Detektei Lessing

 

Band 47

 

Mord im Spiegel

1

Es war der Morgen eines ganz normalen Tages, irgendwo in einer Gymnasialklasse, wie es sie zu hunderten in unserem Land gibt. Nach und nach fanden sich die Schüler ein, begrüßten sich und erzählten von allerlei interessanten und auch langweiligen Begebenheiten. Die Lehrkraft verspätete sich wieder einmal, also, wie gesagt, alles ganz normal, oder doch nicht? So, wie das Gymnasium, waren auch die Klasse und die Schüler, die ihr Abi an diesem Ort nachmachen wollten, eben nicht so ganz normal. Die Schule, in der wir uns befinden, ist das Kolleg an der Wolfenbütteler Straße in Braunschweig.

Während mehrere Schüler in kleineren Gruppen zusammenstanden und miteinander schwatzten, saß Marina allein, abseits von ihnen. Sie versuchte nicht aufzufallen, sich unsichtbar zu machen. Sie spürte die unverhohlenen Blicke dreier Mädchen, die sich wie immer über sie lustig machten. Schließlich betrat Paul den Raum. Marina zitterte am gesamten Körper. Kalter Schweiß trat ihr auf die Stirn, als sie sah, wie ihm Kathi einen Umschlag reichte und er die darin enthaltenen Fotos wortlos betrachtete. Marina wurde schlecht, Tränen traten ihr in die Augen, suchten sich ihren Weg über das ungeschminkte Gesicht.

Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Kathi auch die restlichen Fotos aus dem Kuvert nahm und durch die Klasse reichte. Sie kannte die Aufnahmen und schämte sich dafür, trotzdem ertrug sie die darauffolgenden Reaktionen der Kollegiaten mit scheinbar stoischer Gelassenheit. Viel schwerer wog die Enttäuschung über Paul, der ihr Vertrauen so sehr missbraucht hatte. Als sie sah, wie er mit den anderen lachte, explodierten ihre Gefühle, ließen sich nicht länger kontrollieren, suchten nach einem Ventil, um dem ungeheuren Druck weiter standzuhalten. Vergeblich!

Sie sprang unvermittelt von ihrem Stuhl auf, lief auf eines der Fenster zu, öffnete es und stieg auf das geteerte Flachdach, welches sich davor befand. Sie spürte die Blicke, die ihr auf diesem Weg folgten. Sie hörte das Lachen ihrer Mitschüler und sie vernahm ihre herablassenden Worte, doch all dies drang nicht mehr zu ihr durch. Dieses Leben war es nicht mehr wert, weiter gelebt zu werden. So lange sie denken konnte, war sie nur für andere die Witzfigur. Verspottet und erniedrigt. Marina konnte nicht mehr und sie wollte nicht mehr.

Ihre Schritte in Richtung Dachkante wurden schneller. Sie drehte sich nicht mehr um, wollte einfach nur noch alles hinter sich lassen, diesem ungeliebten Leben und allem, was damit einherging entfliehen. So bemerkte sie nicht, wie ihr der Lateinlehrer auf das Dach folgte. Seine Zurufe verhalten von ihr ungehört. Unter ihr musste sich gerade Hitlers Kaminzimmer befinden. Welch merkwürdige Gedanken in diesem Moment Besitz von ihr ergriffen. Sie musste laufen und weit genug über die Dachkante springen, um nicht am Führerbalkon hängenzubleiben.

Ihre Schritte beschleunigten sich mehr und mehr. Keine zehn Meter mehr bis in die Freiheit. Sie rannte! Nur noch fünf Meter! Der Wind trocknete ihre Tränen. Ein wohliges Gefühl durchströmte ihren Körper. Vier! Sie sah auf die Baumkronen, die sich ein Stück weit vor ihr auftaten. Auf einmal erschien ihr alles so friedlich. Drei! Keiner der Kollegiaten an den Fenstern lachte, niemand grölte ihr nach, machte sich lustig über sie. In diesem Moment hatte sie ihre volle Aufmerksamkeit und vielleicht mischte sich unter ihr Entsetzen sogar so etwas wie Respekt.

Ein Meter! Wer auch immer erwartet oder gehofft hatte, dass Marina ihr Vorhaben abbrechen würde, wusste, dass es dafür zu spät war. Es war der Moment, in dem man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Die Kollegiaten sahen, wie Martin Bänder den Abstand zu Marina bis auf wenige Meter verkürzt hatte und doch war ihnen bewusst, dass er zu spät kommen würde. Es war der Moment, in dem sie alle den Atem anhielten. Der Moment, in dem es kein Zurück mehr geben würde.

Für Marina war es der Moment, in dem sie in die Freiheit sprang. Sie schien leicht wie ein Vogel, ohne jegliche Last, befreit von allen Zwängen, einfach nur sie selbst. Ihr letzter Gedanke gehörte ihrer Mutter, die immer für sie dagewesen war. Schon seit langem hatte sie ihr nichts mehr von ihren Problemen erzählt, weil sie wollte, dass sich Sara ein neues Glück suchte. Viel zu lange hatte die Heilpraktikerin ihr eigenes Leben für sie zurückgestellt. Sie würde über ihren Tod hinwegkommen und einen Mann finden, mit dem sie glücklich werden konnte. Der letzte Gedanke riss ab, ergoss sich in einem Meer der Ruhe. Kein Schmerz, nur die friedliche Stille des Todes.

2

Nur wenige Minuten nach dem schrecklichen Ereignis traf der erste Streifenwagen und kurz darauf ein Rettungswagen am Ort des Geschehens ein. Während Polizeimeister Gimpel und Polizeiobermeisterin Sprengel das Gelände vor dem Führerbalkon weiträumig absperrten, stellte der Notarzt den Tod der jungen Frau fest. Jenseits des gespannten Trassierbands standen dutzende fassungsloser Schüler, die nach einer Erklärung für den Suizid suchten. Lateinlehrer Martin Bänder stand unter Schock. Er saß auf der angrenzenden Wiese und lehnte mit dem Rücken an einem der Bäume. Auch die beiden jungen Männer, denen Marina quasi vor die Füße gestürzt war, hatten einen schweren Schock erlitten und mussten im Rettungswagen behandelt werden.

„Mordkommission, mein Name ist Wurzer“, stellte sich der Beamte mit gezücktem Dienstausweis vor. „Die junge Frau neben mir ist Kommissarin Hoffmeister.“ Die Stirn der Schulleiterin krauste sich. „Mordkommission?“ „Wir waren ganz in der Nähe“, erklärte Gesine Hoffmeister. „Gibt es Zeugen?“, erkundigte sich Wurzer. Thea Strempel seufzte. „Leider mehr als genug.“ Sie deutete auf eine Traube von jungen Leuten, die sich in der Nähe des Lateinlehrers aufhielten. „Soviel ich inzwischen weiß, kletterte sie unmittelbar vor Unterrichtsbeginn aus dem Fenster des Klassenraumes auf das Dach“, erklärte die Schulleiterin und deutete nach oben. „Wurden die Angehörigen schon informiert?“, erkundigte sich Gesine Hoffmeister. „Ich dachte, das machen Sie“, wirkte Thea Strempel verunsichert. „So bald uns die näheren Umstände bekannt sind, kümmern wir uns darum“, bestätigte die Ermittlerin.

„Ist Ihnen der Grund für den vermeintlichen Selbstmord bekannt?“, hakte der Kommissar nach. Thea Strempel schüttelte wortlos den Kopf. „Gibt es hier einen Raum, in dem wir die Zeugen in Ruhe befragen können?“ „Jetzt gleich?“ „Je eher desto besser.“

Kurz darauf saß den Ermittlern der Lateinlehrer gegenüber. „Fühlen Sie sich in der Lage, uns einige Fragen zu beantworten?“ erkundigte sich der Leiter der Ermittlungen kurz darauf im Büro der Direktorin. Martin Bänder nickte, immer noch ganz unter dem Einfluss der Ereignisse stehend. „Sie waren mit Frau Maurer allein auf dem Dach?“ „Ja, ich kam erst in den Klassenraum, als Marina schon auf dem Dach war“, erklärte der Lehrer. „Die Kollegiaten standen an den Fenstern und sahen zu ihr hinaus.“ „Weshalb unternahmen die Schüler nichts, um ihre Mitschülerin von ihrem Vorhaben abzubringen?“, erkundigte sich die Kommissarin. „Das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen“, entgegnete Bänder wider besseres Wissen.

„Sie sind der Schülerin also auf das Dach gefolgt“, nahm der Hauptkommissar den Faden wieder auf. „Das bin ich. Marina reagierte allerdings nicht auf meine Zurufe. Es war, als stünde sie unter Drogen.“ Jürgen Wurzer stutzte. „Gibt es einen Anhaltspunkt dafür, dass es so gewesen sein könnte?“ „Wie? Ach so, nein, um Himmels Willen, das war nur ein Vergleich. Ich hätte ebenso gut sagen können, dass sie taub gewesen war.“ „Ich verstehe. Aber wo Sie das Thema schon mal ins Spiel gebracht haben, gibt es hier am Kolleg ein Drogenproblem?“ Martin Bänder reagierte verunsichert. „Nicht dass ich wüsste.“

„Sie folgten Frau Maurer also auf das Dach und liefen ihr nach“, bemühte sich die Kommissarin um die Rekonstruktion der letzten Sekunden im Leben des Opfers. „Ja sicher, ich versuchte sie einzuholen, aber der Abstand zu Marina war bereits zu groß. Wenige Meter vor der Kante beschleunigte sie noch einmal.“ Der Lateinlehrer schüttelte den Kopf und stieß einen tiefen Seufzer aus. „Das Mädel wollte sterben, so viel steht fest.“ „Machen Sie sich bitte keine Vorwürfe“, tröstete ihn Gesine Hoffmeister. „Sie konnten es nicht verhindern.“

„Was können Sie uns sonst zu der jungen Frau sagen?“, lenkte Hauptkommissar Wurzer die Befragung auf die Persönlichkeit des Opfers. „Tja, was soll ich sagen? Marina gehörte nicht zu den beliebtesten Kollegiaten. Sie war eher distanziert und in sich gekehrt. Sie hatte meines Wissens keine Freunde in der Klasse. Eine Einzelgängerin halt.“ „Wie waren ihre schulischen Leistungen?“, hakte der Ermittler nach. „Nicht herausragend, aber gut. Sie hatte, soviel mir bekannt ist, in keinem ihrer Belegfächer Probleme.“

