Detektei Lessing

Band 36

Satisfaktion

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„Tobias! Tobias!“, rief Katrin Plagge über den Spielplatz. „Lass den Unsinn und komm jetzt!“ Die gestresst wirkende Frau versuchte sich ihren Unmut nicht anmerken zu lassen. „Du brauchst dich nicht zu verstecken“, rief sie dem Fünfjährigen zu. „Ich verspreche dir, dass du keinen Ärger bekommst. Es ist nicht so schlimm, wenn man die Zeit mal vergisst.“ Sie sah sich nach allen Seiten um und rief dabei immer wieder den Namen ihres Jungen. Mit jedem möglichen Versteck, in dem sie erfolglos nachsah, kam mehr Panik in ihr auf. Nachdem sie den ganzen Spielplatz abgesucht hatte, lief sie nach Hause. Vielleicht war Tobias inzwischen daheim und sie hatten sich nur verfehlt.

Als sie den Eingang des Mehrfamilienhauses erreichte und ihren Sohn auch hier nicht antraf, zog es ihr fast den Boden unter den Füßen weg. Da das Schloss mit einem Knauf versehen war, ließ sich die Tür nicht ohne Schlüssel öffnen, aber eventuell hatte ihn einer der Hausbewohner mit hineingenommen. Sie schloss auf, stieß die Tür zur Seite und rannte die Treppen hinauf. „Tobias!“ Aber er war auch nicht vor ihrer Wohnungstür. Möglicherweise wartete er ja bei ihrer Nachbarin und Freundin, schoss es ihr durch den Kopf.

Sie klingelte Sturm und hämmerte wie besessen gegen die Tür der Nachbarwohnung. „Manuela! Bist du zu Hause? Manuela!“ „Meine Güte, was ist denn los?“, hörte Katrin Plagge ihre Freundin, während diese die Wohnungstür öffnete. „Ist Tobias bei dir?“, erkundigte sich die junge Frau. „Nein, aber komm erst einmal herein. Du bist ja völlig aufgelöst.“ „Ich kann nicht, ich muss Tobi suchen. Er war nicht mehr auf dem Spielplatz“, stammelte sie. Ihre Freundin griff nach einer Jacke und dem Schlüsselbund und folgte der entsetzten Mutter nach unten.

„Er ist ja nie so pünktlich, aber als er um 18 Uhr immer noch nicht zu Hause war, bin ich zum Spielplatz rüber“, erzählte Katrin auf dem Weg über die kaum befahrene Straße. „Vielleicht hat er sich ja auch nur wegen der Verspätung versteckt und hat jetzt Angst“, mutmaßte Manuela. „Er muss doch wissen, dass ich ihn nicht schlage“, schüttelte Katrin den Kopf. „Na ja, manchmal wirst du schon etwas lauter, wenn du mit ihm schimpfst“, verzog ihre Freundin das Gesicht. „Prima, Vorhaltungen sind jetzt genau das, was ich brauche! Tobias!“

Nachdem die Frauen den Spielplatz ein weiteres Mal ergebnislos abgesucht hatten, setzte bereits die Dämmerung ein. „Ich muss Andreas auf der Arbeit anrufen“, schniefte Katrin. „Du solltest zuerst die Polizei anrufen“, riet ihre Freundin. „Vielleicht gab es einen Unfall und Tobias musste ins Krankenhaus. Es muss ja nichts Schlimmes sein“, ergänzte sich Manuela, weil sie erst im Nachhinein über ihre Worte nachgedacht hatte. Katrin war fast das Herz stehen geblieben. An einen Unfall hatte sie noch gar nicht gedacht.

Sie zögerte keine Sekunde länger mit dem Anruf bei der Polizei. Dort versprach man ihr, sich zu kümmern und sofort zwei Kollegen zu schicken. Dennoch wuchs ihre Ungeduld bis zum Eintreffen der Polizei mit jeder Minute ins Unermessliche. Daran änderte auch der Anruf bei ihrem Ehemann nichts. Wie immer machte er ihr zunächst Vorwürfe, ehe er ihr versprach, so bald wie möglich nach Hause zu kommen.

Eine gute Stunde später wimmelte es vor dem Spielplatz am Scheffelhof von Einsatzfahrzeugen der Polizei. Wann immer ein Kind in Tobias Alter vermisst wird, bieten die Ordnungshüter alles an Mann und Equipment auf, was ihnen zur Verfügung steht. Ein Hundeführer war ebenso im Einsatz wie ein Zug des technischen Hilfswerks, um auch die Umgebung rund um den Spielplatz abzusuchen. Da es im September in der Nacht schon empfindlich kühl wird, suchten die Einsatzkräfte bis zum frühen Morgen, ehe sie durch eine Hundertschaft abgelöst wurden.

