar bevor. Jede von uns brannte darauf. Der Spielplan hatte es gut mit uns gemeint. Wir hatten Heimrecht. Ausgerechnet an diesem Tag saß Blondie wieder auf der Tribüne. Gleich hinter dem Trainer. Womit alle die schönen Gerüchte mit einem Schlag absurdum geführt wurden. Schon beim Einlaufen in die Halle fiel sie uns auf. „Habt Ihr seine Bekannte auf der Tribüne gesehen?“, flüsterte Bianca, als der Hallensprecher unsere Namen aufrief. Fast hätte ich, als mein Name fiel, den obligatorischen Schritt nach vorn vergessen. „Na klar, die kann man doch gar nicht übersehen.“ In ihrem völlig unpassenden, hautengen Kleid, zog sie sämtliche Männerblicke auf sich. Dann dröhnte die Sirene. Das Spiel begann. Bereits nach wenigen Minuten nahm Chris die erste Auszeit. Wir hatten einen typischen Fehlstart und lagen schnell mit drei Körben hinten. „Was ist denn bloß mit Euch los? Habt Ihr denn alles vergessen? Conni, Steffi, Bianca, kozentriert Euch!” Doch so sehr wir uns auch bemühten, es half nichts. Nach einer halben Stunde Spielzeit saßen wir alle drei auf der Auswechselbank und verstanden die Welt nicht mehr. Natürlich waren unsere Augen mehr auf der Tribüne als auf dem Spielfeld gewesen. Aber das konnten wir ja Chris nicht erklären.

Kurz vor Ende des Spiels ging es nur noch um Schadensbegrenzung. Ab und zu wurde eine von uns wieder eingewechselt, aber wenig später wieder aus dem Spiel genommen, weil keine von uns in ihren Rhythmus zurückfand. Wir hatten versagt. Das erste, so wichtige Spiel in der höheren Liga ging also kläglich verloren und das vor heimischen Publikum. Alle drei hatten wir uns in Chris verliebt, wollten es aber nicht zugeben.

Die Stimmung in der Kabine war sehr betrübt. Nicht weil wir unser erstes Saisonspiel verloren hatten, wir hatten auch in den Jahren zuvor schon Spiele verloren. Nein, es war der Umstand, wie wir verloren hatten. Den Ausfall einer wichtigen Spielerin konnte man verkraften, aber wenn gleich drei ausfallen, ist es für jede Mannschaft zu viel. Trotzdem gab es von niemand Schuldzuweisungen. Conni, Bianca und ich schämten uns für die schlechte Leistung. Wir sprachen aber nicht darüber. Trotzdem verabredeten wir uns, wie nach jedem verlorenen Spiel, zum Frusttanzen in der Disco. Zu heißer Technomusik rockten wir uns also auch an jenem Abend stundenlang den Ärger von der Seele. Als wir den Tanzpalast gemeinsam verließen, um mit meinem Auto nach Hause zu fahren, war es genau Mitternacht. Am sternenklaren Himmel entdeckte ich plötzlich einen Meteoritenbrocken, der in der Erdatmosphäre verglühte. „Habt Ihr auch gerade die Sternschnuppe gesehen?“, fragte ich Conni und Bianca. Sie hatten sie gesehen und waren, jede für sich, bereits dabei sich etwas zu wünschen. Ich folgte ihrem Beispiel und hoffte nichts sehnlicher, als das sich Chris in mich verlieben möge. Keine von uns verriet ihren Wunsch, da jede wusste, dass er nur dann in Erfüllung gehen konnte. Aber wie es mit solchen Erscheinungen eben ist, so ganz ist niemand von dessen Kraft überzeugt und vergisst das Ereignis genau so schnell wieder wie es gekommen war. Doch was keine von uns ahnte, sollte in dieser Nacht Wirklichkeit werden.

 

Eben diese Sternschnuppe verglühte beim Eintritt in die Erdatmosphäre nicht völlig und so sandten unsere gleichen Wünsche, mit all unserer Sehnsucht, jenes kosmische Teilchen genau in die Wohnung unseres Angebeteten und brannten sich während seines Schlafes in seinem Unterbewusstsein fest. Aber das ahnte ja keine von uns.

„Wisst Ihr“, unterbrach Bianca auf den Weg nach Hause, plötzlich die bedrückende Stille im Auto. „Ich glaube, wir haben uns ziemlich zum Narren gemacht. Sind wir doch einmal ehrlich! Jede von uns hatte die Gedanken während des Spiels nur bei Chris und die Augen auf der Tribüne bei seiner Freundin. Aber hat er nicht selbst gesagt, er sei in festen Händen? Außerdem würde er sicher nie etwas mit einer aus der Mannschaft anfangen.“ „Du hast Recht, Bianca! Wir setzen für einen Traum, der sich doch nie für eine von uns erfüllen wird, einfach zu viel aufs Spiel“, stimmte ich ihr zu. „Am Ende würde vielleicht sogar unsere Freundschaft daran zerbrechen“, gab Conni zu bedenken. Dann war es wieder still. Nur das Surren des Motors war zu hören. Keine von uns kam, wie sonst üblich, auf die Idee im Radio nach einem Musiksender zu suchen. Anders als sonst hatte uns auch das Frustabtanzen in der Disco nicht den erwünschten Erfolg gebracht. Doch plötzlich zeigte sich abrupt, wie nah uns die lange Freundschaft zusammen gebracht hatte. Wie aus einem Mund machten wir den Vorschlag, Chris nicht weiter anzuhimmeln und uns selbst dann nicht mit ihm einzulassen, wenn er sich tatsächlich für eine von uns interessierte. Eigentlich befanden wir uns in einer komischen Situation. Vor wenigen Minuten noch hatten wir uns, jede im Geheimen, in die Arme des gleichen Mannes gewünscht. Doch nun, da wir uns endlich ausgesprochen hatten, gaben wir uns das Versprechen, unsere Freundschaft über eben diesen Wunsch zu stellen. Wir schlugen unsere Hände zusammen um den Pakt zu besiegeln. Nachdem ich die beiden zu Hause abgesetzt hatte, fuhr auch ich heim. Froh und erleichtert darüber, mich mit Conni und Bianca ausgesprochen zu haben, fiel ich hundemüde in mein Bett und schlief sofort ein.

Am nächsten Morgen, eigentlich war es schon fast Mittag, war alles irgendwie anders als in den letzten Wochen. An diesem Sonntag hatte Paul mich tatsächlich ausschlafen lassen. Ich hatte gute Laune und mein Kopf war endlich mal wieder frei. Im Wohnzimmer besprachen Mum und Paps gerade den Sonntagsausflug. Hallo Schatz, guten Morgen. „Hast du Lust, mit uns in den Zoo zu kommen?“, fragte Mum enthusiastisch. „Oh danke, lieber nicht. Ich wollte mein Zimmer aufräumen, das hat es bitter nötig. Außerdem habe ich noch einiges für die Schule zu erledigen. Da kommt mir die Ruhe, wenn Ihr ausgeflogen seid, ehrlich gesagt, ganz gelegen.“ „Dann wollen wir dich mal nicht von deinen guten Vorhaben abbringen“, blockte Paps, Mums ‚ aber ' frühzeitig ab und beendete damit jegliche Diskussion. Gleich nach dem Mittagessen machten sie sich per pedes auf den Weg.

Nachdem ich mir einen großen, blauen Müllsack aus der Küche geholt hatte, begann ich mich endlich, voller Zuversicht, von einigem unnutzen Krimskrams aus längst vergangenen Zeiten zu trennen. Gerade als ich vor der schwierigen Entscheidung stand, ob ich mein Diktatheft der dritten Grundschulklasse wegwerfen könne, oder es besser doch noch aufheben solle, klingelte das Telefon. Nachdem ich mich mit meinen Namen gemeldet hatte, erstarrte ich fast zu einer Salzsäule. „Hallo, hier ist Chris Nieber. Ich würde mich gern wegen des gestrigen Spiels mit dir unterhalten. Hast du heute noch Zeit?“, Vieles hatte ich erwartet, aber darauf war ich nicht vorbereitet. „Ja natürlich“, stotterte ich. „Wollen wir uns in einer halben Stunde im Eiscafe Roma treffen?“, fragte er ohne zu zögern. „Ist gut, das schaffe ich.“ „Erst nachdem unser Gespräch beendet war, machte ich mir Gedanken über den Sinn dieser Verabredung. Ein solches Einzelgespräch hätte doch auch ebenso gut am Rande des nächsten Trainings stattfinden können. Als ich wie automatisch vor meinem Kleiderschrank stand und mir überlegte, was ich anziehen sollte, kreisten alle möglichen Gedanken in meinem Kopf. Bis ich schließlich, wütend auf mich selbst, die Schranktür zuknallte und mich zur Räson brachte. Wir hatten einen Pakt geschlossen und den konnte ich doch nicht gleich bei nächster Gelegenheit über den Haufen werfen. Nachdem ich alle Sinne wieder zusammen hatte, beeilte ich mich, um rechtzeitig da zu sein. Denn warten lassen wollte ich ihn dann doch nicht.

 

Als ich einige Minuten später das Eiscafe Roma betrat, fiel mein Blick sofort auf den Tisch, an dem er saß. Chris hatte einen schicken, hellgrünen Freizeitanzug an. Er stand sofort auf, als er mich hereinkommen sah. Jetzt kam ich mir in meiner verwaschenen Jeans und dem Nike Sweatshirt doch etwas zu einfach gekleidet vor. Ich wurde unsicher. So etwas passiert mir einfach zu oft. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen und ergriff seine ausgestreckte Hand, um ihn zu begrüßen. „Schön, dass du kommen konntest!“, Er bot mir einen Platz an und schob mir, genau wie man es immer in den alten Spielfilmen sieht, den Stuhl nach. Irgendwie wirkte er heute anders als sonst. So charmant kannte ich ihn bisher nicht. Aber es war ja auch unsere erste private Verabredung. „Bist du öfter hier?“, fragte er. Doch anstatt ihm auf seine Frage zu antworten, starrte ich ihn bloß geistesabwesend an. „Ich gehe gern hierher, bist du auch öfter hier?“, wiederholte er seine Frage. „Haben Sie schon gewählt?“, unterbrach uns der Kellner. „Was darf ich dir bestellen?“ Erwartungsvoll schauten mich die beiden Männer an. „Einen Überraschungsbecher bitte,“ schoss es aus mir hervor. „Den wollte ich schon immer einmal probieren.“ Außerdem sollte Chris, wenn er mich schon hierher bestellte, nicht so billig davon kommen. Aber anstatt dieses bei ihm Entsetzen hervorrief, bestellte er sich ebenfalls einen. „Das ist eine prima Idee“, lobte er. „Manchmal bin ich mit Conni und Bianca hier“, beantwortete ich nun endlich seine Frage. Als ich ihre Namen erwähnte, bemerkte ich ein merkwürdiges Zucken seines Oberkörpers. Etwa so, als hätte er einen leichten Stromschlag bekommen. „Ihr seid wohl besonders gute Freundinnen?“ „Oh ja, wir machen fast alles gemeinsam“, bekräftigte ich. „Es muss ein schönes Gefühl sein, wenn man jemanden hat, mit dem man die gleichen Interessen teilen kann“, seufzte er. „Aber es gibt doch sicher einige Gemeinsamkeiten, die deine Bekannte und dich ebenso miteinander verbinden. „Leider nicht. Ich habe mich heute Morgen von meiner Bekannten getrennt. Wir haben uns in letzter Zeit nicht mehr so gut verstanden.“ Er machte ein etwas zerknirschtes Gesicht und fügte hinzu: „Eigentlich waren wir gar nicht zerstritten, unsere Beziehung lief recht emotionslos vor sich hin. Aber als ich heute früh aufwachte, war mir plötzlich klar, dass Britta nicht die Richtige für eine gemeinsame Zukunft war.“

Zwei riesige Eiskelche mit den verschiedensten Früchten, Sahne, Saucen und Schokoladenraspeln wurden uns nun vom Kellner serviert. Ganz oben steckten je zwei brennende Wunderkerzen, die sämtliche Blicke der anderen Gäste auf sich zogen. „Guten Appetit, die Herrschaften!“, hofierte er in erstklassigem Deutsch mit italienischem Akzent und wandte sich mit einem breiten Grinsen den nächsten Gästen zu. Allein die überdimensional langen Eislöffel erforderten volle Konzentration, um damit ohne Malheur eine Frucht nach der anderen sicher in den Mund zu bekommen. Nun war ich doch froh, nicht meine besten Sachen angezogen zu haben. Mitten hinein in diesen Kampf mit meinem Überraschungsbecher stellte Chris die Frage, auf die ich schon lange gewartet hatte. „Warum bist du damals eigentlich nicht zu mir ins Auto gestiegen? Sah ich denn so Furcht einflößend aus?“ „Aber nein“, beruhigte ich ihn. „Wie ich an jenem Abend schon sagte, steige ich nicht zu Fremden ins Auto. Das hatte absolut nichts mit dir zu tun.“ „Da bin ich aber froh. Übrigens war die Drohung, mit der Krücke auf mein Auto zu schlagen, sehr eindrucksvoll. Ich dachte wirklich, dass du zuschlagen würdest.“ Dann begann er zu lachen. „Glaube mir, ich hätte zugeschlagen.“ Sein Lachen riss abrupt ab, er schluckte und sah mich mit großen Augen an. „Ehrlich?“ „Worauf du dich verlassen kannst“, entgegnete ich ihm mit allem gebotenen Ernst.

Schließlich legte er seine Hand auf die meine und sagte: „Aber deswegen sind wir ja eigentlich gar nicht hier.“ „Stimmt“, pflichtete ich ihm bei und zog meine Hand langsam unter seiner weg. Zwar war mir seine Berührung durch Mark und Bein gegangen und hatte mir einen kalten Schauer nach dem anderen über den Rücken gejagt, aber wenn ich bei diesem Treffen die Oberhand behalten wollte, durfte ich sie nicht unter seiner liegen lassen. „Was war bloß los mit dir?“, fuhr er fort. „Im Training und auch in den Spielen der vergangenen Saison warst du stets eine der Leistungsträgerinnen. Auch Deine Freundinnen haben weit unter Form gespielt. Aber du sagtest ja, ihr macht alles gemeinsam.“ Etwas verlegen starrte ich in die bereits zerlaufenen Eisreste am Boden des Eiskelchs und suchte verzweifelt nach einer passenden Ausrede. „Einmal im Monat gibt es tatsächlich eine Gemeinsamkeit, bei der wir halt nicht unsere volle Leistung bringen können“, log ich ihm mit hochrotem Kopf vor. Für einen Mann begriff er erstaunlich schnell, was ich ihm damit sagen wollte. „Ihr habt tatsächlich alle drei, zur gleichen Zeit…?“ Er sprach nicht weiter, schaute mich entgeistert an und maulte: „Das ist ja schrecklich!“ „Na ja, unangenehm ist es schon, aber schrecklich?“ Ich schaute ihn fragend an. „Ist das denn jeden Monat so?“, wollte er kleinlaut wissen. „Nein, nein. Ich glaube, das kam nur durch die Aufregung wegen des ersten Spiels in der neuen Liga. Normalerweise liegen da schon ein, zwei Tage dazwischen.“ Ich log mich in einen wahren Rausch hinein.