„Ist Ihnen etwas zum häuslichen Umfeld der Toten bekannt?“, wollte Kommissarin Hoffmeister von dem Befragten wissen. „Nein, da kann ich Ihnen nun wirklich nichts zu sagen. Was mir auffiel, war höchstens Marinas einfache, aber stets saubere Garderobe.“ „Sie trug also, anders als andere, keine Markenklamotten“, fasste der Hauptkommissar zusammen. „Bänder nickte zustimmend. „Kann schon sein, dass sie von den Mitkollegiaten auch deswegen geschnitten wurde.“ Gesine Hoffmeister schüttelte verständnislos den Kopf. „Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst?“

Im Gesicht des Pädagogen zeichnete sich so etwas wie Resignation ab. „Ich ergriff diesen Beruf einmal, um junge Menschen auf das Leben vorzubereiten, inzwischen geht es nur noch darum, ihnen möglichst viel Wissen zu vermitteln. Was das Sozialverhalten angeht, habe ich nicht selten das Gefühl, dass es sich bei einem großen Teil der Kollegiaten um Grundschüler handelt und nicht um Personen, die volljährige Erwachsene sind.“ „Ein hartes Urteil“, entgegnete Gesine Hoffmeister. „Glauben Sie mir, es wird von Jahr zu Jahr schlimmer.“

Die Stimme des Lateinlehrers klang wie die eines erschütterten Mannes, der kurz davor war, alles hinzuschmeißen. Der Tod seiner Schülerin hatte Martin Bänder hart getroffen. Inwieweit seine Worte dem Schock zuzuschreiben waren, unter dem er ganz sicher noch stand, lässt sich nur erahnen. Der Hauptkommissar fragte sich, ob der Suizid der jungen Frau allein in ihrem schlechten Verhältnis zu ihren Mitkollegiaten begründet war, oder ob viel mehr dahintersteckte.

„Das wäre es dann fürs Erste, Herr Bänder“, brach Hauptkommissar Wurzer die Befragung an dieser Stelle ab. „Seien Sie doch bitte so nett und schicken sie uns Frau Blank herein.“ „Ehrlich gesagt verstehe ich das Ganze hier nicht. Der Suizid ist doch unstrittig, oder nicht?“ „Im Prinzip ja“, stimmte ihm die Kommissarin zu. „Es gibt allerdings einige Begleitumstände, die wir gern aufklären möchten.“ Der Lateinlehrer zuckte mit den Achseln. „Ich schicke Ihnen Frau Blank rein.“

„Ein merkwürdiger Typ“, fasste Jogi zusammen. „Einerseits geht ihm der Tod seiner Schülerin sehr nahe, andererseits ist er nicht gerade gesprächig, wenn es um die Ursachenforschung geht.“ „Er will seine Schüler offensichtlich in kein schlechtes Licht rücken“, versuchte ihn Gesine zu verstehen. „So tragisch der Tod der jungen Frau auch sein mag“, seufzte der Hauptkommissar, „...letztlich ist sie für ihren Suizid allein verantwortlich.“ „Dann könnten wir uns weitere Befragungen sparen.“

„Sie unterrichten in der Klasse Französisch und Naturwissenschaft“, las die Kommissarin von ihrem Notizblock ab. Die schlanke Frau mit den hochgesteckten Haaren nickte ihr eifrig zu. „Haben Sie eine Erklärung für den Suizid von Frau Mauer?“, brachte es der Ermittler auf den Punkt. „Wieso ich?“, entgegnete Frau Blank verschreckt. „Was ist daran so abwegig? Die Tote war eine Ihrer Schülerinnen“, unterstrich der Hauptkommissar seine Frage. „Dazu kann ich nichts sagen“, reagierte sie hektisch. „Marina ließ eigentlich niemanden an sich heran.“ „Was meinen Sie mit eigentlich?“, hakte Wurzer nach. „Nichts! Kann ich jetzt gehen?“

Sie sprang auf, ohne die Antwort der Kommissare abzuwarten. „Ich kann Ihnen nicht weiterhelfen.“ „Marina soll in der Klasse nicht sonderlich beliebt gewesen sein“, ignorierte Gesine Hoffmeister die Hektik, unter der die Lehrerin offensichtlich stand. „Das bin ich auch nicht“, entgegnete sie zynisch. „Bringe ich mich deswegen gleich um? Na ist doch so, oder?“ Die Ermittler sahen sich vielsagend an. „Bitte schicken Sie uns Frau Küster herein.“ „Soviel ich weiß, ist die schon wieder im Unterricht“, erklärte Frau Blank. „Das darf doch wohl nicht wahr sein“, reagierte Hauptkommissar Wurzer gereizt, als er auf den Gang hinaustrat und dort keine weiteren Zeugen mehr vorfand.

„Was sollten wir machen? Nachdem wir die Personalien festgestellt hatten, wollten alle nur noch weg“, rechtfertigte sich Polizeiobermeisterin Sprengel. „Wir konnten die Leute ja nicht gegen ihren Willen hier festhalten.“ „Jeder einzelne von denen bekommt eine Vorladung ins Präsidium“, wetterte der Hauptkommissar. „Das wollen wir doch mal sehen.“

„Zumindest haben wir jetzt genug Zeit, um die Familie von Marina Maurer zu informieren“, erinnerte die Kommissarin ihren Dienstpartner. „Ich hätte nichts dagegen, wenn du das allein machen würdest, Gesine. Du weißt ja, wie schwer ich mich mit so etwas immer tue.“ „Sorry Chef, im Normalfall übernehme ich das ja schon mal, aber hier geht es um Selbstmord.“ „Also gut, dann sollten wir diesen Gang hinter uns bringen.“

Eine knappe halbe Stunde später drückte Gesine Hoffmeister ihren Daumen auf den Klingelknopf unter dem Namen von Sara Maurer, die in ihrem Haus eine Praxis betrieb. Ein Summton forderte die Ermittler auf das Grundstück zu betreten. Es dauerte einige Minuten, ehe sich die Haustür vor ihnen öffnete. „Zur Praxis geht es hinten herum“, erklärte die Heilpraktikerin und schloss die Tür.

Die Ermittler sahen sich verblüfft an, ehe Wurzer erneut klingelte. „Wir wollen nicht zur Praxis“, stellte er klar, nachdem sie die Haustür ein weiteres Mal öffnete. „Hauptkommissar Wurzer, meine Kollegin Hoffmeister. Wir würden gern mit Ihnen sprechen.“ „Polizei? Habe ich was ausgefressen?“, lächelte Sara Maurer, während sie die Ermittler in ihr Haus bat. „Ich wünschte, es wäre so“, seufzte der Hauptkommissar. „Das hört sich aber dramatisch an“, verstand sie noch nicht den Ernst der Lage. „Nehmen Sie doch bitte Platz. Kann ich Ihnen etwas anbieten?“ „Danke, aber Sie sollten sich besser zu uns setzen.“

Ihre Gesichtsfarbe änderte sich in dem Moment, in dem sie begriff, dass etwas Schlimmes geschehen war. „Ist meiner Tochter etwas zugestoßen? Hatte Marina einen Unfall?“ „Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass ihre Tochter heute Vormittag im Kolleg verstarb.“ „Das kann doch nicht sein. Sie müssen sich irren!“ „Leider nicht“, entgegnete die Kommissarin. „Die Identität Ihrer Tochter wurde zweifelsfrei festgestellt.“

„Wie? Wie ist das passiert?“ „Es tut uns sehr leid, Frau Maurer, Ihre Tochter setzte ihrem Leben leider selbst ein Ende“, entgegnete Jürgen Wurzer mit einem dicken Kloß im Hals. Die Mutter der Toten schüttelte entsetzt den Kopf. „Das kann doch alles nicht wahr sein. Weshalb sollte sie sich das Leben nehmen?“ „Offensichtlich haben Sie keine Erklärung dafür“, schlussfolgerte Hauptkommissar Wurzer aus ihrer Reaktion. „Ich verstehe nicht, weshalb sie mir nichts von ihren Problemen sagte. Wir sprachen doch sonst über alles.“

Dicke Tränen kullerten über das Gesicht der Heilpraktikerin. „Wir haben doch sonst immer alles gemeinsam gemeistert.“ Nach und nach realisierte sie das Unfassbare. „Wo ist sie jetzt?“ „Bei der Rechtsmedizin“, entgegnete der Hauptkommissar. „Aber ich will nicht, dass Marina aufgeschnitten wird“, überschlug sich die Stimme der Mutter. „Da Ihre Tochter keines natürlichen Todes starb, sieht das Gesetz zwingend eine Obduktion vor“, erklärte Gesine Hoffmeister. „Wir informieren Sie, sobald der Leichnam Ihrer Tochter für die Beerdigung freigegeben wurde.“ „Musste sie leiden?“ „Nach allem, was uns bislang bekannt ist, war sie sofort tot.“ Sara Maurer versuchte stark zu sein. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und holte tief Luft. „Wie hat sie sich...?“ „Sie sprang vom Dach ihrer Schule.“

„Gibt es jemanden, der sich um Sie kümmern würde?“, erkundigte sich die Kommissarin, „Nein, aber ich komme schon klar.“ „Wir können einen Seelsorger oder jemanden vom psychologischen Dienst für Sie anrufen.“ „Ich glaube, ich wäre jetzt einfach nur gern allein.“ Hauptkommissar Wurzer legte seine Visitenkarte auf den Tisch. „Zögern Sie nicht, falls Sie Hilfe brauchen.“ Sara Maurer nickte ihm dankbar zu. „Vielen Dank.“ Als die Ermittler das Haus verließen, hatten sie Bedenken, da weitere Hilfe von der Frau jedoch abgelehnt wurde, waren sie machtlos.

3

Auch Tage nach dem schrecklichen Suizid der jungen Frau waren Gesine Hoffmeister und ihr Dienstpartner mit dem Fall beschäftigt. Da sich bei der Obduktion keinerlei Anhaltspunkte für einen unnatürlichen Tod durch Drogenkonsum oder einen Medikamentenmissbrauch ergab, war der Fall zwar rechtlich gesehen abgeschlossen, doch was die moralische Schuld ihrer Mitschüler betraf, wollten die Ermittler den Fall nicht einfach zu den Akten legen.

