Detektei Lessing

 

Band 31

 

Schweigegeld

 

1

 

„Verdammte Mücken, wenn die mich weiter so piesacken, habe ich bald kein Blut mehr“, fluchte Tristan, der von seinen Freunden auch Moppel genannt wurde. „Du hast eben zu süßes Blut“, merkte Konstantin alias Conni an. „Ich habe keinen einzigen Stich.“ „Zumindest von keiner Mücke“, nahm ihn Gero scherzhaft hoch. Conni verzog das Gesicht zu einer Fratze. „Vielleicht sollten wir etwas Gas geben, damit wir die Plane rechtzeitig drauflegen können“, mahnte Moppel zur Eile. „Da hinten kommen schon dunkle Wolken.“ Wobei er auf den Himmel in Richtung Fluss deutete. „Was ist das denn?“, entdeckte Gero, dass etwas in der Oker trieb. „Wo?“, starrte Moppel zum Himmel. „Da treibt doch etwas im Wasser“, präzisierte Gero seine Beobachtung. „Los, kommt mit, das sehen wir uns genauer an.“

Moppel und Konstantin sahen sich genervt an. „Was hat er denn jetzt wieder gesehen?“ Schließlich folgten sie Ihrem Freund an den Fluss. „Vielleicht wartest du mal“, rief ihm Moppel hinterher. „Beeilt euch, sonst ist es abgetrieben.“

Als die Jungen ihren Freund erreichten, stand dieser wie versteinert am Ufer und starrte auf das Wasser. „Was ist es denn nun“, folgte Connis Blick dem merkwürdig aussehenden Bündel. „Sieht aus wie ein Sack mit Klamotten.“ „Erkennst du denn die Arme und die Beine nicht?“, erkannte nun auch Moppel, was da vor ihnen im Wasser schwamm. „Das ist ein Mensch!“ „Glaubst du wirklich?“, war Conni noch immer nicht überzeugt. „Na klar Mann, was denn sonst“, fing sich Gero wieder. „Der ist bestimmt tot“, befand Moppel. „Einer von uns muss reinspringen und dann müssen wir ihn gemeinsam aus dem Wasser holen“, schlug Gero vor. „Einen Toten? Ohne mich!“, blockte Moppel ab. „Dann lasst uns einen langen Stock holen und ihn damit ans Ufer ziehen“, schlug Conni vor. „Ich weiß auch schon, wo wir einen herkriegen“, hatte Gero eine Idee und rannte los. „Lasst ihn nicht aus den Augen!“, rief er seinen Freunden zu, bevor er zwischen den Bäumen verschwand.

„Wo will er denn so schnell einen Stock herkriegen, der lang genug ist?“, rieb sich Moppel nachdenklich den Hinterkopf. „Na los, wir dürfen den Toten nicht verlieren“, mahnte Konstantin zur Eile. „Ich habe noch nie einen Toten gesehen“, stellte Moppel fest. „Irgendwie gruselig, nicht wahr?“ „Was machen wir eigentlich, wenn wir ihn ans Ufer gezogen haben?“, überlegte Conni. „Ihr haltet ihn fest und ich rufe die Polizei“, schlug Moppel vor.

In diesem Moment trieb die vermeintliche Leiche am Abzweig der Oker direkt vor dem Schwimmbad vorbei. Da der Grünstreifen zwischen der Oker und der alten Bundesstraße 4 immer schmaler wurde, nahm der Lärm der vorbeifahrenden Autos immer mehr zu, was zur Folge hatte, dass Geros Rufe kaum mehr wahrzunehmen waren. „Warum antwortet ihr denn nicht?“, erreichte er seine Freunde außer Atem. „Hast du was gehört?“, wandte sich Konstantin an seinen Freund. „Nöö.“ „Habt ihr schon die Polizei angerufen?“ „Wir wollten den Toten zuerst ans Ufer ziehen“, entgegnete Moppel. „Die glauben uns sonst kein Wort.“ „Wo hast du eigentlich den Ast her?“, sah Conni argwöhnisch auf das, was Gero da hinter sich herzog. „Das ist doch nicht was, wonach es aussieht, oder?“ „Der ist vom Dach unserer Hütte“, bestätigte Gero Connis Annahme. „Hattest du eine bessere Idee?“ „Jetzt macht schon, sonst ist die Leiche doch noch weg“, trieb Moppel seine Freunde zur Eile.

Einige Fehlversuche später hatten die drei den Leichnam tatsächlich an Land gezogen und drückten ihn nun mit dem Ast gegen das Ufer. „Beeil dich! Wir können ihn sicher nicht lange hier festhalten.“ Moppel wählte die Notrufnummer. Nachdem der Beamte zunächst an einen Dummejungenstreich glaubte, ließ er sich schließlich von Moppel überzeugen und versprach einen Streifenwagen vorbeizuschicken.

„Die Polizei kommt“, gab Moppel das Versprechen des Beamten weiter. „Ich mache zur Sicherheit noch ein Foto.“ „Gute Idee“, stimmte Gero zu. Quasi mit demselben Atemzug machte sich der Leichnam selbstständig. Alle Versuche misslangen, ihn ein weiteres Mal aufzuhalten. Die Leiche trieb immer weiter in die Flussmitte und somit auf das Wehr zu. Wo sonst mehrere Eisenrechen dafür sorgten, dass große Gegenstände zurückgehalten wurden, trieb der Tote ausgerechnet auf eine Röhre zu, die wegen einer Reparatur zurzeit ohne Rechen war. Sie verschluckte den Leichnam unaufhaltsam.