Mehr als erleichtert blies er nun die angesammelte Luft schlagartig wieder aus. „Na, wenn das so ist, kann ich wohl noch auf das nächste Spiel hoffen.“ „Klar, nächsten Samstag ist bestimmt wieder alles im Lot.“ „Darauf müssen wir anstoßen.“ Er winkte dem Kellner. „Trinkst du auch einen Grappa mit?“ „Danke, aber ein Sportler trinkt nicht.“ Ohne lange nachzufragen, akzeptierte er meine Antwort und bestellte zwei Cappuccino. „Deutschen oder italienischen?“, fragte der Ober. „Für mich bitte mit geschäumter Milch“, entgegnete ich. „Meiner bitte mit Sahne“, sagte Chris und wandte sich mir wieder zu. Er zog seine Augenbrauen hoch und strahlte mich an. „Wollen wir heute Abend Essen gehen?“ Hätte ich doch bloß diesem Pakt nie zugestimmt, schoss es mir durch den Kopf. Was sollte ich nur tun? Ich wollte Chris keinen Korb geben, wollte aber auch auf gar keinen Fall meine Freundschaft zu Conni und Bianca aufs Spiel setzen. Ich suchte verzweifelt nach einem Ausweg. „Das geht leider nicht, ich habe meinen Eltern versprochen auf Paul, meinen kleinen Bruder aufzupassen.“ „Oh wie schade. Darf ich auf ein anderes Mal hoffen?“ Wenigstens schien er nicht sauer zu sein. „Ja, ganz bestimmt“, gab ich ihm Hoffnung. „Wie wäre es dann mit morgen Abend?“ Er ließ nicht locker, doch leider musste ich ihn ein zweites Mal enttäuschen. „Morgen geht es leider auch nicht, aber wie wäre es am Dienstag nach dem Training?“ So hatte ich genügend Zeit gewonnen, um mich mit Conni und Bianca kurz zu schließen. Chris sah in seinem Terminplaner nach und stimmte meinem Vorschlag schließlich zufrieden zu. „Ich freue mich darauf. Hast du eine besondere Vorliebe für eine bestimmte Küche?“ „Ich gehe zwar gern chinesisch…“, erzählte ich, „…aber im Grunde bin ich da nicht so wählerisch. Ich lasse mich auch gern überraschen.“

„Bitte sehr die Herrschaften, zwei Cappo Italiano.“ „Mille Grazie“, bedankte sich Chris in perfektem italienisch. Der Kellner lächelte erfreut und nickte ihm freundlich zu. „Giuliano ist in Ordnung. Wir kennen uns aus der Disco“, verriet mir Chris. „Wir haben den gleichen Geschmack.“ „Bei Mädchen?“, fiel ich ihm ins Wort. Chris lachte, schaute mir tief in die Augen und fragte: „Glaubst du?“ „Wer weiß schon, was in dem Kopf eines Mannes vor sich geht, geschweige denn, in denen von zweien.“ Meine Frage aber blieb unbeantwortet. Ich merkte, dass er sich über seine unbedachte Äußerung ärgerte. Der Cappuccino war noch sehr heiß, also pustete ich, eigentlich ohne Aussicht auf Erfolg, mehr um Chris Zeit zum Nachdenken zu verschaffen. „Hat dir schon einmal ein Mann gesagt wie toll du aussiehst?“ Damit hatte er es geschafft, mich endgültig zu verunsichern. Vor Schreck verbrannte ich mir die Lippe. Was für eine dämliche Frage! Bohnenstange, Fresslatte oder andere Bezeichnungen in dieser Richtung hatte ich während meiner Schulzeit über mich ergehen lassen müssen, aber noch nie hatte mir ein Mann ein solches Kompliment gemacht. Doch nun nicht weich werden, Steffi, dachte ich mir. Von ein paar Komplimenten lässt du dich doch noch nicht einfangen. Ich musste meiner Linie treu bleiben. „Natürlich“, sagte ich mit aller aufzubietenden Selbstsicherheit. „Euch Männern könnte auch mal etwas Neues einfallen!“ Ich hätte es wissen müssen, ein Mädchen wie du hat sicher viele Verehrer.“ „Nein, nein! Da gibt es nur einen, aber mit dem bin ich so gut wie verlobt“, trumpfte ich auf. „Kenne ich den Glücklichen?“ „Ich glaube nicht.“ „Wie heißt er denn? Vielleicht kenne ich ihn ja doch.“ Oh weh, nun hatte ich mich Hals über Kopf in eine Sackgasse gelogen. Lange Zeit zum Nachdenken blieb mir nicht. Dummerweise wollte mir niemand anderer als Mark einfallen. Musste ich doch sicher sein können, dass er ihn nicht kannte. „Mark Seiler.“ Ich hatte den Namen so überzeugend wie möglich herübergebracht. Ich wollte wissen, wie er reagiert. Wenn er wirklich Interesse an mir hätte, da war ich mir fast sicher, würde er jetzt nicht aufgeben. Sein spritziges, zielsicheres Auftreten hatte einen Knacks bekommen. Zweifel zeigten sich in seinem Gesicht. „Hat denn dein Freund nichts dagegen, wenn du mit mir Essen gehst?“, fragte er verunsichert. „Sollte er? Mark hat Vertrauen zu mir.“

Gerade im richtigen Moment hatte ich meinen Cappuccino ausgetrunken. Es war Zeit für mich. Wenn Mum und Paps nach Hause kamen, wollte ich wenigstens mit dem Aufräumen fertig sein. „Darf ich dir noch etwas bestellen?“, fragte Chris, der allmählich seine Fassung wieder gefunden zu haben schien. „Nein danke schön. Für mich wird es höchste Eisenbahn.“ „Der Kleine wartet wohl schon?“ „Ich sehe Mark erst Morgen.“ „Ich dachte da eigentlich mehr an deinen Bruder. Sagtest du nicht, du müsstest heute Abend auf ihn aufpassen?“ Herrje, diese Lügerei lag mir nicht. Zu viel, was man sich merken musste. So unschuldig wie möglich und doch so wie ein Hochstapler, den man gerade auf frischer Tat ertappt hatte, lächelte ich nur zurück. „Ach du meinst Paul. Ja, meine Eltern müssen bald los.“

Obwohl Chris sicher noch gern geblieben wäre, schnippte er nach Giuliano und trank hastig aus. „Zahlen bitte!“ „Das macht genau 27 Euro.“ Er beglich die Rechnung, gab noch ein ordentliches Trinkgeld und wir verließen zusammen das Cafe. Wieder spürte ich, wie seine Hand die meine suchte, sie aber nicht fand, weil ich sie rechtzeitig in meiner Tasche versteckt hatte, um darin nach meinem Autoschlüssel zu suchen. Einige Schritte später hatten wir meinen Corsa erreicht. „Also dann Chris, vielen Dank für die Einladung und das nette Gespräch. Bis zum Training.“ Nun reichte ich ihm meine Hand, aber nun wollte er sie nicht mehr. Stattdessen ergriff er mich an den Schultern und zog mich an sich heran. Widerstandslos ließ ich es geschehen. Erwartungsvoll schloss ich meine Augen. Ich spürte seinen Atem, seine Barthaare, die mich an der Nasenspitze kitzelten, spürte dann aber enttäuscht, wie sich seine feuchten Lippen haarscharf an meinem Mund vorbei, ihren Weg auf meine Wange suchten. Spätestens jetzt war es um mich geschehen. „Ich hoffe, dieser Nachmittag war der erste von vielen, die noch folgen mögen. Ich weiß noch nicht, was es genau ist, aber irgendetwas zieht mich magisch in deinen Bann.“ Trunken vor Glück stieg ich in mein Auto und winkte ihm beim Anfahren noch einmal zu. Ich beeilte mich, nach Hause zu kommen, um am Ende dieses Traums wenigstens in meinem Bett zu erwachen. Denn dies alles konnte nur ein wunderschöner Traum sein!

Es hatte angefangen zu regnen. Als ich meinen Wagen vor unserem Haus parkte und in seliger Ruhe ausstieg, dachte ich weder an den Regen noch an die Zeit. Ich schritt dahin, ohne eigentlich den Boden unter meinen Füßen zu spüren. Gerade so, als schwebte ich auf Wolken dahin. Auf äußerst nassen Wolken! Von weit, weit weg hörte ich, wie jemand, ganz melodisch, meinen Namen rief. Erst als die Stimme lauter wurde, erwachte ich, zunächst ganz langsam, dann schlagartig, weil Mum an meinem Arm herumriss und mit mir schimpfte. „Was ist denn bloß mit dir los, Stefanie? Du stehst hier patschnass auf dem Flur und setzt alles unter Wasser.“ So fand der Traum vom großen Glück ein jähes Ende. Aber wenn ich hier tatsächlich stand und wirklich nass war, dann war der Traum also Wirklichkeit. Ich nahm Mum total happy in den Arm, küsste sie links und rechts und ließ sie verdutzt stehen. „Peter…“, rief Mum, „…es ist so weit, hol den Baseballschläger, deine Tochter ist verliebt.“ Keine 5 Minuten später, ich stand im Bad vor dem Spiegel und fönte mir summend die Haare, kam Paps herein und wollte wissen, was mit mir geschehen war. „Als wir vor 4 Stunden das Haus verließen, warst du doch noch ganz normal! Was ist denn in der Zwischenzeit passiert?“ „Am Dienstagabend komme ich nach dem Training nicht gleich nach Hause. Es kann später werden.“ „Was hast du denn vor?“ „Ich bin zum Essen eingeladen.“ „Du kannst im Grunde ja machen was du willst, ich hoffe nur, du weißt auch was du willst.“ „Da sei mal ganz unbesorgt, oder hast du kein Vertrauen zu mir?“ Paps streichelte mir das Haar. „Doch, das habe ich.“ Wenn ich denke, dass es an der Zeit ist, werde ich ihn euch schon vorstellen.“ „Ist in Ordnung.“ Mit dem Daumen nach oben verließ er das Bad.

Noch am selben Abend rief ich bei Conni an und verabredete mich mit ihr für den nächsten Tag, ohne mir etwas anmerken zu lassen oder ihr etwas zu erzählen. Bei Bianca konnte ich nur eine Nachricht auf den Anrufbeantworter sprechen. Es war niemand da. Auch die Familie Zogel unternahm sonntags oft gemeinsame Ausflüge.

 

4

 

Nach einer sehr unruhigen Nacht, in der ich nur wenig schlafen konnte, fühlte ich mich den ganzen Vormittag über wie gerädert. Obwohl ich heute in der Kontoführung beschäftigt war, was mir normalerweise viel Spaß macht, wollte einfach keine gute Stimmung in mir aufkommen. Die ganze Zeit über war ich wegen des Gesprächs mit meinen Freundinnen auf der Suche nach den richtigen Worten. Das schlechte Gewissen, sie hintergangen zu haben, drückte mir wie eine zentnerschwere Last auf das Gemüt. „Entschuldigen Sie, bin ich bei Ihnen richtig, wenn ich ein Konto eröffnen will?“ Nur gut, dass ich hinter meinem Schreibtisch saß, denn als ich aufsah, bekam ich weiche Knie. Chris stand vor mir. „Was machst du denn hier?“ „Ich wollte eigentlich ein Konto eröffnen.“ „Na gut, dann bist du bei mir richtig.“ „Das wusste ich schon, als ich dich zum ersten Mal sah.“ Ich war kurz davor in Ohnmacht zu fallen, riss mich jedoch zusammen, um kein einziges seiner lieben Worte zu verpassen. „Was für ein Konto möchtest du denn bei uns einrichten?“, fragte ich ihn geschäftsmäßig. „Ein Konto, in das ich alles investieren möchte, was ich habe.“ Ich begriff nicht. „Ein Sparbuch?“ „Ein Sparbuch fürs Leben!“ „Wie viel möchtest du denn einzahlen?“ „Ein Herz.“ Oh Gott. Der Mann machte mir die süßeste Liebeserklärung seit Romeo und Julia und ich glaubte, er wolle ein Konto eröffnen. Ich saß auf meinem Drehstuhl und schaute aus der Wäsche wie ein Fisch, dem man das Wasser des Lebens abgelassen hatte. Gerade noch rechtzeitig bekam ich mit, dass sich Herr Lampe meinem Schreibtisch näherte. „Falls Sie sich für ein normales Girokonto in unserem Hause entscheiden sollten…“, begann ich, das Erlernte herunterzubeten, „…haben Sie auch die Möglichkeit, nach Eingabe Ihres Passwortes, von zu Hause aus Ihre Bankgeschäfte entweder Online oder per Telefon zu erledigen.“ „Sie kommen klar, Stefanie?“, flüsterte mir Herr Lampe zu. Ich nickte. „Bin ich dann mit Ihnen verbunden?“, wollte Chris nun wissen. „Leider nicht, Sie sprechen, falls Sie das Telefon wählen, mit einer Kollegin aus der Zentrale.“ „Dann komme ich lieber persönlich.“ Spätestens jetzt war der Punkt erreicht, an dem jede Frau rot wird. „Da kann ich Sie gut verstehen, mein Herr“, pflichtete ihm Herr Lampe bei und grinste mich augenzwinkernd an. „Jung müsste man halt noch mal sein“, resümierte er und ging an seinen Schreibtisch zurück, um einer älteren Dame behilflich zu sein. Zum ersten Mal in meinem Leben genoss ich es, eine begehrte Frau zu sein. Chris stand auf, reichte mir die Hand und sagte so laut, dass es sicher jeder im Umkreis von 20 Metern hören konnte: „Vielen Dank für Ihre ausgezeichnete Beratung. Ich werde alle meine Konten bei Ihnen einrichten.“ „Bis morgen“, flüsterte ich ihm zu. Dann ging er und ich schaute ihm noch lange nach.

Wie verabredet trafen wir uns am Abend bei Conni. Obwohl sie vor Neugier fast platzte, wollte ich unbedingt auch auf Bianca warten. Eine halbe Stunde später waren wir vollzählig. „Nun erzähl schon“, drängte Conni, „Was gibt es denn so Besonderes, dass du am Telefon nicht darüber sprechen wolltest?“ „Ratet doch mal, wer mich gestern zu Hause angerufen und mich ins Roma eingeladen hat?“ Beide zuckten mit den Schultern. „Keine Ahnung.“ „Chris!“ „Wie bitte? Was wollte er denn von Dir?“ Während Conni nun alles ganz genau wissen wollte, saß Bianca regungslos da und wurde mit der Dauer meiner Erzählungen immer blasser. „Er sagte mir am Telefon, dass er sich wegen des verkorksten Spiels mit mir unterhalten wollte, aber dann kam alles irgendwie ganz anders. Er machte mir Komplimente und erzählte mir, dass er sich von seiner Freundin getrennt habe. Wenn ich mit Euch nicht am Abend zuvor den Pakt geschlossen hätte, wäre ich sicher seiner Einladung zum Abendessen nachgekommen. Gott weiß, was gestern Abend noch geschehen wäre.“ Conni lehnte sich fassungslos in den rosa Cocktailsessel zurück und atmete tief durch.

Bianca war inzwischen weiß wie eine Kalkwand. „Ich weiß auch, was gestern geschehen wäre“, meldete sie sich nun zu Wort. Die Farbe ihres Gesichts hatte sich nun schlagartig in ein kräftiges Rot verändert. „Wieso du?“, fragte ich irritiert. „Weil er nach deiner Absage bei mir angerufen hat. Unter demselben Vorwand hat er mich in das Peking Restaurant am Marktplatz eingeladen. Er zog bei mir die gleiche Masche ab wie bei Dir. Höfliches, zuvorkommendes Auftreten, Komplimente und schließlich leichte Zärtlichkeiten. Leider war ich nicht so standhaft wie du.“ Ihre Stimme hatte sich verändert und ein paar Tränen kullerten aus ihren Augen. „Du hast doch nicht etwa mit ihm geschlafen?“ „Als er mich nach Hause brachte, war er sehr zärtlich. Wir parkten am Mühlenweiher, ihr wisst schon, da an dem kleinen Wäldchen. Wenn ich nicht noch meine Periode gehabt hätte, wäre es sicher zum Äußersten gekommen. Es tut mir so Leid, ich schäme mich so.“ Dann schluchzte sie und nichts auf der Welt konnte sie beruhigen. Es hatte mir zwischenzeitlich die Sprache verschlagen, aber nun stieg Wut in mir auf. „Heute Vormittag noch war er bei mir in der Bank und hat Süßholz geraspelt. Ich bin ihm voll auf den Leim gegangen. Nur gut, dass ich vorher mit euch darüber sprechen wollte. Sonst wäre ich sicher morgen Abend sein nächstes Opfer geworden.“ „Das glaube ich nicht“, meinte Conni ganz trocken. „In etwa einer Stunde bin ich mit ihm verabredet. Aber der kann warten, bis er schwarz wird.“

Total schockiert saßen wir da und schwiegen uns an. Ab und zu gab die eine oder andere von uns ein wütendes ‚Grrr' oder Oh von sich, bis Bianca plötzlich einen Einfall hatte. „Nichts da, natürlich wirst du zu ihm gehen! Wo habt Ihr euch verabredet?“ „Im Athen.“ „Ich hoffe, du hast ordentlich Kohldampf.“ Bianca schlug sich in die Hände. „Du bestellst nur das Teuerste und futterst die Speisekarte rauf und runter. Der soll dafür bezahlen, was er uns angetan hat.“ Feuer loderte in ihren Augen. „Dann stehst du auf und sagst, dass du zur Toilette musst. Stattdessen schleichst du dich aber hinaus. Das geht im Athen ganz gut, weil man vom Speiseraum aus weder die Toiletten noch die Eingangstür sehen kann.“ „Eine klasse Idee“, stimmte ich Bianca zu. „Das darf dann aber noch nicht alles gewesen sein! So billig darf der uns nicht davonkommen.“ Bianca und ich waren uns einig, nur Conni hatte noch Bedenken. „Versteht mich bitte nicht falsch, aber was ist, wenn ich so nicht wegkomme? So ganz allein, habe ich da schon ein wenig Angst.“ „Keine Panik, wir werden dich nicht aus den Augen lassen.“ „Wie willst du das anstellen, Bianca? Wenn er euch entdeckt, hat er unser Spiel doch sofort durchschaut.“ Da hatte Conni zweifellos Recht. „Ich hab's! Ich werde Mark anrufen. Den kennt Chris nicht und wenn er Zeit hat, hilft er uns bestimmt. Da bin ich mir sicher.“ Ich hatte mich nicht getäuscht. Nachdem ich ihm erklärt hatte, was unbedingt nötig war, war er sofort bereit, uns zu helfen. Keine 20 Minuten später klingelte er an Connis Haustür. In der Zwischenzeit hatten wir Conni beim Umziehen geholfen. Für ihr Outfit hatten wir uns etwas ganz Besonderes ausgedacht. Um diesen Macho gehörig zu blamieren, war uns fast jedes Mittel recht. So zogen wir Conni die schrägsten Klamotten an, die wir in ihrem Schrank finden konnten. Gelbe Fransenstiefel, einen blauen Faltenrock, eine giftgrüne Bluse von ihrer Mutter und aus deren Schmuckschatulle eine weiße, extra lange Perlenkette. So hätte sie sicher jede Vogelscheuche in den Schatten gestellt. Bevor wir losfuhren, sprachen wir alles noch einmal durch.

Mark betrat als erster, einige Minuten vor Conni das Athen. Bianca und ich verbargen uns in einer dunklen Parkbucht, die sich in einiger Entfernung befand. Gerade noch so weit, dass wir den Eingang zum Restaurant beobachten konnten. Über eine Stunde warteten wir so in meinem Auto, immer die Tür im Blickfeld. Viel sprachen wir nicht miteinander, aber ich spürte deutlich, dass sich Bianca, neben all der Wut in ihrem Bauch, auch für ihren Wortbruch schämte. Sie tat mir Leid. Zuerst die Sache mit Sven und nun diese Enttäuschung. Zum wer weiß nicht wievielten Male, ging die Tür zum Restaurant auf. Endlich war es Conni, die herauskam. „Sie weiß doch, wo wir warten, warum kommt sie nicht?“ Conni stand scheinbar etwas irritiert vor dem Eingang und sah sich um. Als sie in unsere Richtung schaute, gab ich ihr mit der Lichthupe Zeichen. Sie bemerkte es und kam zu uns gelaufen. Nun warteten wir gemeinsam auf das, was weiter geschah.