Die Suche blieb jedoch auch bis zum Abend ergebnislos. Längst kümmerten sich Kriminalbeamte um den Fall. Sie erkundigten sich bei den Eltern um deren Vermögensverhältnisse und um ihre Arbeit. Eine Entführung musste in Erwägung gezogen werden. Beamte der Kriminaltechnik installierten am Telefonanschluss ein Aufzeichnungsgerät und entsprechendes Equipment zur Rückverfolgung eines eingehenden Anrufs der möglichen Entführer.

Parallel wurde in der Nachbarschaft nach möglichen Beobachtungen gefragt. Auf dem inzwischen abgesperrten Spielplatz waren weitere Beamte der Spusi mit der Sicherung von eventuell vorhandenen Spuren beschäftigt. Durch die vielen Helfer hatte Kriminalhauptkommissar Roderich Gärtner kaum Hoffnung, dass es noch verwertbare Spuren gab. Den einzigen Anhaltspunkt lieferte ein Zeuge, der an den beiden vorangegangenen Tagen in der Höhe des Spielplatzes einen weißen Sprinter bemerkt hatte. Auf das Kennzeichen achtete er leider nicht.

Auch eine Woche nach Tobias Verschwinden gab es weder eine Nachricht von dem Jungen noch von den Entführern. Inzwischen musste die Kriminalpolizei weitere Kriterien für das Verschwinden des Jungen in ihre Ermittlungen mit einbeziehen. Ein möglicher Grund könnte der Missbrauch des Jungen sein. Die traurige Erfahrung bei ähnlich gelagerten Fällen zeigt, dass eine solche Schändung oftmals im direkten Umfeld des Jungen stattfindet. Demzufolge wurden alle Bekannten der Familie und sogar Angehörige verhört.

In diesem Zusammenhang kam es zu mehreren Hausdurchsuchungen, die allesamt ergebnislos blieben. Tobias Plagge blieb verschwunden. Etwa drei Monate später erhielten die Ermittler der SOKO Tobias durch ihre Wolfenbütteler Kollegen Kenntnis von einem weiteren Vermisstenfall, der ähnlich gelagert war. Auch in Wolfenbüttel war ein etwa gleichaltriges Kind unter den Augen ihrer Mutter von einem Spielplatz verschwunden.

Grund genug für den Leiter der Ermittlungsgruppe nach Wolfenbüttel zu fahren und sich vor Ort mit Oberkommissar Sinner kurzzuschließen. Vielleicht gab es weitere Gemeinsamkeiten, die beide Fälle verbanden? Wenn es so war, gab es möglicherweise hier weitere Zeugenaussagen, die ihn voranbrachten.

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„Guten Tag Herr Gärtner“, begrüßte Oberkommissar Sinner seinen Wolfsburger Kollegen auf dem Parkplatz vor der Polizeidienststelle an der Lindener Straße. „Hatte Sie eine gute Fahrt?“ Gärtner sah seinen jüngeren Kollegen irritiert an. „Ja klar, so weit ist Wolfsburg ja nun auch nicht von Wolfenbüttel entfernt.“ „Stimmt“, kratzte sich Sinner verlegen hinter dem linken Ohr. „Aber danke der Nachfrage“, entgegnete der Hauptkommissar lächelnd. „Mein Navi hat mich gut zu Ihnen geführt.“ „Ja natürlich, das Navi.“

„Am besten zeigen Sie mir gleich den Spielplatz, von dem die kleine Paula verschwand.“ „Jetzt gleich? Ich dachte...“ Sinner biss sich auf die Lippe. „Ja klar, Zeit ist Geld, nicht wahr?“ „Ich mache mir gern persönlich ein Bild von den Begebenheiten“, erklärte Gärtner. „Wir fahren am besten mit meinem Wagen“, schlug Sinner vor und drückte auf die Fernbedienung seines Dienstwagens.

Kurz darauf parkte der Oberkommissar seinen Audi an der Grüssauer Straße. „Wir müssen noch ein paar Meter zu Fuß gehen“, deutete Sinner auf einen Grünstreifen, der sich von der Straße aus auf einer Breite von etwa fünfzig Metern zwischen zwei Häuserzeilen in nördliche Richtung schlängelte. „Das Ganze ist ein Regenrückhaltebecken“, erklärte er seinem Gast aus Wolfsburg. „Elegante Lösung“, lobte Gärtner, der sich alles genau ansah.