„Hast du wenigstens Fotos gemacht?“, erkundigte sich Konstantin, während die Jungen über den angrenzenden Parkplatz und die Straße an die Stelle liefen, an der die Oker wieder zum Vorschein kam. „Ja klar, aber ich weiß nicht, ob sie was geworden sind“, relativierte Moppel. „Es ging alles so schnell.“ Die Jungen starrten gebannt auf den Fluss hinunter. Jeden Moment musste eine der Röhren den Toten wieder ausspucken. Nach einigen Minuten liefen sie um das Geländer herum, zum Ufer hinunter, um besser sehen zu können. „Das verstehe ich nicht“, runzelte Gero die Stirn. „Die Leiche müsste schon längst wieder herausgetrieben worden sein.“ „Sie ist bestimmt unter der Straße steckengeblieben“, mutmaßte Conni. „Habt ihr gesehen, wie schnell die in der Röhre verschwand? Vielleicht war sie ja schneller als wir?“

„Zeig mal die Fotos“, wandte er sich Moppel zu. Der rief die Bilder auf, die er von der Leiche geschossen hatte. „Ach du Scheiße!“, entfuhr es Conni. „Die sind ja alle verwackelt. Da sieht man ja rein gar nichts.“ Gero griff sich entsetzt an den Kopf. „Mensch Moppel, wenn jetzt die Bullen kommen, dann denken die doch ganz sicher, dass wir sie verarscht haben.“ Das war der Augenblick in dem Obermeister Fritze am Geländer oberhalb des Einlaufbeckens auftauchte. „So, so, ihr habt uns also verarscht“, zitierte er aus dem, was er bei seinem Eintreffen aufgeschnappt hatte.

„Nein, nein, Herr Wachtmeister“, versuchte Moppel die Situation aufzuklären. „Es ist nur so...“, stammelte er, „...die Leiche ist leider verschwunden. Sie kam nicht wieder raus.“ „Jetzt kommt erst mal zu mir hoch und dann erzählt ihr der Reihe nach, was ihr gesehen habt.“

„Wir haben gerade an unserer Bude gebaut“, begann Moppel. „Ich habe sie zuerst gesehen“, fiel ihm Gero ins Wort. „Das ist doch Quatsch!“, widersprach ihm Konstantin. „Also hör mal...“, wollte sich Gero seinen Fund nicht streitig machen lassen. „Hallo!“, fuhr Obermeister Fritze energisch dazwischen. „Wir können alle gemeinsam singen, aber wenn es um eine Aussage geht, kann nur einer von euch sprechen.“ „Dann rede ich jetzt!“, nahm Gero das Heft des Handelns wieder an sich.

„Also, wir haben am Okerufer unsere Bude weitergebaut, als wir plötzlich einen Toten in der Oker vorbeitreiben sahen“, begann Gero, während die Kinder dem Beamten die Stelle zeigten, an der alles begann. „Habt ihr denn gleich erkannt, dass es sich um einen Leichnam handelt?“, hakte Fritze nach. „Nicht gleich. Wir standen ungefähr hier. Ich habe zuerst allein nachgesehen“, fuhr Gero fort. „Als du erkannt hast, um was es sich handelt, hast du deine Freunde zu Hilfe geholt“, überlegte Fritze. „Genauso wars“, konnte sich Konstantin nicht länger zurückhalten. „Wir haben sie dann mit einem langen Stock ans Ufer gezogen und dort festgehalten.“ „Und ich habe Sie angerufen“, fügte Moppel hinzu. „Leider ist sie uns dann davongetrieben und wahrscheinlich in einem der Rohre unter der Straße steckengeblieben“, erklärte Gero abschließend. „Ich habe Fotos von der Leiche gemacht“, fiel Moppel ein. Obermeister Fritze war überrascht. „Na, dann zeig mal her“, zeigte er sich erwartungsvoll. Moppel verkniff das Gesicht. „Die Fotos sind leider etwas verwackelt.“

Der Beamte sah aufmerksam zu, wie ihm der Zwölfjährige ein Foto nach dem anderen zeigte. „Die sind ja derart unscharf, dass man rein gar nichts darauf erkennt.“ „Es ging alles so schnell und ich war ziemlich aufgeregt“, entschuldigte sich Moppel. „Du brauchst dich nicht rechtfertigen. Man sieht nicht jeden Tag eine Leiche“, schenkte Obermeister Fritze den Kindern allmählich Glauben. Er zog sein Funkgerät aus der Tasche und funkte die Leitstelle an. Kurz darauf traf sein Kollege mit weiteren Einsatzkräften am Ort des Geschehens ein. Das Ufer der Oker wurde in dem betreffenden Gebiet nun akribisch abgesucht. Gefunden wurde jedoch nicht der kleinste Hinweis auf einen Toten. Da nirgends eine Vermisstenanzeige vorlag, entschied der Einsatzleiter, die Suche mit der rasch einsetzenden Dämmerung einzustellen.

Moppel, Konstantin und Gero waren zu diesem Zeitpunkt längst daheim. Obermeister Fritze hatte sie persönlich nach Hause begleitet. Auch wenn nicht alle Kollegen an ihren Fund glaubten, war er von der Richtigkeit ihrer Aussage überzeugt. „Über kurz oder lang wird der Tote geborgen, da bin ich mir sicher“, beruhigte er Moppels Mutter. Die sah ihren Jungen mit ernster Miene durchdringend an. „Ich will hoffen, dass es am Ende nicht doch seine blühende Fantasie war, die ihm da einen Streich gespielt hat.“ „Das glaube ich nicht. Schade nur, dass die Fotos so verwackelt sind.“

„Wenn Sie die Leiche gefunden haben, sagen Sie mir doch Bescheid, nicht wahr?“, betrachtete Moppel das Ganze als Abenteuer. Obermeister Fritze nickte dem Jungen zu und wandte sich dann an die Mutter. „Da die Kinder den Leichnam aller Wahrscheinlichkeit nach identifizieren müssen, wird das unumgänglich sein.“

2

„Ist es wirklich wahr, Chef?“, erkundigte sich meine Putzsekretärin. „Ich bin ja so aufgeregt.“ „Von was reden Sie, Trude?“, fragte ich, obwohl ich eigentlich schon ahnte, was die gute Seele auf dem Herzen hatte. Ich fragte mich nur, wie sie schon wieder Wind davon bekommen hatte. „Eigentlich müsste ich ja böse mit Ihnen sein, dass ich auf diese Weise von dem Termin Ihrer Hochzeit erfahren muss.“ „Wir haben noch niemandem etwas erzählt. Woher wissen Sie davon?“ Trude lächelte mich aus einem schelmischen Gesicht genüsslich an. „Was ist denn das für eine Frage? Sie bezahlen mich dafür, dass ich bestens informiert bin und da glauben Sie wirklich, dass ich nichts davon mitbekomme?“ Ich schüttelte ungläubig den Kopf. „Jetzt sagen Sie schon, wie Sie uns auf die Schliche kamen. Eigentlich sollte nämlich noch niemand etwas davon erfahren.“ „Dann dürfen Sie den Termin aber auch nicht im Aushang des Standesamtes veröffentlichen lassen.“ Es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Daran hatte ich nun wirklich nicht gedacht.