„Erzähl schon“, drängte ich, „wie hat sich der Don Juan verhalten?“ „Genau wie bei euch. Er gab sich äußerst galant. Zuerst ging es um unser letztes Spiel. Aber schon nach wenigen Sätzen erzählte er mir von seiner Trennung.“ „So ein Schwein!“, fiel ihr Bianca wutentbrannt ins Wort. „Genau die gleiche Masche wie bei mir!“ „Als ich nach einem Suflaki, einer Portion Moussakas, einem Bauernsalat und einem Eis noch ein weiteres Eis bestellte, schaute er mich etwas ungläubig an. Seine Augen wurden mit jedem Löffel, den ich in meinem Mund verschwinden ließ, größer und größer. Ich sage euch, ich bin pappsatt. Aber es Spaß gemacht, zu sehen, wie mein Appetit ihn verwirrte. Mark hatte sich einige Tische weiter in Chris' Rücken gesetzt. Er passte die ganze Zeit über gut auf mich auf. Aber es gab keine Probleme. Chris hat ja die ganze Zeit über geredet und ich bloß gegessen. Als er dann meine Hand nahm, bin ich wie abgesprochen aufgestanden. Leider wohl etwas zu schnell! Bei meinem überhasteten Aufspringen stieß ich so unglücklich an den Tisch, dass sein volles Glas Bier umkippte und sich über seine Hose ergoss. Triefnass ging er zur Toilette.“ Bianca kreischte vor Vergnügen und klatschte sich auf die Schenkel. „Das hast du gut gemacht.“ „Ich habe die Gelegenheit natürlich gleich genutzt und bin raus.“ „Wenn der vom Klo wieder zurückkommt, wird er denken, dass du auch mal musstest und auf dich warten. Der sitzt sich da drinnen einen Wolf.“ „Das geschieht ihm ganz Recht“, pflichtete ich Bianca bei und begann ebenfalls schadenfroh zu lachen.

„Sag mal Conni, wo ist eigentlich deine Jacke?“ „Au Backe Steffi, die habe ich in der Aufregung an der Garderobe vergessen. Hoffentlich denkt er nicht daran.“ Gebannt auf die Restauranttür starrend, warteten wir Minute um Minute. Fast eine halbe Stunde lang. Dann kam Mark heraus. Wieder benutzte ich meine Lichthupe, um ihn auf uns aufmerksam zu machen. Es klappte! Er hatte uns bemerkt und kam auf uns zu. Doch gerade als ich die Autotür öffnen wollte, trat Chris vor das Lokal. Mark hatte es gottlob bemerkt und ging unauffällig weiter. „Schau…“, flüsterte ich, „…er hat deine Jacke über seinen Arm.“ „Auch das noch.“ Er sah sich suchend um, ging einige Male auf und ab, stieg schließlich in seinen grünen Alfa Romeo und brauste nur einige Sekunden später mit quietschenden Reifen auf und davon.

„Scheint etwas sauer gewesen zu sein, der Gute.“ Bianca grinste. „Dem haben wir sein Rendezvous aber gründlich vermiest.“ „Dieses war der erste Streich“, trällerte Conni. „Und der nächste folgt so gleich“, stimmte ich ein. Mark kam zurück und setzte sich nach hinten zu Conni. „Erzähl mal, was war denn, nachdem ich raus gegangen war“, fragte sie neugierig. „Kurze Zeit, nachdem du gegangen warst, kam er an euren Tisch zurück und setzte sich wieder. Nach etwa 10 Minuten sah er sich suchend um. Weitere 10 Minuten später stand er auf und ging in Richtung Toiletten. An der Garderobe machte er halt. Dort muss er wohl deine Jacke gesehen haben. Jedenfalls kehrte er um und setzte sich wieder. Er sah ständig wieder auf seine Uhr und sprach schließlich mit dem Ober. Der zeigte auf den Ausgang und kam wenig später mit der Rechnung zurück. Euer Trainer bezahlte und ging noch einmal zur Toilette. Wahrscheinlich wollte er sich selber noch einmal davon überzeugen, dass du tatsächlich gegangen warst. Jedenfalls denke ich, dass es so war, denn schließlich kam ich ja vor ihm aus dem Restaurant. Den Rest habt Ihr ja selber gesehen.“ „Du hast deine Sache wirklich gut gemacht, Mark.“ Conni bedankte sich bei ihm mit einem Kuss auf die Wange. Sogar im matten Schein meiner Innenraumbeleuchtung konnte ich sehen, wie er zwischen den Ohren rot wurde. „Gern geschehen, jederzeit wieder.“ Als er ausstieg, um zu seinem Wagen zu gehen, bedankten auch Bianca und ich uns bei ihm. „Also dann bis Morgen. Schlaf gut.“ „Danke, ihr auch. Tschüss!“,

 

„Was soll ich jetzt bloß wegen meiner Jacke machen?“, lamentierte Conni. „Gar nichts! Er wird sie sicher zum Training mitbringen“, beruhigte Bianca unsere Freundin. „Aber was soll ich ihm sagen, wenn er mich fragt, warum ich gegangen bin?“ Daran hatten wir noch gar nicht gedacht. Ich startete den Motor und fuhr erst einmal los. Wir überlegten fieberhaft. „Das ist wirklich ein Problem. Du könntest sagen, dir sei schlecht geworden“, schlug Bianca vor. „Oder du sagst ganz einfach, dass du dich wegen deines Missgeschicks geschämt hast und ohne groß zu überlegen gegangen bist. Deine vergessene Jacke ist ein Indiz dafür, wie sehr du Arme durcheinander gewesen bist. „Warum wollen wir ihn eigentlich nicht mit unserem Wissen konfrontieren?“, fragte Bianca. „Interessiert dich denn gar nicht, was er noch alles versuchen wird, um eine nach der anderen von uns auf seiner Abschussliste eintragen zu können?“, versuchte sie Conni bei ihrer Ehre zu packen. Ich schlug mit der Faust auf das Lenkrad. „Ich würde ihm zu gern eine solche Lehre erteilen, dass er sich wünscht, er sei vom anderen Ufer!“ Conni und Bianca lachten. „Du hast Recht Steffi, der soll nie wieder ein Mädchen so an der Nase herum führen wollen.“ Conni überlegte. „Aber wie soll es weiter gehen?“ „Ich habe euch doch erzählt, dass ich morgen nach dem Training mit ihm verabredet bin. Mal sehen, wie sich der Abend entwickelt.“

In der folgenden Nacht tat ich kaum ein Auge zu. Viel zu sehr war ich mit der großen Frage nach dem Warum beschäftigt. Da war auf der einen Seite der Traumtyp, in den ich mich verliebt hatte, doch auf der anderen stand der Macho, der Aufreißer, der meine Freundinnen und mich nur an der Nase herumführte. Dem wahrscheinlich jedes Mittel Recht war, um jede einzelne von uns in sein Liebesnest zu bekommen. Dafür verachtete ich ihn. Was veranlasste ihn nur zu solch widerlichen Spiel? War es der Urtrieb des Sammlers und Jägers, oder lief am Ende sogar eine Wette unter Kumpels? Die skurrilsten Varianten und abartigsten Gemeinheiten gingen mir durch den Kopf. Aber auf die große Frage fand ich auch bis weit nach Mitternacht keine Antwort. Irgendwann muss ich dann wohl doch eingeschlafen sein. Denn als Mum mich am Morgen weckte, hatte ich verschlafen.

 

 

5

 

„Stefanie, wach auf, du hast verschlafen!“ Nur gut, dass Mum heute, nachdem sie Paul in den Kindergarten gebracht hatte, nicht gleich zu Iris ins Atelier gefahren war, sondern noch einmal nach Hause kam. Wer weiß, wie lange ich sonst noch vor mich hin geträumt hätte. „Es war gestern wohl ein wenig zu spät geworden? Ich hoffe, du vernachlässigst deine Arbeit nicht.“ „Sei unbesorgt, ich verspreche dir, dass es nicht wieder vorkommt.“

Nur um wenige Minuten zu spät traf ich in der Bank ein. Ich hatte Glück, mein Fehlen war bislang nur Mark aufgefallen. „Meine Güte“, begrüßte er mich ganz aufgeregt. „Ich dachte schon, dass nachdem ich euch allein gelassen hatte noch etwas passiert sei.“ „Ich habe bloß verschlafen.“ „Du hast Glück, Lampe und die anderen sind zum Morgenappell beim Alten.“ „Ich möchte mich noch einmal für gestern Abend bei dir bedanken. Das war echt nett von dir.“ „Du weißt doch, richtige Freunde wie wir sollten immer füreinander da sein. Aber sag mal Steffi, wie soll denn das mit euch und dem Typ noch weiter gehen?“ „Heute Abend, nach dem Training bin auch ich mit ihm zum Essen verabredet.“ „Dann werde ich mich auf jeden Fall wieder zur Verfügung halten“, ereiferte sich Mark. „Weißt du schon, wohin ihr geht?“ „Leider nicht, er wollte mich überraschen. Wir fahren gleich vom Training aus los.“ „Dann werde ich auf dem Parkplatz vor der Sporthalle in meinem Auto auf euch warten und unauffällig folgen.“ „Das ist sehr lieb von dir, aber nicht nötig. Ich habe keine Angst vor ihm.“ „Bist du dir da ganz sicher? Man kann nie wissen.“ „Sei unbesorgt, ich werde, wenn nötig, auch allein mit ihm fertig.“

Dieser Arbeitstag wollte und wollte nicht vergehen. Dienstag ist immer Aktentag. Da werden wir nicht in der Schalterhalle, sondern in den Büros eingesetzt. Herr Lampe ist der Meinung, dass jeder, der mit den neusten Errungenschaften der Technik arbeiten will, auch wissen muss, wie er sich im Notfall mit der herkömmlichen Art zurechtfinden kann. Das Wort Computer ist für ihn geradezu ein Reizwort. So mussten wir also sämtliche Vorgänge, die wir gestern am Rechner bearbeitet hatten, heute von Hand nacharbeiten. Endlich war Mittagspause. Während die meisten Ausgelernten, je nach Geschmack und Appetit, sich auf die umliegenden Lokale und Restaurants verteilten, begnügten sich die Azubis mit den mitgebrachten Stullen, oder gingen auf eine Portion Pommes in die Stadt. Da uns das Wetter an diesem Tag mit Sonnenschein lockte, beschlossen Mark und ich, ebenfalls ein wenig in der Fußgängerzone zu bummeln. An einem der vielen Cafes´ machten wir Halt und setzten uns an einen der draußen stehenden Tische. Wir bestellten Milchkaffee und sprachen über Basketball und, ich glaubte es kaum, über Boxen. Mark war in einen Boxsportverein eingetreten. Zwar war er erst ein paar Wochen dabei, hatte aber bereits, wie ich jetzt erst bemerkte, einige Pfund abgenommen. Mitten in unserem Gespräch blieb mir plötzlich die Stimme weg. „Was ist denn los, Steffi?“ „Küss mich, schnell küss mich!“ „Spinnst du?“ Über seine Schulter hinweg hatte ich Chris, langsam näher kommend, erspäht. „Nun mach schon“, trieb ich den armen Mark, der nicht wusste, wie ihm geschah. Doch er wusste nicht so recht, wie er es anstellen sollte. Er ging dabei so unbeholfen zu Werke, dass Chris schon fast vor uns stand. „Nun stell dich doch nicht so zimperlich an!“ „Also gut, wenn du darauf bestehst.“ Dann zog er mich mit seinen bärenartigen Pranken zu sich heran und küsste mich. Aus dem Augenwinkel heraus, konnte ich sehen, wie Chris nun auf gleicher Höhe war. Doch zu meinem Entsetzen war alle Mühe umsonst. Er ging, ohne uns zu bemerken, vorbei. Mark dagegen kam nun voll auf seine Kosten. Er küsste mich, was das Zeug hielt. Ohne eine Chance von ihm los zu kommen, zappelte ich wie ein Fisch im Netz Er hatte die Situation natürlich völlig missverstanden. Er küsste und küsste mich und schien überhaupt nicht die Absicht zu haben, jemals damit wieder aufzuhören. Schließlich bekam ich eine Hand frei und da ich mir keinen anderen Rat wusste, zog ich ihn an den Haaren. „Au! Bist du verrückt?“ Endlich wieder frei, holte ich erst einmal tief Luft. „Mein Gott, das wollte ich dich auch gerade fragen. Ich bekam schon keine Luft mehr“, jappte ich. „Aber du hast doch gesagt, ich soll nicht so zimperlich sein.“ „Ach Mark, das war doch nur, weil Chris gerade vorbeiging.“ Sichtlich enttäuscht stand er auf und ging zur Toilette. Viel zu spät begriff ich, dass ich ihm mit dieser Aktion wehgetan hatte. Ich kam mir schäbig und gemein vor. Keinesfalls wollte ich ihm irgendwelche Hoffnungen machen. Noch viel weniger hatte ich die Absicht ihn zu verletzen. Schließlich bedeutete mir Marks Freundschaft sehr viel. Als er zurückkam hatte er sich gefangen. Er lächelte mich an und meinte: „Wenn du bezahlt hast, können wir.“ Ich sah ihn fragend an, denn ein solches Verhalten kannte ich nicht von ihm. „Was schaust du“, fragte er. „Glaubst du, meine Dienste seien umsonst?“ Jetzt lachten wir beide. Ich bezahlte und wir gingen.

Wie eigentlich fast immer, ging es von der Arbeit aus gleich zum Training. Als ich auf dem Parkplatz ankam, waren Conni und Bianca bereits da und warteten sitzend auf einem Telefonverteiler. „Warum seid ihr noch nicht oben?“ „Wir wollten lieber auf dich warten. Chris ist schon da.“ Conni machte mal wieder ein besorgtes Gesicht. „Aber sonst sind wir die Ersten“, sagte sie und schluckte. „Wegen deines plötzlichen Abgangs gestern Abend bleibst du am besten bei dem, was wir besprochen haben. Das ist einfach und plausibel. Er wird es schlucken. Übrigens habe ich ihn heute Mittag in der Stadt gesehen.“ „Und?“ „Er hat uns nicht bemerkt.“ „Wieso euch?“ „Ich habe zusammen mit Mark die Mittagspause in der Fußgängerzone verbracht.“ „So, so“, bemerkte Bianca. „Mir ist schlecht“, jammerte Conni, als wir schließlich vor der Tür zur Umkleidekabine angelangt waren. „Ach was“, unterdrückte Bianca sofort ihr Winseln und schob sie vorweg durch die Tür. Das Licht war bereits angeschaltet, so konnte sie gleich ihre, an einem der Haken hängende Jacke sehen. Mehr als erleichtert, Chris nun nicht mehr darauf ansprechen zu müssen, hatte sich ihr ängstlicher Gesichtsausdruck in ein breites Grinsen verwandelt. „Siehst du, Bianca“, gab sie sogleich wieder großspurig zum Besten. „Schon Konfuzius sagt: Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird.“

Auch während des gesamten Trainings sollte Konfuzius Recht behalten. Chris ließ sich nicht das Geringste anmerken. Er benahm sich so, als wäre nichts geschehen. Natürlich wunderte uns das, aber eigentlich waren wir ganz froh darüber. Genau genommen war es für ihn die einzige Möglichkeit, das Training halbwegs vernünftig über die Bühne zu bringen. Schließlich wusste er auch nicht, ob wir uns besprochen hatten. Außerdem stand uns am Wochenende ein schweres Auswärtsspiel bevor. Da mussten die Köpfe unbedingt frei sein. Denn noch so eine indiskutable Leistung durften wir uns nicht erlauben. Ganz entgegen seiner sonstigen Gewohnheiten war Chris heute als erster mit dem Umziehen und Duschen fertig. Als wir auf den Flur kamen, wartete er schon auf uns. „Ich möchte bitte mit euch reden.“ Völlig verdutzt blieben wir vor ihm stehen. „Es tut mir Leid Steffi, ich weiß, dass wir heute miteinander verabredet waren, aber so geht das einfach nicht. Könnten wir vielleicht zusammen irgendwohin gehen und uns in Ruhe unterhalten? Ich glaube, ich bin euch eine Erklärung schuldig.“ Wir schauten uns verwundert an und stimmten seinem Vorschlag zu. Vielleicht war das ja wirklich der einzige Ausweg aus diesem Dilemma.