Nachdem die Kommissare ein gutes Stück gegangen waren, deutete Sinner auf eine Bank, die sich in der Nähe eines Piratenschiffs befand. „Hier hat die Mutter des Mädchens gesessen und in ihrem Buch gelesen“, erklärte Sinner. „Irgendwann als sie nach Paula sah, war sie schließlich verschwunden. Ihren Angaben zufolge legte sie die Lektüre daraufhin zur Seite und ging zum Schiff hinüber, um genauer nachzusehen.“

Gärtner sah sich hinter dem Holzschiff um, sondierte den Weg bis zur Straße, ging den Weg und stoppte die Zeit. „Im Grunde genommen ist dieser Spielplatz für eine Entführung völlig ungeeignet“, resümierte er. „Die Gefahr, mit dem Kind entdeckt zu werden, ist viel zu groß. Überall stehen Häuser, von denen er bei der Tat beobachtet werden könnte. Wenn er die Kleine betäubt hätte, wäre das ganz sicher bei ihrem Abtransport aufgefallen. Hätte er sie gegen ihren Willen mit sich gezogen, hätte sie geschrien, was ebenso aufgefallen wäre“, überlegte Gärtner weiter. „Nein, das Kind muss freiwillig mitgegangen sein.“

„Zu genau dieser Überzeugung sind wir auch gekommen“, stimmte Sinner zu. „Paula kannte ihren Entführer also, oder aber er hat sie bestochen.“ „Was sagen denn die Eltern dazu?“, erkundigte sich der Hauptkommissar. „Die Mutter sagt, dass sie ihr mehrfach gesagt hat, niemals mit einem Fremden mitzugehen. Sie hat sogar ein Passwort mit ihrer Paula ausgemacht. Sie ist davon überzeugt, dass sich ihre Tochter darangehalten hätte.“ Gärtner wägte nachdenklich den Kopf. „Das würde bedeuten, dass sie von jemandem verschleppt wurde, den sie kannte.“

Der Hauptkommissar deutete auf die Häuser, die sich in der Nähe des Spielplatzes befanden. „Was ist mit den Anwohnern? Wurden alle befragt?“ „Wir waren annähernd eine Woche lang unterwegs. Sind von Tür zu Tür gegangen. Das Ergebnis war gleich null. Zur Tatzeit waren die meisten auf der Arbeit.“ „Bei unserem Fall in Wolfsburg fiel ein weißer Kastenwagen auf“, bekundete Gärtner. Sinner verzog nachdenklich das Gesicht. „Da war nichts.“

„Ist die Mutter jetzt zu Hause?“ „Ich gehe davon aus“, nickte Sinner. „Dann würde ich die Frau jetzt gern befragen“, erklärte Gärtner. „Sie verlieren keine Zeit, das muss man sagen.“

„Petra Scholz, Ralf Lühring“, las Hauptkommissar Gärtner das Klingelschild vor. „Paulas Eltern sind nicht miteinander verheiratet“, erklärte Sinner. Gärtner nickte, während er den Klingeldrücker betätigte. Nur wenig später vernahmen sie ein neugieriges „Hallo?“ über den Lautsprecher der Sprechanlage. „Sinner“, gab sich der Kommissar zu erkennen. Der daraufhin einsetzende Summton animierte zum Aufdrücken der Tür.

Petra Scholz empfing ihren Besuch an der Wohnungstür. Sie war eine attraktive Frau in den besten Jahren. Ihre Augen waren vom vielen Weinen rot und geschwollen. Ihr blondes Haar ließ keine Frisur erkennen und ihre Kleidung wirkte so, als sei sie schon seit Tagen nicht mehr gewechselt worden. „Gibt es etwas Neues? Haben Sie Paula gefunden?“ „Leider nicht, Frau Scholz“, entgegnete Sinner seufzend. „Das ist Hauptkommissar Gärtner“, stellte er seinen Begleiter vor. „Ein Kollege aus Wolfsburg. Er ermittelt ebenfalls in einer Vermisstensache.“ „Kommen Sie bitte herein.“

„Guten Tag Frau Scholz. Es tut mir sehr leid, was mit Ihrer Paula geschehen ist. Ich würde Sie gern zu dem Tag befragen, an dem Ihre Tochter verschwand. Möglicherweise haben die beiden Fälle miteinander zu tun. Paula ist im selben Alter wie der Junge, der vor drei Monaten in Wolfsburg verschwand.“ „Weshalb glauben Sie, die Fälle hätten etwas miteinander zu tun?“, hakte Petra Scholz nach. Sie wirkte überlegt und sortiert, gar nicht mehr so nervös wie gerade noch an der Wohnungstür.