An diesem herrlichen Sommermorgen hatten sie sich auf den Weg zum Hauptfriedhof, unweit der Wolfenbütteler Polizeidienststelle an der ‚Lindener Straße‘ gemacht. Es war ihnen ein persönliches Bedürfnis, Sara Maurer durch ihre Teilnahme ihr Mitgefühl auszudrücken. Während der Andacht und bei der abschließenden Beisetzung hielten sie sich im Hintergrund. Sie sahen, wie sich Lehrer und Kollegiaten von ihr verabschiedeten.

Sara Maurer trat tapfer an das Grab ihrer Tochter, ließ eine weiße Rose auf den Sarg fallen und schloss für einen Moment die Augen. Sie bewegte ihre Lippen, als würde sie nur für Marina ein Gebet sprechen. Als sie ihre Augen öffnete, waren sie von hunderten Tränen gerötet. Sie nahm allein Abschied, weil sie den Vater ihrer Tochter nicht erreichen konnte und es auch sonst niemanden gab, der ihr Trost hätte spenden können. All die anderen, mit denen Marina ihr kurzes Leben teilte und die nun möglicherweise so wie sie vor ihrem Grab standen, waren nicht mehr als Statisten.

Keiner unter ihnen stand ihr nahe, keiner von ihnen liebte Marina auch nur ansatzweise so sehr wie sie. Niemals hatte sich ihre Tochter beklagt, ihr von dem Leid erzählt, welches ihr offenbar zugefügt worden war. Und doch muss es unter diesen Statisten jemanden gegeben haben, der ihr das Leben zur Hölle gemacht hatte.

Sie sah jedem, der vor das Grab ihrer Tochter trat, ins Gesicht und tief in die Augen. Nur wenige hielten diesem Blick stand. Sie waren nach Saras Verständnis ohne Seele, aber waren sie auch für den Tod ihrer Tochter verantwortlich? Immer wieder wurde sie von diesen Gesichtern aus dem Schlaf gerissen. Immer wieder erschienen ihr die Augen ihres Kindes und sie sah die Verzweiflung darin. Zunächst nur während der Nacht und in ihren Träumen, Wochen später auch am Tag, wann immer sie in einen Spiegel sah.

„Wir kommen beide nicht zur Ruhe“, resümierte sie irgendwann. „Und ich weiß, was der Grund dafür ist, aber wirst du wirklich loslassen können, wenn die Schuld getilgt ist?“ Sara hoffte auf eine Antwort ihrer Tochter, doch es blieb bei dem stummen Spiegelbild, welches sie in dem ihren zu sehen glaubte. „Sie standen vor deinem Sarg und sahen dir nach. In ihren Augen war weder Reue noch Scham und doch weiß ich nicht, ob sie der Grund für deinen Entschluss waren.“

Sara atmete schwer. Sie spürte die Kraft, mit der Marina sie beeinflussen wollte. „Hättest du doch wenigstens einmal mit mir gesprochen, mir von deinen Peinigern erzählt, dann könnte ich sie heute zumindest zur Rechenschaft ziehen.“ Sara hatte kaum ausgesprochen, als die Klingel zu ihrer Praxis ertönte. Nachdem sie die Tür geöffnet hatte, sah sie in das schmerzverzerrte Gesicht eines gutaussehenden Mannes.

„Entschuldigen Sie bitte meinen Überfall. Ich habe leider keinen Termin und ich war auch noch nie in Ihrer Praxis, aber seit einiger Zeit leide ich immer wieder unter einem heftigen Hexenschuss.“ „Sie können ja kaum stehen, guter Mann. Kommen Sie doch erst mal herein.“ Ich bedankte mich und kam ihrer Aufforderung dankbar nach. „Nach der Spritze von meinem Hausarzt geht es mir zwar jedes Mal besser, aber nach ein paar Wochen geht's wieder von vorne los“, jammerte ich. „Ich brauche eine Lösung für das Problem. In meinem Beruf kann ich mir so was nicht leisten.“

Die Heilpraktikerin sah mich fragend an. „Ich bin Detektiv. Mein Name ist Lessing.“ Meine Antwort löste eine gewisse Zustimmung in ihr aus. Ich bemerkte eine rege Aktivität hinter ihrer Stirn. „Das trifft sich gut, ich hätte da einen Job für Sie.“ „Wie gesagt, dazu müsste ich erst wieder fit sein.“ „Keine Angst, Sie sind beileibe nicht der oder die Erste, den ich von seiner Lumbago erlöst habe“, versprach sie, während sie den Schlüssel im Schloss ihres Medikamentenschranks drehte.

„Na dann lassen Sie mal die Hose fallen“, bat sie mit einer Spritze in der Hand. „Damit hat es mein Hausarzt auch schon probiert“, entgegnete ich enttäuscht. „Wobei Ihr Hausarzt sicherlich einen anderen Wirkstoff verwendete“, ließ sie sich nicht vom Erfolg ihrer Behandlung abbringen. „Was ist da drinnen?“, erkundigte ich mich, während sich die Nadel in mein Muskelgewebe bohrte. „Eine Spezialmischung von mir“, erklärte sie. „Der Hauptbestandteil besteht aus Schlangengift.“

„Ich überlege gerade, ob es nicht besser ist, wenn ich wieder zu meinem Hausarzt gehe.“ „Zu spät, die Spritze ist leer“, entgegnete sie emotionslos. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass der Wirkstoff hilft. Leider konnte es mir bislang kein Patient bestätigen.“ Meine kleinen grauen Zellen ratterten munter durcheinander. „Wieso nicht?“ „Bis jetzt kam keiner von ihnen wieder.“ „Weil sie am Gift gestorben waren?“ Die Heilpraktikerin zuckte mit den Achseln. „...oder weil sie nie wieder von der Hexe geschossen wurden?“

Es sind Momente wie dieser, in denen ich anderen immer wieder auf den Leim gehe. Wahrscheinlich fehlt mir dieser besondere schwarze Humor. Fakt ist, dass es mir schon nach kurzer Zeit erheblich besser ging.

„Vielleicht können wir die Kosten für meine Behandlung mit den Kosten für Ihre Recherchen verrechnen?“, schlug sie vor. „Dazu müsste ich zunächst wissen, um was es eigentlich geht.“ „Ich weiß gar nicht so recht, wo ich anfangen soll“, seufzte sie. „Meine Tochter verstarb vor etwa drei Wochen.“ „Das tut mir sehr leid.“ „Marina sprang vom Dach ihrer Schule.“ Ich horchte auf. „Geht es um das Kolleg in Braunschweig?“ Jogi hatte mir bei unserem letzten Treffen davon erzählt. „Woher wissen Sie das?“ „In meinem Beruf sollte man stets gut informiert sein.“

„Ich will wissen, warum sie sich das Leben nahm. Wer oder was trieb sie dazu? Ich will verstehen, weshalb sie es tat.“ Nur wer sich selbst in einer vergleichbaren Situation befunden hatte, kann nachempfinden, was in einer Mutter vor sich geht, die auf eine solch schreckliche Weise ihr Kind verlor. Mir war klar, dass sich diese Frau für den Rest ihres Lebens die Schuld an dieser Tragödie geben würde. Auch meinem besten Freund und ehemaligen Dienstpartner bei der Braunschweiger Kripo hatte der Suizid der jungen Frau gehörig zugesetzt.

„Übernehmen Sie den Fall, Herr Lessing?“ „Mir bleibt ja gar keine andere Wahl, wenn ich wissen will, ob die anderen Patienten den Giftcocktail überlebt haben.“ „Sehr schön“, freute sich Frau Maurer. „Wann können Sie loslegen?“ „Sobald ich wieder fit bin und wir uns über die Modalitäten und mein Honorar geeinigt haben.“ „Das sollte kein Hindernis sein.“

Kurz darauf erzählte mir meine Klientin von ihrer Tochter. „Marina war ein tolles Mädchen. Sie versuchte mir niemals Kummer zu machen und all ihre Probleme selber zu lösen. Sie war noch sehr klein, als uns ihr Vater verließ. Von dem Tag an waren wir auf uns allein gestellt. Sie beklagte sich niemals. Auch dann nicht, wenn ich sie wegen der vielen Arbeit vernachlässigen musste oder wenn das Geld so knapp war, dass sie nicht mit auf Klassenfahrt gehen konnte.“

„Sie hatten offensichtlich eine sehr intensive Verbindung zueinander“, sinnierte ich. „Glauben Sie mir, Herr Lessing, eine Mutter könnte sich keine bessere Tochter wünschen.“ „Was genau versprechen Sie sich von meinen Ermittlungen?“ „Auch wenn Marina nichts sagte, spürte ich seit einiger Zeit, dass es da etwas gab, was sie negativ aufwühlte. Als ich sie darauf ansprach, reagierte sie mit Ausflüchten. Das tat sie, wenn sie davon überzeugt war, die Dinge allein ins rechte Licht rücken zu können.“ „Ich nehme an, Sie haben keine Idee, um was es sich dabei gehandelt haben könnte“, hakte ich nach. „Leider nein.“

„Haben Sie schon mit den Freunden Ihrer Tochter gesprochen?“ Meine Auftraggeberin sah mich betroffen an. „Marina hatte keine Freunde.“ Ich reagierte irritiert. „Oder Bekannte.“ „Da gab es niemanden. Sie war eine absolute Einzelgängerin. Während ihrer Zeit in der Realschule gab es einige Menschen, die ihr sehr weh getan haben. Ich glaube, meine Tochter hatte einfach Angst vor weiteren Enttäuschungen.“ „Das ist sehr traurig“, seufzte ich.

„Ich möchte wissen, ob es da wieder jemanden gab, der auf Marinas Kosten seinen Spaß suchte.“ „Sie denken an Mobbing“, schlussfolgerte ich. Die Heilpraktikerin nickte mir zu. „Ich muss einfach wissen, ob man meinem Kind übel mitspielte oder ob ich als Mutter versagt habe.“ Ich versuchte mich in ihre Lage zu versetzen und stellte mir vor, dass es jemanden gab, der Ramona etwas Böses wollte. Der Gedanke daran, dass man mein Kind zu einer solchen Verzweiflungstat getrieben würde, war mir unerträglich.

„Ich werde alles tun, was erforderlich ist, um Ihnen die nötige Klarheit zu verschaffen“, versprach ich entschlossen. „Es wird sicherlich nicht einfach werden“, bekundete meine Klientin. „Ich sprach deswegen schon mit dem Kommissar, der wegen Marinas Tod ermittelte. Lehrer und Schüler halten sich sehr bedeckt.“ „Ich habe da schon eine Idee, wie ich an die entsprechenden Informationen komme“, versprühte ich Hoffnung.

