Sommerfrische in Cremlingen

 

 

 

Einleitung:

 

Eric ist von Geburt an blind. An der Seite seiner Mutter lernt er mit seinem Schicksal umzugehen. Im Zeichen des einsetzenden Wirtschaftswunders befindet sich sein Vater oft auf Geschäftsreisen, was den Vierzehnjährigen nur noch enger an seine Mutter bindet. Für Eric völlig unerwartet verstirbt seine einzige Bezugsperson. Mit der neuen Rolle vollkommen überfordert, flüchtet sich Hartmut Hohenstein in weitere Geschäftsreisen. Er stellt eine Erzieherin ein, die in der Villa leben und seinen Sohn betreuen soll.

Josephine Fährmann und Eric mögen sich auf Anhieb. Die junge Frau versteht es, ihm eine gute Freundin zu sein. Zwischen ihnen stellt sich rasch eine tiefe Bindung ein, die Erics Wunsch nach, in einer neuen Familie münden soll. Doch auch dieses Glück sollte nicht von langer Dauer sein. Josephine Fährmann wird eines Nachts in ihrem Zimmer ermordet. Fast apathisch ergibt sich Eric seinem Schicksal. Um sein eigenes Leben neu zu ordnen, beschließt Hartmut Hohenstein, seinen Sohn über den Sommer bei einem Cousin in Cremlingen unterzubringen. Reicht ein Sommer, um ein Leben neu zu regeln? Reicht ein Leben, um das Leben zu erleben?



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Sommerfrische in Cremlingen

 

 

-1-

 

Der Regen wurde heftiger, schlug Blasen, während er auf den wie stumme Zeugen dastehenden Grabsteinen niederprasselte. Es goss schon die ganze Nacht hindurch und nun auch noch den Vormittag. Das viele Wasser hatte den Boden rings um die offene Grabstätte in einen glitschigen Acker verwandelt. Hartmut Hohenstein und sein erst vierzehnjähriger Sohn Eric nahmen Abschied.

Langsam und gleichmäßig ließen die Träger die Seile durch ihre Hände gleiten. Behutsam senkte sich der Sarg zwischen den Brettern hindurch, die den Rand der Grube umgaben. Eric bildete sich ein, den Tod riechen zu können. Ein bitterer Geruch, der an den Totengräbern zu haften schien. Daran konnte auch der Wind nichts ändern, der zuweilen mit heftigen Böen in die aufgespannten Schirme der Trauergemeinde fuhr. Doch davon nahmen Eric und sein Vater kaum etwas wahr. Zu tief war die Trauer um den erlittenen Verlust, zu stark war der Schmerz in ihrer beider Brust. Vor allem aber war es die Frage nach der Zukunft, die Hartmut Hohenstein in diesem Augenblick beschäftigte.

Er war Geschäftsmann und daher war er es gewohnt, sein Leben nüchtern zu betrachten. Gefühle spielten da eine eher untergeordnete Rolle. Ein Luxus, den er sich nur noch selten leistete. Eine Tatsache, die ihm Jutta zu Lebzeiten nicht selten zum Vorwurf gemacht hatte. „Ich verdiene unseren Lebensunterhalt, für die Gefühle bist du zuständig“, hatte er seiner Ehefrau dann stets entgegengehalten, womit er sie jedoch nie zu überzeugen vermochte. Dass hinter seiner mühsam aufgerichteten Fassade einzig die Sorge um die Zukunft seiner kleinen Familie stand, konnte er dennoch nicht verbergen. Zu hart hatte sie das Schicksal getroffen, zu tief hatte sich der Pfeil des Lebens in ihr Herz gebohrt.

 

Zunächst die Freude über den lang ersehnten Stammhalter, dann, bereits kurze Zeit später, die Erkrankung an einer seltenen Art der Gelbsucht, der Verlust des Augenlichtes und die Gewissheit, dass der Junge niemals sehen würde. Doch kaum, dass er den Windeln entwachsen war, sollte es noch schlimmer kommen. Die niederschmetternde Nachricht, dass Jutta an Krebs erkrankt war, ließ das Herz Hartmuts fast zerspringen. Er hatte länger als sie gebraucht, um dem Unausweichlichen ins Auge sehen zu können, hatte sich in noch mehr Arbeit gestürzt, um seinem Kummer auf diese Weise zu entfliehen. Trotz allem war jedoch die Hoffnung auf ein Wunder auch in ihm nie gewichen.

„Hartmut Hohenstein!“, schrie er in sich hinein. „Öffne deine Augen und stelle dich der Wirklichkeit!“ Und die vom Leben gezeichneten Augen des Mannes blickten dem Sarg hilflos nach, nahmen wahr, wie er von der ewigen Dunkelheit des Ursprünglichen verschluckt wurde. „Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub“, verkündete der Geistliche. Die Worte des Pfarrers drangen nur sporadisch zu ihm vor. Wie nur sollte es nun weiter gehen? Er sah auf seinen Sohn und fragte sich, wer dem Jungen fortan die Liebe und Zuwendung geben sollte, die er so nötig brauchte. Auch wenn es in diesem Augenblick pietätlos erscheinen mochte, so musste sich der gestandene Mann doch fragen, ob es nicht besser war, sich schon bald einer neuen Lebensgefährtin zuzuwenden?

 

Wie gern hätte er seiner Mutter noch einmal die Wangen gestreichelt, ihr dezentes Parfüm gerochen und ihr seidiges Haar durch seine Finger gleiten lassen, doch dieser letzte Wunsch war ihm versagt geblieben. Warum nur hatte ihm der Vater die Möglichkeit versagt, von ihr Abschied zu nehmen? Er sollte sie so in Erinnerung behalten, wie er sie zu Lebzeiten kannte, hörte er noch dessen Worte. Hatte sie der Tod so sehr verändert? Er legte seinen Kopf in den Nacken und lauschte mehr den Regentropfen, die auf den Schirm prasselten, als den einfühlsamen Worten des Geistlichen.

Hatte ihm die Mutter nicht erklärt, dass der Tod ein Teil des Lebens sei? War sie nicht dem Gang allen Lebens gefolgt? Warum sollte er sie nicht ein letztes Mal spüren, ihr ein letztes Mal ganz nahe sein? Ein heftiges Verlangen keimte in ihm auf, zog ihn immer stärker in seinen Bann, um ihn letztlich wie in Trance zwei Schritte nach vorn machen zu lassen. Er tat sie so unvermittelt und für seinen Vater überraschend, dass dieser den Sturz in die Grube nicht verhindern konnte.

 

„Lass mich nicht allein, Mutter!“, schluchzte Eric, voller Verzweifelung mit beiden Fäusten auf den Sargdeckel trommelnd. Die Anwesenden sahen sich zutiefst erschrocken und hilflos an, wussten nicht, wie sie sich verhalten sollten. Nicht einmal der Mann im schwarzen Ornat war zu einer Reaktion fähig. Hartmut Hohenstein blickte Hilfe suchend in die Gesichter der Trauernden, doch allenthalben herrschte nichts als Ratlosigkeit. Erst jetzt wurde ihm bewusst, welch starke Bande tatsächlich zwischen Eric und seiner Mutter bestand.

Wie nur sollte er diesen Platz ausfüllen? Er, der ja stets mit nichts anderem beschäftigt war, als den Unterhalt für die Familie zu verdienen. Schließlich fasste er sich ein Herz und stieg über die inzwischen herbeigeholte Holzleiter in das Grab herab. Ungeachtet des nach wie vor vom Himmel hernieder prasselnden Regens, kniete er jetzt neben seinem Sohn und streichelte ihn über Kopf und Rücken. Irgendwann wandte sich Eric zu ihm herum und das blaue Nichts in den Augen des Kindes stellten die alles entscheidende Frage nach dem ‚Warum'.

Der kühle Regen hatte ihre Kleidung längst durchgeweicht. Das Haar klebte ihnen im Gesicht und doch schien dies keiner von beiden wirklich wahrzunehmen. „Warum hat sie uns verlassen?“, fragte Eric seinen Vater mit anklagender Stimme. „Weil es das Schicksal so vorbestimmt hat“, entgegnete Hartmut nach einer kurzen Weile des Schweigens. „Da, wo sie jetzt ist, muss sie nicht mehr leiden.“ Eric tat einen tiefen Seufzer. „Gibt es ein Leben nach dem Tod?“ Hartmut strich seinem Sohn die Strähnen aus dem Gesicht. „Ich weiß es nicht, aber glaube mir, Eric, sie wird stets bei uns sein.“

Während des gesamten Nachmittags blieb Eric auf seinem Zimmer. Er hatte das Fenster weit geöffnet, einen Stuhl herangezogen und sich darauf niedergelassen. Ein Fremder hätte annehmen müssen, dass der Junge etwas ganz Bestimmtes beobachtete. In gewisser Weise tat Eric dies auch, nur dass er nicht die Augen, sondern seine Sinne nutzte, um ‚sehen' zu können. Vielleicht nahm er seine Umwelt sogar besser wahr als manch Sehender?