„Es gab bislang keine Lösegeldforderung. Wir müssen also auch in Paulas Fall davon ausgehen, dass es bei einer möglichen Entführung um keinen finanziellen Hintergrund handelt.“ „Sehen Sie sich um“, deutete sie auf die Einrichtung ihrer Wohnung. „Bei uns gibt es keine Reichtümer zu holen. Wir kommen gerade so über die Runden. Mir war von Anfang an klar, dass es einen anderen Grund geben musste.“ „Sie sind eine kluge Frau. Ist Ihnen an den Tagen vor Paulas Verschwinden ein weißer Kastenwagen aufgefallen?“ „Sie meinen einen Sprinter?“ „Genau“, bestätigte Gärtner.

Petra Scholz schüttelte den Kopf. „Ist das Kind in Wolfsburg in so einem Wagen verschleppt worden?“ „Wir können es nicht mit Sicherheit sagen, aber es ist möglich.“ „Ich will gar nicht daran denken, was meiner Kleinen alles zugestoßen sein könnte“, kamen Paulas Mutter die Tränen. „Versprechen Sie mir, dass Sie mein Kind finden werden.“ Gärtner sah sie mitfühlend an. „Ich verspreche Ihnen, dass wir alles tun werden, was in unserer Macht liegt.“

-3-

Auch wenn es, abgesehen von der Tatsache, dass beide Kinder von einem Spielplatz verschwanden und dass keine Lösegeldforderungen eingingen, ansonsten keine Gemeinsamkeiten zu geben schienen, hielten sich Sinner und Gärtner auch weiterhin hinsichtlich der Ermittlungen auf dem Laufenden. So wurden auch im Wolfenbütteler Fall Bekannte und Familienangehörige verhört und nach ihren Alibis befragt. Dabei geriet ein Neffe von Ralf Lühring in das Visier der Ermittler.

Der geistig zurückgebliebene junge Mann verfing sich bei seiner Befragung immer wieder in Widersprüche und konnte zudem kein stimmiges Alibi vorweisen.

„Sie mochten Paula also“, wiederholte Schubert die Einlassung des Neunzehnjährigen. „Natürlich, wir haben oft zusammengespielt“, bestätigte Timo, ohne dabei einen Hintergedanken zu haben. „Wo habt ihr denn dann gespielt?“, hakte der Kommissar nach. Auf dem Spielplatz“, entgegnete der Neffe von Ralf Lühring. „Meistens waren wir im Piratenschiff.“ „Waren Sie auch an dem Tag dort, an dem Paula verschwand?“ Timo überlegte angespannt. „Ich weiß nicht“, sagte er schließlich und zuckte mit den Schultern. „Kann es sein, dass Sie Paula an diesem Tag mitgenommen haben?“ „Nein, ich weiß nicht. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern.“

„Versuchen Sie sich bitte zu erinnern“, forderte ihn Schubert auf. „Was ist denn mit Paula?“, versuchte sich Timo zu konzentrieren. „Sie ist an dem Tag verschwunden, an dem Sie das letzte Mal mit ihr auf dem Spielplatz waren.“ „Ich weiß nicht, wo Paula ist“, beteuerte der Junge. „Ich habe nichts Böses mit ihr gemacht!“ „Weshalb wurden Sie nicht von Paulas Mutter bemerkt?“ „Sie will nicht, dass ich mit Paula spiele.“ „Wissen Sie, warum das so ist?“ Timo zuckte mit den Achseln.

„Sie haben also zusammen im Piratenschiff gespielt“, nahm Schubert den Faden erneut auf. „Hatten Sie Streit mit Paula?“ „Wir hatten nie Streit“, bekundete Timo. „An diesem Tag war es anders als sonst“, suggerierte der Kommissar. „Sie stritten sich mit Paula. Was geschah dann?“ Timo sah den Ermittler zornig an. „Das stimmt nicht! Wir haben uns nicht gezankt. Warum sagen Sie das? Ich würde Paula nie ärgern, sie ist doch noch klein.“