„Wenn es Ihnen recht ist, komme ich heute im Laufe des Nachmittags noch einmal mit einer Mitarbeiterin vorbei, um mir das Zimmer Ihrer Tochter genauer anzusehen. Marina hat doch noch in Ihrem Hause gelebt, oder?“ „Ja natürlich.“ „Es ist oftmals so, dass es im privaten Umfeld erste Hinweise auf mögliche Ursachen gibt. Da meine Mitarbeiterin etwa im selben Alter wie Ihre Tochter ist, hat sie noch mal einen anderen Blick auf eventuell vorhandene Hinweise Ihrer Tochter.“

„Das leuchtet ein“, nickte sie mir anerkennend zu. „Ich denke, Sie sind Ihr Geld wert.“ „Das hoffe ich doch“, entgegnete ich mit einem milden Lächeln. „Was ist denn eigentlich mit Ihrem Hexenschuss?“ „Jetzt, wo Sie es sagen...“ Ich bewegte vorsichtig meinen Rücken. „Im Moment spüre ich keinen Schmerz.“ „Dann scheint mein Giftcocktail ja schon etwas zu bewirken“, lächelte sie zufrieden zurück.

4

„Es gibt gute Neuigkeiten, mein Schatz“, trat Sara vor den Spiegel, in dem sie zuvor ihre Tochter zu sehen glaubte. „Ich habe einen Detektiv engagiert. Er wird herausfinden, wer dir das angetan hat.“ Doch entgegen ihrer Hoffnung blieb, abgesehen von ihrem eigenen Abbild, der Spiegel leer. „Ich verspreche dir dafür zu sorgen, dass dein Tod nicht ungesühnt bleibt, aber bitte gib mir etwas Zeit.“ Doch auch jetzt zeigte sich ihre Tochter nicht, was Sara fast verzweifeln ließ.

Sie legte ihre flachen Hände flehentlich auf das Glas und rutschte daran in die Knie und auf den Boden. „Ich weiß, dass ich nicht für dich da war, als du mich am meisten brauchtest und ich schäme mich so sehr dafür, dass ich es nicht in Worte fassen kann, aber gib mir nun wenigstens die Chance herauszufinden, was eigentlich geschah.“ „Gib dir keine Schuld, Mutter“, vernahm sie plötzlich Marinas Stimme. Als sie aufblickte und in den Spiegel sah, erkannte sie darin das Antlitz ihrer Tochter. „Du kannst nichts für das, was sie mir antaten und du hättest eben so wenig etwas daran ändern können,“ hörte Sara ihre tröstenden Worte.

Sie trocknete ihre Tränen während sie sich wieder aufrichtete und sanft über das Trugbild ihrer Tochter strich. „Du gibst mir keine Schuld?“ „Wie könnte ich?“ Damit verblasste ihr Antlitz und Saras Spiegelbild wurde wieder sichtbar.

5

„Wir haben einen neuen Fall, Mädels“, verblüffte ich meine Mitarbeiterinnen nach der Rückkehr in meine Detektei. „Ich dachte, Sie wollten sich wegen Ihrer Rückenschmerzen behandeln lassen“, fragte Trude erstaunt. „Genau das habe ich auch. Wir ermitteln für die Heilpraktikerin“, erklärte ich schmunzelnd. „Sie sind unverbesserlich, Chef.“ „Das weiß ich, Trude.“

„Hauptsache Sie haben unsere anderen Fälle nicht vergessen“, mahnte sie. Ich winkte ab. „Das schaffen Sie und Axel auch ohne mich. Letztlich geht es ja nur noch darum, den Angestellten unseres Klienten beim Abtransport des Diebesguts zu überwachen und im richtigen Moment die Polizei hinzuzuziehen.“ „Wenn Sie das sagen, hört es sich so einfach an“, seufzte die gute Seele meiner Detektei. „Ich könnte Axel doch dabei unterstützen“, bot sich Leonie an. „Daraus wird leider nichts, weil ich dich für unseren neuen Fall brauche.“

Über das Gesicht meiner Azubine legte sich ein Hauch von Verwunderung. „Ab morgen früh bist du im Undercover Einsatz.“ Aus dem Erstaunen wurde eine handfeste Überraschung, als ich ihr eröffnete, wo sie für einige Tage ihr Abitur nachmachen sollte. „Ach du Schei...benkleister.“ „Es geht um einen Suizid, den vor kurzem eine junge Frau in deinem Alter im Kolleg an der Wolfenbütteler Straße begann. Wir sollen herausfinden, was der Grund dafür war.“

Leonies Stirn krauste sich. „Aber wie soll das gehen? Ich kann ja nicht einfach in die Schule spazieren und ‚hallo hier bin ich‘ sagen.“ „Wozu habe ich zwei so gute IT-Spezialistinnen? Am besten schreibst du dir eine Legende, in der du aus wichtigen privaten Gründen von Kassel nach Braunschweig umgezogen bist und nun im Kolleg bla...bla...bla“, schlug ich vor. „Trude wird sicher eine Möglichkeit finden, wie sich die Anmeldung im Computer des Kollegs unterbringen lässt.“ Die Züge im Gesicht meiner Azubine entspannten sich. „Ich gehe davon aus, dass Sie mir die Einzelheiten noch mitteilen werden.“ „Die werden wir heute Nachmittag erst noch sammeln müssen. Um 14 Uhr ist Abfahrt. Sieh zu, dass du bis dahin fertig bist.“

Da die Damen nun erst einmal beschäftigt waren, konnte ich meinen Freund Jürgen Wurzer anrufen. „Du wirst es nicht glauben,“ überfiel ich ihn. „Wenn ich deine Stimme höre, gibt es nichts, was ich mir nicht vorstellen könnte“, erwiderte er ironisch. „Du hast mir doch kürzlich von der jungen Frau erzählt, die sich vom Dach des Kollegs in den Tod stürzte.“ „Ja und?“ „Ich soll für die Mutter herausfinden, ob und wenn von wem ihre Tochter gemobbt wurde.“ „Also ganz ehrlich, um diesen Fall beneide ich dich nicht.“

„Ich habe gehofft, dass du mir etwas mehr zum Suizid der jungen Frau sagen kannst.“ „Und ich hatte gehofft, dass du mich nicht dazu fragen würdest“, entgegnete der Hauptkommissar. „Viel kann ich dir ohnehin nicht dazu sagen. Weder die Lehrer noch die befragten Kollegiaten wollten so richtig raus mit der Sprache.“ „Hattet ihr denn das Gefühl, euch würde etwas verschwiegen?“, hakte ich nach. „Ehrlich gesagt, lag da schon noch irgendetwas im Dunkeln, aber das es so krass war, um das Mädchen in den Suizid zu treiben, kann ich mir nicht vorstellen. Abgesehen davon hing mir der Staatsanwalt im Nacken.“

Ich war lange genug mit meinem Dienstpartner im Einsatz, um zu wissen, wie es läuft. Bestand keine Aussicht auf einen schnellen Ermittlungserfolg, wurden weitere Nachforschungen eingestellt, um keine finanziellen Ressourcen zu verschwenden. Dies hatte nicht selten zur Folge, dass auch schon mal vielversprechende Ansätze auf der Strecke blieben.

Nachdem ich das Gespräch mit meinem Freund beendet hatte und meine Mitarbeiterinnen nach wie vor beschäftigt waren, ging ich erst einmal zu Tisch. Zu meiner Überraschung spürte ich nach wie vor keine Schmerzen im Rücken. Sollte das Schlangenserum tatsächlich halten, was mir die Heilpraktikerin versprochen hatte? Wie auch immer, ich genoss den Moment und war gespannt, wie lange er anhalten würde.

Wann immer es möglich war, versuchten Miriam und ich das Mittagessen gemeinsam mit Ramona einzunehmen. Dabei achteten wir auf eine gesunde und abwechslungsreiche Ernährung, die Miriam nach vorheriger Absprache fertig aus der Stadt mitbrachte.

Unser Kindermädchen kam zwar prima mit Ramona klar, aber mit dem Kochen hatte sie es leider nicht so. „Wie ich sehe, habt ihr ja bereits den Tisch gedeckt“, lobte ich Tanja und meine Tochter. Während ich den beiden dabei zusah, wie sie noch schnell einige Spielsachen wegräumten, dachte ich an die Zeit, die wie im Flug vergangen war. Gestern noch lief sie mit ihren Windeln durch die Wohnung, heute erzählte sie mir von dem, was sie mit Tanja spielte und morgen würde sie in den Kindergarten kommen. An übermorgen wollte ich noch gar nicht denken, denn dann würde schon der Ernst des Lebens für sie beginnen und die unbeschwerten Jahre der Kindheit waren vorbei.

„Hast du für morgen Vormittag einen wichtigen Termin?“, erkundigte sich Miriam abwartend bei mir. „Ich habe einen neuen Fall, aber weshalb fragst du?“ „Richter Dobelin hat für morgen einen weiteren Verhandlungstag angesetzt. Eigentlich völlig überflüssig, aber du weißt ja, wie penetrant er sein kann. Auf jeden Fall hat er damit meine ganze Planung über den Haufen geworfen.“ Es war offensichtlich, dass Miriam auf etwas ganz Bestimmtes hinauswollte. Die Frage war nur, was ich wieder vergessen hatte.