Er liebte es, wenn die Luft nach dem Regen frisch und rein von Staub war. Er sog die Düfte ein, die aus dem unter seinem Fenster liegenden Garten mit dem Dunst der Sonnenstrahlen emporstiegen. Er vernahm die vielen verschiedenen Geräusche der nahen Straße, das Lachen der Nachbarskinder, das Murmeln der Trauergäste und das Klappern des Kaffeegeschirrs unten aus dem Wintergarten. Dann erschien das schemenhafte Gesicht seiner Mutter vor seinem geistigen Auge und sie formte mit sanfter Stimme die Worte, mit denen sie ihn von klein auf getröstet hatte: „Nur wer blind ist, kann in der Dunkelheit sehen.“

Da war er wieder, jener unheilvolle Gedanke, der ihm immer wieder zurief, den Kummer mit einem einzigen Entschluss ein jähes Ende zu setzen. Ein kleiner Schritt nur, der in diesen Momenten so einfach zu sein schien. Alles Leid würde von einer Sekunde zur nächsten von ihm abfallen, all die Qualen würden einen schnellen Schluss finden. Am stärksten jedoch wog die Aussicht darauf, im Jenseits wieder mit der geliebten Mutter vereint zu sein. In den vergangenen Tagen hatte sich dieser Gedanke schon einige Male in sein Bewusstsein gedrängt, versuchte sich in ihm breit zu machen, von ihm Besitz zu ergreifen, doch immer dann, wenn er unerträglich zu werden schien, vernahm er die Worte seiner Mutter, mit denen sie ihn aufforderte, niemals aufzugeben. Immer wieder hatte er ihr dies in letzter Zeit versprechen müssen. Wie würde er im Jenseits vor ihr stehen, wenn er dieses Versprechen brach?

Seine Muskeln und Sehnen entspannten sich wieder. Seine Finger glitten am Fensterrahmen herab, um sich schließlich gänzlich zu lösen und seine Füße setzten einen Schritt zurück, weg vom Fenster, zurück auf den Stuhl, von dem er sich irgendwann erhoben hatte. Die dunklen Gedanken waren von ihm gewichen. Für den Augenblick zumindest, hatte er sie aus seinem Kopf verdrängt. Er wusste jedoch, dass die Stimmen in seinem Inneren nie ganz verstummen würden und er fürchtete sich vor dem Tag, an dem er ihnen nachgeben musste.

„Hast du dir schon Gedanken gemacht, wie es mit Eric weiter gehen soll?“, stellte Hartmuts Freund Gustav Rittmeier die Frage, die allen Anwesenden auf der Seele brannte. „Glaube mir, nichts hat mich in den vergangenen Tagen mehr beschäftigt. Gleichwohl wollte mir keine adäquate Lösung in den Sinn kommen.“ „Was ist mit einem Internat?“, warf ein entfernter Vetter ein. „Du kannst doch einen Jungen, der gerade seine Mutter verloren hat und obendrein auch noch blind ist, nicht in die Fremde abschieben!“, fuhr ihn seine Frau Mine an. „Auf einen solchen Unfug kann auch nur ein Mannsbild kommen.“ Vetter Willi zog spontan den Kopf zwischen die Schultern. „Immerhin werde ich auch weiterhin gezwungen sein, unseren Lebensunterhalt zu verdienen“, gab Hartmut Hohenstein zu bedenken. „Wie ihr wisst, habe ich lediglich eine Schwester in Amerika und leider gibt es auch in Juttas Familie nicht viele, die Eric und mir zur Seite stehen könnten.“

Wieder herrschte betretenes Schweigen. Kaffeelöffel kratzten über den Grund der Tassen, Kuchengabeln klapperten über die Teller. „Und wenn du dir eine Erzieherin nimmst?“, überlegte Juttas Onkel Manfred. Ein dickbäuchiger Pensionär der deutschen Bundesbank. „Natürlich“, stimmten die anderen anerkennend ein. „So teuer kann das doch auch nicht sein“, fügte er hinzu. „Diesen Gedanken hatte ich selbstverständlich sofort“, seufzte der Hausherr. „Schon morgen früh wollen sich die ersten Damen vorstellen.“ „Na also“, stellte sich unter den Anwesenden eine gewisse Erleichterung ein. „Es stellt sich allerdings die Frage, ob die Damen auch dann noch gewillt sind, die Stellung anzutreten, wenn sie von Erics Behinderung erfahren.“

Es lag auf der Hand, weshalb Hartmut Hohenstein bislang nichts von der Blindheit seines Sohnes erwähnt hatte. Hoffte er doch, die Bewerberinnen auf diese Weise nicht von vornherein abzuschrecken. Er war sich sicher, dass sie sich von Erics freundlichen Wesen verzaubern ließen, wenn sie ihn erst kennen lernten. Auch wenn ihm keiner seiner Gäste einen Vorwurf aus seinem Verhalten machte, so wurde ihm beim Blick in ihre Gesichter sehr schnell bewusst, was er die ganze Zeit über vor seinem Gewissen zu verbergen suchte. Er schluckte alle Bedenken ein letztes Mal hinunter und wechselte so abrupt das Thema, dass ihm die Trauergesellschaft nur mit Mühe folgen konnte.

Erst am späten Nachmittag waren auch die letzten Gäste gegangen. Nur Gustav, der Freund des Hauses, war zurück geblieben. Er war vor einer guten halben Stunde nach oben gegangen, um Eric etwas Gesellschaft zu leisten. Als dessen Patenonkel verfügte er nicht nur über ein recht gutes Verhältnis zu dem Jungen, er fühlte sich auch in der Pflicht, ihm in diesen schweren Stunden zur Seite zu stehen. Die Mutter jedoch konnte auch er ihm nicht ersetzen.

 

-2-

 

„Nehmen Sie bitte Platz, Frau Koechel“, forderte Herr Hohenstein die erste Bewerberin auf. Die schon etwas angegraut wirkende Dame im olivgrünen Kostüm behielt ihren Hut auf, während sie der höflichen Bitte des Hausherrn nachkam. Sein Blick hing der bunten Pfauenfeder nach, die sich als schmückendes Beiwerk ebenso aufrecht präsentierte wie die Dame, deren Haupt sie schmückte. Das einzige übrigens, was an dieser Dame leuchtete, wie er abschätzend befand.

„Sie haben sich also die Erziehung von Kindern zum Ziel gesetzt“, formulierte er selbst für seine Verhältnisse reichlich gestelzt. „Nun ja, man kann nicht früh genug beginnen, den jungen Menschen mit Respekt und Anstand den Weg ins Leben zu weisen“, entgegnete Eva Koechel überzeugt. „Wie Sie meinen Zeugnissen entnehmen werden, stand ich nur in den besten Häusern in Diensten.“ Herr Hohenstein nahm die lederne Mappe entgegen, die ihm Frau Koechel sogleich entgegenstreckte. „Sehr schön“, quittierte er, „Wenngleich ich sagen muss, dass mir der persönliche Eindruck weitaus wichtiger ist.“ Die Erzieherin nickte beflissentlich. „Selbstverständlich, werter Herr Hohenstein, selbstredend.“

Der Hausherr klappte die Mappe zusammen, ohne den darin befindlichen Papieren eine größere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. „Da verfügen Sie sicherlich inzwischen über ein gutes Maß an Erfahrung“, schlussfolgerte Hartmut Hohenstein. „Das kann ich wohl mit Fug und Recht behaupten.“ „Wobei Ihre Zöglinge sicherlich auch ihre Tücken hatten?“ „Kinder brauchen eine feste Hand, die sie formt und lenkt. Ich vergleiche meine Arbeit gern mit der eines Bildhauers, der an einem groben Klotz arbeitet und mit viel Beharrlichkeit daraus eine wundervolle Skulptur erschafft.“

Im Grunde hatte Herr Hohenstein genug gehört. Eine abschließende Entscheidung wollte er jedoch nicht treffen, ohne Eric und Frau Koechel zuvor miteinander bekannt gemacht zu haben. „Nun gut, ich denke, ich sollte nun meinen Sohn hereinbitten. Schließlich geht es um ihn.“ Der Mann mit dem graumelierten Haar erhob sich aus dem Sessel. „Entschuldigen Sie mich bitte für einen Augenblick.“

Während er sich in einen Nebenraum begab, richtete sich die Aufmerksamkeit der Erzieherin auf das Porträt einer feinen Dame, welches die Wand über einem Kanapee zierte. Die schwarze Schleife an dessen Rahmen sagte ihr, dass es sich um die verstorbene Frau Hohenstein handeln musste. Das Bild zog Eva Koechel so sehr in ihren Bann, dass sie ihren Blick nicht davon abzuwenden vermochte. Die Augen jener feinen Dame schienen sie regelrecht zu durchdringen. Ja, es kam ihr sogar so vor, als folgten sie jeder ihrer Bewegungen. Ihr Atem beschleunigte sich. Die Kinderfrau griff sich an die Brust. Sie war davon überzeugt, dass in diesem Hause etwas Unheimliches vor sich ging.

„So, dann möchte ich Ihnen nun meinen Junior vorstellen“, vernahm sie die Stimme von Hartmut Hohenstein. Nur mit Mühe konnte sie dem Blick der feinen Dame im Bildnis entfliehen, um geradewegs in Erics starre Augen zu schauen. Die Gute schien mit der Situation völlig überfordert. Sie schnellte entsetzt aus dem Sessel hoch, stammelte einige verwirrte Worte, mit denen sie nach einer Entschuldigung für ihren unverzüglichen Aufbruch suchte und verließ übereilt das Haus. Selbst die Ledermappe mit ihren Zeugnissen ließ sie in der Eile zurück.

„Was war mit der Frau?“, fragte Eric irritiert. „Ich weiß es nicht, mein Sohn, aber ich glaube dieses Kinderfräulein wäre ohnehin nicht das richtige für dich gewesen.“ „Kommen noch andere?“, vernahm Hartmut Hohenstein die Unsicherheit in der Stimme seines Sohnes. Er sah zur Wanduhr hinüber und seufzte. „Ich fürchte, die nächste Dame wird schon bald eintreffen. Soll ich sie fortschicken?“ „Lass nur, Vater, ich wäre nur gern von Anfang an dabei.“ Wie erwachsen der Junge mitunter schon war, freute sich Hartmut Hohenstein voller Stolz.