Wenig später saßen wir in einem gemütlichen Weinlokal. Anders als verabredet, hatte Mark es sich nicht nehmen lassen, uns zu folgen. Eigentlich ganz lieb von ihm. Er betrat direkt nach uns das Lokal und wählte sich einen Tisch in Sichtweite, um gegebenenfalls einschreiten zu können. Es lag eine ganz merkwürdig pikante Stimmung in der Luft. Chris spielte schon eine ganze Weile nervös mit seinem Glas. Ab und zu nippte er daran, holte tief Luft, etwa so, als wolle er zu einem längeren Satz ansetzen, stockte und brach ihn jedoch jeweils mit einem tiefen Seufzer wieder ab. Mehr als gespannt warteten wir zunehmend ungeduldiger auf das, was er uns zu sagen hatte. Endlich war er so weit. Noch einmal holte er tief Luft, räusperte sich und begann. Zunächst einmal möchte ich mich bei jeder einzelnen von euch für mein Verhalten entschuldigen. Sicher habt Ihr inzwischen schon darüber gesprochen.“ Wir nickten zustimmend. „Dann seid Ihr sicher nicht gut auf mich zu sprechen. Was ich sehr gut verstehen kann.“ Wieder nickten wir zustimmend. „Ich hätte wissen müssen, dass ich euch so verletzen würde. Auch wenn Ihr es mir vielleicht nicht glauben werdet, aber das war das Letzte, was ich wollte.“ „Logisch, wer lässt sich schon gern erwischen“, zischte Bianca. „Ich weiß ja selber nicht, was mit mir los ist, aber ich empfinde für jede von euch gleichermaßen stark. Ein Gefühl, das auch für mich neu und ungewohnt ist. Es ist nicht mehr mein Verstand, der mein Handeln bestimmt.“ „Willst du uns damit etwa weismachen, dass du uns alle drei liebst?“, unterbrach ich ihn. „Das nehmen wir dir nicht ab!“ „Das hatte ich auch nicht anders erwartet. Wahrscheinlich würde ich mir selber nicht glauben. Es ist sicher besser, wenn ich jetzt gehe.“

Ich kann euch nur noch einmal versichern, dass mir die ganze Sache unendlich Leid tut.“ Er stand auf und schlich wie ein begossener Pudel an die Theke, um zu bezahlen. Beim Hinausgehen hob er zögerlich seine Hand, um einen letzten, verzweifelten Versuch zu unternehmen, uns vielleicht doch noch zu einem Rückruf zu bewegen. Aber keine von uns rührte sich. Durch die mit Blei gerahmten, bunten Fenster sahen wir ihm nach, bis er in der Dunkelheit verschwand. Jede von uns empfand dabei auf ihre ganz eigene Weise. Conni sicherlich voller Mitleid und Zweifel, gerade das Richtige getan zu haben. Bianca sicher mit Wut im Bauch und voller Genugtuung und ich ohne fertigen Gedanken. Zu sehr hatten mich seine Worte verwirrt, als dass ich schon nach dieser kurzen Zeit der Besinnung zu einem Urteil fähig gewesen wäre.

Mark hatte sich von seinem Platz erhoben und kam, sein Glas in der Hand, an unseren Tisch herüber. Wortlos setzte er sich zu uns. Bianca war die Erste, die unser Schweigen brach. „Sagt mal Kinder, habe ich das eben nur geträumt, oder war das die Wirklichkeit?“ „Auf jeden Fall schien er ganz verstört zu sein“, merkte Mark an. „Wenn das gespielt war, dann war es bühnenreif! Ich hatte den Eindruck, dass er bei euch Hilfe suchte.“ „Hilfe?“, fragte Bianca. „Wie sollte er sich das denn vorstellen? Sollen wir uns vielleicht abwechselnd von ihm ausprobieren lassen?“ „Aber wenn er tatsächlich unsere Hilfe braucht und wir ihm nun den Rest gegeben haben?“, fragte Conni nun mehr als beunruhigt. „Vielleicht tut er sich sogar etwas an.“ „Nun hör aber auf, Conni! Du tust gerade so, als wäre es unsere Schuld, wenn er nicht gerade an Monotonie leidet.“ „Recht hast du, Steffi. Am besten beachten wir ihn einfach nicht mehr. Der wird sich schon wieder beruhigen, wenn er merkt, dass wir ihn durchschaut haben.“ „Haben wir das wirklich?“, fragte ich unschlüssig. „Was ist, wenn Conni doch Recht hat?“ „Eben.“ „Wir werden ihm unsere Hilfe anbieten. Wenn er sie annimmt, gut! Wenn nicht, wissen wir, was wir von ihm zu halten haben.“ Conni war sofort meiner Meinung und auch Bianca kamen erste Zweifel. „Also gut, schließlich will ich mir von euch nichts nachsagen lassen. Aber wie um alles in der Welt wollt ihr ihm denn helfen? Wir sind doch keine Psychiater.“ „Aber mein Onkel“, teilte uns Mark, zur Überraschung aller, mit. „Was haltet Ihr von dem Versuch, gewissermaßen in einem Gespräch unter Männern, Chris diese Möglichkeit näher zu bringen. Mein Onkel arbeitet viel mit Hypnose. Jede dieser Sitzungen wird auf Band aufgezeichnet. Vielleicht gelingt es mir, die betreffende Kassette für uns auszuleihen? Dann wissen wir mit Bestimmtheit, was mit eurem Trainer los ist.“ Seine Idee traf bei uns auf breite Zustimmung. „Es gibt nur einen Haken“, gab ich zu bedenken. „Chris kennt dich doch gar nicht! Er wird mit dir sicher keine derart persönlichen Dinge besprechen. Es ist besser, wenn eine von uns mit ihm redet.“ „Meinst du denn, dass Chris auf dich hören wird, Steffi?“, fragte Bianca scheinheilig. „Wieso auf mich?“ „Na weil du am besten von uns reden kannst.“ „Wenn ihr meint, ich kann es ja versuchen.“ „Vor allem müssen wir wissen, wann genau die Hypnosesitzung stattgefunden hat. Schließlich können wir nicht jedes Mal, wenn Chris dort war, Onkel und Tantchen einen Besuch abstatten.“ „Moment mal, wieso wir?“ „Was denkst du wohl, wie oft ich die beiden pro Jahr besuche? Höchstens einmal, kurz vor Weihnachten. Die würden es mit Sicherheit merkwürdig finden, wenn ich dort, ganz ohne Grund, schon im Herbst auftauche. Wenn ich dich aber als meine Freundin vorstellen würde, wären sie sicherlich hocherfreut. Es wäre dir ein Leichtes, während ich im Besprechungs-zimmer das Band ausleihe, sie in ein Gespräch zu verwickeln.“ „Bist du verrückt? Das schaffe ich nie!“ „Klar schaffst du das“, sprach mir ausgerechnet Conni Mut zu. „Was macht ihr eigentlich?“ „Wir werden dir die Daumen drücken.“ „Oh danke, Bianca, das wird sicher helfen.“

Da Conni und Mark noch ein wenig länger bleiben wollten, verabschiedeten wir uns und machten uns auf den Weg. „Meinst du, dass wird etwas zwischen den beiden?“ „Nur weil sie noch ein wenig zusammen sitzen wollen? Ach Bianca, ich glaube du siehst schon wieder Gespenster.“ „Warum eigentlich nicht? Mark ist doch ein netter Kerl, vielleicht ein wenig zu dick, aber nett.“ Bianca wurde plötzlich ganz ruhig, sie dachte angestrengt nach, dann platzte es aus ihr heraus. „Das ist ein Mann für die Ehe.“ „Seit wann denkst du ans Heiraten?“ „Ich mein ja bloß. Wenn ich einmal heirate, dann sicher so einen lieben Typ. Der erfüllt dir jeden Wunsch, frisst dir aus der Hand und du brauchst keine Angst haben, dass ihn dir eine andere wegschnappt.“ „Wenn das deine Vorstellungen von der Ehe sind, na dann gute Nacht! Übrigens, wir sind da.“ „Vielen Dank fürs nach Hause bringen!“ „Gern geschehen, tschüss.“ Noch einen Satz mehr und ich hätte mit Sicherheit einen Schreikrampf bekommen. So aber fuhr ich kopfschüttelnd weiter. Mein Heimweg führte mich am Einkaufscenter am Pollerplatz vorbei. Vor dem Bierlokal ‚zum Prösterchen' fiel mir ein grüner Alfa Romeo auf. Kein Zweifel, es war das Auto von Chris. Mit der mir schon in die Wiege gelegte Neugier sah ich mich veranlasst, der Sache auf den Grund zu gehen.

Angesichts der späten Stunde fühlte ich mich als Mädchen etwas unwohl, allein in ein solches Bierlokal zu gehen. Dennoch, die Neugier war stärker. Sie befahl meinem Körper, Verstand und Angst für einige Minuten abzuschalten. Sie bewegte meine Beine in Richtung Tür und veranlasste meine Hand, sie zu öffnen. Was meine Augen gleich danach sehen mussten, war nur auf den ersten Blick lustig. Sie sahen Chris, wie er sich an der Theke sitzend, oder besser gesagt, wie er versuchte, sich auf zwei Hockern an der Bar festzuhalten. Er war in einem solch erbärmlichen Zustand, wie ich noch nie zuvor einen Menschen gesehen hatte. Das Hemd war ihm aus der Hose gerutscht und hing wie in Fetzen an ihm herab. Über die Jeans hatte er sich wahrscheinlich Bier gegossen und seine Haare standen ihm wild zerzaust zu Berge. So sehr, dass man beim besten Willen keine Frisur mehr zu erkennen vermochte. Ich nahm allen Mut zusammen und sprach ihn an. „Chris!“ Ganz langsam hob er den Kopf und sah mich aus seinen, wie gläsern wirkenden Augen, Mitleid erweckend an. „Das Traininnng fällt heuheute aus“, lallte er und ließ den Kopf wieder auf die Theke sinken.

„Sind Sie seine Kleine?“, fragte mich eine Stimme. Ohne jedoch meine Antwort abzuwarten, befahl der Mann hinter dem Tresen, die Rechnung zu begleichen und jenes Häufchen Elend aus dem Lokal zu entfernen. „Gäste, die schlafen, bringen zwar kein Ärger, aber auch keinen Umsatz.“ „Ich zahle erst, wenn Sie mir versprechen, ihn mit in mein Auto zu bringen.“ Obwohl mir beim Aussprechen des Satzes die Knie gezittert hatten, brachte ich ihn so überzeugend herüber, dass mich der Barkeeper nun etwas freundlicher anlächelte. „Okay, kleine Lady, geht klar.“

Um die Rechnung bezahlen zu können musste ich mein gesamtes Geld zusammenkratzen. Dann ging alles sehr schnell. Der Keeper schnappte sich den rechten Arm von Chris und ich den anderen. Dann legten wir uns seine Arme über den Nacken und gingen mit ihm, oder besser, schliffen ihn vor die Kneipe. Während ich nun um mein Auto herumging, um die Fahrertür aufzuschließen, versuchte er Chris aufrecht zu halten. „Es ist besser, wir setzen ihn nach hinten und schnallen ihn an, dann kann er dir während der Fahrt nicht ins Lenkrad greifen.“ Doch das war gar nicht so einfach. Nach einigem Drücken und Ziehen hatten wir ihn endlich dort, wo ich ihn haben wollte. „Dann pass mal schön auf deinen Sunnyboy auf, kleine Lady.“ „Vielen Dank für Ihre Hilfe, ohne Sie hätte ich das bestimmt nicht geschafft“, rief ich ihm über das Dach meines Autos zu und stieg ein. Er hob seinen Arm, drehte sich um und verschwand in seiner Kneipe.

Chris war eingeschlafen. Eigentlich das Beste, was mir passieren konnte. Nur leider wusste ich seine Adresse nicht. Mir blieb also nichts anderes übrig, als ihn noch einmal aufzuwecken. Doch alles Rütteln und Ansprechen half nichts, er schlief weiter. Als letzte Möglichkeit blieb mir, in seiner Brieftasche nach seinem Führerschein oder etwas Ähnlichem zu suchen. Gott sei Dank fand ich seine Anschrift auf einem an ihn adressierten Brief. Zu allem Überfluss wohnte er auch noch genau am anderen Ende der Stadt. Normalerweise wollte ich längst zu Hause sein, doch irgendwie fühlte ich mich für Chris verantwortlich. Um es nicht ganz so spät werden zu lassen, vergaß ich ein wenig meine Prinzipien und drückte das Gaspedal ein klein wenig mehr als es erlaubt war nach unten. Das klappte auch eine ganze Strecke recht gut. Doch an einer der Hauptkreuzungen, an der während der ganzen Nacht über die Ampelanlage angeschaltet ist, fuhr ich wegen meiner hohen Geschwindigkeit noch bei dunkelgelb rüber. Dummerweise wartete in der Querstraße gerade ein Streifenwagen auf Grün. Zu allem Überfluss kippte Chris gerade in diesem Moment, da die Kreuzung einen leichten Schlenker nach links macht, gegen die rechte Scheibe und drückte daran sein Gesicht platt. Die Polizeibeamten müssen seinen Gesichtsausdruck wohl als Provokation angesehen haben. Sie schalteten ihr Blaulicht an und fuhren sofort hinter mir her, um mich zu stoppen. Das hatte mir noch zu meinem Glück gefehlt.

„Guten Abend, junge Frau. Führerschein und Fahrzeugpapiere bitte.“ Mit einem mächtigen Kloß im Hals gab ich sie ihm. Hoffentlich würde ich nicht zusammen mit Chris den Rest der Nacht in einer Ausnüchterungszelle verbringen. „Die Papiere sind in Ordnung. Es ist Ihnen schon klar, dass Sie mit überhöhter Geschwindigkeit soeben die Kreuzung passiert haben? Außerdem scheint sich Ihr Begleiter nicht ganz wohl zu fühlen. Er provoziert durch seine Körperhaltung andere Verkehrsteilnehmer. Abgesehen davon riecht es hier nach Alkohol.“ Plötzlich hatte ich einen Geistesblitz! Mein Freund ist Epileptiker. Er hatte gerade einen Anfall. Dabei hat er mein Weinglas verschüttet. Ich wollte ihn gerade ins Krankenhaus bringen.“ „Warum haben Sie das denn nicht gleich gesagt? Fahren Sie hinter uns her, wir machen ihnen den Weg frei.“

Der Beamte lief zu seinem Kollegen, schaltete wieder das Blaulicht ein und fuhr voraus. Das hatte ich geschafft. Nur wie sollte ich Sie wieder loswerden? Wir fuhren mit einem Affenzahn durch die Straßen, ignorierten Stopp-schilder und überquerten eine für uns rot geschaltete Kreuzung. Vor der Einfahrt zum Krankenhaus blieben Sie schließlich stehen und winkten mich die Auffahrt hoch. Ich winkte freundlich dankend zurück und fuhr weiter in Richtung Notaufnahme. Die Polizisten hatten offenbar einen weiteren Einsatz bekommen. Sie brausten wieder mit Blaulicht davon. Das war meine Chance! Als ich am Ende der Auffahrt die Notaufnahme erreicht hatte, kamen zwei Personen mit weißen Kitteln herangeeilt. Anders, als sie es erwartet hatten, hielt ich nicht, sondern fuhr an ihren verwundert schauenden Gesichtern vorbei, die andere Seite der Auffahrt wieder herunter und beeilte mich möglichst schnell davonzukommen.

Nach mehr als einer halben Stunde hatte die Irrfahrt endlich ein Ende. Ich war mehrere Male in der Dunkelheit an seiner Wohnung vorbeigefahren. Eine kaum lesbare Hausnummer und eine fehlende Beleuchtung hatten es mir unnötig erschwert. Glücklich, nun endlich da zu sein, immer noch etwas ängstlich, von der Polizeistreife noch entdeckt zu werden, versuchte ich erneut mein Glück, Chris wach zu bekommen. Aber auch mein zweiter Versuch scheiterte kläglich. Zu dieser nachtschlafenden Zeit konnte ich auch nicht in seiner Nachbarschaft klingeln, um dort um Hilfe zu bitten. Man hätte mich sicher für verrückt gehalten. Glücklicherweise fiel mir ein alter Trick ein, den ich einmal in einem Western gesehen hatte. In meiner Jackentasche hatte ich noch den Bierdeckel aus dem Prösterchen, auf den der Wirt Chris Rechnung geschrieben hatte. Ich riss ihn in Streifen und machte daraus so etwas wie Kaminfittiche, die ich dann mit meinem Zigarettenanzünder zum Glimmen brachte. Die fürchterlich qualmenden Streifen hielt ich ihm schließlich mit etwas Abstand unter die Nase. Der beißende Rauch zeigte schnell Wirkung. Schlagartig saß er kerzengerade in den Gurten und sah sich verwirrt um. „Chris, wir sind zu Hause!“, rief ich ihn an. Ich schnallte ihn ab und zog ihn langsam nach vorne. „Pass auf deinen Kopf auf“, sagte ich ihm, als es auch schon bumste. Es klang, als ob jemand mit einem Kochlöffel an eine volle Wasserkanne geschlagen hätte. Der Rahmen der Beifahrertür hatte ihm auf gemeine Weise den Weg versperrt. Den gleichen Weg, den ich ihn mühsam aus dem Sitz nach vorn gezogen hatte, plumpste er nun wieder zurück.

Hätte ich meinen Wachmacher nicht in Reichweite gehabt, wäre er mir innerhalb von Sekunden wieder eingeschlafen. Doch so hatte ich ja ein wirksames Gegenmittel. Den Ärmsten auf solch scheußliche Art erneut gepeinigt, verließ er nun in Windeseile mein Auto. Bevor er erneut in sich zusammensackte, war ich zur Stelle und stützte ihn. Mit meiner linken Hand hielt ich seinen rechten Arm, den ich mir über die Schulter gezogen hatte und mit der rechten umschlang ich seine Taille. Meinen Wachmacher hielt ich vorsichtshalber ebenfalls in der rechten Hand. So schob ich ihn Stück für Stück, Schritt für Schritt dem Hauseingang näher. Da es für mich die erste Rettungsaktion dieser Art war, hatte ich noch keinerlei Erfahrung mit Volltrunkenen. Heute weiß ich, dass man Wohnungsschlüssel und dergleichen solange in den Taschen des Probanden sucht, wie dieser sich noch in sitzender oder noch besser in liegender Haltung befindet. In meinem Fall war es nun leider so, dass Chris jedes Mal, wenn ich eine meiner Hände, die ihn stützen, wegnahm, um in seinen Taschen nach besagtem Schlüssel zu suchen, das Gleichgewicht verlor und nach vorn oder zur Seite zu kippen drohte. Nachdem ich ihn schließlich, etwas angeschrägt, in einer Ecke des Türrahmens platziert hatte, gelang es mir endlich, den richtigen Schlüssel aus seiner engen Jeanstasche herauszufischen. Während ich zunächst einige Schlüssel durchprobieren musste, ehe ich den Richtigen hatte, glitten seine Schuhe auf dem glatten Untergrund des gefliesten Hauseinganges immer mehr nach vorn, was zur Folge hatte, dass Chris, irgendwann den Gesetzen der Schwerkraft folgend, wie ein Sack Kartoffeln auf seinen Allerwertesten plumpste.