Miriam sah mir meine Unsicherheit sofort an. „Du hast keine Ahnung, von was ich gerade spreche, nicht wahr?“ Ich verzog das Gesicht. „Na ja, so würde ich es nun auch nicht ausdrücken, aber im Prinzip hast du schon nicht Unrecht.“ Miriam schüttelte den Kopf. Ich war froh, dass ich ihre Gedanken nicht lesen konnte. „Morgen Vormittag haben wir mit Ramona einen U7 Termin beim Kinderarzt.“ „Mach dir keinen Kopf, mein Schatz. Ich werde mit ihr dahingehen. Tanja ist ja auch dabei.“

Unser Kindermädchen sah Miriam fragend an. „Da musst du leider allein durch“, verkündete meine Liebste. „Da ich mich morgen selber um Ramona kümmern wollte, gab ich Tanja frei.“ „Na prima“, seufzte ich Ungemach erahnend. „Ach, das macht nichts, unsere Tochter und ich werden auch allein zurechtkommen, nicht wahr, mein kleiner Schatz?“ Weshalb unser Töchterchen ausgerechnet in diesem Augenblick zu plärren begann bleibt ihr Geheimnis. „Ich weiß nicht so recht“, sah Miriam dem Unterfangen weniger euphorisch entgegen. „Mach dir keine Sorgen, wir rocken das Ding schon.“

6

Pünktlich um 14 Uhr standen Leonie und ich, wie mit meiner Auftraggeberin verabredet, vor ihrer Haustür. „Kommen Sie bitte herein“, forderte sie uns auf. Marinas Zimmer sind oben rechts“, erklärte sie. „Ich nehme an, Sie kommen alleine klar. Ich habe noch einen Patienten in meiner Praxis.“ „Kein Problem, lassen Sie sich ruhig Zeit. Meine Mitarbeiterin und ich sehen uns in der Zwischenzeit etwas um.“

„Auf was soll ich achten?“, erkundigte sich meine Azubine, als wir über die offene Marmortreppe nach oben stiegen. „Zunächst packst du ihre Bücher und all das zusammen, was du für den Unterricht brauchst“, instruierte ich sie. „Ich muss zwar noch klären, ob wir die Sachen verwenden dürfen, aber wenn ich Frau Maurer erkläre, was wir damit vorhaben, wird sie sicher nichts dagegen haben.“

Während Leonie die erforderlichen Schulsachen zusammenpackte, durchstöberte ich Schubladen, Schrankfächer und Regale nach Hinweisen auf die Vorbereitung ihres Suizids. Wenn sie sich nicht spontan dazu entschlossen hatte, konnte es irgendwo Informationen geben, die wiederum auf einen oder mehrere Gründe deuteten. Notizen oder ein Tagebuch wären ein Glücksfall. Von Jogi wusste ich, dass die Auswertung ihres Handys in dieser Hinsicht ergebnislos geblieben war. Was blieb, waren ein Laptop und ein Netbook, welche von der jungen Frau zu Studienzwecken genutzt wurde. Mein Augenmerk richtete sich folglich auch auf Datenspeicher jeglicher Art. Da sie nach allem, was wir bislang wussten, bemüht war, ihren Selbstmord, bis zu dessen Ausführung geheim zu halten, lag diese Schlussfolgerung nahe.

Nach allem, was ich auf der Polizeischule über den psychologischen Aspekt einer Selbsttötung gelernt hatte, war es für den überwiegenden Teil der Suizidenten von großer Wichtigkeit, dass ihre Hinterbliebenen den Grund für ihre Tat nach dessen Ableben erfuhren. Da sich Marina jedoch weder negativ über Mitkollegiaten noch über ihre Lehrer geäußert hatte, gab es für meinen Freund und ehemaligen Dienstpartner keinen Ansatzpunkt für weitere Ermittlungen. Wenn ich diesbezüglich nicht mehr finden würde, würde ich irgendwann vor dem gleichen Resultat stehen. Meine Idee für Leonies Undercover Einsatz, war also ein genialer Schachzug, wie ich nicht unerwähnt lassen möchte.

Aus meiner Erfahrung heraus, weiß ich, dass Bilderrahmen wie ein Magnet auf Geheimnisse wirken, die man darin verstecken möchte. In Marinas Wohnung stieß ich lediglich auf einen einzigen Rahmen, in dem ein Foto ihrer Großeltern steckte. Auf der Rückseite der Aufnahme standen die Namen Hildegard und Johannes Maurer. Ich fotografierte Vor und Rückseite des Fotos ab und suchte weiter. In einem Ordner stieß ich auf einen Handyvertrag und eine Lebensversicherung, in der sie ihre Mutter als Begünstigte angab. Natürlich fotografierte ich auch diese Unterlagen und ihren Impfpass, in dem unter anderem ihre Blutgruppe eingetragen war.

Bei genauer Ansicht der Bodenplatte ihres Kleiderschranks bemerkte ich einen losen Nagel, der wie ein Splint in der Fußleiste steckte. Als ich ihn herauszog, ließ sich die Leiste lösen und nach vorn ziehen. Die Taschenlampenfunktion meines Handys machte schließlich die darin verborgenen Geheimnisse sichtbar.

Ich fand das erhoffte Tagebuch, mehrere Fotos eines mir unbekannten Mannes und ein kleines Tütchen mit lila Pillen. Ein erster Test legte den Verdacht auf die synthetische Droge Liquid Ecstasy nahe. Bevor ich Frau Maurer damit konfrontierte, musste ich mir zunächst sicher sein. Leider rissen die Eintragungen in das Tagebuch bereits vier Jahre zuvor ab. Immerhin erfuhr ich daraus, dass es sich bei dem Mann auf dem Foto um einen gewissen Thomas Ritter handelte. Ich notierte mir den Namen, um meine Auftraggeberin danach zu fragen.

„Hast du alles zusammengepackt, was du für den Unterricht brauchst?“, erkundigte ich mich bei meiner Azubine. „Sie war eine gute Schülerin“, entgegnete Leonie anerkennend. „Nur Einser und Zweier.“ „Da nimm dir mal ein Beispiel.“ „Hat es ihr was genutzt?“ „Manchmal erschreckst du mich“, schüttelte ich den Kopf.

Im selben Moment betrat unsere Auftraggeberin das Zimmer ihrer Tochter. „So, der Patient ist jetzt weg. Der nächste kommt erst in einer halben Stunde.“ „Ihre Praxis läuft offenbar gut“, stellte ich fest. „Es brauchte einige Jahre, bis ich mir einen gewissen Ruf aufgebaut hatte.“ „Können Sie mir sagen, wer der Mann auf diesem Foto ist?“, lenkte ich unser Gespräch auf den Grund unserer Anwesenheit.

Frau Maurer verlor schlagartig sämtliche Farbe in ihrem Gesicht. „Wo haben Sie das Foto her?“ „Ihre Tochter hatte es unter ihrem Kleiderschrank versteckt“, erklärte ich. „Das verstehe ich nicht. Woher kann sie von ihrem Vater gewusst haben?“ Ihrer eigenen Aussage nach war dieser kurz nach der Geburt bei einem Unfall verstorben. „Weshalb haben Sie mir die Unwahrheit gesagt?“ „Für mich war der Mann gestorben“, reagierte sie verbittert. „Nun, offensichtlich hinderte dies Ihre Tochter nicht daran, auf eigene Faust nach ihrem Vater zu suchen“, schlussfolgerte ich.

„Sie hat nie etwas gesagt“, seufzte meine Klientin. „Wahrscheinlich hat dieser Mistkerl etwas mit Marinas Selbstmord zu tun“, machte sie den Mann sofort verantwortlich. „Wenn Sie es wünschen, beziehe ich den Herrn in meine Ermittlungen mit ein“, bot ich ihr an. „Machen Sie das, Herr Lessing. Ich bin mir sicher, dass er etwas mit dem Tod meiner Tochter zu tun hat. Wo dieser Kerl auftaucht, verursacht er Ärger und Unruhe.“

„Ich habe hier einige Schulsachen Ihrer Tochter zusammengepackt, um ab morgen am Unterricht teilzunehmen“, erklärte Leonie die große Tasche, die sie mit sich führte. „Meine Mitarbeiterin soll sich auf diese Weise unter den Kollegiaten in Marinas Klasse umhören“, fügte ich erklärend hinzu. „Wir gehen davon aus, dass die ehemaligen Mitschüler Ihrer Tochter gegenüber meiner Mitarbeiterin gesprächiger sein werden, als bei der Polizei.“ „Das ist großartig.“

„Um so viel wie möglich über das Leben Ihrer Tochter zu erfahren, muss ich die elektronischen Geräte mitnehmen“, deutete ich auf den Sekretär der Abiturientin. „Sie bekommen das Laptop und das Netbook natürlich so schnell wie möglich zurück.“ „Das ist kein Problem, aber Marina verwendete stets ein Passwort.“ „Wir verfügen über Mittel und Wege, um diese zu knacken“, entgegnete Leonie mit einem milden Lächeln.

„Wir melden uns, sowie wir etwas in Erfahrung bringen konnten“, versprach ich. „Die momentane Adresse von Thomas Ritter ist Ihnen wohl nicht zufällig bekannt?“ „Sie vermuten richtig, Herr Lessing. Ich weiß nicht mal ob der Kerl noch in Wolfenbüttel lebt.“ „Wir werden es herausfinden“, entgegnete ich zuversichtlich, während ich die Geräte zusammenpackte. „Ich werde Ihnen noch heute den vereinbarten Abschlag überweisen“, versprach die Heilpraktikerin auf dem Weg nach unten. „Denken Sie bitte an Ihr Versprechen, mich auf dem Laufenden zu halten.“ „Gewiss.“

Gerade als wir uns verabschieden wollten, ging eine Nachricht auf meinem Handy ein. „Bitte entschuldigen Sie mich einen Moment. Da muss ich kurz drangehen.“ Trude sendete mir einige Fotos von der Toten und einen Text aus dem hervorging, wo sie die Aufnahmen gefunden hatte. „Ich fürchte, keine guten Nachrichten für Sie zu haben.“ Sara Maurer sah mich aus großen Augen fragend an.

„Wir sollten uns besser setzen.“ Auf dem Weg zu der kleinen Sitzecke, die den lichtdurchfluteten Flur noch großzügiger erscheinen ließ, reichte ich Leonie mein Handy. Sie reagierte schockiert, als sie die Fotos sah. „Nun sagen Sie schon, was Sie da gerade auf Ihr Handy bekamen“, zeigte sich die Klientin unbedarft. „Meine Mitarbeiterin fand die Fotos auf Twitter “, erklärte ich. „Wir werden die sofortige Löschung der Aufnahmen durch den Betreiber verlangen.“

„Oh nein“, reagierte meine Auftraggeberin mit Entsetzen, als sie die Nacktfotos ihrer Tochter sah. „Jetzt wird mir natürlich alles klar“, brach sie in Tränen aus. „Wer tut so etwas nur?“ Ich legte tröstend meine Hand auf ihre Schulter. „Wir werden es herausfinden und den Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen“, versprach ich. „Bitte lassen Sie mich jetzt allein. Der nächste Patient wird gleich da sein. Ich möchte mich vorher noch etwas frisch machen.“ „Sind Sie sicher, dass sie allein zurechtkommen?“ „Das bin ich meiner Tochter schuldig.“

 

Ich fasse Kapitel 7 bis 11 zusammen:

Unser Detektiv macht den Vater der Toten in Schladen ausfindig. Dort betreibt er eine heruntergekommene KFZ-Werkstatt. Der Mann ist dem Alkohol sehr zugewandt. Dementsprechend asozial sieht es in seiner Bleibe aus. Der Mann erzählt, dass Marina mit ihm Kontakt aufnahm, er sie jedoch aus Scham verleugnete. Somit gab es für sie keinen Grund sich wegen ihm umzubringen. Dafür findet Leo heraus, dass Marina einen Freund mit dem Namen Paul Kühn hatte. Sollte er für die Nacktfotos und deren Verbreitung im Netz verantwortlich sein?