Vater und Sohn hatten gerade den Fünfuhrtee eingenommen, als es an der Haustür läutete. „Das wird das zweite Fräulein sein“, mutmaßte Eric. „Bist du sicher, nicht doch hinübergehen zu wollen?“ Der Junge schüttelte wortlos mit dem Kopf.

Kurz darauf betrat eine junge Frau Mitte Zwanzig den Raum. Hartmut Hohenstein lächelte ihr verzückt zu, als er ihr Eric vorstellte. Dieser stand bereits vor seinem Sessel und streckte seine Hand in die Richtung, aus der er die leisen Schritte vernahm, die sich kaum hörbar über den Parkettboden näherten. Josephine Fährmann hatte die Situation sofort erfasst. Sie griff nach der Hand des Jungen und begrüßte ihn. „Du bist also der junge Herr Hohenstein. Es freut mich, dich kennen zu lernen.“ „Ganz meinerseits“, entgegnete Eric wohlerzogen.

„Nehmen Sie doch bitte Platz. Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten?“, erkundigte sich der Junge höflich. Fräulein Fährmann nahm dankbar an, sah zu Hartmut Hohenstein hinüber, der sich ihr gegenüber nieder ließ und setzte sich.

„Erics Mutter hat unseren Sohn ungeachtet seiner Blindheit zur Selbstständigkeit erzogen“, erklärte Hartmut Hohenstein, während sich Eric mit der linken Hand an eine noch unbenutzte Tasse und mit der rechten an die Teekanne herantastete. „Ebenso viel Wert legte meine verstorbene Frau auf eine adäquate Bildung. Wir hielten es für angebrachter, den Jungen nicht den Unbilden einer öffentlichen Schule auszusetzen.“

Fräulein Fährmann war anderer Ansicht, hielt sich allerdings bedeckt. Sie beobachtete, wie Eric mit großem Geschick die Tasse füllte. Ein wenig zu voll, aber nicht so sehr, um sie nicht sicher auf dem Tisch vor Fräulein Fährmann absetzen zu können. „Ich danke dir“, lächelte sie ihm der Gewohnheit halber freundlich zu.

„Innerhalb dieses Hauses bewegt sich Eric nicht weniger sicher als jeder andere“, lobte Hartmut Hohenstein seinen Sohn voller Stolz. „Ihre Aufgabe bestünde vor allem darin, Eric zu unterrichten und jeder Zeit für ihn da zu sein. Ich bin beruflich oft auf Reisen und kann mich daher nur wenig um ihn kümmern. Sie sind hoffentlich ungebunden, oder?“ Josephine nickte zögerlich. „Sie bekämen ein schönes Zimmer und hätten einen Tag pro Woche frei.“ „Wollen Sie keine Referenzen sehen?“, fragte die junge Frau verwundert. „Die brauche ich nicht. Sollten Sie einverstanden sein, liegt die Entscheidung bei meinem Sohn.“

Josephine zeigte sich von dem zu dieser Zeit eher ungewöhnlich offenen Umgang beeindruckt, den Vater und Sohn miteinander pflegten. Immerhin saß ihr mit Herrn Hohenstein ein sehr angesehener und erfolgreicher Geschäftsmann gegenüber. „Darf ich Ihre Hände berühren?“, bat Eric kaum vernehmlich. Josephine folgte seiner Bitte zögerlich. Als seine Finger die ihren berührte, spürte sie die unglaubliche Ruhe, die von dem Jungen ausging. Nie zuvor in ihrem noch jungen Leben hatte sie etwas Vergleichbares verspürt.

„Ihre Hände sind kräftig und doch sanft und zart. Meine Mutter lehrte mich, aus ihnen wie aus einem Buch zu lesen.“ Josephine schreckte zurück. Ihre Hände zitterten ein wenig. Irgendwie war ihr der Junge unheimlich und beinahe wäre sie im selben Augenblick gegangen, wenn dem nicht, ja, wenn dem nicht die Aussicht auf eine feste Anstellung und somit auf ein geregeltes Leben entgegengestanden hätte.

Hartmut Hohenstein hatte das auch für ihn sonderbare Verhalten seines Sohnes aufmerksam verfolgt. Es schien ihm, als kannte er ihn kaum. Er sah in Erics Gesicht und versuchte in seiner Mimik zu lesen, doch alles was er sah, waren seine starren Augen, mit denen er scheinbar teilnahmslos in den Raum starrte. „Nun, mein Sohn, wie hast du dich entschieden?“, fragte er daher unsicher. „Es wäre schön, wenn Fräulein Fährmann bei uns bliebe“, entgegnete der Junge mit fester Stimme. „Sie haben es gehört“; griff Hartmut Hohenstein die Worte seines Sohnes auf.

Auch wenn das Drücken in Josephines Magen nichts Gutes verhieß und ihre innere Stimme vor dem Entschluss warnte, sagte sie zu. Vielleicht war es ja auch der Hunger, der sie seit Tagen quälte und diese ewige Angst, noch einmal eine falsche Entscheidung zu treffen. Wie auch immer, die Aussicht, ihre ärmliche Vergangenheit auf Weiteres hinter sich zu lassen, gab letztendlich den Ausschlag. Hartmut Hohenstein reichte ihr mit einem erleichterten Lächeln die Hände. „Willkommen in der Familie.“

 

-3-

 

Die folgenden Wochen waren von gegenseitiger, behutsamer Annäherung geprägt. Tagsüber, wenn Eric und Josephine allein waren, vernahm man in der Nachbarschaft wieder gelegentliches Lachen aus dem Haus in der Leibnitzstraße 12. Es schien, als habe Eric neuen Mut zum Leben gefunden. Nur abends, wenn er auf der Veranda saß und der Wind mit der Schaukel spielte, kam es ihm so vor, als säße seine Mutter darin und sprach zu ihm. So wie früher, wenn sie stundenlang beisammen waren und sie ihm von ihrer Kindheit erzählte. Eric liebte diese Bank, die wie eine Schaukel an Ketten befestigt war, weil sie ihn an das Lachen seiner Mutter erinnerte. Wann immer er das Quietschen der Ketten vernahm, sah er sie vor seinem geistigen Auge darin sitzen. Doch diese Abende wurden seltener, was sicher teils an den kühleren Temperaturen lag, die mit dem einsetzenden Winter ins Land zogen, teils aber auch an Josephine, mit der sich Eric mit jedem Tag besser verstand.

Mitte Dezember war es, als Hartmut Hohenstein überraschend auf Geschäftsreise gehen musste. Die erste seit dem Tod seiner Ehefrau. Es fiel ihm nicht leicht, Eric daheim zurückzulassen, doch andererseits wusste er seinen Sohn bei Josephine in guten Händen.

„Wenn du mir keinen Grund zur Klage gibst, soll es zum Weihnachtsfest eine Überraschung für dich geben“, stellte er Eric bei seiner Abreise in Aussicht. „Machen Sie sich bitte keine Sorgen, Herr Hohenstein. Eric und ich kommen sicher gut miteinander aus“, versprach Josephine zuversichtlich. „Ich weiß, dass ich mich auf Sie verlassen kann.“

Schon am Morgen des nächsten Tages brach der Geschäftsmann zu einer Reise in die Schweiz auf. Voller Unruhe registrierte Eric den in den nächsten Tagen einsetzenden starken Schneefall. Was würde aus ihm werden, wenn sein Vater mit dem Wagen verunglückte und nicht mehr zurückkehrte? Würde sich Josephine auch weiterhin um ihn kümmern? Er verdrängte seine Angst und die Fragen, die damit verbunden waren. Er schob sie bis zum Abend des vierten Advents vor sich her.

Der Winter des Jahres 1956 ging als einer der schneereichsten in die Chronik der Wetteraufzeichnungen ein. Dächer und Straßen waren mit einer meterhohen weißen Pracht überzogen.

Eric und Josephine saßen gerade zu Tisch, als es unverhofft an der Tür läutete. Der Junge sprang so ungestüm von seinem Stuhl auf, dass dieser nach hinten kippte und mit lautem Getöse zu Boden fiel. Er hastete durch den Flur und riss voller Freude die Haustür auf. Doch anstatt seines Vaters stand sein Onkel Gustav vor der Tür. Es fiel ihm nicht leicht, seine Enttäuschung zu verbergen.

„Ich bin es leider nur“, zog der Onkel die Schultern nach oben. „Darf ich trotzdem eintreten?“ „Ja, ja, natürlich“, stammelte Eric wie ein Lausbub, der gerade dabei erwischt worden war, wie er jemand einen Streich spielte. „Guten Abend Herr Rittmeier“, begrüßte Josephine den späten Gast. „Es ist sehr nett von Ihnen, dass Sie uns so spät noch Ihre Aufwartung machen.“ „Nun“, erwiderte der Onkel etwa verlegen, „ich bin mir durchaus bewusst, nicht die beste Zeit für meinen Besuch gewählt zu haben, aber ich telefonierte vor nicht mehr als einer Stunde mit Herrn Hohenstein.“ „Wann kommt er nach Hause?“, unterbrach Eric seinen Patenonkel. „Er versucht es bis zum Heiligen Abend zu schaffen.“

„Er wird es ganz bestimmt schaffen, nicht wahr?“, fragte der Vierzehnjährige zuversichtlich. Der Freund seines Vaters versuchte ihm so deutlich wie möglich zu antworten, doch Eric bemerkte die Zweifel, die in der Stimme seines Onkels mitschwangen. Es war genau wie damals, als seine Mutter noch lebte und er seinen Vater nur selten zu Gesicht bekam. Nichts hatte sich geändert, außer dass nun Josephine an die Stelle seiner Mutter getreten war.

