Detektei Lessing

 

Band 43

 

Pleitegeier

 

-1-

Es war der frühe Morgen eines verregneten Frühlingstages, als eine Frau Mitte fünfzig die Anmeldung meiner Detektei betrat. Sie wirkte gehetzt und verängstigt. „Guten Tag, ist Herr Lessing zu sprechen?“ „Meine Güte, Sie sind ja völlig durchnässt“, entgegnete Trude besorgt. „Ja, der Chef ist da, aber im Augenblick befindet er sich gerade in einer Besprechung mit einem Klienten. So pitschnass wie Sie sind, sollten wir die Zwischenzeit nutzen und Sie erst einmal trockenlegen, Am Ende holen Sie sich sonst noch den Tod“, meinte sie es gut. So fertig wie die Frau in diesem Moment war, begann sie jedoch wegen Trudes Äußerung zu weinen. „Ich hole ein Handtuch“, erklärte meine Azubine, während sie sich von ihrem Schreibtisch erhob.

„Am besten, Sie setzen sich erst einmal und holen Luft“, bot ihr Trude inzwischen einen Platz im Wartebereich an. „Aber dann mache ich alles nass“, zierte sich die Frau. „Das lassen Sie mal meine Sorge sein“, wiegelte Trude mit einer lapidaren Handbewegung ab. Die nach wie vor zittrig wirkende Frau folgte den Worten meiner Putzsekretärin und ließ sich auf einen der Stühle nieder. „So, hier ist das Handtuch“, kehrte Leonie aus der Küche zurück. „Ich habe gar nicht mitbekommen, dass es so heftig regnet“, bemerkte sie. „Auf die Wetter-App kann man sich nicht verlassen.“

„Sie müssen bedenken, dass solche Fotos lediglich eine geringe Beweiskraft vor Gericht haben“, erklärte ich meinem Klienten, während wir mein Büro verließen. „Besser Sie suchen das Gespräch mit Ihrem Nachbarn“, riet ich ihm. „Niemals! Mit diesem Kretin kann man kein normales Gespräch führen“, entgegnete der streitsüchtige Mann leider unbelehrbar. „Nein, nein, es bleibt wie besprochen.“ „Wie Sie meinen“, zuckte ich mit den Achseln. „Schließlich zahle ich Ihnen eine ganze Stange Geld dafür“, erinnerte mich mein Auftraggeber. Mir war es letztlich recht. Auch wenn ich zugeben muss, dass mir sein Nachbar eigentlich leidtat.

Nachdem ich Herrn Ringer verabschiedet hatte, widmete ich mich der Dame im Wartebereich. Es war mir nicht entgangen, wie fahrig die Frau vor sich hinstarrte. „Können Sie Frau Kosin zwischenschieben, Chef?“, signalisierte mir Trude in vertrauter Weise, dass die Angelegenheit der Dame keinen Aufschub duldete. Da ohnehin nicht allzu viel zu tun war, wie eigentlich meistens und mich der Anblick der Frau neugierig machte, bat ich sie in mein Büro.

„Was führt Sie zu mir, Frau Kosin?“ Sie hielt sich die Hand vor den Mund und sah mich aus verweinten Augen mit einem von Panik getriebenen Blick beschwörend an. „Bitte, finden Sie meinen Mann.“ Meine Stirn krauste sich. Ich war mir nicht sicher, ob ich die Frau vor meinem Schreibtisch richtig verstanden hatte. „Sie vermissen also Ihren Ehemann.“ Renate Kosin holte einige Male tief Luft, ehe sie Worte fand. „Es geht nun schon seit einigen Wochen. Am Anfang dachte ich an eine Affäre, doch inzwischen bin ich mir sicher, dass Oskar etwas Ungesetzliches tut.“

Da waren in einem Satz gleich drei Mutmaßungen, die ich erst einmal sortieren musste. „Moment bitte. Nur der Ordnung halber. Sie befürchteten zunächst, dass Ihr Mann eine Affäre haben könnte. Darf ich erfahren, wie Sie darauf kamen?“ „Er hat sich in letzter Zeit verändert.“ „Inwiefern?“, hakte ich nach. „Na ja. Er war oft mit den Gedanken abwesend und schien mir gegenüber ständig ein schlechtes Gewissen zu haben. Telefonate, die er abrupt beendete, wenn ich den Raum betrat. Sein Handy flog nicht mehr im Haus herum, sondern befand sich ständig in seiner Hosentasche. Wir hatten nie Geheimnisse voreinander, doch mit einem Mal war alles anders. Eine Frau spürt so etwas.“

Die Falten auf meiner Stirn gruben sich tiefer ein. „Sorry, aber in diesem Zusammenhang denke ich eher an ein fremdes Parfüm oder an Lippenstift am Hemdskragen“, sprach ich aus der langjährigen Erfahrung eines privaten Ermittlers. Frau Kosin zuckte mit den Achseln. „Irgendwann war es dann so weit, dass ich meinen Mann bei einem dieser Telefonate belauschte. Eines war mir sofort klar. Er sprach nicht mit einer Frau und der Schweiß, der sich während des Telefonats auf seiner Stirn bildete, hatte nichts mit einer freudigen Erwartung auf ein Stelldichein zu tun.“