„Also gut, angenommen ich glaube Ihnen...“, lenkte Schubert ein, „...wann sind Sie gegangen und haben Sie dabei eine andere Person gesehen, die nicht auf den Spielplatz gehört?“ Timo dachte angespannt nach. „Da war eine Frau mit einem Kinderwagen. Die kannte ich nicht.“ „Sonst haben Sie niemanden gesehen?“, hakte Schubert nach. „Doch, natürlich, aber Sie fragten doch nach Leuten, die sonst nicht auf dem Spielplatz sind.“ „Ja natürlich, da hast du recht. Ich meine Sie haben recht.“ „Och, Sie können mich ruhig duzen, das machen alle.“

„Ich finde es nur merkwürdig, dass du dich an die Frau mit dem Kinderwagen sehr gut erinnern kannst, aber nicht daran, ob du Paula an diesem Tag mitgenommen hast“, verunsicherte Schubert den Jungen. „Ich…ich weiß nicht mehr.“ „Also gut, weißt du denn dann wenigstens noch, wann du gegangen bist?“ Der Befragte rutschte nervös auf dem Stuhl hin und her. „Früh genug, um pünktlich zu Hause zu sein“, beteuerte Timo. Schubert seufzte. „Wann musst du denn daheim sein?“ „Immer zum Abendbrot.“ „Und um welche Uhrzeit ist das?“, bewies der Kommissar Geduld. „Na um sechs“, entgegnete der Junge wie selbstverständlich.

Im selben Moment klingelte Schuberts Handy. „Der Betreuer des Jungen möchte eine Unterbrechung“, hörte er die Stimme seines Chefs. „Aber ich habe ihn doch gleich...“ „Jetzt!“, fiel ihm Oberkommissar Sinner ins Wort. Schubert schob wütend den Stuhl zurück und verließ den Vernehmungsraum. „Herr Rademeier ist der Meinung, dass sein Schützling einen Rechtsbeistand benötigt.“ Der Kommissar verdrehte die Augen. „Ich habe ihm gesagt, dass dies nicht nötig sein wird, weil wir keine weiteren Fragen an seinen Schützling haben.“ „Wie bitte?“, konnte Schubert die Worte seines Vorgesetzten nicht nachvollziehen. „Timo ist behindert. Sie wissen genauso gut wie ich, dass er unter einem besonderen Schutz steht. Im Grunde hätten wir ihn gar nicht in dieser Weise verhören dürfen.“

Während sich die Kommissare auf dem Flur vor ihrem Büro einen Becher Automatenkaffee gönnten, verließen Timo und sein Betreuer die Dienststelle. „Er hat kein Alibi“, bemerkte Schubert. „Ich glaube ihm kein Wort, der spielt uns hier doch nur was vor. Ich bin mir sicher, dass er die geistige Behinderung gezielt einsetzt, um uns zu täuschen.“ Sinner nahm einen Schluck aus dem Becher. „Pfui Teufel, der ist ja heute noch schlechter als sonst.“ Dann sah er seinen Kollegen nachdenklich an. „Also gut, wenn Sie so sehr von der Schuld des Jungen überzeugt sind, dann holen Sie sich alle erforderlichen Papiere, um ihn offiziell verhören zu dürfen. Ich will nicht, dass uns die Sache auf die Füße fällt.“ „Sie werden sehen, wie richtig ich mit meinem Gefühl liege.“

-4-

Während die Ermittler der Wolfsburger SOKO Tobias den Hinweis eines Zeugen auf einen weißen Sprinter nachgingen und in diesem Zusammenhang den Zeugen sogar unter Hypnose nach dem Nummernschild befragten, musste Kommissar Schubert von der Wolfenbütteler SOKO Paula den Verdacht gegen den geistig behinderten Timo Lühring fallen lassen. Der so genannte Onkel des Mädchens war auf seinem Heimweg vom Spielplatz gesehen worden.

Vermisstenanzeigen und Suchaufrufe in den Medien und den sozialen Netzwerken erbrachten einige Fehlmeldungen, denen beide SOKOs vergebens nachgingen. Gerade als die Fälle ihr Interesse in der Öffentlichkeit verloren, wurde ein weiteres Kind von einem Spielplatz in Braunschweig entführt. Die kleine Larissa Mittag war im selben Alter wie Paula. Ihr Vater hatte sie nur für die Dauer von fünf Minuten allein gelassen, um sich Zigaretten zu holen. Als er zum Spielplatz an der Georg-Westermann-Allee zurückkehrte, war seine Tochter verschwunden.