„Warum tut er das!“, rief Eric. „Ich bin ihm egal, sonst wäre er jetzt hier!“ Gustav hielt ihn an den Schultern fest, zog ihn zu sich heran und wollte erklären, weshalb sein Vater nicht bei ihm sein konnte, doch Eric riss sich los und warf wütend den Schirmständer um. So außer sich hatte ihn Gustav noch nie erlebt.

„Eric, so beruhige dich doch“, eilte Josephine ihm nach. „Er wird nicht kommen, ich weiß es genau“, weinte er bittere Tränen der Enttäuschung. „Er wird es ganz bestimmt versuchen“, tröstete sie ihn. „Mutter ist nur wegen ihm gestorben. Ich hasse ihn!“

In einem solchen Moment halfen auch die einfühlsamsten Worte nicht. Das wusste Josephine nur zu genau aus eigener Erfahrung. Sie ließ ihn aufstehen, versuchte nicht ihn am Fortgehen zu hindern und redete nicht länger auf ihn ein. Gustav stand nach wie vor verunsichert an der Eingangstür. Selbst er, der sonst immer die richtigen Worte fand, wusste sich keinen Rat. Er nahm sich vor, baldmöglichst mit seinem Freund zu sprechen. So jedenfalls konnte es nicht weitergehen, der Junge brauchte seinen Vater jetzt mehr den jäh.

Wie ein geprügelter Hund schlich Eric die Treppe hinauf. Er schämte sich seiner Worte, kaum dass sie über seine Lippen gekommen waren, doch nun, da er sie ausgesprochen hatte, gab es kein Zurück mehr. Er hatte seine tiefste Überzeugung zum Ausdruck gebracht, hatte herausgeschrieen, was ihn seit dem Tod der Mutter bedrückte. Onkel Gustav würde mit seinem Vater darüber sprechen, so viel war klar und dann käme er in ein Internat. Eric biss die Zähne zusammen. Bevor das geschah, würde er lieber seiner Mutter folgen.

„Trotzkopf“, hatte sie ihn immer dann genannt, wenn er nicht mit sich reden ließ. „Immer mit dem Schädel direkt durch die Wand.“ Eric erinnerte sich ihrer Worte, als sprach sie gerade jetzt, in diesem Augenblick zu ihm. Er hatte sich auf sein Bett gelegt, ihr Kissen dicht an sich geschmiegt und den Kopf darin vergraben. Auch jetzt noch roch er ihren Duft, ihr Parfüm und er stellte sich vor, in ihren Armen zu liegen. Er sehnte sich nach ihren zarten Händen und der Wärme in ihren Worten. Wie nur sollte er ohne sie weiterleben? All sein Hoffen, diese Zuneigung nun bei seinem Vater zu finden, hatten sich an diesem Abend zerschlagen. Innerhalb einer Sekunde war ihm bewusst geworden, dass der sich niemals ändern würde.

Irgendwann riss ihn ein leises Klopfen an der Zimmertür aus der Lethargie seiner Gedanken. „Darf ich hereinkommen?“, fragte Josephine mit leiser Stimme. Und obwohl Eric ihr die Antwort schuldig blieb, saß sie kurz darauf neben ihm auf der Bettkante und strich ihm über den Rücken. „Er liebt dich, glaube mir, er kann es dir nur noch nicht zeigen. Gib deinem Vater Zeit, die Situation ist auch für ihn nicht leicht“, nahm sie seinen Vater in Schutz. „Warum ist er dann nicht bei mir?“, drehte sich Eric langsam zu Josephine herum. „Weißt du, Eric, Menschen gehen mit ihrem Schmerz auf die verschiedenste Weise um. Dein Vater stürzt sich halt in seine Arbeit, um mit seinem Kummer fertig zu werden.“

„Aber was ist mit mir? Ich habe nichts, womit ich mich trösten könnte.“ „Du hast mich“, entgegnete Josephine, während sie ihm zärtlich durch das Haar strich. „Du kannst jeder Zeit zu mir kommen und über alles mit mir reden. Du musst wissen, dass ich einen Bruder in deinem Alter hatte. Manchmal sprachen wir stundenlang miteinander. Ich hatte ihn sehr lieb. Genau wie dich.“ „Was ist mit ihm?“, schniefte Eric, die Trauer in ihrer Stimme wahrnehmend. „Er ist gestorben.“ „Das tut mir Leid.“

Vielleicht war es ihr gemeinsames Leid, vielleicht war es aber auch die Zärtlichkeit, mit der Josephine ihm begegnete. Auf jeden Fall aber, war das Gefühl, welches ihn von Stund an mit Josephine verband, ein ganz anderes, als jenes, welches er für seine Mutter empfunden hatte. Es war es eine ganz wunderbare Empfindung, die mit jedem Tag, den sie miteinander verbrachten, stärker und stärker zu werden schien.

„He, achte darauf, dass die Kugel möglichst gleichmäßig wird, sonst sieht unser Schneemann eher wie der eiserne Gustav aus“, lachte sie. Es war das erste Mal seit langem, dass Eric all den Kummer weit hinter sich lassen konnte. Einfach nicht daran dachte und unbeschwerten Spaß hatte. „Wie um alles in der Welt sollen wir den dicken Bauch nur auf seine Beine bekommen?“ Seite an Seite bugsierten sie, die schwere Schneekugel gemeinsam in die Höhe. Es schien, als könnten sie alles erreichen, wenn sie es nur gemeinsam angingen. Eric spürte die Kraft, die von Josephine ausging und er fühlte sich so stark wie nie zuvor.

„So, das wäre geschafft, nun fehlt nur noch der Kopf. Wenn du magst, kannst du ihn schon rollen, dann hole ich inzwischen einen Topf für den Hut, zwei Kohlen und einen Reisigbesen.“ „Vergiss die Möhre und Vaters Pfeife nicht“, rief Eric ihr nach, während sie im Haus verschwand.

Weder Josephine noch Eric hatten bemerkt, dass sie bereits seit einiger Zeit beobachtet wurden. Ein dunkler Schatten, der sich jetzt von der Stirnwand des gegenüberliegenden Hauses schälte und zügig die Straße überquerte. Eine Gestalt, die nicht so recht in diese vornehme Gegend passte und doch ein festes Ziel zu haben schien. Eric war so sehr mit dem Rollen der letzten Schneekugel beschäftigt, dass er nicht einmal das schmiedeeiserne Gartentor wahrnahm, welches in den alten Scharnieren schwerfällig ächzte.

Es war nicht leicht, eine möglichst runde Kugel zu rollen und doch war Eric mit dem Ergebnis seiner Bemühungen zufrieden. Längst hatte er den Kopf aufgesetzt und ihn am Hals des Schneemannes befestigt, als Josephine endlich in den Garten zurückkehrte. Er merkte ihr sofort an, dass sie verändert war. Irgendetwas schien sie plötzlich zu bedrücken. Eric erkundigte sich, was im Haus geschehen war, doch Josephine wich seinen Fragen aus.

 

-4-

 

Es war der Morgen des 24. Dezembers. Patenonkel Gustav stand mit einem Weihnachtsbaum, der ihn um mindestens einen Kopf überragte, vor der Tür. Als ihm Josephine öffnete, musste sie unwillkürlich lachen. Der Onkel war in den letzten Tagen öfter im Hause Hohenstein zu Gast. Eric bemerkte, wie sehr sich sein Onkel mit jedem seiner Besuche veränderte. Anfangs glaubte er, dass ihn sein Onkel mit der selbst für ihn ungewohnt fröhlichen Leichtigkeit aufmuntern wollte, doch dann fiel ihm auf, dass diese Unbeschwertheit immer dann auftrat, wenn Josephine in der Nähe war.

„Sag mal, Onkel Gustav, ist es eigentlich normal, wenn ein Mann wesentlich älter als seine Frau ist?“, stichelte er. Erics Onkel war von der Frage derart überrascht, dass er mitsamt der Leiter, von der aus er die Christbaumkugeln anbrachte, gehörig ins Wanken geriet. „Nun, äh“, stammelte er nachdenklich, nachdem er sich wieder gefangen hatte. „Wenn zwei Menschen eine tiefe Zuneigung füreinander empfinden, spielt der Altersunterschied eine nur geringe Rolle.“ Das war eigentlich nicht die Antwort, die Eric hören wollte, aber so leicht gab er nicht klein bei.

„Wenn man sich wirklich lieb hat, ist es also egal“, fasste Eric mit seinen eigenen Worten zusammen. „So ist es“, bestätigte Gustav. „Aber sag, gibt es einen besonderen Grund für deine Frage?“ Eric schürzte vielsagend die Lippen. „Nö, nicht direkt. Ich habe mir nur vorgestellt, wie es wohl wäre, wenn Vater Josephine heiraten würde.“ Schade um die bunt bemalte Christbaumkugel, die im nächsten Augenblick auf dem Parkettboden zerplatzte. „Wie kommst du nur auf eine derart absurde Idee?“, entgegnete Gustav, während er konsterniert von der Leiter stieg, um die Scherben aufzusammeln. „Ich habe gehört, wie du ihm geraten hast, sich eine neue Frau zu nehmen“, trieb es Eric auf die Spitze. „Dann hast du sicherlich ebenso mitbekommen, was er daraufhin erwiderte.“ „Ja, das habe ich, aber wenn ihm ein guter Freund zuraten würde, ändert er seine Meinung vielleicht.“

Wie von Eric beabsichtigt, meldete sich Gustavs schlechtes Gewissen. Offensichtlich hatte sein Patenkind Vertrauen zu Josephine entwickelt. Eine wie auch immer geartete Beziehung zwischen ihm und Fräulein Fährmann würde Erics neu gefundenes Zutrauen möglicherweise erschüttern. Nein, er durfte jetzt nicht an sich denken, das Glück des Jungen wog in dieser schweren Zeit ungleich schwerer.