Nun hatte ich zwar endlich mit großer Mühe die durch einen Gelenkarm selbsttätig wieder zugehende Tür aufgeschlossen, kam aber nicht mehr an den auf dem Fliesenboden sitzenden Kartoffelsack heran. Auch der an der Tür angebrachte Feststellmechanismus versagte. So blieb mir nur die Möglichkeit, eine Fußmatte geschickt unter ihr zu verkeilen. Das klappte dann auch glücklicherweise. Ständig musste ich das immer wieder ausgehende Licht neu anschalten. Leider waren meine Fittiche inzwischen erloschen. Jetzt erwies sich der in der Fahrschule erlernte Rettungsgriff als sehr hilfreich. So konnte ich ihn wenigstens, unter seinen Achseln zerrend, in den Hausflur schleifen. Aber wie weiter? In welcher Etage wohnte Chris eigentlich? Da ich ihn selbst durch leichte Ohrfeigen nicht wach bekam, beschloss ich, ihn vor einer Gittertür, die in den Keller führte, angelehnt sitzen zu lassen und erst einmal nach seiner Wohnung zu suchen. Außerdem brauchte ich Feuer für die Fittiche. Also eilte ich die Treppen hinauf. Natürlich, als hätte ich nichts anders erwarten können, bewohnte er die Mansarde im dritten Stock. Ein Blick auf meine Armbanduhr verriet mir, dass auch diese Nacht wieder eine sehr kurze sein würde. Mums Warnung, meine Arbeit wegen fehlenden Schlafes zu vernachlässigen, hing wie ein Damoklesschwert über mir. Aber so kurz vor dem Ziel wollte ich nun auch nicht schlapp machen. War meine Rettungsaktion nicht geradezu ein Akt praktizierter Nächstenliebe?

Nun aber durchsuchte ich eine fremde Wohnung nach einem Feuerzeug und sah bei dieser Gelegenheit, natürlich rein zufällig, allerhand interessante Fotos von etlichen, verschiedenen Damen. Schlug ganz aus Versehen ein prall gefülltes Telefonregister auf und staunte nicht schlecht über eine Vielzahl verschiedener Frauennamen. Allzu gern hätte ich noch weiter nach Feuer gesucht, aber die Zeit drängte und so besann ich mich auf einen Eimer mit Wasser und einem Handtuch. Beides hatte ich bereits im Bad gesehen. Kurz darauf war ich wieder bei ihm. Auch das patschnasse Handtuch, welches ich ihm ins Gesicht klatschte, erfüllte schlagartig den gleichen Zweck, wie zuvor der Bierdeckel. Dazu kam eine gewisse reinigende Wirkung. Ich half ihm auf die Füße und hakte ihn unter. Dann begannen wir den mühsamen Aufstieg. „Haat dir schooon mal einer gesacht wie schöön du bist?“, Nun begann er auch noch laut zu singen. „Ich bin dein kleiiiner Gadeoffizierrr!“ „Chris, sei ruhig, du weckst noch das ganze Haus auf.“ „Solln alle hörn was für Spieser die sind. Hast du mich lieb?“ „Nur wenn du jetzt ruhig bist!“ „Jawoll, ich bin jetzt mumuksmäuschen still. Psssst.“

Viel schneller als erwartet hatten wir den Gipfel erklommen. Seine Wohnungstür hatte ich zuvor nur angelehnt. So gelangten wir jetzt ohne Probleme in die Wohnung. Da ich mich inzwischen schon gut auskannte, brachte ich ihn ohne Zwischenstopp gleich ins Schlafzimmer. Mit der bereits erlangten Routine, klappten die paar Schritte zum Bett ausgezeichnet. Leider hatte ich noch keine Erfahrung mit dem Ablegen schwerer Lasten. Ich geriet ins Straucheln und verlor das Gleichgewicht. Einige Sekunden später fand ich mich im Bett unter einem schnarchenden Fleischberg wieder. Zentimeter für Zentimeter wälzte ich ihn zur Seite und schaffte es so, völlig entkräftet, unter ihm wieder frei zu kommen. Gerade als ich es zu schaffen schien, rutschte ich mit der Hand von seinem Knie und schlug voller Wucht in den Kreis erhabener Männlichkeit. Sich plötzlich aufbäumend wie ein junger Stier, schreckte er aus wohl süßesten Träumen schlagartig hoch, um im nächsten Moment wie tot neben seinem Bett wieder zusammenzuklappen. Nun war ich zwar frei, aber Chris lag buchstäblich am Boden zerstört. So konnte ich ihn doch unmöglich liegen lassen.

 

Zunächst zog ich ihm die Schuhe aus. Was mir da entgegenströmte, war nicht der herbe Duft eines edlen Männerparfüms. Etwa so musste verbranntes Gummi riechen. Als nächstes drehte ich seine Beine vom Bett weg und richtete den Oberkörper auf, um ihn anzulehnen. Von hinten kletterte ich nun über sein Futonbett, stellte mich hinter seinen Rücken und zog ihn unter den Achseln greifend nach oben. Seine Beine heraufzuheben, war dann ein Kinderspiel. Das Hemd konnte er ruhig anbehalten, befand ich. Aber die von Bier durchnässte Hose musste ausgezogen werden. Der Gürtel war auch kein Problem, aber am Knopf seiner engen Jeans brach ich mir fast einen Fingernagel ab. Alles hätte ich nun, da er völlig wehrlos vor mir lag, mit ihm anstellen können. Nun ja, fast alles. Fest an seinen Hosenbeinen ziehend, zog ich ihm das nasse Kleidungsstück vom Leib. Schlecht sah es nicht aus, was da zum Vorschein kam. Ein flüchtiger Blick, das genügte, aber ein zweiter verschaffte Klarheit. Dann zog ich schnell das Deckbett darüber, löschte das Licht und verließ den Raum. Im Wohnzimmer schrieb ich ihm noch schnell eine Nachricht, wo er sein Auto finden konnte, legte die Schlüssel dazu und verließ die Wohnung. Die Tür zog ich ins Schloss. Doch im nächsten Moment fielen mir Eimer und Handtuch ein. Ich hatte sie vorhin unten an der Eingangstür zurückgelassen. Zu spät, die Tür war zu. Folglich blieb mir nichts anders übrig, als die Sachen mitzunehmen. Ich konnte sie ihm ja beim nächsten Training zurückgeben.

Als ich auf die grünlich schimmernden Zahlen der Leuchtanzeige meines Armaturenbrettes schaute, wollte ich zunächst meinen Augen nicht trauen. Es war bereits kurz vor drei. In gut vier Stunden musste ich schon wieder aufstehen. In meinem Corsa roch es immer noch wie in einer Müllverbrennungsanlage. Der beißende Qualm des Bierdeckels hatte sich festgesetzt. Die Augen begannen mir zu tränen. Ich durfte gar nicht daran denken, was ich Mum noch am Morgen versprochen hatte. Es kommt nicht wieder vor, versprach ich ihr und nun? Es war schon wieder passiert! Nur wie sollte ich das drohende Gewitter noch abwenden? Es blieb mir eigentlich nur noch Mark. Er musste mit seinem guten Namen für eine kleine Notlüge herhalten. Sicher würde er es mir verzeihen. Ich wusste, dass Mum große Stücke auf ihn hielt. Also würde ich nur sagen brauchen, dass wir eine Autopanne hatten. Dann würde sie glauben, dass ich sie belogen hatte, weil ich nicht wollte, dass sie weiß, dass ich etwas mit ihm hätte. Ja, so ging es! War doch ganz einfach! Aber es kam mal wieder alles ganz anders.

 

6

 

Auf dem Wohnzimmertisch lag ein Zettel: Sind mit Paul auf einer Vernissage bei Tante Iris. Wir schlafen bei ihr. Nimm dir bitte das Essen aus dem Kühlschrank und mach es dir warm. Bis morgen, Mum. Umso besser, dachte ich. Die Ausrede konnte ich sicher auch noch ein anderes Mal verwenden. Obwohl mir der Magen knurrte, war ich vor lauter Müdigkeit nicht mehr im Stande noch etwas zu essen. Fast wäre ich auf dem Holzklappsitz, den Paps für Mum in der Dusche eingebaut hatte, eingeschlafen. Nur gut, dass ich heute Morgen einen der drei Wecker hörte, die ich mir vorsorglich gestellt hatte. Mein Magen knurrte immer noch und heftiger als je zuvor. Ein Blick in die Brotbox ließ mich erschaudern. Außer einem harten Brotknust lag nur noch ein schimmliges Toast darin. Auch das noch! Gerade als ich nach Zwiebackresten von Mums letzter Magen – Darmgrippe suchte, fiel mir der Zettel wieder ein. Stand da nicht ein Mittagessen für mich im Kühlschrank? Hühnerfrikassee mit Reis aß ich eigentlich ganz gern, aber zum Frühstück? Ach egal, in der Not frisst der Teufel sogar Fliegen, sagte Paps immer. Er hatte Recht, es schmeckte köstlich.

Mich so ganz und gar der Völlerei hingebend, vergaß ich die Zeit und wäre fast noch zu spät zur Arbeit gekommen. Mark erzählte ich lieber nichts von meinem nächtlichen Erlebnis mit Chris. Ich war mir nicht sicher, ob er das Ganze richtig verstanden hätte. „Wann willst du eigentlich mit eurem Trainer sprechen?“, fragte er mich während unserer gemeinsamen Mittagspause. „Ich muss einen geeigneten Moment abpassen. Das kann schon morgen nach dem Training, aber auch erst nächste Woche sein.“ „Habt ihr am Samstag wieder ein Spiel?“ „Nein, diesmal erst am Sonntagnachmittag. Warum fragst du?“ „Nun ja, ich hätte mir gern mal eins angesehen.“ „Aber sagtest du nicht, dass du Basketball langweilig findest?“ „Die Dinge ändern sich.“ „Na wenn das so ist, werde ich dir für unser nächstes Heimspiel eine Freikarte besorgen.“ „Das wäre nett von dir, dann gebe ich aber, im Falle einer Niederlage, hinterher einen aus.“ „Warum nur, wenn wir verlieren?“ „Ich schätze, dass du bei einem Sieg doch wohl mit deiner Mannschaft feierst.“ „Das stimmt allerdings. Da ging es während der letzten Saison schon einige Male hoch her, aber das weißt du ja.“ „Bei Conni, Bianca und dir wundert mich das überhaupt nicht.“ „Ich fürchte nur, dass es in dieser Saison für uns nicht so viel zu feiern geben wird.“ „Nur weil es im ersten Spiel nicht so gut lief, musst du nicht gleich den Kopf in den Sand stecken. Du wirst sehen, am Sonntag werdet ihr wieder viel besser sein.“ „Es ist lieb von dir, mir Mut zu machen, aber mit einem voll durchgeknallten Trainer am Spielfeldrand wird es sicher noch schwerer.“ „Dann musst du eben selber mehr Verantwortung übernehmen.“ „Ach Mark, wenn das so einfach wäre.“

Der Nachmittag verging wie im Fluge. Mark machte ständig irgendwelche dummen Witze oder alberte herum. Ich mochte die Art, wie er immer dann, wenn er merkte, dass ich traurig war, mich zum Lachen brachte. Sogar unsere beiden Quasseltanten unterbrachen dann für einen Moment ihre stets so wichtigen Gespräche und lauschten seinen Kalauern. Seine herablassende, überhebliche Art, die er zu Beginn unserer Ausbildung hatte, war einer freundlichen, hilfsbereiten gewichen. Herr Lampe hingegen war immer der Gleiche geblieben. Nichts an ihm hatte sich auch nur einen Millimeter bewegt. Sogar auf seinem Schreibtisch sah es genau wie vor über zwei Jahren aus. Jedes auch noch so kleine Teilchen hatte seinen festen Platz. Stets musste alles akkurat und peinlichst genau aufgeräumt sein. Er hasste die Zettelwirtschaft der Quasseltanten, lobte aber den Kaffee, den sie gemeinsam kochten. Bei ihm schien jeder neue Tag genauso zu sein wie der vorangegangene. Immer das gleiche Programm, die gleiche Monotonie. Fast jede seiner Handbewegungen schien der des Vortags zu entsprechen. Sein gesamter Tag lief nach einem genau festgelegten Schema ab. Sogar in seinem Stammlokal wusste der Kellner genau, auch ohne dass Herr Lampe seine Bestellung aufgab, was er an jenem Tag zu essen und zu trinken wünschte. Ein schreckliches Leben, wie ich fand. Ich nahm mir fest vor, dass meines nie so werden sollte.

Auf dem Weg nach Hause freute ich mich geradezu, endlich mal wieder Zeit für mich und meine Familie zu haben. Ich freute mich sogar auf Paul, den kleinen Quälgeist. „Hallo Mum, begrüßte ich sie fast überschwänglich, indem ich sie in den Arm nahm und sie auf die Wange küsste. „Hallo Stefanie, schön, dass du schon zu Hause bist! Du kannst gleich mal meine neue Lasagne Kreation probieren. Ich habe sie aus dem Fernseher nachgekocht.“ Aber selbst dieses Attentat auf meine Geschmacksnerven konnte meine gute Laune nicht mindern. Im Gegenteil, ich lobte sie für ihren Mut zur kulinarischen Küche. Sofort nachdem sie mit dieser herben Köstlichkeit zur Nachbarin gestürmt war, machte ich mich daran, mir eine Pizza in den Ofen zu schieben. Paul saß unterdessen vor Paps Computer und versuchte begeistert, neue Programme zu schreiben. Da ein Einschreiten ohnehin zu spät gewesen wäre, ließ ich ihn gewähren und tat so, als hätte ich nichts bemerkt.

Etwa eine halbe Stunde später, ich hatte bereits gegessen und saß in meinem Zimmer über den Berufsschulauf-gaben, kam Mum zu mir hereingestürmt. „Ja sag mal, Steffi, konntest du nicht mal ein wenig auf deinen Bruder aufpassen, während ich drüben war? Stell dir vor, er hat Vaters Computer zum Absturz gebracht. Da geht nichts mehr.“ „Als ich in mein Zimmer ging, um für morgen noch einige dringende Arbeiten zu erledigen, saß er noch ganz lieb vor dem Fernsehapparat. Außerdem konnte ich nicht wissen, wie lange du wegbleibst.“ „Ich weiß gar nicht, wie ich es deinem Vater beibringen soll.“ „Wenn Paul so einen Blödsinn macht, dann lass ihn auch selber dafür gerade stehen. Schließlich weiß er genau, dass Papas Computer für ihn tabu ist.“ „Er ist doch noch so klein.“ „Mum, er kommt nächstes Jahr in die Schule! Meinst du nicht, dass er so langsam wissen muss, was er darf und was nicht?“ Aber wann immer es um Paul ging, war Mum wie vernagelt. Um ihn vor einer möglichen Bestrafung zu schützen, steckte sie ihn heute schon eine Stunde eher als sonst ins Bett. Händeringend rannte sie, auf der Suche nach einer Ausrede, durch die Wohnung. Aber außer ihren Lieblingsstiefeln, die Paul irgendwann mit Nagellack bemalt hatte, fand sie nichts.

Als Paps an diesem Abend noch später als gewöhnlich nach Hause kam, stand Mum immer noch in der Küche und versuchte mit Scheuermilch und Bürste zu retten, was zu retten war. Ihre neuerliche, eigens für Paps komponierte Lasagne Kreation hatte sich im Ofen verflüssigt und war schon aus der Klappe in die Küche gelaufen. „Hallo Schatz, ich hoffe du hattest einen guten Tag.“ „Oh ja, er war überaus unterhaltsam.“ Nur unter größten Anstrengungen war es ihr gelungen, sich zu beherrschen.

Dann drehte sie sich in seine Richtung und schaute ihn halb freundlich, halb grimmig brodelnd an wie ein Vulkan, der unmittelbar vor dem Ausbruch stand. Ich lehnte unterdessen am Rahmen der Küchentür und wartete, dass Paps mich begrüßte. „Schau dir bloß mal diese Sauerei hier an. Alles nur, weil ich mich derart über meine Stiefel geärgert hatte. Nur deshalb habe ich bei den Zutaten für dein Essen etwas durcheinander gebracht. Und sieh dir bloß mal die Schuhe an. Dein Sohn hat sie mit meinem teuersten Nagellack ruiniert.“ Das Ganze ging ihr so nahe, dass ihr nun sogar ein paar dicke Tränen über das Gesicht rollten. Paps nahm sie ganz lieb in seinen Arm und tröstete sie. „Das ist doch alles nicht so schlimm, dann esse ich eben von dem, was übrig geblieben ist.“ Dabei deutete er auf die Reste der Lasagne, die Mum von der Nachbarin wieder mit zurückgebracht hatte. „Wirklich?“ „Aber ja!“, Während Paps mich begrüßte, wärmte sie die etwa halbe Portion in der Mikrowelle auf und stellte sie neben dem schon eingeschenkten Weinglas auf den Tisch. Sie setzte sich, lächelte ihn an und wartete auf eine positive Reaktion. „Na dann wünsche ich dir einen guten Appetit.“ Ihr Zorn hatte sich etwas gelegt. Auch ich hatte mich am Esstisch niedergelassen und wartete gespannt auf sein Urteil. „Was ist das, Schatz?“, fragte er, während eine voll bepackte Gabel nach der anderen ungeduldig in seinem Mund verschwand. „Lasagne exotica! Ich habe sie nach einem neuen Spezialrezept gekocht.“ „Sie schmeckt himmlisch“, schwärmte Paps. Ich glaubte ihm kein Wort.