Den Roller, den sie zu ihrem fünften Geburtstag bekommen hatte und den sie niemals aus den Augen ließ, stand unbeachtet hinter dem Klettergerüst. Ihr Vater dachte sofort an das verschwundene Mädchen in Wolfenbüttel und zögerte daher keine Sekunde mit dem Anruf bei der Polizei. Eine halbe Stunde später hatten die zuständigen Kriminalbeamten eine Suchaktion organisiert, die Braunschweig bis dato noch nicht erlebt hatte.

Schnell war klar, dass die Eltern des vermissten Kindes ebenso wenig vermögend waren wie die Eltern der anderen Entführungsopfer. Grund genug, dass sich bereits zwei Tage nach der dritten vermeintlichen Entführung, das Landeskriminalamt Hannover der Sache annahm. Die zuständigen Ermittler konzentrierten das Wissen der drei Fälle und holten einen versierten Profiler und einen Psychologen in ihr Team, welcher bereits mehrfach für das LKA tätig war. Die gegründete SOKO trug den Namen Scheffelhof. Der Ort, an dem das erste Kind verschwand.

„Seit das erste Kind entführt wurde, sind 9 Monate vergangen“, begann der leitende Hauptkommissar das Briefing. „Trotz intensiver Fahndungen gab es auf keines der Kinder einen Hinweis, der die Kollegen in einem der SOKOs weiterbrachte“, seufzte er. „Es wurde weder Lösegeld gefordert noch tauchte auch nur eines der Kinder auf einschlägigen Internetseiten auf. Derzeit können wir nur vermuten, dass die Kinder von ein und demselben Täter entführt wurden.“ „Was verleitet Sie zu dieser Annahme?“, erkundigte sich einer der Kollegen. „Dazu kann Ihnen Frau Doktor Markwart sicher mehr sagen“, übergab er an die Psychologin.

„Wie Sie wissen, haben wir bislang keinerlei Erkenntnisse zur Person des oder der Entführer. Daher habe ich mich mit der Psyche der vermissten Kinder beschäftigt“, erklärte Frau Doktor Markwart. „Dabei fielen mir durchaus Parallelen auf. Den Beschreibungen ihrer Eltern, Erziehern und den Nachbarn zufolge handelt es sich um lebhafte und sehr aufgeweckte Kinder. Den Erziehern in den Kitas zufolge verstehen sich alle drei gegenüber den anderen Kindern in besonderer Weise durchzusetzen. Es handelt sich also in allen drei Fällen um sehr willensstarke Kinder.“

„Wenn ich Sie richtig verstehe, gehen Sie davon aus, dass der oder die Täter die Kinder bewusst ausgewählt haben“, schlussfolgerte Hauptkommissar Roderich Gärtner von der SOKO Tobias. „So ist es“, bestätigte die Psychologin. „Das setzt voraus, dass die Kinder intensiv und über einen längeren Zeitraum beobachtet wurden“, sinnierte Tim Sinner, der im Wolfenbütteler Entführungsfall ermittelte.

„Genau das ist unser Problem“, ergriff der Leiter der SOKO Scheffelhof erneut das Wort. „Es ist mehr als verwunderlich, dass der Täter dabei niemandem auffiel.“ „Wir haben auch die Erzieher in den Kitas überprüft“, erklärte Sinner. „Wir konnten keine Verbindung nach Braunschweig oder Wolfsburg ermitteln.“ „Was ist mit dem weißen Sprinter, der in Wolfsburg gesehen wurde?“, erinnerte sich ein Braunschweiger Ermittler. „Fiel der Wagen möglicherweise bei den anderen Entführungen auf?“ „Wir haben gezielt danach gefragt“, entgegnete Sinner. „Leider konnte sich keiner der Befragten an einen solchen Wagen erinnern.“

„Solange es keine Spur zu einem der Kinder gibt und das Motiv für die vermeintlichen Entführungen im Unklaren liegt, stochern wir mit unseren Mutmaßungen in einem dichten Nebel“, resümierte der Leiter der SOKO Scheffelhof. „Daran ändert auch der Fingerabdruck nichts, den die Kollegen auf dem Tretroller fanden, welcher bei der Entführung in Braunschweig zurückgelassen wurde. Der Abgleich in der Datenbank brachte leider keinen Treffer.“ „Uns wird also nichts anderes übrigbleiben, als auf einen Fehler der Täter zu hoffen“, brachte es Hauptkommissar Gärtner auf den Punkt.