„Du magst Fräulein Fährmann wohl sehr?“, schlussfolgerte Gustav, die Antwort des Jungen bereits erahnend. „Ja, sie ist sehr nett und ich kann über alles mit ihr reden.“ Sein Onkel holte tief Luft. „Also schön, wenn dir soviel daran liegt, kann ich ja mal mit deinem Vater sprechen.“ Der Mann mit dem welligen, zur Seite gekämmten Haar stieg die kleine Leiter wieder nach oben, um die letzten Christbaumkugeln anzubringen. In Erics Gesicht zeichnete sich ein spitzbübisches Grinsen ab. Seine Gedanken waren bei Josephine, wie so oft in der letzten Zeit und er träumte von ihr, umarmt zu werden, neben ihr auf dem Sofa zu sitzen und ihrer feinen Stimme zu lauschen. Sie verstand es, selbst die langweiligsten Geschichten so spannend zu zitieren, dass er sich kaum zu rühren wagte, um ja nicht auch nur eine einzige Silbe zu verpassen.

Erst als die Wohnzimmertür geöffnet wurde und der schwere Schritt seines Vaters auf dem Parkettboden widerhallte, platzten seine Gedanken wie Seifenblasen. „Vater! Ich wusste, dass du es schaffst!“ Glücklich und erleichtert stürmte Eric seinem Vater entgegen, umarmte ihn und schämte sich, ihm Unrecht getan zu haben. Hartmut Hohenstein strich seinem Sohn über das Haar. „Wenn ich dir verspreche, rechtzeitig hier zu sein, kannst du dich auch darauf verlassen.“ „Es gab Augenblicke, in denen ich beinahe nicht mehr zu hoffen wagte.“ „Eric“, mischte sich Josephine in das Gespräch. „Nun lass deinen Vater doch erst einmal zu Hause sein. Er ist von den Strapazen der langen Reise sicher müde und möchte sich zunächst etwas ausruhen.“ „In der Tat“, bestätigte der Geschäftsmann, „ich bin seit dem frühen Morgen unterwegs. Eine Tasse Tee und ein warmes Plätzchen wären jetzt genau das Richtige.“

 

Nachdem der Hausherr auch seinen Freund Gustav Rittmeier begrüßt hatte, zogen sich die Männer in den Herrensalon zurück. Als Josephine wenig später den Tee servierte, umhüllte sie bereits dichter Zigarrenqualm. „Das ist sehr zuvorkommend von Ihnen, Fräulein Fährmann. Ich hoffe, Eric hat Sie während meiner Abwesenheit vor kein ernsthaftes Problem gestellt?“ „Aber nein, wir haben uns ausgezeichnet verstanden“, beteuerte Josephine glaubhaft. „Ihr Sohn ist ein liebenswerter junger Mann.“ „Das freut mich außerordentlich.“

„Wie ist dein Eindruck, verehrter Freund?“, erkundigte sich Hartmut Hohenstein, nachdem Josephine den Salon wieder verlassen hatte. „Nun, wie von dir erbeten, habe ich während deiner Abwesenheit einige Male nach Eric gesehen und ich muss sagen, dass ich wirklich überrascht war, wie gut er sich mit den veränderten Gegebenheiten abgefunden hat. Es deutet einiges darauf hin, dass er in Fräulein Fährmann so etwas wie eine gute Freundin gefunden hat. Sie kommt selbst mit seinen Anomalien außerordentlich gut zurecht.“

Hartmut Hohenstein legte seine Stirn in Falten. „Genau darin lag die Sorge begründet, die ich mir auf meiner Reise machte“, räumte er ein. „Eine Bürde, für die es in Zukunft keinerlei Gründe mehr geben dürfte. Stell dir vor mein Lieber, Eric bat mich sogar zwecks Heirat bei dir vorzusprechen.“ Der Hausherr glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. „Eric befürwortet eine Heirat zwischen mir und Fräulein Fährmann?“, fasste er die Worte seines Freundes ungläubig zusammen. „Genauso ist es“, bestätigte dieser knapp.

Der Hausherr erhob sich und nahm zwei Gläser aus der Vitrine. „Darauf muss ich einen Cognac trinken. Du machst mir doch die Freude?“ „Gern.“ Hartmut Hohenstein schüttelte den Kopf. „Ich könnte der Vater dieser jungen Frau sein.“ „Es muss ja keine Liebesheirat sein“, befand Gustav Rittmeier. „Für Eric wäre eine solche Verbindung sicherlich von Vorteil und für dich sicherlich nicht unangenehm. Andererseits bist du, sagen wir mal, eine recht gute Partie. Was will eine junge Frau ohne Familie in der heutigen Zeit mehr?“ „Wie stellst du dir dieses Unterfangen vor? Ich kann Fräulein Fährmann doch nicht den Hof machen?“ Der Freund zuckte mit den Schultern. „In der Vergangenheit wurde schon so manche Vernunftehe geschlossen.“

Der Witwer leerte sein Glas, stellte es zur Seite und rieb sich den Nacken. Ein begehrliches Lächeln umspielte seine Mundwinkel. „Ich muss zugeben, dass der Gedanke als solches einen gewissen Reiz auf mich ausübt. Nun denn, ich werde darüber nachdenken. Aber nun wollen wir die Geduld von Eric und Fräulein Fährmann nicht länger auf die Probe stellen und uns zu ihnen gesellen, um mit ihnen den Heiligen Abend zu begehen.“ Gustav nickte ihm zufrieden zu. Er hatte das gegebene Versprechen eingelöst und insgeheim rechnete er sich auch einen Vorteil für sich selber aus.

Es war das erste Weihnachtsfest ohne die verblichene Ehefrau und Mutter und doch blieb der von Hartmut Hohenstein befürchtete Kollaps aus, was eindeutig als Verdienst von Fräulein Josephine anzusehen war. Sie verstand es trefflich, den Abend mit Hausmusik, einstudierten Gedichten und allerlei Leckereien auszuschmücken. Eric überreichte Geschenke, die er und Josephine gemeinsam gebastelt hatten und immer dann, wenn die Stimmung melancholisch wurde, fiel der jungen Frau sofort etwas ein, um die Stimmung aufzuheitern.

„Ich möchte mich aufrichtig bei Ihnen bedanken, Josephine“, pries Hartmut Hohenstein, nachdem Eric im Bett und auch Gustav Rittmeier gegangen waren. „Ich würde mich sehr darüber freuen, wenn wir diesen wundervollen Abend bei einem Glas Wein beschließen könnten.“ Josephine zeigte sich nicht sonderlich überrascht. Nach einer so langen Zeit der Abwesenheit gab es einiges zu besprechen. Sie wunderte sich nur, dass dieses Gespräch bereits am Tag seiner Ankunft stattfinden sollte.

„Nun, Josephine… Es ist Ihnen doch hoffentlich recht, wenn ich Sie bei Ihrem Vornamen nenne?“, unterbrach er sich, um bereits im nächsten Augenblick, und ohne ihre Antwort abzuwarten, mit seiner Einlassung fortzufahren. „Ich freue mich zu sehen, wie gut Sie mit Eric zurechtkommen. Der Junge ist ja quasi nicht wieder zu erkennen.“ Ein verlegenes Lächeln huschte über ihr unschuldsvolles Gesicht, brachte etwas Farbe auf ihre zarten Wangen. „Eric ist ein guter Junge, voller Energie und verschiedenartigster Interessen. Er hört aufmerksam zu und lernt sehr fleißig“, lobte sie überschwänglich. „Es sieht mir ganz so aus, als habe er in Ihnen die richtige Lehrerin gefunden.“

Der Hausherr erhob sein Glas. „Lassen Sie uns auf diesen gelungenen Abend anstoßen und darauf, dass Sie das Schicksal in mein Haus geführt hat.“ „Ich danke Ihnen, Herr Hohenstein“, entgegnete Josephine manierlich. „Und nun sollten wir mit diesem hochgestochenen Sie aufhören. Ab nun bitte nur noch Hartmut.“ „Aber…“ „Keine Widerrede, meine Liebe. Wir leben schließlich nicht mehr zu Zeiten der Standesklüngel.“ Das Klirren der Gläser besiegelte die neue Ordnung.

 

-5-

 

Ebenso unaufhaltsam wie die fantasievollen Gebilde am tiefblauen Himmel eines klaren Wintertages, zogen auch die Zeiger auf der Stubenuhr ihre Bahnen und auf Minuten folgten Stunden und aus Stunden wurden Tage und Wochen. Hartmut und Josephine waren sich näher gekommen, verstanden sich, wie es Freunde tun. Eric fühlte sich in ihrer Mitte gut aufgehoben. Der Einfluss, den die junge Frau auf das tägliche Leben der Familie gewann, vergrößerte sich zusehends. Gustav staunte nicht schlecht, als ihm eines Tages das neue Telefon auffiel. Selbst die verstorbene Ehefrau seines Freundes hatte es in all den Jahren nicht fertig gebracht, ihren Gatten von der Notwendigkeit eines eigenen Fernsprechers zu überzeugen. Zumindest daheim wollte sein Freund Ruhe haben.

Nun hatte das Kommunikationszeitalter also auch im Hause der Hohensteins Einzug gehalten. Sicherlich eine vernünftige Anschaffung, wenn man sich die häufigen Geschäftsreisen des Hausherrn vor Augen führte. „Wie ich sehe, hast du dir auch ein Fernsehgerät zugelegt“, staunte Gustav, als er das Wohnzimmer betrat. „Wie du ja weißt, verkaufe ich die Apparate“, erklärte Hartmut. „Stell dir vor, ein Kunde besucht mich daheim. Was soll er von mir denken, wenn ich die Errungenschaften unserer modernen Zeit preise, selbst aber nicht daran Anteil nehme?“ Was waren das nur für neue Klänge, die Gustav da aus dem Mund seines sonst eher konservativen Freundes vernahm? Hier hatte sich offenkundig einiges verändert.