Nachdem ich mich in mein Büro verkrümelt hatte und meinen Gedanken nachhing, fragte ich mich, ob Trude jeden Tag zum Standesamt gegangen war und den Aushang durchforstet hatte. Wie auch immer, da meine Assistentin nun davon wusste, musste ich sie um Verschwiegenheit bitten. Miriam und ich hatten nach der Sache mit ihrer Geiselnahme beschlossen, den ursprünglichen Termin zu verschieben und nicht zuletzt wegen ihrer Schwangerschaft zunächst Ruhe einkehren zu lassen. Als sich alles beruhigt hatte, nahmen wir den zweiten Anlauf. Allerdings hatte ich mich, was die standesamtliche Heirat anging, insofern durchsetzen können, dass wir auf eine große Feier verzichten wollten. Diese sollte, und da trugen wir Miriams Vorstellungen Rechnung, mit der kirchlichen Trauung zu unserem ersten Hochzeitstag nachgeholt werden.

„Hier ist Ihr Kaffee, Chef“, stürmte Trude einmal mehr, ohne vorher anzuklopfen, in mein Büro. „Und bevor Sie mich jetzt zum Schweigen verdonnern, versichere ich Ihnen, dass ich nicht einmal Axel etwas von Ihren Plänen erzählt habe.“ Langsam wurde mir diese Frau unheimlich. „Ich habe nichts anderes von Ihnen erwartet“, log ich. „Aber wie haben Sie denn nun wirklich davon erfahren?“ Trude sah mich verschmitzt an. „Eine ehemalige Kollegin von mir putzt im Standesamt.“ „Na, das hätte ich mir ja denken können.“

„Wie geht es Frau Herz eigentlich?“, sorgte sich die gute Seele. Ich ließ mich hinter meinem Schreibtisch nieder, legte die Beine hoch und schlurfte genüsslich an meinem Kaffee. „Die Ruhe tut uns allen gut. Das Baby wird in etwa zwei Wochen kommen.“ „Da ist der Heiratstermin aber ziemlich knapp angesetzt“, überlegte Trude. „Anders war es leider nicht mehr möglich. Unser Kind soll nach Möglichkeit nicht außerehelich zur Welt kommen.“ „Es wird schon alles gut gehen.“

„Kommen wir nun zu unserem Lebensunterhalt“, wechselte ich das Thema. „Haben Sie schon die Abrechnung für die Schüssler Bau fertig gemacht?“ „Na klar, die ist doch schon längst rausgegangen“, trumpfte Trude auf. „Gut“, lobte ich. „Steht noch ein neuer Fall an?“ Trude schüttelte mit dem Kopf. „Dann müssen wir uns wohl mit Recherchen für die Versicherung herumschlagen“, seufzte ich. „Ach, das hätte ich ja beinahe vergessen. Da war vorhin ein Anruf aus der Kanzlei Börner. Sie möchten bei Gelegenheit zurückrufen.“ Mir fiel ein Stein vom Herzen. Sollte mein Freund und Anwalt einmal mehr der Retter in der Not sein? „Sagen Sie das doch gleich, Trude. Bitte machen Sie mir eine Verbindung.“

„Hallo Christoph, du wolltest mich sprechen?“, flötete ich gut gelaunt ins Telefon. „Hier spricht Anneliese Rotenberger, bitte gedulden Sie sich einen Moment, Herr Lessing“, begrüßte mich die niedliche Rechtsanwaltsfachangestellte belustigt. „Mein Chef telefoniert gerade auf der anderen Leitung.“ „Ich habe Zeit.“ „Ich habe gehört, Sie wollen bald heiraten?“ Ich verschluckte mich an meiner Spucke. „Alles okay?“ „Ja, ja“, keuchte ich. Hatte Trude etwa…? „Ich habe es im Aushang gelesen“, erklärte Anneliese. Offenbar sah, abgesehen von mir, jeder Wolfenbütteler in diesen verdammten Kasten. „Es freut mich für Sie beide.“ „Tja, Anneliese, mit uns beiden hats ja leider nicht geklappt“, verunsicherte ich die Reno. „Aber Herr Lessing, ich wusste ja gar nicht...“ „Dann müssen meine Signale wohl nicht deutlich genug gewesen sein.“ „Herr Lessing, Sie wollen mich doch nur auf den Arm nehmen.“ „Nein“, widersprach ich, „...eher in den Arm.“

„Wen willst du in den Arm nehmen?“, vernahm ich plötzlich die Stimme meines Freundes. „Du flirtest doch wohl nicht schon wieder mit meiner Reno“, begriff er für einen Anwalt außergewöhnlich schnell. „Denk dran, du willst nächste Woche heiraten.“ „Nun sag nur noch, du hättest auch in diesen dämlichen Kasten gesehen“, entgegnete ich völlig konsterniert. „Was für ein Kasten?“ „Schon gut“, atmete ich schwer.

„Was kann ich für dich tun?“ „Es geht um einen Einbruch, bei dem einige wertvolle Gemälde verschwanden“, entgegnete Börner. „Ja und? Das ist doch wohl eher eine Sache für die Polizei“, stutzte ich. „Eben nicht“, widersprach der Anwalt. „Die Bilder meines Klienten waren nicht versichert, wenn du verstehst worauf ich hinauswill.“ „Schwarze Bilder“, kombinierte ich. „Und nun möchte dein Klient nicht, dass das Finanzamt Wind davon bekommt.“ „Ich sehe, wir haben uns verstanden.“

„Manchmal begreife ich die Leute nicht“, schüttelte ich den Kopf. „Solche Bilder hängt man sich doch nicht für jedermann sichtbar an die Wand.“ „Das hat er auch nicht“, erklärte Börner. „Mein Klient hatte die Gemälde unter Verschluss.“ „Die Diebe müssen also über Insiderwissen verfügt haben“, kombinierte ich. „So sehe ich das auch.“ „Von welchen Summen sprechen wir hier?“ „Der Verlust bewegt sich im siebenstelligen Bereich.“ Ein Pfiff entfleuchte meinen Lippen. Hierzu muss der Laie wissen, dass bei Wiederbeschaffung nicht nach Stundenlohn, sondern nach dem Wert des Objektes bezahlt wird.