 

-5-

„Steht heute irgendetwas an, Trude?“, erkundigte ich mich bei meiner Putzsekretärin, kaum dass ich die Tür zu meiner Detektei hinter mir geschlossen hatte. „Guten Morgen, Chef“, entgegnete die gute Seele mit betont provokanter Stimme. „Ja, ja, einen guten Morgen auch für Sie.“ „Na, geht doch“, lächelte sie triumphierend. „Sie haben in einer halben Stunde einen Termin mit einer Petra Scholz und ihrem Lebensgefährten.“ „Na gut, ein zweiter Fall kann nicht schaden. Haben Sie schon eine Ahnung, um was es geht?“ „Ein Vermisstenfall“, erinnerte sich Trude an das Telefongespräch mit der potentiellen Auftraggeberin. „Na, dann kochen Sie uns mal eine Tasse von Ihrem leckeren Kaffee. Ich schlage mich inzwischen mit der Sachbearbeiterin von der Idona Versicherung herum.“

Die Nachforschungen zur Wiederbeschaffung von Diebesgut, welches bei Einbrüchen gestohlen wurde, sind für einen Detektiv nur dann lukrativ, wenn er erfolgreich ist. Eine Bezahlung erfolgt nämlich ausschließlich im Prozentsatz zum Gegenwert des Versicherungsgutes. In Fall einer Einbruchserie in Salzgitter Lebenstedt gelang es mir, die sogenannte Hehlerware in einem An und Verkauf Handel aufzuspüren. Da sich jeder strafbar macht, der mit solchen Gütern handelt, reichte ein Hinweis bei der Polizei, um diese Gegenstände sicherzustellen. Da sich Versicherungsgesellschaften oftmals zieren, wenn es um die Begleichung der Prämien geht, hatte ich mir die Liste der sichergestellten Objekte von der Verwahrungsstelle quittieren lassen. Bei der Wiederbeschaffung durch die Polizei kann diese Prämie nämlich eingespart werden.

Ich war immer noch im Telefongespräch mit der reizenden Sachbearbeiterin der Idona, als der von Trude angekündigte Termin auch schon in meinem Vorzimmer auflief. „Guten Tag, Frau Scholz, Herr Lühring. Ich darf Sie noch um einen Augenblick Geduld bitten, Herr Lessing befindet sich noch in einer wichtigen Telefonkonferenz.“ „Kein Problem“, zeigte die junge Frau Verständnis. „Ich möchte wissen, weshalb man eine Woche vorher einen Termin macht, wenn man dann doch warten muss“, hielt ihr Begleiter seinen Unmut nicht zurück. Die Reaktion ihres Lebensgefährten berührte Petra Scholz eher peinlich.

„Kann ich Ihnen in der Zwischenzeit einen Kaffee anbieten?“ „Das ist ja wohl das Mindeste“, trieb Ralf Lühring seinen Ärger auf die Spitze. Meine potentielle Auftraggeberin wäre am liebsten im Erdboden versunken. Trude bemerkte natürlich, wie peinlich ihr das Verhalten ihres Begleiters war und ging nicht weiter darauf ein. „Wie gesagt, es dauert nur einen Augenblick.“

Einige Minuten später hatte ich meine Interessen mit der Versicherung geklärt. Mehr als zufrieden mit dem erzielten Ergebnis, beendete ich das Gespräch mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Dieses gute Gefühl stand mir auch noch ins Gesicht geschrieben, als ich meine Klientin und ihre Begleitung in mein Büro bat. Hätte ich gewusst, aus welch traurigem Anlass mich die Frau aufsuchte, wäre ich weniger ausgelassen in unser Gespräch gegangen.

„Nehmen Sie bitte Platz. Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“ „Danke, wir hatten gerade einen Kaffee“, entgegnete Petra Scholz. „Was kann ich für Sie tun?“ „Es ist inzwischen fast vier Jahre her, dass meine Paula vor meinen Augen entführt wurde.“ Ich hörte aufmerksam zu. „Es kam nie zu einer Lösegeldforderung und so konnte die Polizei Paula auch nicht finden.“ Ich erinnerte mich an eine Serie von Kindesentführungen, die vier Jahre zuvor ganz Niedersachsen erschütterte.