„Der Grund, weshalb ich dich zu mir bat, liegt einmal mehr in einer Geschäftsreise begründet, die ich bereits in der kommenden Woche antreten werde. Sie wird mich diesmal für die Dauer von etwa drei Wochen nach Südfrankreich führen. Ich wollte dich bitten, gelegentlich hier vorbeizuschauen.“ Gustav Rittmeier nickte seinem Freund zu. „Du kannst dich auf mich verlassen, Hartmut.“ „Das weiß ich, mein Freund.“ Der Geschäftsmann legte die Hand auf die Schulter seines Vertrauten. „Es ist schön, einen Gefährten an seiner Seite zu wissen, von dem man weiß, dass man auf ihn zählen kann.“

 

Auch wenn Josephine ihm mit einer Engelsgeduld jede einzelne Szene beschrieb, hätte Eric alles dafür gegeben, die Bilder, die da über die Mattscheibe des neuen Fernsehgerätes huschten, wenigstens einmal wirklich sehen zu können. Trotzdem machte ihm die ungewohnte Zerstreuung riesigen Spaß. Die Zeit vor dem Flimmerkasten, wie Onkel Gustav den Apparat bei seinen Besuchen nannte, verging wie im Fluge. Für Eric war es eine völlig neue Erfahrung. Es schien ihm, als zog die Welt nicht mehr ungeachtet an ihm vorüber, sondern mitten durch die Wohnstube. Am meisten interessierte er sich für die Nachrichten. Wenn Josephine dann die Bilder beschrieb, die zum besseren Verständnis der Berichte gezeigt wurden, verspürte er zum ersten Mal in seinem Leben den Drang, mehr von der Welt da draußen zu erleben.

Hartmut Hohenstein befand sich seit etwa zwei Wochen auf seiner Geschäftreise in Frankreich. Dreimal hatte er seinen Sohn bereits angerufen. Auch wenn es zunächst unheimlich für ihn war, die Stimme des Vaters über eine so große Entfernung so deutlich zu vernehmen, gewöhnte sich Eric sehr schnell an die neue Technik. Josephine hatte ihm erklärt, wie der Apparat funktionierte und was er im Notfall zu beachten hatte. Anfangs saß er mitunter stundenlang neben dem Gerät und wartete voller Ungeduld darauf, dass es klingelte.

Es war die Nacht nach einem Anruf seines Vaters. Eric lag noch lange Zeit wach und dachte an seine Mutter, über all die Dinge, die sich seit ihrem Tod verändert hatten und er dachte an Josephine, die wie eine gute Freundin für ihn war. Er sann gerade darüber nach, wie er es anstellen konnte, seinen Vater mit ihr zu verkuppeln, als er im Garten knirschende Schritte vernahm. Irgendjemand schlich über den harsch gewordenen Schnee. Gerade als er das Bett verlassen wollte, um sich an das Fenster zu schleichen, erstarben die Geräusche. Er hielt inne, lauschte noch einen Moment, ehe er sich wieder beruhigt niederlegte.

Kurz darauf schreckte ihn ein geräuschvolles Scheppern aus dem Schlaf. Oder war's ein Traum? Hatte er überhaupt schon geschlafen? Zumindest kam es ihm so vor. Die Schritte unten im Garten fielen ihm wieder ein, ließen Unruhe in ihm aufkommen. Josephine, schoss es ihm durch den Kopf. Mehr Angst um sie als um sich selbst, verließ er das Bett. Auf leisen Sohlen schlich er durch das Zimmer. Vorsichtig tastete er nach dem erstbesten Gegenstand, den er zu ihrer Verteidigung nutzen konnte. Eine Schere, die noch vom Unterricht liegen geblieben war.

Lautlos öffnete er die Tür zum Flur, vorsichtig trat er hinaus, schlich barfuss zum Treppenhaus und lauschte in die Dunkelheit. Eric hielt den Atem an und vernahm ein leises Wimmern. Dann wieder Stille, unsägliche Stille. Da war es wieder! Jetzt etwas lauter, fast ein Stöhnen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Er wagte es nicht, sich zu rühren, aber da, wo er sich gerade befand, konnte er nicht bleiben. Er konnte doch nicht tatenlos mit anhören, wie Josephine um ihr Leben kämpfte. Stufe um Stufe stahl er sich die Treppe hinunter. Bei jedem Knarren hielt er inne, horchte, ob er Schritte hörte, die sich ihm näherten. Erst dann setzte er seinen Weg fort. Die Schere nach wie vor fest umklammernd, glitt er über die frisch gebohnerten Dielen.

Das Wimmern wurde lauter, oder war es doch ein Stöhnen, welches da aus Josephines Zimmer auf den Flur hinaus drang? Es musste jemand bei ihr sein, jemand, der ihr entsetzlichen Schmerz zufügte. Er konnte nicht länger warten, er war der Einzige, der ihr jetzt noch beistehen konnte.

Eric riss die Tür auf, hob die Hand, mit der er die Schere umklammerte, und stieß einen zu allem entschlossenen Schrei aus, während er dorthin rannte, von wo aus er das Wimmern vernommen hatte. „Lass sie los!“, schrie er. „Lass sie sofort los!“ Augenblicklich verstummte das Wehklagen und pures Entsetzen hüllte sich in tiefes Schweigen.

Der Unbekannte, dessen Körper sich über dem von Josephine befand, schreckte hoch. Das diffuse Licht der Nachttischlampe spendete ihm gerade genug Licht, um in dem Angreifer einen Jungen zu erkennen. „Es ist Eric“, flüsterte eine gehetzte Stimme. Der Mann sprang aus dem Bett, riss seinen Arm hoch und wehrte gerade noch die wütende Attacke des Jungen ab. Eric stolperte, kam zu Fall, knallte mit der Stirn gegen den Bettpfosten und verlor die Besinnung.

Als er wieder zu sich kam, lag er in Josephines Schoss und hatte fürchterliche Kopfschmerzen. „Was ist geschehen?“, fragte er, noch nicht wieder bei klarem Verstand. „Du musst einen Alptraum gehabt haben und aus dem Bett gefallen sein“, log Josephine. „Ich hörte ein Geräusch und fand dich schließlich mit einer blutenden Wunde am Kopf vor deinem Bett liegend.“ „Ich kann mich nicht erinnern“, stammelte Eric.

Die Erinnerung an jenes nächtliche Ereignis blieb auch weiterhin in den Tiefen seines Bewusstseins verborgen. Mit dem Abheilen seiner Wunde kehrte auch Josephines nächtlicher Liebhaber in das Haus in der Leibnitzstraße zurück. Zunächst bemerkte Eric nichts von dem, was im Stockwerk unter ihm geschah, doch er spürte die Veränderungen, die sich nach und nach bei Josephine einstellten. Nichts Gravierendes, eher Kleinigkeiten. So strahlte sie nicht mehr diese Ruhe aus, die Eric so sehr an ihr schätzte, verlor sogar schon mal die Contenance, wenn er ihr einen Schabernack spielte, oder nur in seinem Essen herumstocherte. Sicher, sie war nach wie vor lieb und nett zu ihm, aber er spürte, dass es da etwas gab, das sie von Tag zu Tag mehr veränderte.

Es war die Nacht vor dem 5. April, dem Tag an dem Herbert Hohenstein von seiner Reise nach Frankreich zurück erwartet wurde. Eric hatte am Abend zuvor noch mit seinem Vater telefoniert. Diesmal fieberte er dessen Rückkehr mit noch größerer Ungeduld entgegen, was nicht an dem besonderen Geschenk lag, welches ihm der Vater versprochen hatte, sondern vielmehr an seiner Sorge um Josephine.

Irgendwann in der Nacht schreckte Eric auf. Er hatte ein lautes Poltern vernommen. Zunächst noch unsicher, ob es sich nicht wieder um einen Alptraum handelte, sammelte er sich erst einmal, ordnete seine Gedanken und lauschte in die Nacht. Minutenlang lag er so da, horchte angestrengt auf jedes Geräusch, doch abgesehen von den Katzen aus der Nachbarschaft, die sich einmal mehr durch den Garten balgten, war nichts zu hören, was ihn beunruhigte. Gerade, als er jenes Poltern als Teil eines Traumes abtun wollte und langsam wieder in die Dämmerung des Schlafes hinüber glitt, riss ihn ein entsetzlicher Schrei aus den Federn. Er hatte keinen Zweifel, diesmal war er sich sicher, das war kein Traum, das war der Schrei einer Frau!

Ein Déjà-vu und mit einem Male war auch die Erinnerung an jene Nacht wieder da, in der er dieses Wimmern aus Josephines Zimmer vernommen hatte und er griff sich mit der Hand an die Stirn. Er war nicht aus dem Bett gefallen und es war auch kein Traum, da war er sich nun sicher. Da war dieser Geruch, ein penetrantes Parfüm. Er konnte sich wieder genau erinnern. Die Schere in seiner Hand, wie er sie hob und auf den Unbekannten zu rannte und dann der Augenblick, in dem er stolperte und zu Boden ging.

All dies zog in Sekunden an ihm vorüber, verwirrte ihn zunächst, erhöhte aber gleichzeitig seine Entschlossenheit, Josephine zu Hilfe zu eilen. Diesmal schlich er sich nicht über den Flur und das Treppenhaus nach unten, er hastete so schnell er nur konnte hinunter. Als er an Josephines Zimmer anlangte, fand er die Tür weit offen stehend vor. Er rief ihren Namen. Dann betrat er das Zimmer und sofort stieg ihm das Parfüm in die Nase.