„Wie heißt der Mann und wie komme ich auf dem schnellsten Weg zu ihm?“, hielt ich mit meiner Begeisterung nicht hinter den Berg. „Ich hole dich heute Abend daheim ab. Bei der Gelegenheit kann ich Miriam wenigstens mal wieder Hallo sagen.“ „Wie du willst“, entgegnete ich verwundert. „Ach so, es wäre besser, wenn du deiner Zukünftigen nichts von den Bildern erzählst.“ „Bei deinem geheimnisvollen Klienten scheint es sich um eine schillernde Person zu handeln.“ „Du wirst ihn heute Abend kennenlernen.

3

Nachdem sich Christoph und Miriam die üblichen Höflichkeitsfloskeln an den Kopf geworfen hatten und sich mein Freund und Vermittler zahlreicher Aufträge als Patenonkel für unseren Sonnenschein ins Spiel gebracht hatte, lenkte er seinen Jaguar über den Sternhausberg in Richtung Braunschweig.

„Jetzt kannst du doch mit der Sprache rausrücken“, platzte ich vor Neugier. „Meine Güte, du bist ja noch ungeduldiger als Detlef“, stellte Christoph belustigt fest. „Was ja wohl auch kein Wunder ist, wenn du ein solches Geheimnis daraus machst.“ „Wir sind gleich da, dann wirst du schon sehen“, blieb mein Freund geheimnisvoll.

Als wir kurz darauf vor dem Gitter einer Tiefgarage stoppten und Christoph eine Sprechtaste betätigte, um seinen Namen zu nennen, steigerte sich meine Neugier ins Unermessliche. „Dein Klient wohnt in diesem Apartmenthaus?“, fragte ich ungläubig. „Ich hatte, ehrlich gesagt, etwas anderes erwartet.“ „Das glaube ich dir. Mir ging es bei meinem ersten Besuch nicht anders. Mein Mandant besitzt mehrere Häuser und Wohnungen. Hier wohnt er immer dann, wenn er in unserer Region zu tun hat.“ „So, so, ist das so“, entgegnete ich gelangweilt. Irgendwie war bei mir die Luft nun raus.

Christoph drückte den obersten Knopf für die Maisonette Wohnung und der Aufzug setzte sich in Bewegung. Als sich die Türen aus gebürsteten Stahlblech auseinanderschoben, stand ein Mann vor uns, den ich aus der Zeitung und aus Talkshows im Fernsehen kannte. Ein Mann, dessen Einfluss auch in der Politik nicht unerheblich war. Kein Wunder also, dass er sich wegen dem Verlust der Bilder nicht an die Polizei wenden konnte.

„Schön, dass Sie sich die Zeit genommen haben, Herr Lessing“, begrüßte er mich ohne irgendwelche Allüren. „Hallo Herr Börner“, reichte er nun auch meinem Freund die Hand. „Das also ist der Mann, dem ich vertrauen kann.“ „Ich arbeite seit Jahren sehr erfolgreich und überaus zufrieden mit Herrn Lessing“, pries mich Christoph an. „Na, dann sollten wir hineingehen, damit Sie sich einen Eindruck machen können.“

Die kahlen Wände strahlten Ernüchterung aus. Auch eine Form von Kunst, wie ich beim Anblick der leeren Rahmen empfand. „Diese Banausen haben die Leinwände einfach herausgeschnitten“, zeigte er sich auch jetzt noch empört. „Freunden und Bekannten waren nur die weniger wertvollen Gemälde zugänglich. Die wirklich teuren Stücke hatte ich hier hinten, in diesem speziellen Raum aufgehängt. Es handelt sich um ganz besondere Kunstwerke, für die ich keine Quittungen habe, wenn Sie verstehen.“ „Wie Sie in den Besitz der Bilder kamen, geht mich nichts an“, entgegnete ich reserviert. „Ehrlich gesagt, will ich es auch gar nicht wissen, weil ich den Fall sonst wahrscheinlich gar nicht übernehmen würde.“

„Ich schätze, Herr Börner hat mir den richtigen Mann empfohlen. Setzen wir uns ins Wohnzimmer, um die Einzelheiten zu besprechen.“ Wir folgten seiner Aufforderung und nahmen Platz. „Wie Sie sich denken können, habe ich mich vorab etwas über Sie informiert, Herr Lessing“, hielt er nicht hinter Berg. „Ich weiß gern vorher, mit wem ich es zu tun habe.“ „Da sind Sie mir leider eindeutig im Vorteil“, entgegnete ich. „Nun ja, ich hatte Herrn Börner um Diskretion gebeten. Wie Sie sich denken können, sind die Umstände für einen Mann, der in der Öffentlichkeit steht, alles andere als günstig.“

Ich hielt es für angebracht, seine Worte nicht weiter zu kommentieren. „Ich bezahle Sie im Erfolgsfall“, kam er direkt zur Sache. „Falls ich den Fall übernehme“, nahm ich ihm gleich mal den Wind aus den Segeln, „…bekomme ich die üblichen zehn Prozent bei Wiederbeschaffung und in jedem Fall eine Aufwandsentschädigung.“ Mein potentieller Auftraggeber sah zu Christoph. „Sie hatten nicht erwähnt, dass Herr Lessing auch über Verhandlungs-geschick verfügt.“

„Wenn Sie gestatten, würde ich mir jetzt gern den Weg ansehen, auf dem die Täter in Ihre Wohnung gelangten“, erhob ich mich, ohne sein Okay abzuwarten. „Ich wollte Ihnen eigentlich gerade etwas zu trinken anbieten“, entgegnete der Hausherr. „Ich komme anschließend gern auf Ihr Angebot zurück“, blieb ich meinen Prinzipien treu. „Wie Sie wollen.“ Auch wenn der Mann in seinem Job Millionen verdiente, war ich in meiner Arbeit nicht schlechter. Ich wurde nur schlechter bezahlt. Kein Grund also, in Ehrfurcht zu erstarren.