Nach Leonies Undercover-Einsatz im Kolleg und Leos Gesprächen mit der Direktion wird klar, dass in diesem Gymnasium einiges faul ist und der Suizid alles andere als unvorhersehbar war. Die Frage nach der Ursache dängt sich immer mehr in Leos Ermittlungsfokus. Welche Rolle spielten dabei Drogen?

12

Drei Tage später waren genügend Informationen zusammengetragen, um meine Auftraggeberin über den Stand unserer Ermittlungen in Kenntnis zu setzen.

„Wir wissen nun, wer die Fotos Ihrer Tochter aller Wahrscheinlichkeit nach ins Netz stellte“, begann ich mit meinem Bericht. Sara Maurer reagierte auffallend ruhig. „Es gab da einen jungen Mann, der Marina offenbar die große Liebe vorspielte, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Da sie auf den Aufnahmen nicht einmal direkt in die Kamera sieht, ist davon auszugehen, dass Ihre Tochter heimlich fotografiert wurde.“ „Aber das ist doch strafbar“, reagierte die Heilpraktikerin empört und gleichzeitig erschüttert.

„Leider lässt sich ein Verstoß gegen die Persönlichkeitsrechte nicht mehr nachweisen, da wir Marina nicht mehr fragen können“, seufzte ich. „Wie heißt der Kerl?“ Ich reichte meiner Klientin ein Foto. „Das ist Paul Kühn. Er ging in dieselbe Klasse wie Marina.“ „Warum tut ein Mensch so etwas?“ „Bei den Recherchen meiner Mitarbeiterin stellte sich heraus, dass er durch eine Clique junger Frauen dazu animiert wurde.“

Ich reichte ihr weitere Fotos von Alina Mayer, von Katharina von Hessental-Lohe und Nastassja Klinkowitsch. „Diese drei haben die ganze Klasse gegen Ihre Tochter aufgewiegelt“, erklärte ich. „Die Namen und ihre Anschrift habe ich jeweils auf der Rückseite der Fotos notiert.“ Sie nickte mir dankbar zu, blieb aber nach wie vor sehr reserviert. „Sie und Ihre Mitarbeiterin haben wirklich gute Arbeit geleistet, Herr Lessing. Schicken Sie mir bitte Ihre Rechnung.“ „Darf ich fragen, was Sie mit den Informationen vorhaben?“ „Ich weiß es noch nicht, Herr Lessing“, entgegnete sie achselzuckend.

„Falls Sie eine zivilrechtliche Klage anstreben und einen guten Anwalt benötigen, kann ich Ihnen die Kanzlei Börner empfehlen.“ Meine Klientin erhob sich und reichte mir die Hand. „Wie gesagt, ich muss das Ganze erst einmal sacken lassen, um mir selber über mein weiteres Vorgehen klarzuwerden. Die Frage, was meine Tochter gewollt hätte, hat dabei höchste Priorität.“

„Das kann ich gut verstehen“, seufzte ich. „Falls Sie noch Fragen an mich oder meine Mitarbeiterin haben sollten, rufen Sie bitte an.“ „Das werde ich tun. Wie geht es eigentlich Ihrem Rücken?“ „Oh ja, jetzt wo Sie es erwähnen, kann ich sagen, dass ich von dem Schlangenserum geradezu begeistert bin.“ „Falls Sie wieder von der Hexe geschossen werden, kommen Sie ruhig vorbei. Ich mache Ihnen einen Sonderpreis.“ „Ich nehme Sie beim Wort“, lachte ich zufrieden und verabschiedete mich.

Es dauerte einige Tage, bis ich nicht mehr über den Fall und das schreckliche Ende der jungen Frau nachdenken musste.

13

„Ich weiß nun, wer dir das alles angetan hat, mein Schatz.“ Sara hielt ein Foto nach dem anderen vor den Spiegel. „Sie haben dich mit ihren verbalen Attacken zur Verzweiflung gebracht, sie haben dich verhöhnt und dich letztlich in den Tod getrieben. Wenn du es willst, mein Schatz, werde ich Sie dafür zur Rechenschaft ziehen.“

Während Sara vor dem Spiegel stand und zu ihrer Tochter sprach, bildete sie sich ein, dass Marinas untoter Geist darin sichtbar wurde und ihr auf ihre Frage antwortete. „Meine Seele wird solange zwischen den Welten gefangen sein, wie die Schuld der Kollegiaten ungesühnt bleibt“, bildete sich Sara die Antwort ein. „Du wirst deinen Frieden finden,“ gelobte sie der Untoten. „Was auch immer nötig sein wird, um deinen Tod zu rächen, bin ich bereit zu tun.“

Nach und nach verblasste die Silhouette ihrer Tochter und ihr eigenes Spiegelbild wurde wieder sichtbar. Sara sackte in sich zusammen. Die Kontaktaufnahme zu ihrem Kind hatte viel Kraft gekostet. Die Frau vor dem Spiegel fühlte sich einsam und leer. Diese unreifen Mädchen und der Kerl, der ihrer Tochter seine Liebe nur vorspielte, um sie zu hintergehen, hatten ihr den Sinn ihres Lebens genommen. In diesem Moment war sie bereit, ihr eigenes Leben dafür zu geben. „Wer weiß, vielleicht werden wir uns schon bald wiedersehen“, sagte sie leise aber bestimmt.

14

„Leonie, sag mal, könnte das nicht die junge Frau aus deiner Kollegklasse sein?“ Trude reichte die Zeitung an ihre Kollegin weiter. „Du meinst die Tote von dem Straßenbahnunglück?“ „Na lies doch mal“, beharrte meine Putzsekretärin. „…kam es am gestrigen Nachmittag in ‚Klein Stöckheim‘ zu einem tragischen Unglück, bei dem eine junge Frau vor eine herannahende Straßenbahn stürzte. Die zweiundzwanzigjährige Nastassja K. erlitt dabei so schwere Verletzungen, dass sie während der Fahrt ins Krankenhaus verstarb.“ Leonie sah Trude entsetzt an. „Du hast Recht, damit könnte tatsächlich die Klinkowitsch gemeint sein.“ „Das ist doch kein Zufall“, argwöhnte Trude. „Ich zeig's dem Chef. Mal hören, was der dazu meint.“

Nachdem auch ich die Meldung in der Zeitung gelesen hatte, teilte ich Leonies Schlussfolgerung. „Der Journalist berichtet von einem tragischen Unfall“, resümierte ich. „Ich habe da ein ungutes Gefühl, Chef.“ „Du hast Recht, Leonie. Dieser Unfall wäre schon ein sehr merkwürdiger Zufall.“ „Hoffentlich hat unsere Auftraggeberin nichts damit zu tun“, argwöhnte meine Azubine. „Ich will sehen, ob ich bei der Polizei mehr darüber herausfinden kann.“

„Hallo Jogi, hast du von dem Straßenbahnunglück in Klein Stöckheim gehört?“ „Ich kann mir schon denken, weshalb du mich anrufst.“ „Erst der Suizid und jetzt dieser Unfall?“ „Nachdem du mir von deinen Ermittlungen in der Klasse und dieser Clique erzählt hast, kam mir sofort der gleiche Gedanke“, teilte mein Freund die Befürchtung. „Deshalb erkundigte ich mich sofort nach dem vollständigen Namen des Opfers. Es handelt sich tatsächlich um Nastassja Klinkowitsch.“

„Ein merkwürdiger Zufall, meinst du nicht auch?“ „Du denkst an Selbstjustiz?“ „Immerhin habe ich Frau Maurer die Namen derjenigen geliefert, die für den Tod ihrer Tochter eine Mitverantwortung tragen.“ „Bei der Auswertung einer in der Nähe befindlichen Überwachungskamera wurde zwar deutlich, dass sich zu der Zeit mehrere Schüler und andere Personen am Übergang befanden, aber es war nicht zu erkennen, ob das Opfer das Gleichgewicht verlor oder geschubst wurde.“

„Gab es Zeugen?“, fragte ich nach. „Mehr als genug, aber gesehen hat keiner etwas. Leider steht die Fahrerin der Straßenbahn noch unter Schock und konnte bislang nicht befragt werden.“ „Hast du vor, in der Sache aktiv zu werden?“, erkundigte ich mich. „Ich warte zunächst ab, ob die Fahrerin etwas zur Aufklärung beitragen kann“, erklärte mir mein Freund sein weiteres Vorgehen. „Halte mich bitte auf dem Laufenden.“ „Na sowieso, irgendwie ist es ja unser gemeinsamer Fall.“

Die Vorstellung, meine Klientin möglicherweise bei der Umsetzung ihrer Rachepläne geholfen zu haben, ließ mich nicht mehr los. Es konnte Tage dauern, bis sich die Straßenbahnfahrerin so weit von ihrem Schock erholt hatte, um von Jogi zu dem vermeintlichen Unfall befragt zu werden. Ich brauchte Klarheit und keine schlaflosen Nächte, also machte ich mich auf den Weg in die ‚Okertalsiedlung‘.

„Guten Tag, Herr Lessing. Sie leiden doch wohl nicht schon wieder unter einem Hexenschuss?“ „Hallo Frau Maurer“, begrüßte ich die Klientin. „Nein, ich bin aus einem anderen Grund hier.“ „Ich habe gerade eine Patientin, aber wenn Sie etwas Zeit mitgebracht haben, habe ich in etwa zehn Minuten Zeit für Sie.“ „Das geht schon in Ordnung.“ „Na, dann setzen Sie sich am besten solange ins Wartezimmer. Ich beeile mich.“

Meinem ersten Eindruck zufolge, reagierte Frau Maurer völlig gelassen und ahnungslos. Ebenso, wie sich jemand verhalten würde, der ein gutes Gewissen hat. Was mich viel mehr wunderte und das nicht erst seit diesem Augenblick, war die Art, wie sie mit dem Verlust ihrer Tochter umging. Ich hatte von Anfang an nicht die Trauer bei ihr verspürt, die man erwarten konnte. Sicherlich geht jeder auf seine eigene Weise mit einem solchen Schicksalsschlag um, doch bei meiner Klientin hatte ich das Gefühl, als habe sie den Tod ihrer Tochter nicht als das akzeptiert, was er im Grunde war, nämlich endgültig.