An meiner Einstellung zur Schule hatte sich auch bis zum Morgen des nächsten Tages so gut wie nichts geändert. Ich war froh, dass es mein letztes Jahr war. Obwohl ich durch meine Erfolge mit der Basketballmannschaft auch in meiner Klasse Anerkennung fand, hatte ich außer Mark eigentlich niemanden, mit dem ich mich besonders gut verstand. Da es Mark nicht viel anders erging, saßen wir nicht nur in den Stunden am gleichen Tisch, sondern verbrachten auch die Pausen oft gemeinsam. Am Anfang unserer Berufsschulzeit war mir das oft lästig, aber inzwischen war ich froh, dass es jemanden gab, mit dem ich mich über so ziemlich alles unterhalten konnte. Die Namen Pat und Patterchon, die man uns schon früh angehängt hatte, ärgerten mich nun auch nicht mehr. Ich hatte Mark dafür bewundert, wie er mit den Hänseleien umzugehen wusste. Inzwischen hatte ich mir diesen Gleichmut zu Eigen gemacht. Wir empfanden nur noch Mitleid mit jenen ärmlichen Kreaturen, die versuchten, alles nieder zu machen, was anders war als sie selbst. An diesem Vormittag jedoch gefiel mir die Schule. Die Benotung der letzten Tests hatte es offen zu Tage gebracht. Mark und ich hatten die mit Abstand besten Ergebnisse erzielt. Was den Neid unserer Mitschüler zwar wiederum schürte, uns aber ein gewisses Gefühl der Genugtuung brachte.

Als ich nichts ahnend nach Hause kam, war Mum ganz aufgeregt. „Ich glaube es wird Zeit, dass du uns deinen Verehrer einmal vorstellst. Einen guten Geschmack scheint er jedenfalls zu haben.“ „Ich verstehe nicht. Wieso guten Geschmack?“ Wortlos nahm sie mich an die Hand und zog mich bis vor die Wohnzimmertür hinter sich her. Sie stieß die Tür auf. „Das meine ich!“ Vor uns standen etwa ein Dutzend Blumenvasen, prall gefüllt mit roten Rosen. Selbst vor dem Tisch stand noch ein mit Rosen gefüllter Plastikeimer. „Ich hatte leider nicht genug Vasen.“ Im ersten Moment war ich sprachlos.“ Das muss ein Irrtum sein.“ „Ist es aber nicht. Drei Boten haben sie vorhin gebracht. So etwas ist mir in meinem ganzen Leben nicht widerfahren. So verrückt war nicht einmal dein Vater, als er um mich warb. Und das will schon etwas heißen.“ „Aber woher willst du wissen, dass sie wirklich für mich sind?“ „Einer der Boten sagte deinen Namen. In dem großen Strauß dort steckt übrigens eine Karte.“ Dabei zeigte sie auf einen besonders schönen Strauß am Ende des Tisches. Voller Ungeduld öffnete ich den Umschlag. „Sag schon, was steht drinnen?“ Die Neugier stand ihr auf die Stirn geschrieben. Ich reichte ihr die Karte. Sie las und sah mich verdutzt an. „Danke – sonst nichts?“ „Nein, sonst nichts.“ „Wieso danke? Wofür bedankt sich der Mann bei dir?“ „Ich habe mich ein wenig um ihn gekümmert, als es ihm nicht so gut ging.“ „Hier handelt es sich doch wohl nicht um einen Jungen in deinem Alter, soviel ist klar.

Wie alt ist dieser Mann und woher kennst du ihn?“ „Ich kenne ihn vom Basketball und sein Alter ist für mich nicht wichtig. Was alles andere angeht, sei unbesorgt, bis jetzt sind wir nur gute Freunde.“ Mum atmete erleichtert aus. Ihre Befürchtungen hatten sich nicht bestätigt. „Pass bitte auf dich auf, versprich mir das!“, Ich versprach es ihr und verschwand mit dem schönsten Strauß in meinem Zimmer.

Mann, war das ein irres Gefühl! Plötzlich behandelte mich Mum so, wie eine Mutter meiner Meinung nach eine erwachsene Tochter behandeln sollte. Sie sorgte sich um mich, musste aber gleichzeitig zur Kenntnis nehmen, dass sich offensichtlich ein richtiger Mann für mich interessierte. Endlich wurde ich auch von ihr ernst genommen! Aber vor allem war es dieses tolle Gefühl, von einem Mann begehrt zu werden. So viele Jahre hatte ich vergeblich auf einen Prinzen gewartet, mit einem ganz kleinen wäre ich zufrieden gewesen, doch nun hatte ich fast einen König , der mir sein Herz zu Füßen legen wollte. Nur leider schien er drei Herzen zu haben. Das war eindeutig zu viel für mich. Mein Liebster sollte schon allein mir gehören. Gedankenverloren schaute ich mir den herrlichen Rosenstrauß an und wusste plötzlich, dass ich bereit war, um meinen Prinzen zu kämpfen.

Auf dem Weg zum Training holte ich, wie vereinbart, Conni von zu Hause ab. „Gibt es etwas Neues?“, fragte sie mich ganz beiläufig. Ich war auf ihre Frage vorbereitet. Schon in meinem Zimmer hatte ich darüber nachgedacht, ob ich ihr von Chris' Eskapade erzählen sollte. Da ich der Meinung war, dass es sich hier um eine ganz persönliche Sache zwischen Chris und mir handelte und ich fand, dass diese Peinlichkeit unter uns bleiben sollte, sagte ich ihr nichts. Natürlich hätte ich ihr allzu gern von den wunderschönen Rosen erzählt, aber das musste ich mir halt verkneifen. Ich hoffte so sehr, dass sich Chris für mich entscheiden möge, dass ich unseren Pakt völlig vergaß. „Ich bin sehr gespannt, wie er sich während des Trainings verhalten wird“, meinte Conni, ganz nachdenklich und seufzte. „Eigentlich schade, dass er nicht richtig tickt. Sonst wäre er genau der richtige Typ für mich. Findest du nicht auch, Steffi?“ „Wenn du es sagst.“ Nie und nimmer hätten die beiden so gut zueinander gepasst wie Chris und ich. Aber ich wollte sie ruhig in ihrem Glauben lassen. Wenn sich Chris erst einmal für mich entschieden hätte, müsste sie sich halt damit abfinden. Und das sich Chris, wenn erst einmal alles wieder in Ordnung war, für mich entscheiden würde, daran bestand für mich überhaupt kein Zweifel.

Vor der Halle wartete Bianca schon auf uns. „Warum kommt ihr denn so spät? Es sind schon fast alle oben.“ „Ist Chris auch schon da?“, wollte Conni wissen. „Sein Alfa steht jedenfalls dort hinten. Gesehen habe ich ihn aber noch nicht.“ Wie schon so oft, gingen wir gemeinsam hoch. Bereits in der Berufsschule hatte ich mir Gedanken darüber gemacht, wie ich Chris dazu brächte zu einem Psychiater zu gehen. Schließlich besteht schon ein gewaltiger Unterschied darin, ob jemand wegen einer körperlichen Behandlung zu seinem Hausarzt oder aber wegen einer geistigen Umnachtung zu einem Psychologen muss.

In der Umkleidekabine war tatsächlich schon hektisches Treiben. Es ging zu wie in einem Hühnerhof. Schon vor der Tür war ein unaufhörliches Gegacker zu vernehmen. Da Bianca, Conni und ich sonst immer als Erste zum Training kamen, war mir dies bislang erspart geblieben. Nichtsdestotrotz schafften auch wir es, uns in diesem Gewühl umzuziehen und nicht einmal als Letzte in die Halle zu kommen. Nach einigen Auflockerungsübungen ging es hart zur Sache. Zirkeltraining war angesagt. Nachdem Chris uns die Lunge aus dem Hals getrieben hatte, folgten wir ihm auf die Tribüne.

„So, Mädels, nun stellt euch bitte einmal vor, ihr seid das Publikum. Ihr habt euch entschlossen, eure Freizeit und euer Geld dazu zu verwenden, um ein Basketballspiel unserer Mannschaft anzuschauen. Für einige von euch war der Preis für die Eintrittskarte sogar ein beträchtlicher Teil eures Taschengeldes. Ihr sitzt also hier auf der Tribüne und wollt, dass euer Team sein Bestes gibt. Ein Sieg wäre schön, aber wenn ihr gesehen habt, dass jedes eurer Idole alles gegeben hat, dann geht ihr auch im Falle einer Niederlage mit einem guten Gefühl nach Hause. Doch was ist, wenn ihr mit ansehen müsst, dass lustlos und ohne Herz gespielt wird? Würdet ihr wieder kommen?“ Wir schwiegen. „Ich erwarte von euch in Zukunft bedingungslosen Einsatz! Ich verlange, dass sich jede Einzelne für die Mannschaft zerreißt! Wenn zwei oder drei von euch schlecht spielen, müssen sich die anderen umso mehr ins Zeug legen. Es kann nicht angehen, dass ein Spiel schon dann als verloren aufgegeben wird, wenn es mal bei einigen nicht so gut läuft. Wir verlieren zusammen und wir siegen zusammen!“ Ich schämte mich für die schlechte Leistung im letzten Spiel und ich glaube, den anderen ging es genauso. In den ganzen Jahren zuvor hatte es nicht ein solch schlechtes Spiel von uns gegeben. Nie hatte uns Frau Wolter derart den Kopf waschen müssen. Allerdings war auch keine von uns in sie verliebt.

Wie um alles in der Welt sollte ich es nach dieser Ansprache nur schaffen, mit Chris über den Psychiater zu sprechen? Mit gesengten Köpfen schlichen wir die Tribüne hinunter. Als er sah, wie nah uns seine Standpauke gegangen war, rief er uns zurück. „Wir wollen auch heute nicht so auseinander gehen. Basketball soll Spaß machen. Und es wird auch euch wieder Spaß machen. Nun macht wieder andere Gesichter und zeigt am Sonntag allen, dass ihr kämpfen könnt. Chris verstand es, obwohl wir die erste Damenmannschaft waren, die er trainierte, auf uns einzugehen und uns zu motivieren. „Unser Motto heißt ab heute: einer für alle und alle für einen! Frei nach Alexandre Dumas.“

Ich wartete, bis ich mit Chris allein in der Halle war. „Können wir uns nachher bei meinem Auto treffen?“, fragte ich ihn ohne Umschweife. „Gern.“ Puh, das hatte ich geschafft, der Anfang war gemacht. Alles andere würde sich ergeben. Als ich in die Kabine kam, bestürmten mich Bianca und Conni. „Hast du mit ihm gesprochen?“, fragte Bianca sofort. „Wir treffen uns nachher auf dem Parkplatz. Allein“, schob ich sogleich unmissverständlich hinterher. Conni war sich wie immer nicht ganz sicher. „Hoffentlich machen wir auch das Richtige?“ Vor meinem Corsa verabschiedeten wir uns.

Etwa 5 Minuten nachdem auch die Letzte von uns gegangen war, kam auch Chris. Seine Sporttasche lässig über die Schulter geworfen, lächelte er mir schon von weitem entgegen. Als er mir schließlich gegenüberstand, stockte mir der Atem. Meine ganze Selbstsicherheit war wie weggeblasen. „Ich möchte mich wegen Dienstag-nacht bei dir bedanken. Was du für mich getan hast, werde ich dir nicht vergessen.“ Er küsste mich auf die Stirn und sagte: „Danke!“ Dieser Mann schaffte es jedes Mal, dass mir schwindlig wurde. „Nun ja, es war auch irgendwie interessant. Mein Gott, warum hast du dich nur so betrunken?“ „Ich wollte meinen Frust ertränken. Leider merkte ich zu spät, dass er schwimmen konnte.“ Er sah verlegen auf den Boden und scharrte mit seinen Schuhen im Dreck herum. „Als ich meinen Wagen abholte, sagte mir der Wirt vom Prösterchen, dass du meine Rechnung bezahlt hast. Er meinte, es wären so um die 50 Euro gewesen.“ Chris streckte mir den Schein entgegen. „Stimmt das?“ „Ja!“, Etwas verlegen nahm ich das Geld entgegen. „Übrigens fand ich die Idee mit den Rosen total verrückt, aber auch sehr süß von dir. Danke schön!“, „Es freut mich, wenn sie dir gefallen haben. Ich nehme an, ihr habt Kriegsrat gehalten?“, begann er nun etwas zögerlich auf das Wesentliche zu kommen. „Nun ja, ganz so kann man es wohl nicht nennen. Du musst zugeben, dass die Umstände etwas merkwürdig sind. Du sagtest ja selber, dass du dir nicht erklären kannst, weshalb du dich gleichzeitig in uns drei verlieben konntest.“ „Ich weiß bis heute nicht, wie so etwas möglich ist. Ich weiß nur, dass es so ist! Glaube mir, diese Situation ist auch für mich keineswegs einfach.“ „Aber wie soll es nun weiter gehen? Du sagst, dass du dich nicht zwischen uns entscheiden könntest und das dich diese Gefühle gewissermaßen über Nacht überfallen hätten.“ „Es war nicht gewissermaßen, sondern tatsächlich über Nacht! Nachdem ich Britta am Abend nach Hause gebracht hatte, bin ich ganz brav in mein Bett gegangen. Britta und ich hatten Zukunftspläne geschmiedet. Ich sollte im Unternehmen meines zukünftigen Schwiegervaters als Abteilungsleiter eingearbeitet werden. So hätte ich nebenbei noch genug Zeit für meinen Trainerjob gehabt. Ich war sogar bereit, mein bisheriges Lotterleben aufzugeben und mit ihr zusammenziehen. Doch als ich am Morgen erwachte, war plötzlich alles ganz anders. Mein erster Gedanke galt euch! Wenn ich am Abend vorher etwas getrunken hätte, mir bei einem Sturz aus dem Bett vielleicht den Kopf angeschlagen hätte oder von einem Zauberer verwunschen worden wäre, dann hätte ich es vielleicht verstanden. Aber so? Ich sage dir, das ist so, als hätte dich jemand einer Gehirnwäsche unterzogen!“, „Aber was um alles in der Welt hat dich nur so aus der Bahn geworfen?“ „Ich würde alles dafür tun, um endlich zu erfahren, was mit mir los ist.“ „Wirklich alles?“ „Natürlich.“ „Du brauchst fachmännische Hilfe, soviel ist klar.“ „Du meinst einen Psychologen?“ „Das wäre sicher das Beste. Eine gute Idee.“ „Kennst du einen?“ „Warte mal, nein im Moment – doch, Doktor Müller-Knigge im Akazienhain Nummer 20. Der soll sehr gut sein. Meine Oma war damals wegen ihrer Alzheimer auch da.“ „hat er ihr helfen können?“ „Ja, sie ist schon gestorben.“ „Dann werde ich mir die Adresse gleich mal aufschreiben und so schnell wie möglich einen Termin machen.“ „Wenn es dir hilft, würde ich dich gern dorthin begleiten.“ „Das würdest du für mich tun?“ „Klar, ist doch Ehrensache.“ „Du bist wirklich ein feiner Kerl, Steffi. Ich werde mich rechtzeitig bei dir melden.“

Als ich zu Hause war, stürzte ich sofort ans Telefon und informierte zuerst Conni und dann Bianca. „Es lief alles wie geschmiert. Wenn Chris den ersten Termin hat, wird er mich anrufen, damit ich ihn begleite. So weiß ich jederzeit, was der Doc. mit ihm vorhat.“ „Aber wenn ihm der Psychiater helfen kann, verstehe ich nicht, weshalb ihr noch das Risiko mit dem Band eingehen wollt?“ „Zuerst einmal möchte ich schon ganz gern wissen, wieso er uns plötzlich liebt und zweitens wären wir keinen Schritt weiter, wenn er ihm nicht helfen kann.“ „Wenn du es so siehst, hast du sicher Recht.“ „Außerdem geht uns das Ganze ebenso an wie ihn. Schließlich sind auch wir Leidtragende.“ Ich erzählte Bianca vorsichtshalber nicht jede Einzelheit von dem, was Chris mir sagte. Es hätte ihr sicher unnütz wehgetan. So ganz uneigennützig war es allerdings auch nicht.

Nachdem wir unser Telefonat beendet hatten, setzte ich mich zu Mum und Paps ins Wohnzimmer. Sie sahen sich im Fernseher gerade eine alte Liebesschnulze an. Mum hatte sich gemütlich auf einem Kissen niedergelassen, welches sie Paps auf dem Schoß gelegt hatte. Sogar Tränen standen ihr in den Augen. Es waren nicht etwa Tränen der Freude, weil sie mich sah, es waren Fernsehtränen. Der Film zeigte gerade eine Abschieds-szene und Mum war die, die man auf dem Bahnsteig zurückließ. Paps strich ihr mitfühlend durch das Haar und griff nach einem Glas seines schottischen Lieblings-whiskys. Er freute sich, als ich mich zu ihnen setzte. „Bleibst du heute Abend zu Hause?“ „Ja, ich dachte, ich mache mal wieder in Familie.“ „Eine gute Idee. Dann sollten wir deine Anwesenheit aber auch zu etwas Besonderem nutzen. Meinst du nicht auch, Ute?“ „Psst, jetzt seid doch bitte mal leise“, entrüstete sie sich und winkte mit der Hand nachdrücklich ab. „Lass mal Paps, ich sehe einfach ein bisschen mit euch fern.“ So saßen wir also schweigend nebeneinander, knabberten an Salzgebäck und nutzten lediglich die Werbeunter-brechungen für kurze Gespräche. „Möchtest du uns deinen Freund bei Gelegenheit vorstellen?“, drängelte Mum und buffte Paps dabei unauffällig in die Seite. „Wir sind noch nicht so weit. Was hast du eigentlich mit all den Rosen gemacht? Hier stehen doch längst nicht alle.“ „Die habe ich mit ins Atelier genommen. Das war dir doch hoffentlich Recht, oder?“ „Aber ja, dort werden sie wenigsten gesehen.“ „Iris war übrigens hin und weg, als sie von deinem Rosenkavalier hörte.“ Ein wenig ärgerte ich mich schon über Mums Indiskretion. Wer weiß, wo sie sonst noch überall davon erzählt hatte? „Ich bin müde, es war ein anstrengender Tag für mich. Schlaft gut.“ „Du auch, mein Mädchen.“ Mum reagierte nicht, ihr Film lief bereits wieder.