„Wie ich sehe, verfügen Sie über eine Alarmanlage. Haben Sie seit dem Einbruch etwas an der Anlage verändert?“ „Ich habe alles so gelassen“, entgegnete der Bestohlene. „Es sieht so aus, als wenn die Diebe über das Dach kamen“, deutete ich auf eines der Dachflächenfenster. Die Einbruchsmelder wurden zunächst geschickt umgangen. Dazu muss man wissen, um welche Art Melder es sich handelt und wo sie sich befinden.“ „Sie gehen davon aus, dass die Diebe über Insiderwissen verfügten?“ Ich nickte ihm kurz zu. „Das dachte ich mir gleich.“

Als nächstes nahm ich mir die Einbruchmeldeanlage vor. Christoph und sein Mandant unterhielten sich unterdessen über mögliches Personal, welches die Wohnung während der Abwesenheit des Hausherrn betreut. „Können Sie etwas erkennen?“, erkundigte sich der Hausherr nach kurzer Zeit. „Offensichtlich wurde die Zentrale überbrückt. Wer immer hier seine Finger drinnen hatte, kannte sich aus“, zollte ich Anerkennung.

„Profis also“, resümierte Christoph. „Auf jeden Fall“, bestätigte ich überzeugt. „Dann frage ich mich allerdings, weshalb die Bilder aus den Rahmen herausgeschnitten wurden“, reagierte der Bestohlene mit Unverständnis. „Wegen des Abtransportes“, erklärte ich. „Was im Rahmen viel zu sperrig wäre, nimmt zusammengerollt nur noch einen Bruchteil dessen ein. Vom Gewicht mal ganz zu schweigen.“ „Ich verstehe einfach nicht, dass eine solche Aktion unentdeckt blieb“, schüttelte Christoph den Kopf. „Die müssen doch eine Leiter dabeigehabt haben. Ich deutete auf den Holzrahmen unterhalb des Fensters. „Siehst du die Abschabungen? Da hing eine Strickleiter runter, jede Wette. Vielleicht kann ich da oben mehr sehen.“ „Du willst aufs Dach?“ „Was sonst?“

Es war exakt so, wie ich es vermutet hatte. Auch wenn die Einbrecher nichts von ihrem Equipment zurückgelassen hatten, konnte ich am äußeren Teil des Fensterrahmens deutliche Aufbruchspuren erkennen. Dazu gehörten auch die Spuren, die von den Metallklammern der Strickleiter stammten. Da die Diebe einen anderen Weg als ich benutzt hatten, um auf das Dach zu gelangen, war es nun vorrangig, genau diesen Weg nachzuvollziehen.

Ich sah auf das Flachdach des Nachbarhauses und erinnerte mich an einen Filmausschnitt, den ich erst kürzlich gesehen hatte. Warum nicht, dachte ich mir und sah mir die Brüstung des Gebäudes genauer an. Deutliche Kratzspuren deuteten darauf hin, dass diese erst kürzlich durch einen Gegenstand aus Metall verursacht sein mussten. Vor den Blicken möglicher Passanten geschützt, durch die Dunkelheit der Nacht und den Lärm vorbeifahrender Autos, hatten die Einbrecher mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Harpune abgeschossen. Kaum vernehmlich sauste der Klappfeil über die Brüstung, entfaltete seinen Mechanismus und hakte sich ein. Das Seil spannte sich, indem das andere Ende auf dem Dach des Nachbarhauses befestigt wurde. Der Rest war für einen geübten Kletterer ein Kinderspiel. So in etwa musste es gewesen sein.

Die Sicherung weiterer Spuren konnte ich mir sparen. Selbst wenn die Diebe keine Handschuhe trugen, hatte zumindest hier draußen die Witterung der vergangenen Tage dafür gesorgt, dass ich nichts finden würde. Der Weg meiner Ermittlungen musste ein anderer sein. Da die Einbrecher über detailliertes Wissen verfügten, musste es jemanden geben, der ihnen dies verschafft hatte. Hier kam zunächst das Personal meines möglichen Auftraggebers in Frage. Dazu gehörte der Hausmeister ebenso wie der Monteur der Heizungsfirma, der Schornsteinfeger und jeder andere, der die Wohnung in den vergangenen Monaten betreten hatte.

Nachdem ich den Hausherrn von dem Ergebnis meiner Dachbegehung berichtet hatte und er sich bezüglich des Niveaus bewusst wurde, mit welchem er es bei den Dieben zu tun hatte, billigte er meine Honorarvorstellungen. „Ich benötige eine Liste Ihrer Bekannten und Freunde, die sie hier während der letzten zwölf Monate empfangen haben.“ „Das können Sie vergessen, Herr Lessing. Für meine Freunde lege ich beide Hände ins Feuer.“ „Wenn Sie sich da mal nicht verbrennen“, entgegnete ich auf einen langen Erfahrungsschatz zurückblickend.

„Wie auch immer. Was glauben Sie wohl, was meine Freunde von mir denken, wenn ich sie des Diebstahls verdächtige.“ „Es geht zunächst gar nicht darum, mit Ihren Bekannten zu sprechen. Gesetzt den Fall ich stoße bei meinen Recherchen auf einen Namen, der mit dem Ihren in Verbindung steht, dann würde mir eine Liste erhebliche Arbeit ersparen.“

„Das ist ein Argument“, räumte mein Auftraggeber ein. „Also gut, Herr Lessing, wenn Sie mir einen diskreten Umgang mit den Namen versprechen, werde ich eine solche Liste erstellen.“ „Gut, dann sind wir im Geschäft“, willigte ich mit Handschlag ein. „Benötigen Sie bezüglich zu erwartender Spesen einen Vorschuss?“ „Wenn es Ihnen keine Umstände macht.“

Eine Viertelstunde später befanden wir uns auf dem Rückweg. „Ich muss schon sagen, du hast nicht nur meinen Mandanten beeindruckt, Leo.“ „Wenn er bemerkt hätte, wie sehr ich diesen Fall wollte, hätte ich meine Auslagen selbst tragen müssen.“ „Da hast du aber ganz schön hoch gepokert“, stutzte mein Freund. „Wer nicht wagt, der nicht gewinnt“, schürzte ich die Lippen.