Nachdem die Heilpraktikerin ihren Patienten zur Tür gebracht und verabschiedet hatte, kam sie zu mir in den Warteraum. „So, Herr Lessing, jetzt habe ich etwas Zeit für Sie. Was kann ich für Sie tun?“ „Haben Sie schon ein Blick in die Zeitung geworfen?“ „Sie meinen die Wolfenbütteler?“ Ich nickte ihr zu. „Heute Morgen leider noch nicht.“ „Eine ehemalige Mitschülerin Ihrer Tochter hatte gestern Nachmittag in ‚Klein Stöckheim‘ einen vermeintlich tödlichen Unfall.“

„Das ist bedauerlich, aber was habe ich damit zu tun?“, entgegnete sie gleichmütig. „Bei dem Opfer handelt es sich um Nastassja Klinkowitsch. Wie Sie sich sicherlich erinnern, eine der Kollegiaten, deren Namen ich als Mitschuldige am Tod Ihrer Tochter ermittelt hatte.“ „Jetzt verstehe ich. Sie befürchten, dass ich mich an dem Mädchen für Marinas Tod gerächt habe.“ Meine ehemalige Auftraggeberin sah mir gedankenvoll in die Augen. „Zugegeben, ein verlockender Gedanke, aber wenn ich das vorgehabt hätte, wäre es doch widersinnig, einen Termin mit der Kanzlei Börner zu vereinbaren, um eine Klage gegen diese Person anzustreben.“

Dies war zumindest ein entlastendes Argument, konnte aber auch ein Ablenkungsmanöver sein. „Nehmen Sie es mir bitte nicht krumm, aber ich wäre beruhigt, wenn Sie mir sagen könnten, wo sie zur Zeit des Unglücks waren“, hakte ich nach. „Da ich Ihre Beweggründe nachvollziehen kann, werde ich auch diese Frage beantworten, ohne Ihnen böse zu sein. Um welche Zeit geht es denn?“, entgegnete sie, ohne in meine kleine Falle zu stolpern, oder weil ihr die Zeit ganz einfach nicht bekannt war.

„Das Unglück geschah um 15:30 Uhr.“ „Da war ich hier“, erklärte sie. „Einen Moment bitte, ich werde gleich einen Blick in meinen Terminplaner werfen.“ Ich begleitete die Heilpraktikerin in die Anmeldung. „Genau, um halb vier war Frau Klier zu einer homöopathischen Eigenblutbehandlung in der Praxis. Die Sitzung dauerte etwa bis viertel nach vier. Sind Sie jetzt beruhigt?“ „Wenn Sie mir noch die Telefonnummer und die Adresse Ihrer Patientin geben, damit ich den Termin bestätigen lassen kann?“ „Das geht zu weit, Herr Lessing“, blockte sie ab. „Damit würde ich gegen meine Pflicht zur Verschwiegenheit verstoßen“, erklärte sie.

„Es läge natürlich in Ihrem eigenen Interesse“, drängte ich. „Also gut, ich rufe die Patientin an und frage sie, ob ich ihre Telefonnummer an Sie weitergeben darf. Wenn sie einverstanden ist, melde ich mich bei Ihnen.“ „Warten Sie nicht zu lange damit. Falls sich herausstellt, dass es sich bei dem Tod von Nastassja Klinkowitsch um keinen Unfall handelt, wird die Kripo schon bald an Ihrer Haustür klingeln.“ „Wollen Sie mir damit Angst machen?“, empörte sich Frau Maurer. „Weit gefehlt, es geht mir ausschließlich um meinen Seelenfrieden.“

Ich war kaum in die Detektei zurückgekehrt, als sich die Heilpraktikerin bei mir meldete. „Ich habe mit Frau Klier gesprochen. Sie hat nichts dagegen, wenn Sie bei ihr anrufen.“ „Das ist gut“, entgegnete ich zufrieden. „Sie wäre jetzt daheim.“ Ich war erleichtert. „Prima, auf diese Weise lässt sich ein eventuell aufkommender Verdacht von vornherein ausschließen.“

Mein daraufhin erfolgter Rückruf bestätigte das Alibi von Frau Maurer und löste meine Bedenken in Luft auf. Dementsprechend entsetzt reagierte ich, als ich nur zwei Tage darauf einen Anruf von meinem ehemaligen Dienstpartner erhielt.

15

„Das kann nicht dein Ernst sein, Jogi.“ „Ich habe auch nur durch Zufall davon erfahren, als ich mich routinemäßig bei der Schulleiterin des Kollegs nach Martin Bänder, dem Lateinlehrer, erkundigte. Du kannst dir vorstellen, wie ich aus allen Wolken fiel, als sie mir von dem Unfall erzählte, dem Paul Kühn um Haaresbreite zum Opfer gefallen war.“ „Ein Stromschlag auf der Baustelle seines Vaters“, wiederholte ich ungläubig. „Ich bin natürlich sofort ins Krankenhaus gefahren, um den jungen Mann zu befragen“, berichtete Jogi. „Er geht davon aus, bei der Verdrahtung einer 380 Volt Herdanschlussdose die verkehrten Sicherungen abgeschaltet zu haben.“ Meine Stirn krauste sich. „Er ist Elektriker, da kann so etwas passieren, aber ungewöhnlich ist das schon.“

„Wenn es ein paar Tage zuvor nicht bereits seine Mitkollegiatin erwischt hätte, würde ich gar nicht an etwas anderes als an einen Unfall denken, aber so...?“ Jogi war nicht weniger ratlos, als ich es war, aber das Alibi von Frau Maurer, von dem ich ihm natürlich erzählt hatte, wog schwer. „Hat sich die Straßenbahnfahrerin inzwischen von dem Schock erholt?“ „Die Kollegen sprachen gestern mit der Frau. Nachdem sie Nastassja Klinkowitsch auf die Gleise stürzen sah, achtete sie nur noch auf das immer näher kommende Opfer.“

„Eine solche Situation muss schrecklich sein. Ich glaube, so etwas verfolgt dich ein Leben lang“, versetzte ich mich in die Lage der Fahrerin. „Soviel ich gehört habe, will sie den Beruf wechseln.“ „Wirklich sehr tragisch, aber das alles bringt uns natürlich nicht weiter“, befand ich nüchtern. „Was sagt denn die Rechtsmedizin?“ „Du denkst an ein Hämatom, das von einem Stoß stammen könnte, welcher zum Sturz auf die Gleise zurückgeführt werden kann“, interpretierte der Hauptkommissar meinen Gedanken. „Genau.“ „Auch da muss ich dich enttäuschen. Der Körper des Opfers war derart lädiert, dass Doktor Schnippler hierzu keine eindeutigen Spuren bestätigen konnte.“ Es lief alles andere als zufriedenstellend. „Ich habe zwar keinerlei Anhaltspunkte, aber ein Besuch bei Frau Maurer kann ja nicht schaden. Willst du mich begleiten?“ „Nee lass mal, Jogi. Es wird besser sein, wenn du da allein aufläufst“, entgegnete ich zurückhaltend. „Feigling.“

„Bist du hier, mein Schatz?“, versuchte Sara erneut mit ihrer Tochter Kontakt aufzunehmen. „Gib mir bitte ein Zeichen, damit ich weiß, dass du bei mir bist.“ Im Spiegel zeigte sich jedoch nur ihr eigenes Abbild. „Deine Seele wird schon bald ihren Frieden finden, mein Schatz“, versprach sie. „Ich habe alles dafür getan, um die Schuldigen zu bestrafen.“ Doch auch jetzt zeigte sich Marina nicht. „Was verlangst du denn noch von mir? Bitte hab Geduld, es geht nicht so schnell.“

Doch gerade als Sara erneut um das Erscheinen ihrer Tochter bitten wollte, läutete es an der Haustür. Sie brach die Seance ab und öffnete.

„Guten Abend, Frau Maurer. Entschuldigen Sie bitte meinen späten Besuch, aber es gibt da noch einige Fragen, auf die ich dringend eine Antwort brauche.“ Sara seufzte und bat Hauptkommissar Wurzer herein. „Um was geht es denn?“ „Gestern Nachmittag wurde Paul Kühn schwer verletzt. Da auch er, wie Nastassja Klinkowitsch zu den Personen zählen, die am Suizid Ihrer Tochter zumindest eine moralische Mitschuld tragen, möchte ich ausschließen, dass Sie etwas mit dem vermeintlichen Unfall zu tun haben.“

„Sie sollten sich schämen, Herr Wurzer. Wenn die Polizei hinsichtlich des Todes meiner Tochter nur halb so intensiv ermittelt hätte wie bei diesen Unfällen, hätte ich mir das Honorar für den Detektiv sparen können. Anstatt mich in Ruhe um Marina trauern zu lassen, verdächtigen Sie mich grundlos für die Unfälle dieser skrupellosen Verbrecher verantwortlich zu sein! Nur damit ich endlich meine Ruhe habe, ich war gestern Nachmittag in meiner Praxis, wo ich eine Reihe von Patienten versorgte und falls Sie genaue Zeiten benötigen, wenden Sie sich bitte an meinen Rechtsanwalt, Doktor Börner.“ „Sie müssen verstehen, dass ich auch nur meine Arbeit mache. Wenn sich ein möglicher Verdacht nicht auf dem kurzen Weg ausschließen lässt, muss ich leider den offiziellen Weg gehen.“ „Dann ist es so. Ich bin genau wie Sie an den Datenschutz gebunden und nun entschuldigen Sie mich bitte.“

So lange nicht erwiesen war, dass es sich bei den Unfällen von Nastassja Klinkowitsch und Paul Kühn um Mordanschläge handelte, war die Aussicht auf die Herausgabe von Patientendaten zur Überprüfung des Alibis der Heilpraktikerin durch einen richterlichen Beschluss eher gering. Was bei dem Straßenbahnunglück noch legitim war, nämlich die Überprüfung der Unglücksstelle durch die Kriminaltechnik, war im Fall von Paul Kühn unrealistisch. Nach einer kurzen Kontrolle der elektrischen Anlage kam die Versicherung des Bauträgers, der auch der Vater von Paul Kühn ist, zu dem Schluss, dass es sich um einen Fehler beim Freischalten der Stromkreise handelte. Somit wurden die Untersuchungen zeitnah eingestellt und der Unfall als solcher bestätigt.