Als ich mir den Pyjama anziehen wollte, fiel mein Blick auf den großen Spiegel am Kleiderschrank und ich betrachtete mich darin. Eigentlich war ich ganz zufrieden mit mir. Die Proportionen passten. Da wo vor zwei Jahren noch mehr oder weniger alles flach war, hatte sich inzwischen einiges an Gewebemasse angesammelt. Aus der dürren Fresslatte war eigentlich eine attraktive Frau geworden. Vielleicht ein bisschen zu lang, aber das hatte ja durchaus auch seine Vorteile. Kleine abgebrochene Bubis waren sowieso nichts für mich. Etwas größer als ich sollte er schon sein, dachte ich und sah mich im Gedanken schon an Chris' Seite durch das Portal einer altromanischen Kirche schreiten. Wir waren uns in den letzten Tagen so nahe gekommen. Was würde sein, wenn er von seinem merkwürdigen Verhalten kuriert wäre? Ich betete, dass er sich für mich entscheiden möge. Ich fand, dass Britta nicht die Richtige für ihn war. Ihr vieles Geld durfte nicht den Ausschlag geben. Mit dem Kopf voller Zukunftspläne schlief ich schließlich ein.

 

7

 

Wie immer vor einem Auswärtsspiel trafen wir uns am Sonntag, kurz nach dem Mittagessen, vor der Sporthalle und warteten gemeinsam auf den Vereinsbus. Wann immer ihn die Herren nicht benötigten, stand er uns zur Verfügung. Leichter Nieselregen hatte eingesetzt. Er ließ den Tag trübe und traurig erscheinen. Aber die Stimmung im Bus lies sich davon nicht beeinflussen. Es wurden letzte taktische Gespräche geführt. Während der kurzen Fahrt blieb Chris allerdings nur wenig Zeit dafür. Mehr war auch nicht nötig, denn jede von uns wusste, was heute auf dem Spiel stand. Wir alle hatten uns fest vorgenommen, den schlechten Eindruck, den wir beim letzten Spiel hinterlassen hatten, zu revidieren. Mit seiner gefühlvollen Ansprache am Schluss unseres letzten Trainings hatte Chris bewirkt, dass wieder eine Mannschaft die Halle betrat. Wir brannten darauf, den mitgereisten Fans etwas zu bieten. Bei der Spielervor-stellung durch den Hallensprecher war ich stolz, diesem Team anzugehören.

Sofort nach Spielbeginn setzten wir den Gegner mächtig unter Druck. Kein Ball wurde vorzeitig verloren gegeben. In der Abwehr gingen wir so konsequent wie selten zuvor an die Gegnerinnen und dominierten so klar die Zweikämpfe. Immer öfter wussten sich die teilweise zu Statisten degradierten Mädels der gegnerischen Mannschaft nur noch durch Fouls zu helfen. Ein Freiwurf nach dem anderen verhalf uns so, bis zum Ende des 2. Viertels, auf einen Vorsprung von 24 Punkten davonzuziehen. Auch nach der Pause gelang es uns sofort, wieder an den alten Spielfluss anzuknüpfen. Teilweise spielten wir uns nun wie entfesselt in einen wahren Rausch hinein. Von der Tribüne schallten nur die Lieder unserer Fans durch die Halle. Die Zuschauer der Heimmannschaft waren förmlich zu Salzsäulen erstarrt. Ihre zaghaften Anfeuerungsversuche waren inzwischen ganz verstummt. Am Ende gewannen wir hochverdient mit 86:42! Dass unser Gegner kein Geringerer als der letztjährige Absteiger und erklärte Mitfavorit auf den Meistertitel war, wertete unseren Sieg noch enorm auf. In unserer Umkleidekabine war nach dem Sieg natürlich der Teufel los. Auf der ausgelassenen Heimfahrt bekam Chris einen Anruf eines unserer Hauptsponsoren. Er lud uns spontan zu einem Siegeressen in sein Restaurant ein. Solche Einladungen werden natürlich begeistert angenommen.

So kehrte also die gesamte Mannschaft nach unserer Rückreise im Restaurant Pinoccio ein. In ungezwungener Stimmung schlängelten wir uns hintereinander gehend, wie im Gänsemarsch, zwischen den Tischen hindurch, um in den kleinen Saal, ganz am Ende des Speiselokals zu gelangen. Plötzlich glaubte ich meinen Augen nicht zu trauen. An einem der Tische saß Britta. „Hast du mit deinem Kindergarten noch Ausgang bekommen?“, warf sie dem unmittelbar vor mir gehenden Chris entgegen. Der hatte sie jedoch viel zu spät bemerkt und konnte schon deshalb nicht antworten, weil ihn die Schlange unaufhaltsam weiter drückte. Das tat ich dann an seiner Stelle. „Wenn wir gewusst hätten, dass Nattern hier ihr Gift versprühen, hätten wir einen Kammerjäger mitgebracht!“ Das hatte gesessen. Britta rang nach Luft und Worten. Ehe sie eine geeignete Antwort gefunden hatte, wurde auch ich an ihrem Tisch vorbei geschoben. Es liegt auf der Hand, dass es an diesem Abend schon wieder viel später wurde, als es eigentlich von mir geplant war. Damit sich Mum und Paps nicht unnötig sorgten, hatte ich vom Restaurant aus angerufen.

Es war schon ziemlich spät geworden, als ich, so leise wie möglich, den Schlüssel in der Haustür drehte. Mum und Paps waren sicher schon im Bett. Doch dann sah ich durch das Glas der Wohnzimmertür den matten Schein des Fernsehers flimmern. „Warum ist denn alles dunkel? Ich dachte ihr seid schon im...“ Doch zunächst sah ich niemanden. Erst mein zweiter Blick verriet mir Pauls Versteck. Er hatte sich hinter einem der großen Sessel verborgen. „Ja sag mal, spinnst du?“ „Bitte nichts den Eltern sagen, ich war ja eigentlich nur auf dem Klo.“ „Mach, dass du wieder ins Bett kommst!“ Husch, husch, war er in seinem Zimmer verschwunden. „Ach du bist es, Steffi. Dann hatte ich ja doch richtig gehört.“ Paps kam ganz verschlafen aus dem Schlafzimmer und ging nun seinerseits zur Toilette. „Jetzt noch fernsehen“, brummelte er. „Nun fängt sie ganz an zu spinnen!“ Ohne ein Wort des Widerspruchs entfernte ich Pauls Spuren nächtlichen Ungehorsams und ging in mein Zimmer. Kurz darauf hörte ich die Wasserspülung rauschen und das leise Klappen der Schlafzimmertür. Endlich konnte nun auch ich unter Aufbietung meiner letzten Kraftreserven ins Bad. Bereits wenige Minuten später träumte ich von einem fantastischen Basketballspiel, welches wir 86:42 gewannen.

Morgenstund hat Gold im Mund. Von wegen, Morgenstund ist aller Laster Anfang! So und nicht anders hätte ich es geschrieben. Ich hasste unsere Sonntags-spiele! Denn auch wenn sie schon an den Nachmittagen stattfanden, so wurde es abends trotzdem immer spät, ehe wir nach Hause kamen. Was dann fehlte, war die Ruhe des nächsten Tages. Doch es folgte ein Arbeitstag und dieser beginnt bei jeder von uns früh.

Wie gerädert von den Anstrengungen des Vortages, kroch ich also aus meinem Bett und versuchte mich dem neuen Tag zu stellen. Was bleibt einem auch übrig? „Mum, dein Kaffee erweckt selbst Tote zu neuem Leben.“ „War wohl ziemlich spät gestern? Lieb, dass du dich gemeldet hast.“ „Ich erzähle dir alles heute Abend. Jetzt muss ich sehen, dass ich zur Bank komme.“ „Du wirst doch wohl wenigstens noch eine Kleinigkeit essen.“ „Geht leider nicht, ich bin spät dran.“ Ich begründete meinen überstürzten Aufbruch mit dem Hinweis auf eine Versammlung aller Auszubildenden. Da wollte ich wenigstens pünktlich sein. Während ich mir die Jacke überwarf und nach dem Autoschlüssel suchte, hatte Mum die Brote und den Joghurt für die Mittagspause eingepackt. Sie reichte mir beides in einem Stoffbeutel. „Den habe ich dir schon damals mit in den Kindergarten gegeben. Kannst du dich noch an ihn erinnern?“ Ich vernahm es, ohne darauf zu antworten. Immer noch suchte ich nach dem verflixten Autoschlüssel. „Ich fand ihn neulich unter deinen alten Sachen.“ Angesichts der immer knapper werdenden Zeit geriet ich allmählich in Panik. Ich war mir ganz sicher, ihn gestern Nacht auf die Kommode der Flurgarderobe gelegt zuhaben. Endlich fand ich ihn. Jemand musste ihn an einen Garderobenhaken gehängt und Mums Schaltuch noch darüber. Schnell warf ich ihr noch einen vorwurfsvollen Blick zu und verschwand durch die laut zufliegende Haustür.

Auf dem Weg zur Bank hatte ich etwas Zeit, um mich halbwegs zu beruhigen. Leider konnten in diesem Jahr nur zwei Auszubildende in ein weitergehendes Beschäfti-gungsverhältnis übernommen werden. Eigentlich sollten wir heute erst davon erfahren. Doch Herr Lampe hatte es mir bereits vor 2 Wochen in aller Verschwiegenheit zugetragen. Unsere demnächst bevorstehende Prüfung sollte der Maßstab sein. Natürlich war man in der Chefetage bestrebt, nur die jeweils besten Absolventen zu übernehmen. Das Schicksal der vermeintlich schlechteren wurde völlig außer Acht gelassen. Als wenn Zensuren etwas über den Umgang mit Kunden aussagen könnten. Aber so ist das wohl auf dieser Welt, nur der starke Baum wird nicht vom Wind gefällt.

Noch am gleichen Vormittag, die Versammlung war längst beendet und ich saß schon wieder hinter meinem Schreibtisch an der Kontoinformation, betrat Chris die Schalterhalle. Er hatte mich bereits erspäht und kam näher. „Hallo Steffi, schön, dass ich dich antreffe.“ „Hi Chris, kann ich etwas für dich tun?“ „Am Mittwochabend habe ich den ersten Termin bei Doktor Müller-Knigge. Du wolltest mich doch begleiten.“ „Ja klar, versprochen ist versprochen. Wann sollst du denn da sein?“ „Um 18 Uhr. Hast du da Zeit?“ „Aber klar, du kannst dich darauf verlassen.“ „Wollen wir uns dann eine Stunde vorher im Roma treffen?“ „Das könnte etwas knapp werden, ich sage dir morgen beim Training, ob das klappt.“ „Okay, dann bis morgen. Übrigens“, sagte er, schon fast im Gehen und drehte sich noch einmal um, „…vielen Dank, Steffi.“ Dann ging er und genau, wie schon bei seinem ersten Besuch an meinem Schreibtisch, sah ich ihm verträumt nach. „Das war doch eben dein Trainer“, unterbrach Mark abrupt meine Fantasie berauschten Gedanken. „Ja, am Mittwoch ist sein erster Termin bei deinem Onkel. Ich werde ihn begleiten.“ „Du darfst dich aber nicht von meinem Onkel sehen lassen.“ „Keine Angst, ich warte solange im Auto.“ „Hast du heute Nachmittag schon etwas vor?“ „Nein, eigentlich nicht.“ „Dann würde ich mich sehr freuen, wenn du mit zu meinem Boxtraining kommst.“ „Warum nicht, wann geht das denn los?“ „Wenn es dir Recht ist, hole ich dich um 17 Uhr ab.“ „Ich freue mich darauf.“

Eigentlich machte ich mir gar nichts aus Boxen. Aber dafür mochte ich Mark. Er hatte schon so viel für mich getan. Warum sollte ich ihm nicht auch mal einen Gefallen tun? An der Art, wie sehr er sich über meine Zusage freute, sah ich, wie viel ihm meine Begleitung bedeutete. Außerdem war ich nun auch auf sein Training gespannt. Pünktlich um 17 Uhr stand Mark mit seinem Beetle vor meiner Tür und hupte. „Warum kommt er denn nicht herein?“, wollte Mum von mir wissen. „Er hat es sehr eilig.“ „Wenn er dich heute Abend nach Hause bringt, dann bittest du ihn aber noch mit herein. Dein Vater möchte seinen zukünftigen Schwiegersohn schließlich auch mal etwas näher kennen lernen.“ Wenn Mum sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, lohnte es sich nicht, ihr zu widersprechen. Sie hörte einfach nicht mehr zu. Also kümmerte ich mich auch nicht um das, was sie sagte. Sie würde irgendwann schon begreifen, dass Mark nur ein guter Freund war. Ich antwortete ihr mit einem schlichten: „Ja, ja“, und ließ sie im Flur stehen. „Und pass auf, dass er sich nicht die Nase breit hauen lässt!“, rief sie mir so laut hinterher, dass die Passanten auf dem Bürgersteig sich nach uns umdrehten.

Es war ein spätherbstlicher Nachmittag. Trocken, die Luft kalt und klar, es roch schon etwas nach dem ersten Schnee. Dicke, weiße Wolken zogen über uns hinweg. Ab und zu bahnte sich ein Sonnenstrahl seinen Weg zwischen ihnen hindurch. Da die Sonne schon sehr tief stand, blendete sie uns dann beim Fahren. Manchmal, wenn eine Ampel ungünstig in ihre Richtung stand, verfingen sich ihre Strahlen auf den Signallampen und machten es dem Autofahrer fast unmöglich, die jeweilige Farbe zu erkennen. Wenn wir ganz vorne standen, wartete Mark darauf, dass die Autos aus der Gegenrichtung zuerst anfuhren. Auch dann, wenn die Fahrer in den Autos hinter uns zu hupen begannen, ließ er sich in seiner Vorsicht nicht stören. Er strahlte dabei eine beeindruckende Ruhe aus. Er steuerte den Wagen in die Einfahrt eines alten Fabrikhofes. „Wir sind da.“ Ich sah ihn entgeistert an. „Ist das dein Ernst?“ „Keine Angst, es sieht nur auf den ersten Blick so schlimm aus. Drinnen wird es dir sicher gefallen.“ Da hier schon mehrere Autos parkten, versuchte ich ihm zu glauben.

Diese alten, verlassenen Fabrikgelände sollen ja ihr ganz besonderes Flair haben. Für mich war hier einfach alles nur heruntergekommen. Riesig hohe Fenster mit verdreckten oder eingeschlagenen Scheiben, tristes, graurotes Mauerwerk, aus dessen Fugen bereits der Mörtel rieselte und kahle Wände aus kaltem Beton bestimmten das düstere Bild einer längst vergangenen Epoche. Durch eine einfache Stahltür gelangten wir in eines dieser Gebäude. Was ich nun allerdings zu sehen bekam, übertraf alle meine Erwartungen bei weitem. So stellte ich mir ein hypermodernes Fitnesscenter vor. „Wenn du magst, kannst du dich hier in der Bar niederlassen und mir durch die Panoramaglasscheibe beim Training zusehen. Aber zunächst zeige ich dir erst einmal alles.“ Jedes Clubmitglied hatte seinen eigenen kleinen Schrank mit seinem Namen daran. Die Trainingsgeräte waren sogar moderner als die in unserem Verein. Inmitten der Halle befanden sich 2 Boxringe, die mit unzähligen Lampen taghell ausgeleuchtet wurden. „Habe ich dir zu viel versprochen?“ „Ich bin beeindruckt.“ „Ich werde heute nur etwa eine Stunde lang an verschiedenen Geräten arbeiten. Du setzt dich am besten solange in die Bar. Da kannst du alles in Ruhe beobachten.“ „Das werde ich tun. Und Mark, ich will dich schwitzen sehen!“

Ich bestellte mir einen Vitamincocktail und setzte mich an einen der kleinen Bistrotische, die vor der Panoramascheibe aufgestellt waren. Es dauerte nicht lange, bis Mark mit einem Zettel oder etwas Ähnlichem in der Hand, genau konnte ich es von meinem Platz aus nicht erkennen, im supersportlichen Dress die Halle betrat. Er ist schon eine stattliche Erscheinung, dachte ich und nippte gedankenverloren an meinem Drink. Wenn er noch ein wenig an sich arbeitet und einige Pfunde loswürde, könnte aus ihm sicher ein attraktiver Mann werden. Eigentlich schade, dass er ein gutes Stück kleiner als ich war. Vielleicht hätten wir sonst ein gutes Paar abgegeben.

Was für einen Unsinn dachte ich mir da nur zusammen! Mark war doch mein Freund und kein Mann, der mich erotisch interessierte. Sicher, ich mochte ihn, aber eben so, wie man einen guten Freund eben mag. Wenn ich mich mit ihm unterhielt, kribbelte nichts in mir. Es war fast so, als würde ich mich mit Conni oder Bianca unterhalten. Und nun sah ich ihm durch eine Glasscheibe zu, wie er auf einen Sandsack einschlug und dabei seinen ganzen Frust aus sich herauszuprügeln schien. Wie er sich an verschiedenen Sportgeräten quälte, um dem Idealbild seiner Umwelt zu entsprechen. Wer eigentlich entwarf dieses Bild, wonach sich alle zu richten schienen? Kann nicht auch ein dicker Körper ästhetisch wirken? Ich selber hatte mir diese Frage bereits beantwortet.