4

„Vielen Dank, dass Sie unserer Einladung trotz des Unwetters nachgekommen sind“, bedankte sich Oberkommissar Sinner bei den Eltern von Moppel, Gero und Konstantin. „Ich habe meinem Sohn eindringlich ins Gewissen geredet und ihm mit ernsthaften Konsequenzen gedroht, aber er bleibt bei seiner Geschichte“, erklärte der Vater von Gero. „Bei Konstantin ist es nicht anders“, pflichtete die Mutter des Jungen Geros Vater bei. „Alles andere hätte mich auch gewundert“, entgegnete Sinner.

„Wie Sie wissen, haben wir die Fotos auf Moppels Handy nachbearbeitet.“ Er wandte sich an den Jungen. „Auch wenn dir die Aufnahmen aufgrund der Hektik und in Anbetracht der Aufregung, in der du dich befunden hast, ziemlich verwackelten, so ist der Leichnam dennoch recht gut darauf zu sehen.“ „Aber wo ist sie dann geblieben?“, stellte Konstantin die Frage, die alle Anwesenden beschäftigte. „Sowie das Unwetter vorüber ist, werden Feuerwehr und technisches Hilfswerk die Suche wieder aufnehmen. Der eigentliche Grund für ihren Besuch liegt in der Frage, ob euch zu diesem Zeitpunkt, oder kurz davor beziehungsweise danach eine Person aufgefallen ist, die sich in der Nähe aufhielt.“

Die Jungen sahen sich fragend an und zuckten nacheinander mit den Achseln oder schüttelten den Kopf. „Vielleicht habt ihr ja auch etwas gehört? Schreie, laute Stimmen, einen Streit?“ Die Antwort der drei Freunde blieb dieselbe. „Ihr seid euch aber absolut sicher, dass die Person nicht mehr am Leben war“, stellte Schubert die Gretchenfrage. „Toter geht nicht, Mann“, fasste es Gero zusammen. Der Kopf der Leiche war die ganze Zeit unter Wasser“, bemerkte Moppel. „So, wie ich sie fotografiert habe.“

„Der Ordnung halber muss ich euch leider bitten, die Person auf den Fotos zu identifizieren.“ „Muss das denn wirklich sein?“, äußerte Konstantins Mutter Bedenken.“ „Ich würde es von keinem der Kinder verlangen, wenn es nicht wichtig wäre“, entgegnete der Oberkommissar. „Conni schläft seitdem so unruhig.“ „Mama!“, schämte sich der Junge. „Ich kann Sie natürlich nicht dazu zwingen“, lenkte Sinner ein. „Ich möchte die Fotos sehen“, entschied Konstantin. Alle drei bestätigten schließlich, dass die Fotos die Person zeigten, die sie in der Oker treiben sahen.

Zeitgleich in exakt zwei Kilometern Entfernung und in westlicher Richtung von der Dienststelle entfernt, suchte der Obdachlose Rudi Schlitter in einer Überführung der Oker an der Schleusenstraße Schutz vor dem heftigen Gewitterregen. Weil ihm kalt war, nippte er von Zeit zu Zeit an einer Flasche Korn, die er aus medizinischen Gründen stets mit sich führt.

„Wenn das Dreckswetter nicht bald vorbei ist, werde ich noch krank“, fluchte er dem Wind entgegen, der ihm durch die offenen Gefache der überdachten Schleuse ins Gesicht blies. Rudi warf sich den alten zerfledderten Mantel über. Der bot zwar nur noch wenig Schutz, aber er war besser als nichts. Dabei fiel sein Blick auf das angestaute Wasser vor der Schleuse. Für einen kurzen Moment nur, nicht länger, hatte er darin etwas Treiben sehen, was wie eine Schaufensterpuppe aussah. Er sah genauer hin, konnte jedoch nichts mehr erkennen. Dann sah er auf die Flasche Korn und lächelte sie an. „Wenn ich mir schon etwas einbilde, dann soll es doch bitte etwas Schönes sein.“ Woraufhin er den Verschluss öffnete und einen weiteren Schluck von seiner Medizin trank.

Irgendwann ließ der Regen nach und Rudi schälte sich wieder aus seinen Lumpen. Als er alles zusammenpackte, sah er erneut auf die Oker. „Bitte nicht schon wieder“, entfuhr es ihm. Ein Blick zur Flasche führte zu der ernüchternden Feststellung, dass keine Medizin mehr darin war. Der Anblick der vermeintlichen Schaufensterpuppe ließ sich also nicht durch einen weiteren Schluck ignorieren. Nur wenige Freunde wussten, welche Erinnerung sich für den Obdachlosen bei diesem Anblick einstellte.

Rudi hatte längst erkannt, dass es sich nicht um eine Puppe handelte. Was da in der Oker trieb, war nichts anderes als der Leichnam einer Frau. Genau wie damals musste er sich der Situation stellen. In seinen Erinnerungen sah er die Junge Frau mit den Armen rudern, hörte er, wie sie um Hilfe rief. Schüsse fielen, peitschten neben ihr ins Wasser und trafen sie schließlich. Damals wie heute kauerte er in sicherer Deckung, nicht fähig, der jungen Frau zu Hilfe zu kommen.

Eine der Salven traf sie schließlich, ließ sie vor seinen Augen in den reißenden Fluten der Lepenac verschwinden. Die Verzweiflung in den Augen der jungen Frau hatte er nie vergessen können. Ihr Blick verfolgte ihn bis in seine Träume. Einzig die Flasche mit Medizin half ihm, wenn auch nur für kurze Zeit, das Erlebte zu verdrängen.

Die Frage war nun, ob das, was er dort unten in der Oker treiben sah, lediglich ein Produkt dieser Vergangenheit war, oder ob sich das Schicksal wiederholte, um ihm eine zweite Chance zu geben. Er konnte die Zeit nicht zurückdrehen, sein Einsatz im Kosovo war seit vielen Jahren beendet, aber vielleicht konnte er heute seinen Fehler von gestern wiedergutmachen.