Nachdem klar war, dass Paul Kühn, im Hinblick auf die Schädigung seines Herzens, großes Glück hatte, bestanden seitens der Ärzte keine Einwände gegen seine Entlassung. Somit durfte er die Klinik nur zwei Tage nach seinem Unfall verlassen.

16

„Verdammt noch mal, ich glaube nicht an solche Zufälle!“, ereiferte sich Kathi. „Erst Nasti und jetzt Paul.“ „Was ist eigentlich mit dieser Leonie? Die war doch schon ein paar Tage nicht mehr im Kolleg.“ Kathi zuckte mit den Achseln. „Keine Ahnung, vielleicht hat sie keinen Bock mehr auf lernen.“ „Du weißt ja, was ich von der halte.“ „Du bist doch nur eifersüchtig“, behauptete Kathi. „Ich traue der nach wie vor nicht über den Weg“, blieb Alina bei ihrer Meinung. „Wer weiß, vielleicht hat die ja was mit Nastis Tod und dem Unfall zu tun, bei dem Paul fast ins Gras gebissen hätte.“

„Ganz ehrlich, Alina. Du spinnst!“ „Von wem sonst hätte ich diese Drohung bekommen sollen?“ Sie griff in ihre Tasche und holte einen gedruckten Zettel hervor. „Der steckte heute Morgen in einem Kuvert hinter dem Scheibenwischer meines Wagens“, erklärte sie, während sie das Papier an Kathi weiterreichte. „Ich weiß, was du getan hast. Du wirst dafür bezahlen“, las ihre Freundin. „Da will dich jemand kirre machen, mehr nicht.“ „Ja, genauso wie Nasti und Paul“, erregte sich Alina. „Leonie war die Einzige, die davon wusste, dass wir die Dicke loswerden wollten.“

„Quatsch, da muss was anderes hinter stecken“, wollte Kathi nach wie vor nichts auf die Neue kommen lassen. „Weshalb sperrst du dich denn so dagegen?“, ließ sich die einundzwanzigjährige Braunschweigerin nicht von ihrer Idee abbringen. „Du bist wohl plötzlich lesbisch geworden?“, „Vorsichtig!“, warnte Kathi. „Die kam aus Kassel ans Kolleg“, erinnerte sie. „Weshalb sollte die uns drei Tage später umbringen wollen? Welchen Grund sollte sie dafür gehabt haben?“ „Wer weiß, vielleicht ist die ja nicht ganz normal?“ „Die einzige hier, die sich ständig was einwirft, um sich wegzuballern bist du, meine Liebe.“

Damit hatte ihr Kathi den Wind aus den Segeln genommen. „Glaub doch, was du willst. Solange die Bitch nicht wiederkommt, stehst du ziemlich allein da.“ „Ach guck an, unser Küken wird aufmüpfig. Pass gut auf, dass du dir dabei nicht den Schnabel verbiegst“, warnte Kathi. „Das lass man meine Sorge sein, meine Liebe. Ich habe genügend andere Freunde, die sich nicht so leicht blenden lassen.“

Damit ließ Alina ihre bis dahin beste Freundin stehen, stieg in ihren Smart und fuhr davon. Sie hatten sich zum ersten Mal überhaupt so richtig in die Wolle bekommen und schuld daran war ihrer Meinung nach niemand anderes als Leonie. Alina schäumte noch immer vor Wut, als sie Ihren Wagen auf dem Parkplatz vor dem Kanuverein am ‚Werkstättenweg‘ abstellte, um zum Vereinsheim zu gelangen.

Zu dieser Zeit war sie noch die einzige vor Ort, was ihr sehr gelegen kam, um runterzukommen. Als Tochter des Hauptsponsors verfügte sie über einen Schlüssel. Sie zog sich an ihrem Spind die Weste an, griff sich die Flasche mit ihrem Wasser und ging zum Bootshaus hinüber, wo sich ihr Kanu befand. Es war nicht das erste Mal, dass sie es allein zu Wasser ließ. Auch wenn ihr die nötige Kraft dafür nur von wenigen zugetraut wurde, stellte diese Arbeit keine Herausforderung für sie da. Überdies war sie mit jedem erforderlichen Handgriff bestens vertraut.

Kurz darauf paddelte sie mit hoher Schlagzahl an der Volkswagenhalle und kurz darauf am alten Bahnhof vorbei in Richtung Stadtmitte. Ihre Stimmung besserte sich mit jedem gefahrenen Kilometer und der Frust wegen Kathi verflog mehr und mehr. In Höhe ‚Madamenweg‘ nahm sie das Paddel aus dem Wasser und ließ sich mit der Strömung treiben. Wie friedlich es hier war. Links und rechts vom Ufer grüßen stumme Zeugen skurril gewachsener Bäume. Ihre Kronen neigten sich bis weit über den Fluss, umarmten sie mit ihrem dichten Kleid aus bunten Blättern.

Immer wieder drangen wärmende Sonnenstrahlen zu ihr ins Kanu und vermittelten ihr ein Gefühl von Geborgenheit. Nur hier, umsäumt von Ruhe und Frieden, fühlte sie sich wohl. Alina nahm einen kräftigen Schluck aus der Wasserflasche und dachte an Nasti. Wie es ihr wohl gehen mochte, da, wo sie jetzt war?

Einige Minuten später überkam sie ein Gefühl der Müdigkeit. Sie nahm einen weiteren Schluck zu sich und wunderte sich über den ungewohnten Geschmack des Wassers. Da sie die Flasche jedoch erst geöffnet hatte, tat sie ihr Empfinden als Einbildung ab. Nach und nach bemerkte sie, wie ihre Arme und Beine schwerer und schwerer wurden. Sie schlug mit der flachen Hand darauf, versuchte sich gegen die aufkeimende Panik zu wehren und hatte doch keine Chance, die einsetzende Bewegungsunfähigkeit zu verhindern. Ihre Versuche, sich durch Schreie bemerkbar zu machen erstarben noch in ihrer Kehle.

Das Kanu glitt unterdessen steuerlos mit der Strömung weiter und weiter, wie von einer unsichtbaren Hand gezogen, dem ‚Petritor‘ und damit dem ‚Petriwehr‘ entgegen. Alinas Augen blickten starr vor sich hin. Sie bemerkte zwar, wie sie gegen das Schott prallte, wie sich das Kanu mit der Strömung drehte und so wie eine Nussschale zum Spielball des Wassers wurde, doch sie war unfähig etwas dagegen zu unternehmen. Es schien nur noch eine Frage der Zeit, bis die junge Frau über Bord gehen würde. Die unbändige Kraft des Wassers warf sie wie eine Marionette von einer Kanuseite auf die andere. Dabei drang immer mehr Wasser in das Boot.

Ein Passant, der in diesem Moment über die Wehrbrücke ging, wurde auf die ungewöhnlichen Geräusche aufmerksam, die dadurch verursacht wurden, weil das Kanu immer wieder gegen das Schott knallte. Er entdeckte eine offenbar bewusstlose Frau darin und alarmierte mit seinem Handy die Feuerwehr. Als er daraufhin wieder zum Kanu sah, war Alina verschwunden. Hilflos musste er bis zum Eintreffen der Rettungskräfte mitansehen, wie auch das Kanu in der Strömung unterging.

Zahlreiche Schaulustige verfolgten entsetzt, wie die junge Frau erst nach mehr als einer Stunde von der Feuerwehr geborgen wurde. Es lag auf der Hand, dass alle Wiederbelebungsversuche zu spät kamen. Auch wenn Zeugen und Rettungskräfte von einem Unglück überzeugt waren, wurde der Leichnam zur rechtsmedizinischen Untersuchung in die Pathologie an der ‚Celler Straße‘ gebracht.

Wie bei einem solchen Unglück üblich, wurde die ‚Oker‘ stromabwärts sowie direkt am ‚Petriwehr‘, akribisch nach möglichen Hinweisen abgesucht. Dabei wurde unter anderem eine etwa halbvolle Wasserflasche gefunden, die so, wie alle weiteren Fundstücke, zunächst lediglich archiviert wurden. Dies änderte sich mit dem Obduktionsergebnis.

„Wenn der Beamte vor Ort nicht so umsichtig gehandelt hätte, wäre der vermeintliche Mord an dieser jungen Frau unentdeckt geblieben“, erklärte Doktor Schnippler. „Zwei Stunden später hätten wir die Gamma Hydroxyd Buttersäure nicht mehr im Körper des Opfers nachweisen können.“ Der Ermittler war betroffen. Er überlegte, ob es sich nicht doch um eine Mordserie handeln konnte.

„Sie erinnern sich an die junge Frau, die erst vor kurzem von einer Straßenbahn überrollt wurde?“, erkundigte sich Jürgen Wurzer. „Natürlich. Wenn ein so junges Leben ein so jähes Ende findet, ist das immer besonders tragisch, was mich dadurch eine ganze Zeitlang beschäftigt.“ „Mir geht es da nicht anders, verehrter Doktor.“

„Wir haben uns nun einmal für einen Beruf auf der anderen Seite des Lebens entschieden, was auch durchaus seine Erfüllung bedeuten kann.“ Im Gesicht des Hauptkommissars stellte sich ein Fragezeichen ein. „Es ist für mich eine Form der Genugtuung, wenn ich durch meine Arbeit dazu beitragen kann, einen Mörder hinter Gitter zu bringen.“ „Solange uns dieser Gedanken trägt, an jedem Morgen aufs Neue in den Kampf zu ziehen, wird es unsere Berufung sein“, philosophierte der Hauptkommissar. „Wir sind eben die Ritter der Neuzeit“, lächelte Doktor Schnippler versonnen.

„Alina Mayer wurde also durch die sogenannten KO-Tropfen betäubt“, resümierte der Ermittler. „Die Frau war gewissermaßen gefangen in ihrem eigenen Körper. Das Perverse daran war, dass die Frau zunächst alles, was um sie herum geschah, wahrnehmen konnte. Erst nach etwa fünfzehn Minuten trübte sich ihr Bewusstsein so weit ein, dass sie ohnmächtig wurde“, erklärte der Doktor. „Dies erklärt die Beobachtung des Zeugen, der von der Regungslosigkeit des Opfers gesprochen hatte. Bleibt nur noch zu klären, wie das Liquid Ecstasy in den Körper des Opfers gelangte.“