Während ich darüber nachdachte, ob ich selber schon zu einem Sklaven der Gesellschaft verkümmert war, setzte sich einer dieser vor Kraft strotzenden, äußerst gut aussehenden Muskelmänner ungefragt an meinen Tisch und begann eine recht einfältige Konversation. Etwa nach dem Schema, wie sie in schlechten Kinofilmen schon tausendfach zu sehen waren. Hi Baby, eine so süße Maus wie du sollte nicht so allein herum sitzen.“ Mit einer einfachen Gegenfrage ließ sich der Horizont meines Gegenübers wirkungsvoll testen. „Warum nicht?“ Nachdem er für etliche Sekunden nur ein Testbild ausgestrahlt hatte, schien er nun endlich eine Antwort gefunden zu haben.“ Weil es große, böse Kater gibt, die kleine Mäuschen fangen.“ Mehr als triumphierend grinste er mich an und wartete darauf, dass ich seinem, seiner Meinung nach, unwiderstehlichem Charme erliegen würde. Aber da war er bei mir an der falschen Adresse. „Da würde sich der große, böse Kater aber schnell blaue Eierchen holen“, entgegnete ich ihm, ohne dabei auch nur mit einer Wimper zu zucken. „Und nun wäre es schön, wenn das Kätzchen wieder allein mit seinen Murmeln spielen würde.“ Er hatte kapiert. Mit frustriertem Gesichtsausdruck erhob er sich, warf mir noch ein gequältes Lächeln zu und ging wieder an die Bar, um sich seine Wunden zu lecken.

Leider war von Mark nichts mehr zu sehen. Er hatte wohl in der Zwischenzeit seinen Trainingsplan absolviert und stand bereits unter der Dusche. Ein Blick zur Uhr bestätigte meine Annahme. Eine Stunde hatte er gesagt. Ich bestellte mir einen weiteren Softdrink und schaute interessiert einem Sparringskampf in einem der Boxringe zu. Zwei eigentlich recht schmächtige Typen mit Gebiss und Kopfschutz droschen wie wild aufeinander ein. Obwohl ich die Schutzmaßnahmen gut fand, sah das Ganze albern aus. Wie zwei Kängurus hüpften sie durch den Ring. Hier und da gelang es einem der Kontrahenten, dem anderen einen Schlag auf den Körper oder ins Gesicht zu verpassen. Dass es Menschen gibt, die sich gegenseitig niederschlagen, Schmerz empfinden und das Ganze noch als Sport bezeichnen, konnte ich nicht verstehen. Aber schließlich war ich tolerant genug erzogen worden, um jedem seinen Spaß zu gönnen. Anderen ging es mit meiner Sportart sicher ähnlich. „Ach, da bist du ja, Mark.“ Frisch geduscht, gestylt und knitterfrei gebügelt, setzte er sich und bestellte sich ebenfalls einen Softdrink. „Hast du dich gut unterhalten?“ „Oh ja, es war nicht eine Minute langweilig. Zwischendurch hatte ich sogar ein nettes Gespräch mit einem Kater.“ Dabei deutete ich auf den Muskelmann von vorhin. Der spielte mittlerweile mit einem anderen Kätzchen. „Wenn du Harry meinst, wundert mich das etwas. Außer seinen kleinen Mäuschen hat der doch sonst nichts im Kopf.“ „Eben.“ Kurz bevor wir gingen, war einer der Boxer zu einem Niederschlag gekommen. Noch etwas benommen rappelte sich der Trainer wieder hoch. „Eine wirklich beeindruckende Sportart, die du dir da ausgesucht hast. Da kommt jeder auf seine Kosten.“ „Du brauchst gar nicht so ironisch zu sein, so etwas passiert höchst selten.“ „Dann habe ich ja richtig Glück gehabt.“ Je mehr ich darüber schmunzelte, umso mehr verzog sich Marks Gesicht. Beim Hinausgehen hob der Kater noch einmal seine Pranke und quälte sich ein Lächeln ab. „Ich glaube, hier war ich nicht zum letzten Mal. Es sei denn, du nimmst mich nicht wieder mit?“ „Klar!“, strahlte Mark. „Aber nur, wenn du dich nicht wieder lustig machst.“

Als er die Stahltür zum Fabrikhof aufstieß, empfing uns eine unangenehme Überraschung. Nebel, und was für eine Suppe. Wenn auch zwischen Kommen und Gehen nur etwas mehr als 2 Stunden lagen, so war es in der Zwischenzeit auch noch stockdunkel geworden. Schon das Auto wieder zu finden, erinnerte mich an Ostern. Obwohl das Ei wesentlich größer war, gestaltete sich die Suche als ebenso zeitaufwendig. Damals sagten Mum und Paps wenigstens, ob es wärmer oder kälter wurde. Wir fanden Marks Ei, na ja, seinen Beetle, aber auch so. Endlich eingestiegen, tasteten wir uns Meter um Meter zur Ausfahrt und schließlich zurück auf die Hauptstraße. Durch das gute Licht der Straßenbeleuchtung kamen wir hier etwas flotter voran. Es dauerte weitere, unendlich erscheinende 25 Minuten, bis wir, ziemlich geschafft, angekommen waren. „Übrigens bittet dich meine Mutter, noch mit hineinzukommen. Ich musste es ihr versprechen.“ „Eigentlich bin ich ganz schön down, aber wenn du es deiner Mutter versprochen hast, kann ich dich ja nicht hängen lassen. Mit einem Knopfdruck befahl Mark beim Hineingehen seinem Auto sich abzuschließen und auf ihn zu warten. Schon toll, so ein Wunderwerk der Technik. Solch einen Luxus gab es an meinem Corsa noch nicht. Er hatte ja auch schon ein paar Jährchen mehr auf seinem Buckel. Für mich war er aber mehr als nur ein Auto. Für mich war er ein guter, verlässlicher Freund.

Mum musste schon hinter der Gardine auf uns gelauert haben, denn gerade als ich mit meinem Schlüssel die Haustür öffnen wollte, riss Mum sie von innen auf. „Ach das ist aber nett, Herr Seiler, schön, dass Sie noch ein wenig Zeit erübrigen konnten, um uns mit Ihrem Besuch zu erfreuen.“ „Meine Güte“, flüsterte ich Mark zu, „so geschwollen redet sie sonst nicht.“ „Darf ich Sie ins Wohnzimmer bitten?“ Mark starrte mich fragend an. Ich zog nur verwundert die Schultern nach oben und bat ihn mit einer Handbewegung Mutter zu folgen. Die Essecke im Wohnzimmer war festlich eingedeckt. Kerzen brannten und Paps ging mit ausgestreckter Hand auf Mark zu. „Es ist schön, dass ich Sie nun auch endlich kennen lerne.“ „Ganz meinerseits“, entgegnete ihm Mark höflich. Nun fehlte nur noch Mums neueste Lasagne-kreation und ich wäre schreiend hinausgelaufen. Gottlob brachte sie gerade eine Platte mit Burgunderbraten herein. „Sie haben doch sicher noch nicht zu Abend gegessen? Bitte nehmen Sie Platz. Unsere Stefanie ist übrigens eine leidenschaftliche Köchin.“ „Aber Mum, du meinst Pizzabäckerin.“ „Ha, ha, sie ist immer so bescheiden.“ Irgendwie hatte ich das Gefühl, hier als Ladenhüter an den Mann gebracht zu werden. Wer weiß, was sie Paps erzählt hatte, damit er hier mitspielte. Ich warf ihr einen verächtlichen Blick zu und trat ihr sicherheitshalber unter dem Tisch gegen das Schienbein. Als stattdessen Mark aufschrie, wusste ich, dass ich das falsche Bein erwischt hatte. Wieder sah er mich verwundert an und wieder zuckte ich nur mit meinen Schultern. Mum hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass ihr mein Rosenkavalier als viel zu alt für mich erschien. Meine Hoffnung, dass Mum mich mittlerweile als erwachsene Tochter ansehe, hatte sich somit als Utopie erwiesen. Wieder einmal wollte sie mir aufzwängen, was sie für das Richtige hielt. Es gibt Momente, bei denen Liebe und Hass verdammt nah beieinander liegen.

Aber auch Mark fühlte sich nicht recht wohl in seiner Rolle. Immerhin hatte er Mums Spiel durchschaut und begann nun Öl auf die Lampe zu gießen. „Ach wissen Sie, gnädige Frau, wenn ihre Tochter und ich erst verheiratet sind, wird sie zum Kochen gar keine Zeit mehr haben. Das erledigt dann eine unserer Hausangestellten. Genau wie die Erziehung unserer Kinder. Steffi und ich werden viel auf Reisen sein.“ „Womit wollen Sie diesen aufwendigen Lebenswandel finanzieren, wenn ich fragen darf?“ „Wie Sie vielleicht wissen, arbeitet Steffi als meine rechte Hand in der Bank. Wir werden viel in Aktien spekulieren und sehr reich werden.“ Es war schon toll, wie ernst er seine Geschichte an den Mann oder besser gesagt, an die Frau zu bringen verstand. Vor allem hatte er nicht einmal dabei gelogen. Ich arbeitete tatsächlich an einem Schreibtisch, der rechts neben seinen stand. Mum hörte begeistert zu. „An wie viele Kinder hatten Sie denn so gedacht?“ „Och, wir sind da recht flexibel. Mal sehen, wie viele da mit der Zeit zusammenkommen.“ Mark lief zur Höchstform auf. Paps bereitete das Spiel sichtliches Vergnügen. Anfängliche Skepsis war schmunzelndem Zuhören gewichen.

„Was machen eigentlich ihre Eltern, Herr Seiler?“, fragte Mum ganz ungeniert. „Sie erfreuen sich beide bester Gesundheit.“ „Das freut mich sehr.“ Mum ließ nicht locker. „Ich äh, meinte eigentlich eher beruflich.“ Da war ich ehrlich gesagt nun auch sehr gespannt. Mark sprach nie über seine Eltern, aber sie mussten recht wohlhabend sein. Denn all seine teuren Markenklamotten und das neue Auto konnte er sicher nicht von seiner dürftigen Ausbildungsvergütung finanzieren. „Mein Vater ist selbstständiger Transportunternehmer. Mutter ist Disponentin.“ „Das ist sehr interessant. Sicher eine sehr verantwortungsvolle Tätigkeit, die Ihre Frau Mutter dort ausübt?“ „Oh ja, über sie läuft die gesamte Koordination unseres Betriebes.“

Das alles hörte sich für Mum und mich sehr eindrucksvoll an. Nur Paps grinste Mark etwas merkwürdig an. „Wie lange fährt ihr Herr Vater denn schon Taxi?“ „Fast 30 Jahre“, antwortete ihm Mark ganz selbstverständlich. „Wieso Taxi?“, Mum war erschüttert. „Ja, hast du denn nicht zugehört, Ute?“ Die beiden Männer verstanden sich prächtig. „Herr Seiler hat doch gerade davon erzählt.“ „Sagen Sie doch bitte Mark zu mir;“ unterbrach ihn der Schwiegersohn in spe. „Gern, Mark.“

„Und was macht denn Ihre Mutter nun genau?“, fragte Mum, Schlimmeres erahnend. „Neben dem Taxi, das mein Vater selber fährt, gehören uns noch drei weitere, die von 8 Angestellten im Schichtwechsel gefahren werden. Mutter leitet die eingehenden Aufträge an das jeweils am günstigsten gelegene Taxi weiter.“ „Na ja, das ist ja wenigstens etwas.“ „Darf ich fragen, was Sie beruflich machen?“ Ich hatte mir ihren Schlagabtausch aufmerksam angehört. Es war ein wenig so, wie vorhin bei dem Boxkampf. Mum und Mark tänzelten geschickt umeinander herum und warteten darauf, dass sich der jeweils andere eine Blöße gab. Wenn die Deckung zu weit herunterhing, versuchte der andere einen präzise geführten Hieb anzusetzen. Paps fungierte als eine Art Ringrichter. Aber nun war ich sehr auf Mums Antwort gespannt. „Ich bin Galeristin!“ Paps, der gerade an seinem Weinglas nippte, prustete. Soll heißen, dass Mum bei Tante Iris die Stellung hielt, wenn die auf Kunstauktionen oder dergleichen unterwegs war. Nett umschrieben hatte sie es trotzdem. „Das ist sicher auch eine sehr interessante Tätigkeit“, lobte Mark. „Oh ja, meine Partnerin und ich kommen sehr viel mit Künstlern und Kennern der Szene zusammen. Da lernt man auch den Geldadel kennen.“ Oh weh, das war ein Schlag unter Marks Gürtellinie. Paps zählte ihn an und sprach Mum eine Verwarnung aus. „Stimmt“, sagte er, „Wenn du auf den Vernissagen die Horsd'oeuvre reichst und beim Sekt für Nachschub sorgst, bis du bei der Schickeria immer gut angesehen.“ „Aber Liebling, ich dachte du begleitest mich gern dorthin.“ „Die Horsd'oeuvres sind gut.“

Jetzt nur keine Ehekrise, dachte ich und beschloss, da sowieso alle mit dem Essen fertig waren, den Tisch aufzulösen. „Mark muss jetzt leider nach Hause. Wir wollen morgen unsere erste Million verdienen, da müssen wir ausgeschlafen sein.“ „Dem wollen wir natürlich nicht im Wege stehen. Es wäre schön, Mark, wenn wir unser Gespräch gelegentlich fortsetzen könnten.“ „Gern, es hat mir sehr bei Ihnen gefallen. Ich habe noch nie so einen guten Kasslerbraten gegessen.“ „Danke, es ist sehr schön, dass Ihnen der Burgunderbraten geschmeckt hat.“ Mark gab Mum an der Haustür einen äußerst galanten Handkuss. Paps legte ihm freundschaftlich eine Hand auf die Schulter und schüttelte mit der anderen die seine. „Vielleicht können wir ja mal gemeinsam joggen?“ Ein solcher Satz aus Vaters Mund bedeutete so viel wie eine Auszeichnung für Mark. Dieses Privileg bot er nicht jedem an! Ich begleitete Mark durch den immer noch dichten Nebel zum Auto. Wenigstens konnte Mum so nicht beobachten, wie wir uns voneinander verabschie-deten. Der Kuss auf die Wange, den ich Mark aufdrückte, wäre ihr sicher zu wenig gewesen.

„Auch wenn der Herr Seiler noch nicht so ganz die gute Partie ist, die ich mir für dich wünsche, so denke ich doch, dass aus dem jungen Mann durchaus noch etwas werden kann. Gute Manieren sind das A und O in der gehobenen Gesellschaft. Und die hat er ja wenigstens. Wir werden also vorerst an dieser Beziehung festhalten.“ „Da bin ich wirklich sehr beruhigt, Mum.“ „Ich glaube, dass du da ein gutes Stück zu weit gehst. So sehr ich den jungen Mann schätze, aber ich denke, unsere Tochter kann sich den Mann fürs Leben schon sehr gut selbst aussuchen.“ „Danke Paps, das denke ich auch.“ Nur allzu gern hätte ich mich beim Abräumen des Tafelgeschirrs an Mutters ‚englischer Jagd' abreagiert, aber dafür war es mir dann doch zu schade. Stattdessen verschwand ich mit dem Telefon in meinem Zimmer.

Ich hatte schon seit Tagen nichts mehr von Bianca gehört. Gerade als ich den Hörer abnehmen wollte, klingelte das Telefon. „Hallo Steffi, störe ich dich gerade?“ „Nein, nein, hallo Chris. Wie geht es dir?“ „Was glaubst du? Wie soll es wohl einem gehen, der in drei Frauen gleichzeitig verliebt ist und doch jeden Abend allein zu Hause herumsitzt.“ „Sicher nicht gut. Wenn du möchtest, können wir ein wenig quatschen. Vielleicht hilft es dir ja ein bisschen.“ „Das ist lieb von dir. Vielleicht ist es auch einfach nur die Angst vor dem, was der Psychiater am Mittwoch herausfinden wird. Steffi sag mir bitte ganz ehrlich, glaubst du, dass ich verrückt bin?“ „Ach Chris, du bist genauso viel oder wenig verrückt wie ich. Aber durch irgendetwas, vielleicht einem sehr emotionalen Traum, einer Begebenheit aus deiner Kindheit, eine Verkettung unglücklicher Umstände oder etwas Ähnlichem, sind deine Gefühle durcheinander geraten. Vielleicht kann der Doc anhand von Gehirnströmen, die er bestimmt auch bei dir messen wird, feststellen, was mit dir los ist.“ „Woher weißt du nur all diese Dinge?“ „Als Oma damals da war, hat man auch so ein EEG gemessen. Das machen die immer.“ „Aber daran ist sie doch wohl nicht gestorben, oder?“ „Quatsch, das ist nicht gefährlich. Sogar als Mum wegen ihrer Migräne bei Doktor Drescher war, wurde eins angefertigt.“ „Du bist sicher, dass es deiner Mutter gut geht?“ „Nun hör schon auf, natürlich!“ „Was bleibt mir auch übrig. Es muss endlich etwas geschehen. So jedenfalls kann es nicht weiter gehen!“ „Ich bin ganz sicher, dass bald wieder alles in Ordnung ist. Du wirst wieder mit Britta zusammen sein und deine Gefühle zu uns drei wirst du vergessen.“ „Das werde ich ganz bestimmt nicht. Schon gar nicht dich!“

 

 

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