Er überlegte nicht länger, ob das, was er sah, der Fantasie eines Säufers entsprang, oder so real war wie die leere Flasche Korn in seiner Tasche. Er kontrollierte die kleine Tür im Holzgeländer, die von den Angestellten der Stadtwerke immer dann geöffnet wurde, wenn die Schilde zur Regulierung der Fließgeschwindigkeit verändert werden mussten. Sie war natürlich verschlossen. Er hatte es nicht anders erwartet. Also kletterte er darüber und stieg die Metallleiter hinunter, die direkt bis zu einem Podest führte, von dem aus die Mechanik bedient wurde.

Er befand sich nun nur noch knapp einen Meter über der Wasseroberfläche, genau an der Stelle, an der er die Frau zum letzten Mal gesehen hatte. Der Strudel, der sich vor dem Durchlass des Schildes bildete, war sehr stark. Er hatte die Frau bereits mehrere Male in die Tiefe gezogen und immer wieder nahe der Ufermauer ausgespuckt. Wenn es ihm gelang, die Leiter noch ein Stück weiter nach unten zu steigen und rechtzeitig zuzufassen, konnte er sie vielleicht bis auf das Podest ziehen.

Im nächsten Moment sah er ihren Körper abermals auftauchen. Es war deutlich zu sehen, dass sie zumindest bewusstlos war. Sollte er sein Leben für eine Frau riskieren, die möglicherweise längst ertrunken war? Doch wie auch immer, es war sein eigenes Leben, welches er hier und jetzt retten konnte.

Der Körper tauchte unmittelbar vor ihm auf. Rudi griff zu und erwischte einen ihrer Arme. Er war eisig und er war leblos. Er zog dennoch mit aller Kraft daran. Irgendwie schaffte er es, ihren Oberkörper auf sein Knie zu hieven. Obwohl sie zierlich war, schien sie mehr als zwei Zentner zu wiegen. Was sicherlich an den Unmengen von Wasser lag, die sich nun aus ihrer Kleidung ergossen.

Unbändiger Wille verlieh ihm die Kraft, die nötig war, um den Körper auf das Podest zu ziehen. Er hatte eine Tote aus dem Wasser gezogen, das wurde ihm mit jeder Sekunde klarer, mit der er aus seinem Tunnel in die Realität zurückkehrte. Nun vernahm er auch die Rufe zweier Passanten, die auf seine Rettungsaktion aufmerksam wurden. Anstatt ihm zu helfen, hatten sie ihre Handys in der Hand und filmten. „Polizei und Rettungswagen müssen jeden Moment hier sein!“, rief ihm jemand anderer zu. Wenigstens hatten sie Hilfe gerufen, dachte Rudi erleichtert. Er hielt den Leichnam nach wie vor auf dem Podest fest. Eine hübsche junge Frau überlegte er. Sie hatte dieselben Augen wie damals – oder begann er jetzt völlig zu spinnen?

Oberhalb der Schleuse und an der Straße fand sich nach und nach weiteres Publikum ein. Ein Polizist kam zu ihm auf das Podest und überprüfte den Puls und die Atmung der Frau. Dann wandte er sich seinem Kollegen zu. „Die Frau ist tot!“, rief er ihm zu. „Das wird sie sein!“, entgegnete der andere.

5

Ich reichte Trude die Visitenkarte unseres neuen Auftraggebers. Meine Putzsekretärin sah mich erstaunt an. „Geben Sie mir bitte sofort Bescheid, wenn eine Mail von dem Herrn bei uns eingeht. Ich erwarte eine wichtige Liste.“ „Jawohl, geht klar, Chef“, salutierte sie zackig. „Eines noch, Trude. Ich ersuche Sie bei allem, was mit diesem Fall zu tun hat, um absolutes Stillschweigen.“ „Immer, Chef. Sie kennen mich doch.“ „Eben.“

Trude ließ sich demonstrativ angesäuert hinter ihrem Schreibtisch nieder und rief das Mailprogramm auf. Eine der Mails stammte von einer Versicherung, mit der ich es im Zuge meiner Recherchen zu tun hatte. Dabei gelang es mir, quasi nebenbei, größeren Schaden für die besagte Gesellschaft abzuwenden. Neben einem großzügigen Scheck machte man mir das Angebot, als fest angestellter Ermittler für die besagte Gesellschaft zu arbeiten. Ich fragte mich, ob es heutzutage gang und gäbe war, ein Stellenangebot via Mail zuzusenden. „Ich gehe mal davon aus, dass Sie den Inhalt bereits gelesen haben“, zwinkerte ich Trude zu. „Waren Sie deshalb gerade so pikiert?“ Trude sah mich verstohlen an. „Machen Sie sich keine Sorgen. Ich wüsste doch gar nicht, was ich ohne Sie machen sollte“, beruhigte ich Trude.

„Abgesehen davon ist mir meine Selbstständigkeit viel zu wichtig.“ Die gute Seele lehnte sich erleichtert zurück. „Und wo wir jetzt sogar für Herrn...“ „X“, unterbrach ich sie. „Wir nennen unseren Auftraggeber am besten nur noch Mister X. Dann brauchen wir keine Angst haben, dass jemand den Namen hört, der ihn besser nicht hören sollte.“ „Weshalb möchte der Mann denn nicht, dass der Einbruch in seine Wohnung bekannt wird?“ Ich reichte Trude die Liste der gestohlenen Gemälde. Als sie die Summen las, mit denen die jeweiligen Bilder in den Auktionslisten veranschlagt waren, schluckte sie trocken. „Da verdienen Axel und ich ja in einem Jahr weniger als das günstigste Bild kostet.“ „Ich hoffe nicht, dass dies eine Anspielung auf Ihr Gehalt war“, reagierte ich empfindlich. „I wo, Chef, so etwas würde ich mir nie erlauben.“

„Also gut. Ihre Aufgabe wird es sein, das Internet nach diesen Bildern abzusuchen. Mich interessiert vor allem, ob sie irgendwo angeboten werden. Bitte denken Sie daran, Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, damit unsere IT Adresse nicht zurückverfolgt werden kann.“ „Sie können sich voll und ganz auf mich verlassen.“ „Richten Sie Axel bitte aus, dass ich in den nächsten Tagen wieder Arbeit für ihn habe.“ „Oh schön, da wird er sich freuen.“

Ohne die Namensliste meines Auftraggebers konnte ich keine weiteren Recherchen anstellen, folglich nahm ich mir einen Pott Kaffee und verschwand in meinem Büro, um mit Miriam zu telefonieren. Da der errechnete Geburtstermin immer näher rückte, steigerte sich auch die Sorge, die ich mir um meine Liebste machte. Auch wenn es heutzutage kein Risiko mehr darstellt, wenn Frauen um die vierzig ein Kind zur Welt bringen, ist es immer noch ein Unterschied, ob es die dritte oder die erste Geburt ist. Abgesehen davon freute sich Miriam über jeden meiner Anrufe, was jedes Mal einen Bonuspunkt für schlechte Zeiten bedeutete.