„Josephine, bist du hier?“ Doch auch jetzt blieb ihre Antwort aus. In diesem Moment wurde ihm bewusst, dass er nicht einmal eine Waffe mit sich trug. Angst stieg in ihm auf, während er sich Schritt um Schritt weiter in das Zimmer wagte. „Josephine, Josephine!“ Plötzlich stieß er mit dem Fuß an etwas Weiches, das auf den Boden lag. Er verlor das Gleichgewicht, ruderte mit den Händen, versuchte nach irgendetwas zu greifen, um Halt zu finden, doch alles was er fand, war die Dunkelheit, die um ihn herum herrschte. Jene verdammte Dunkelheit, die ihn Zeit seines Lebens begleitete.

Er stürzte, schlug lang hin und tat sich an der Schulter weh, doch das war im Augenblick zweitrangig. Über was um Himmels Willen war er gestolpert? Ein schlimmer Verdacht kam in ihm auf. Seine Hände tasteten über den Fußboden, suchten und fanden nackte Haut. Eric erschrak, er wich zurück, hielt inne, sein Herz raste. Er musste all seinen Mut zusammennehmen, um seine Hand erneut auszustrecken. Zaghaft tastete er über den am Boden liegenden Körper, glitt mit den Fingern über die Schultern, den Hals und das Gesicht. Und wenn bis zu diesem Zeitpunkt noch Zweifel in ihm bestanden hatten, so war er sich in diesem Moment sicher, dass der Mensch, der da vor ihm lag, niemand anderer als Josephine war.

„Was ist mit dir?“, rüttelte er sie verzweifelt. „Komm zu dir!“ Doch die junge Frau rührte sich nicht. Eric beugte sich über sie, hielt sein Ohr über ihren Mund, um ihre Atmung zu hören, als er eine feuchte, warme Flüssigkeit an seinen Händen bemerkte. „Blut!“, schoss es ihm durch den Kopf. Er rieb es zwischen seinen Fingern, ehe er begriff, was dies möglicherweise bedeutete.

Vielleicht war es noch nicht zu spät, vielleicht war Josephine noch am Leben, vielleicht konnte ihr noch geholfen werden. Das Telefon fiel ihm ein. Eric sprang auf, rannte aus dem Zimmer hinüber in die Wohnstube, dorthin, wo der Fernsprecher stand, und wählte die Notrufnummer der Polizei. Nachdem er dem Beamten so gut es ging geschildert hatte, was vorgefallen war, kauerte er sich auf einen der Sessel, zog die Beine an und rollte sich wie ein Igel zusammen.

 

-6-

 

„Es ist unfassbar“, suchte Hartmut Hohenstein nach den passenden Worten. „Hat die Polizei schon eine Spur?“ erkundigte sich Vetter Willi. „Nein, bislang gibt es nicht den geringsten Verdacht. Wir stehen vor einem Rätsel. Die Polizei ermittelt gerade in der Vergangenheit von Fräulein Fährmann. Eric konnte nur sehr vage Angaben machen. Er steht noch immer unter Schock.“ „Kein Wunder, wenn man bedenkt, was der Ärmste mitmachen musste“, schüttelte Mine mit dem Kopf.

„Er und Josephine verstanden sich mittlerweile ausgesprochen gut. Ich weiß beim besten Willen nicht, wie ich ihm erklären soll, dass Fräulein Fährmann auf dem Weg ins Krankenhaus verstarb.“ „Er weiß es noch nicht?“, erkundige sich Mine Doers erstaunt. „Du musst es ihm sagen.“ Hartmut Hohenstein ging seufzend zum Fenster hinüber und blickte auf den Garten vor seinem Haus. „Ja natürlich, dessen bin ich mir bewusst, aber die Sache hat ihn verständlicherweise sehr mitgenommen. Es ist mir ein Rätsel, wie es weitergehen soll. Der Arzt hält es für ratsam, wenn Eric vorerst nicht an den Ort des Verbrechens zurückkehrt und er sollte von Menschen betreuen werden, die ihm bekannt sind.“

„Das ist also der Grund für deine Einladung“, brachte es Willi Doers verschnupft auf den Punkt. „Du willst deinen Jungen zu uns abschieben!“ „Ich kann deinen Ärger durchaus versehen, Willi, aber außer euch wüsste ich niemand, zu dem ich Eric geben sollte. Ihn in dieser Situation in ein Internat zu geben, wäre sicherlich falsch. Abgesehen davon würde ihm das Leben auf dem Lande gut tun.“ „Da gibt es doch überhaupt keine Frage“, entgegnete Mine, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern. Ihr Ehemann, der Bäckermeister, sah dies offensichtlich kritischer. „Ein blindes Kind erfordert viel Zuwendung. Woher willst du die Zeit dafür nehmen, Mine?“

„Eric ist selbstständiger, als ihr es euch vorstellen könnt“, warf Hartmut Hohenstein ein. „Er muss nicht rund um die Uhr betreut werden, er will es auch gar nicht. Abgesehen davon werde ich selbstverständlich für seine Unterkunft und alle anderen Aufwendungen zahlen.“

„Was wäre denn, wenn unser Richard im Krieg sein Augenlicht verloren hätte?“, warf Mine ihrem Mann vor. „Hättest du dann auch erst nach der Zeit und dem Aufwand gefragt?“ Willi Doers kannte seine Frau. Wenn sie diesen energischen Gesichtausdruck auflegte, verhallte jedes Gegenargument ungehört im Raum. „Es wäre ja auch nur bis nach dem Sommer“, beschwichtigte Hartmut Hohenstein den Vetter seiner verstorbenen Frau. „Also schön, wir werden es mit dem Jungen versuchen, aber das Geschäft darf nicht darunter leiden“, lenkte der Mann mit der fliehenden Stirn notgedrungen ein. „Kann man den Knaben wenigstens vormittags in die Schule geben?“, schob er im nächsten Augenblick nach. „Wir werden sehen, wie sich Eric bei uns einlebt“, befand Mine vielsagend. Womit sie sich dem verzweifelten Vater zuwandte. „Es wird ihm bei uns an nichts mangeln.“ „Dessen bin ich mir sicher. Ich hoffe, meine Geschäfte bis zum Herbst so weit geregelt zu haben, dass ich mich besser um Eric kümmern kann.“

Mine ergriff die von harter Arbeit zerfurchte Hand ihres Mannes. „Der Willi und ich sind einfache Leute, aber wir werden alles für den Jungen tun.“

 

-7-

 

‚Bäckerei Willi Doers' stand auf dem Schild, das an einer Kette im Schaufenster baumelte. Das Haus an der Cremlinger Hauptstraße blickte auf eine wechselvolle Geschichte zurück. Auch wenn Willi Doers die Bäckerei von seinem Vater übernommen hatte und damit auf eine gewisse Tradition verweisen konnte, hatte er in seinem Leben so manches Leid miterleben müssen. Die beiden Kriege waren nicht spurlos an ihm und an dem kleinen Ort vorübergezogen, der sich etwa 10 Kilometer östlich von Braunschweig am Rande des Elmhöhenzugs befindet.

Mit den Flüchtlingen platzte Cremlingen noch immer aus allen Nähten. Die Einwohnerzahl hatte sich annähernd verdoppelt, was wiederum gerade auf der Hauptstraße eine Eisdiele nach der anderen wie Pilze aus dem Boden schießen ließ. Alles schien irgendwie im Aufbruch und doch herrschte noch diese gewisse ländliche Beschaulichkeit, von der sich Hartmut Hohenstein eine nachhaltige Erholung seines Sohnes erhoffte. Das schlechte Gewissen, welches ihn plagte, weil er Eric gewissermaßen zu seinem Vetter abschob, ließ sich dennoch nicht beruhigen. Sicher, der Verstand sagte ihm, dass es nur diesen Weg gab, um für Eric zu sorgen, er sagte ihm aber auch, dass sein Sohn ihn gerade jetzt am meisten brauchte. Den Ausschlag gab schließlich seine Angst vor der eigenen Courage.

Hartmut Hohenstein war kein Mensch der sensiblen Worte. Er trug sein Herz nicht auf der Zunge. Er entschied sich das zu tun, was er am besten konnte, nämlich das Geld zu verdienen, mit dem er Eric zumindest in dieser Hinsicht ein sorgenfreies Leben bieten konnte. Überdies musste er zunächst seine eigenen Gedanken ordnen und die Ruhe suchen, die er nach dem Tod seiner Frau nicht gefunden hatte.

 

Während sich vor der Bäckerei einige Schaulustige versammelten, um sich den Opel Kapitän von Hartmut Hohenstein genauer anzusehen, saßen Eric und sein Vater im Obergeschoss des Hauses. „Ich kann verstehen, wenn du jetzt traurig bist, mein Sohn“, brummte der Geschäftsmann verlegen. „Es ist zu deinem Besten. Du wirst sehen, dass es dir hier sehr gut gehen wird. Deine Tante Mine und der Onkel meinen es gut mit dir.“ Hartmut Hohenstein sah nachdenklich aus dem Fenster, hinunter auf die Straße, wo sich immer mehr Neugierige einfanden.

„Sie sind recht einfache, aber anständige Leute. Ich erwarte ihnen gegenüber von dir Gehorsam und Respekt.“ „Jawohl, Vater“, entgegnete der Junge auf dem Bett. „Du wirst mehr als bisher auf dich gestellt sein, was deiner Entwicklung nur förderlich sein kann. Enttäusche mich nicht.“ Eric war den Tränen nahe, aber er hatte gelernt, mit seinem Kummer umzugehen. Ein deutscher Junge weint nicht, hatte ihm der Vater schon früh eingeimpft. Ein Relikt aus anderen Zeiten.