„Ihre Tochter war eines der vier Kinder, die man in Wolfsburg, Braunschweig, Hannover und hier in Wolfenbüttel von Spielplätzen entführte?“ Frau Scholz nickte betreten. „Zunächst waren es drei Fälle“, erklärte Ralf Lühring. „Die ersten Kinder waren in Abständen von jeweils einem Vierteljahr verschwunden. Da es so gut wie keine Hinweise gab, verdächtigte die Polizei sogar meinen Neffen und nahm ihn in Untersuchungshaft. Was völliger Bullshit ist“, erregte sich der kräftige Mann. „Sie müssen wissen, dass Timo geistig behindert ist. Er hätte die Kinder gar nicht kidnappen können.“

Ich erinnerte mich, dass Kommissar Schubert seinerzeit ins Kreuzfeuer der Öffentlichkeit geriet und sich einiger Attacken erwehren musste. „Als es nach dieser Zeitspanne keine weitere Entführung gab, waren die Bullen sicher, dass sie den Täter hatten“, fuhr der Vater der kleinen Paula fort. „Einen Monat später verschwand dann das vierte Kind von einem Spielplatz in Hannover. Merkwürdigerweise fand sich erst dann eine Zeugin, die Timos Alibi bestätigte. Wenn Sie mich fragen, brauchte man damals nur ein Bauernopfer.“

„Ich kann Ihre Wut gut verstehen, aber glauben Sie mir, ein solches Verhalten gibt es nur in schlechten Filmen und nicht bei der deutschen Polizei.“ Nach vier Jahren vergeblicher Suche nach seiner Tochter war der Mann verbittert. Ich kannte Schubert und Sinner lange genug, um zu wissen, dass sie den Jungen nicht grundlos festgesetzt hatten.

„Was erwarten Sie sich von mir?“, wandte ich mich Paulas Mutter zu. „Ich habe all die Jahre auf die Polizei vertraut, habe gehofft, als ein Mädchen in Paulas Alter gefunden wurde, habe gebetet, wenn die Ermittler vom LKA einem neuen Hinweis nachgingen und war immer wieder enttäuscht, wenn es wieder nur kalter Kaffee war. Immer wieder hat man uns vertröstet, immer wieder ließ man mich spüren, dass ich selber schuld war. Ich vertraue der Polizei einfach nicht mehr.“

„Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, ich möchte nur keine falschen Hoffnungen in Ihnen wecken. Der Polizei steht ein ganz anderer Fahndungsapparat als mir zur Verfügung. Deren Möglichkeiten sind, gerade was einen solchen Fall betrifft, wesentlich komplexer.“ „Wenn all dies der Schlüssel zum Erfolg wäre, frage ich mich allerdings, weshalb meine Tochter nach vier Jahren immer noch nicht gefunden wurde.“

„Herr Lessing sagt die Wahrheit“, stimmte mir ihr Lebensgefährte zu. „Die Chance, dass er Paula findet ist gleich Null.“ „Na also derart aussichtslos ist es dann auch nicht. Selbstverständlich verfüge ich auch über Mittel und Wege“, verteidigte ich meinen Berufsstand. „Verstehen Sie mich richtig, Herr Lessing, aber ich war von Anfang an dagegen, Sie zu engagieren.“ „Vielen Dank für Ihre Offenheit, aber ich denke, es geht hier auch darum, Ihrer Partnerin das Gefühl zu geben, alles was möglich ist, unternommen zu haben, um Ihre Tochter zu finden.“ „...und Ihnen die Taschen zu füllen“, sprach er endlich aus, was er die ganze Zeit schon dachte.

„Wie kannst du nur etwas Derartiges sagen?“, war meine Klientin schockiert. Immerhin hatte mich ihr Lebenspartner bei meiner Berufsehre gepackt. „Damit Sie sehen, dass es mir nicht ums Geld geht, berechne ich Ihnen lediglich meine Spesen und eine Aufwandsentschädigung. Falls ich Ihre Tochter finde, entscheiden Sie selbst, ob Sie mir eine Prämie zahlen und in welcher Höhe die sein wird.“ „Das können wir unmöglich akzeptieren“, entgegnete Petra Scholz. „Weshalb nicht?“, reagierte Ralf Lühring dagegen sehr angetan. „Ich finde seinen Vorschlag nur fair.“ „Dann sind wir uns also einig“, hielt ich meiner Auftraggeberin die Hand entgegen. Sie willigte zögerlich ein, weil sie sich für ihren Lebensgefährten schämte.

„Als erstes würde ich mir gern ein genaues Bild von dem Ort und der Situation machen, als Ihre Tochter verschwand“, erklärte ich. „Am liebsten wäre es mir, wenn wir jetzt gleich auf den Spielplatz fahren könnten und Sie mir an Ort und Stelle alles zeigen.“ „Ohne mich, ich muss in die Spätschicht“, klinkte sich Paulas Vater aus. „Wir brauchen ihn nicht“, zerstreute Frau Scholz meine Bedenken. „Ralf war nicht dabei, als Paula verschwand.“ „Wie Sie meinen.“