„Chef, die Liste ist soeben hereingekommen. Ich habe Sie Ihnen gleich ausgedruckt. Lauter bekannte Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft.“ „So schnell hatte ich gar nicht damit gerechnet“, staunte ich nicht schlecht. Ich sah Trude durchdringend an. „Für diese Namensliste gilt übrigens das Gleiche“, sensibilisierte ich meine Mitarbeiterin zu absoluter Diskretion. Nachdem ich selber einen Blick auf die Namen geworfen hatte, war mir klar, wie viel Vertrauen mir mein Auftraggeber entgegengebracht hatte. Auf dieser Liste war wirklich alles vertreten, was in Niedersachsen Rang und Namen hatte. Da musste ich mehr als sensibel zu Werke gehen.

6

„Was Sie da geleistet haben, ist aller Ehren wert, Herr Schlitter. Ich kenne nicht viele, die wie Sie gehandelt hätten“, lobte der Oberkommissar. „Als ich die Frau in der Oker treiben sah, wusste ich ja nicht, ob es sich um eine Tote handelte“, erklärte der Obdachlose. „Gleich nach dem Gewitter war außer mir niemand da, den ich um Hilfe bitten konnte“, beschrieb Rudi die Situation. „Ich konnte die Frau doch nicht absaufen lassen.“ „Dank Ihrer mutigen Tat wissen wir jetzt wenigstens, dass es sich bei der Toten um eine Frau handelt.“

In Rudis Gesicht zeichnete sich ein Fragezeichen ab. „Der Leichnam war gestern schon einmal gesehen worden“, erklärte Sinner. „Leider war er dann wie vom Erdboden verschwunden und konnte daher nicht geborgen werden.“ „Wie ist sie ums Leben gekommen?“, erkundigte sich Rudi Schlitter. „Das können wir noch nicht sagen. Der Leichnam ist in das Institut für Pathologie gebracht worden, um dort rechtsmedizinisch untersucht zu werden.“

„Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen, aber irgendwie fühle ich mich für diese junge Frau verantwortlich“, versuchte Rudi seine Gefühle zum Ausdruck zu bringen. „Ich glaube, ich weiß, was Sie meinen“, sinnierte der Oberkommissar. „Wir werden herausbekommen, wer sie war und wir werden erfahren, ob sie eines gewaltsamen Todes starb, oder ob es sich um einen Unfall handelt.“ „Es wäre sehr freundlich von Ihnen, wenn Sie mir das Ergebnis Ihrer Ermittlungen mitteilen würden“, bat Rudi. „Wie erreiche ich Sie?“ „Ich melde mich bei Ihnen.“

Während der folgenden Tage wurde das Ufer der Oker, oberhalb der Stelle, an der die Kinder den Leichnam zum ersten Mal sahen, an beiden Seiten mittels Hunden abgesucht. Die Stelle, an der die junge Frau in den Fluss stürzte, war schnell gefunden. Die Mitarbeiter der Spurensicherung fanden trotz des Gewitters noch Blutspuren, die auf einen Unfall hindeuteten. Dieser Eindruck vertiefte sich durch das Ergebnis der Obduktion und die Rekonstruktion des Unfalls. Aufgrund der Veröffentlichung des Fotos von der jungen Frau meldeten sich am gleichen Tag unter anderen die Eltern der Toten und identifizierten ihre Tochter als Tina Weingärtner.

Somit konnte Oberkommissar Sinner den Fall bereits nach wenigen Tagen als geklärt zu den Akten legen. Als besonders tragisch galt der Umstand, dass die Tote im vierten Monat schwanger war. Ein Umstand, der die Mutter der jungen Frau nicht zur Ruhe kommen ließ.

„Ich kenne meine Tochter, Herr Oberkommissar“, beschwor sie Sinner. „Sie war immer sehr vorsichtig und umsichtig bei allem, was sie tat. Sie wäre niemals so nah an das Ufer eines Flusses getreten. Und schon gar nicht in ihrem Zustand. Glauben Sie mir, da stimmt etwas nicht.“ „Ich verstehe Ihren Schmerz, Frau Weingärtner, aber ich versichere Ihnen, wenn wir nur den kleinsten Anhaltspunkt für ein Gewaltverbrechen hätten, würden wir natürlich weiter ermitteln.“

Rosemarie Weingärtner ließ sich nicht überzeugen. „Tina hat uns nichts von dieser Schwangerschaft erzählt. Sie wusste, dass wir uns über einen Enkel freuen würden. Sie hatte folglich keinen triftigen Grund, uns nichts davon zu erzählen.“ Sinner zog sich die Akte und sah sich nochmals das Ergebnis der Obduktion an. „Ihre Tochter war dem Befund zu Folge in der vierzehnten Woche. Es wäre nichts Ungewöhnliches, wenn sie zu diesem Zeitpunkt noch gar nichts von ihrer Schwangerschaft geahnt hat“, mutmaßte der Oberkommissar.

„Werden Sie sich den Fall noch einmal ansehen?“, ließ sich die Mutter der Toten nicht beirren. Sinner schüttelte den Kopf. „Der Staatsanwalt hat die Ermittlungen bereits einstellen lassen. Er wird die Akte nur dann nochmals öffnen, wenn sich neue Indizien ergeben, die dem Fall eine Wendung geben würden.“ „Dann werden wir dafür sorgen, dass es diese Indizien geben wird!“ „Aber gute Frau, so glauben Sie mir...“ „Von glauben wird der Bauch nicht fett, Herr Oberkommissar. Wenn Sie nicht gewillt sind, den Fall weiterzuverfolgen, dann werden mein Mann und ich eben die nötigen Beweise beibringen.“ „Bitte, Frau Weingärtner, machen Sie nichts Unüberlegtes.“