Hartmut Hohenstein wippte nervös auf den Zehen. Nicht etwa, dass er Angst um seinen Wagen hatte, er war einfach kein Freund vieler Worte. Abschied nehmen war ohnehin nicht seine Sache. „Ein Telefon gibt es in diesem Hause nicht, aber ich werde dich, so oft es mir möglich ist, besuchen.“ Der Mann am Fenster wandte sich seinem Sohn zu. „Solltest du etwas benötigen, kannst du dich an Tante Mine wenden. Sie wird dafür sorgen, dass du es bekommst.“ „Danke, Vater“, quittiere Eric gehorsam. „Dann ist nun alles gesagt. Ich werde mich jetzt auf den Weg machen. In etwa 4 Wochen werde ich von meiner Geschäftsreise aus Italien zurück sein.“ Er strich Eric über das Haar. „Hast du einen Wunsch, mein Sohn? Gib es etwas, das ich dir mitbringen soll?“ „Das, was ich mir wünsche, kannst du mir nicht mitbringen“, entgegnete Eric traurig. Hartmut Hohenstein seufzte. Nein, ein neues Augenlicht gab es nicht zu kaufen, doch davon sprach Eric nicht.

 

Als der Wagen seines Vaters davonfuhr, stand Eric am Fenster und lauschte ihm nach, bis der kräftige Klang des Motors nicht mehr zu vernehmen war. Unter tausenden hätte er den Wagen erkannt. Es würde lange dauern, ehe er ihn wieder hörte, dessen war er sich bewusst. Nun suchten sich doch einige Tränen ihren Weg über die farblosen Wangen. Ein deutscher Junge weint nicht. Verdammt noch mal, ein deutscher Junge weint nicht!

Als es hinter ihm an der Türe klopfte, wischte er sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht. „Herein!“, quoll es dünn über seine Lippen. Es klopfte ein weiteres Mal, diesmal lauter, eindringlicher. Er riss sich zusammen, hole tief Luft und antwortete vernehmlicher.

„Gefällt dir dein Zimmer, mein Junge?“, fragte Mine mit mitleidigem Gesichtsausdruck. „Ja, es ist sehr schön“, entgegnete Eric dankbar, obwohl er bislang noch keinen einzigen Gedanken darauf verschwendet hatte. „Wir werden sicher gut miteinander auskommen“, hoffte sie, wie es nun einmal ihrer Art entsprach. „Ich habe dir etwas Leckeres zum Abend gerichtet. Hoffentlich magst du Klümplersuppe?“ In Erics Gesicht stellte sich Neugier ein. „Nach einem schlesisches Rezept meiner Mutter“, erklärte Mine, der die Verwunderung im Gesicht des Jungen nicht entgangen war. „Es wird dir schon schmecken“, schloss sie zuversichtlich. „Wenn du soweit bist, würde ich dich jetzt gern hinunterbringen.“

Die folgenden Tage waren von der Erkundung des Hauses und den Erklärungen geprägt, die Mine an ihren Zögling weitergab. Was auf Eric zunächst wie ein gordischer Knoten inmitten eines Labyrinths wirkte, entwirrte sich mit der Zeit durch den von Mine gespannten Ariadnefaden, dem Eric aufmerksam folgte. Während dieser Zeit wich ihm die Bäckersfrau nicht von der Seite, wachte wie ein Schutzengel über ihn und stand selbst da noch wie ein zweiter Schatten neben ihm, als Eric die alltäglichen Dinge des Lebens in die eigenen Hände nehmen wollte.

„Warte, mein Junge, ich helfe dir“, hörte er sie sagen. Wie so oft in den vergangenen Wochen hatte er das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Die Tante erstickte ihn förmlich mit ihrer Hilfsbereitschaft. Eric legte das Messer zur Seite und seufzte. Natürlich wollte er nicht undankbar erscheinen, aber so konnte es unmöglich weiter gehen. Nur wie um alles in der Welt sollte er der Tante klar machen, dass er mittlerweile recht gut allein zurechtkam?

„Das ist doch viel zu gefährlich für dich“, nahm sie das Messer an sich. „Zu Hause habe ich mir meine Brote selber geschmiert“, widersprach er vorsichtig. „Das brauchst du hier nicht“, lächelte Mine sanftmütig. „Ich würde es aber gern“, entgegnete Eric gequält. „Wie leicht könntest du dich dabei verletzen und dein Herr Vater würde uns diesbezüglich Vorwürfe machen. Nein, nein“, winkte sie entschieden ab, „man stelle sich nur einmal vor, du würdest dir einen Finger absäbeln.“ „Nun ist es aber gut, Mine!“, meldete sich der Onkel zu Wort. Willi Doers faltete die Zeitung zusammen und legte sie zur Seite. „Der Junge ist doch kein Schwachkopf.“

Eric wusste bislang nicht so recht, wie er seinen Onkel einschätzen sollte. Der Bäckermeister war ein eher ruhiger Mann, der entweder in der Backstube oder in dem kleinen Laden beschäftigt war. Wenn er nicht arbeitete, lag er in dem Alkoven und schlief. Heue aber meldete er sich also zu Wort und dies in einer Weise, die selbst Mine aufhorchen ließ. „Wenn du magst, kannst du mich in die Backstube begleiten, Junge.“ „Was soll er denn dort?“, runzelte die Tante ihre Stirn. „Wenn er will, kann er mir ein wenig zur Hand gehen.“ Willi Doers wandte sich Eric zu. „Und?“ „Ich helfe euch gern, Onkel.“

Von diesem Tage an war das Eis zwischen Eric und seinem Onkel gebrochen. Die Arbeit in der Backstube mache Eric Spaß. Sie lenke ihn von dem, was geschehen war, ab und stärkte sein Selbstvertrauen. Eines Tages, als er gerade eine Stiege mit frischen Semmeln in den Laden tragen wollte, wurde er Zeuge eines Gesprächs zwischen seiner Tante und dem Lehrer Kling.

„Warum schickt ihr den Jungen nicht zu mir in die Schule? Ich werde schon auf ihn achten.“ „Wie sollte dies gehen?“, entgegnete die Tante verblüfft. „Soweit ich weiß, wurde Eric stets zu Hause unterrichtet.“ „Nun, ich würde den Knaben notfalls auch daheim unterrichten, aber ich halte es für ratsam, wenn er auch mit anderen Kindern zusammenkommt.“ Mine machte ein nachdenkliches Gesicht. „Der Vater des Jungen hat sich dieser Tage angesagt. Ich werde die Sache mit ihm besprechen und Ihnen dann Bescheid geben.“

Eric konnte kaum glauben, was er gerade mitgehört hatte. Sollte es tatsächlich möglich sein, dass er eine ganz normale Schule besuchte, mit anderen Kindern auf dem Pausenhof spielte und mit ihnen Streiche ausheckte? Ein Gedanke, der ihn in den nächsten Tagen nicht mehr loslassen sollte. Die Ungeduld, mit der er den Besuch des Vaters herbeisehnte, lag vor allem darin begründet, wie dieser auf den Vorschlag des Schulmeisters reagieren würde und weniger auf das Geschenk, welches er ihm versprochen hatte.

So war die Freude über das Eintreffen des Vaters dementsprechend. Geradezu überschwänglich fiel daher der Empfang aus. Hartmut Hohenstein war mehr als zufrieden mit seinem Sohn, als er von dessen Arbeit in der Backstube hörte. „Das Leben auf dem Lande scheint dem Jungen wohl zu tun“, stellte er befriedigt fest. „Eric hat sich gut bei uns eingelebt“, lobte Mine und auch Willi kam nicht umhin, der Aussage seiner Frau zuzustimmen. „Ich dache nicht, dass es so gut funktioniert“, räumte er ein.

Die Erwachsenen unterhielten sich bereits eine geschlagene Stunde. Eric hatte sich auf dem Stuhl im Flur niedergelassen, gleich neben der Garderobe mit dem großen Spiegel. Er lauschte, versuchte so viel wie möglich von dem was jenseits der Tür gesprochen wurde aufzuschnappen, doch mit den Wortfetzen, die nach draußen drangen, konnte er nicht sonderlich viel anfangen. Warum fragte man ihn nicht? Schließlich ging es um niemand anderen. Eric kaute nervös an seinen Fingernägeln, lege das Ohr gegen die schwere Holztür, hielt immer wieder den Atem an und konnte sich doch keinen Reim auf das machen, was an Worten zu ihm hinaus drang.

Wie erschrak er erst, als die Tante unvermittelt vor ihm stand. Die Türklinke noch in der Hand, schüttelte sie, mit einem verschmitzten Schmunzeln, ihren Kopf. „Dein Herr Vater verlangt nach dir“, sagte sie schließlich. Obwohl Eric in den Knien zitterte, blieb er direkt neben seinem Vater stehen. „Du hast dich offenbar recht gut bei Tante und Onkel eingelebt. Was mich hocherfreut, wie du dir denken kannst“, begann er in seiner betont sachlichen Art. „Nun wurde seitens des Schulmeisters die Frage gesellt, ob du am Unterricht der hiesigen Schule teilnehmen kannst. Ich frage dich nun, ob du dir dieses zutrauen würdest?“

„Klar!“, platzte es geradezu überschwänglich aus Eric hervor. „Ich meine..., ich werde mich nach Kräften bemühen.“ „Genau das wollte ich von dir hören, mein Sohn“, bekundete Hartmut Hohenstein zufrieden. „Dir muss allerdings bewusst sein, dass du der einzige Blinde unter lauter Sehenden sein wirst“, schob sein Vater mahnend nach. „Ich weiß, aber das stört mich nicht.“ Im Grunde war es genau das, was Eric wollte. Endlich ein ganz normaler Junge sein.