„Bekamen Sie etwas von dem mit, was besprochen wurde?“, versuchte ich mir einen Reim zu machen. „Ich bin mir nicht sicher, aber ich meine, es ging um irgendwelche Schlüssel, die Oskar besorgen sollte.“ Ich wurde hellhörig. „Was denn für Schlüssel?“ Ich sah die Frau vor meinem Schreibtisch gespannt an. „Mein Mann ist Schlosser. Er betreibt in der Stadt einen Schuh- und Schlüsseldienst.“ Diese Information ließ mich vollends aufhorchen. „Es ist derzeit sicherlich nicht einfach ein Geschäft wie dieses zu betreiben?“, sinnierte ich. „Oskar konnte den Laden zwar während der Pandemie geöffnet halten, aber während sich die Höhe der Miete nicht veränderte, halbierte sich sein Umsatz. Er hatte kurz vor dem Ausbruch von Corona neue, teure Maschinen gekauft, die er nur mit erheblichem Verlust zurückgeben konnte. Oskar versuchte zwar, sich nichts anmerken zu lassen, aber ich glaube er stand kurz vor der Insolvenz.“

„Weshalb sprachen Sie ihn nicht darauf an?“, versuchte ich mich in die Situation hineinzudenken. „Oskar ist ein sehr stolzer Mann, der mit seinen Problemen allein klarkommen will“, erzählte mir Frau Kosin. „Wenn er gewusst hätte, dass ich etwas bemerkt habe, hätte er sich mir gegenüber nur umso mehr verschlossen.“ „Das Problem kenne ich aus eigener Erfahrung“, räumte ich lächelnd ein. „Kommen wir auf den Grund Ihres Kommens“, lenkte ich das Gespräch auf das Verschwinden des Ehemannes.

Frau Kosin trank von dem Tee, den ihr Trude zubereitet hatte und legte das Handtuch zur Seite. „Na, geht es wieder etwas besser?“, erkundigte ich mich mitfühlend. „So ein Tee tut gut“, entgegnete sie. „Ihre Vorzimmerdamen sind wirklich sehr freundlich.“ „Ja, meine Assistentinnen und ich sind ein gutes Team“, bestätigte ich nicht ohne Stolz. „Wann haben Sie Ihren Mann denn zum letzten Mal gesehen?“ „Gestern in der Früh. Wir frühstückten zusammen, ehe er dann, kurz nach acht, das Haus verließ, um in seinen Laden zu fahren.“ Ich machte mir Notizen. „Wo betreibt er das Geschäft?“ „In der ‚Lange Straße‘, in der Nähe des Kinos.“

„Wann haben Sie ihn dann vermisst?“, hakte ich nach. „Oskar schließt den Laden zwischen dreizehn und fünfzehn Uhr. Er kommt dann zum Essen nach Hause. Es kann schon mal vorkommen, dass er sich etwas verspätet, aber als er um halb zwei immer noch nicht da war, rief ich ihn auf dem Handy an“, erklärte sie. „Ich hatte allerdings nur die Mailbox dran. Zunächst nahm ich an, dass der Akku leer war und habe es dann über die Festnetztelefonnummer versucht. Die war jedoch zunächst besetzt.“ „Später nicht mehr?“, stutzte ich. „Ich nahm an, er würde ein längeres Kundengespräch führen und wartete eine Weile, ehe ich es erneut versuchte. Da hatte ich dann ein Freizeichen, aber niemand ging ans Telefon.“

„Sind Sie ins Geschäft gefahren, um nachzusehen?“, hakte ich nach. „Ja, als er sich bis zum Abend nicht meldete, habe ich einen Unfall befürchtet, den er an einer seiner Maschinen gehabt haben könnte. Ich fuhr mit dem Bus in die Stadt. Die Eingangstür zum Geschäft war verschlossen. Da der Zweitschlüssel nur für den Hintereingang passt, bin ich von der ‚Karlstraße‘ aus in den Laden gegangen. Er war nicht da. Daraufhin habe ich die Krankenhäuser und unsere Freunde angerufen.“ Sie sah mich mit Tränen in den Augen an. „Er ist spurlos verschwunden und er hat sich auch bis jetzt nicht gemeldet. Es muss ihm etwas zugestoßen sein.“ Eine Schlussfolgerung, der ich mich mehr und mehr anschloss. „Oskar bleibt nicht einfach weg, ohne sich zu melden. Das ist einfach nicht seine Art.“ Frau Kosin öffnete ihre Handtasche und entnahm dieser einige Zettel, die sie vor mir auf den Schreibtisch legte. „Ich fand die Notizen, als ich in den Taschen seines Jacketts nach Beweisen für seine Untreue suchte.“ Ich warf einen Blick auf die Buchstaben und Zahlen.

„Das Ganze wirkt irgendwie nebulös auf mich“, räumte ich ein. „Vielleicht können Sie mir ja weiterhelfen.“ „Ich bin mir inzwischen sicher, dass die Kürzel etwas mit seiner Arbeit zu tun haben.“ Sie nahm einen der Zettel und deutete auf die Buchstabenfolge ‚GHS‘ und die Zahl 12. Dahinter ein Datum mit Uhrzeit und die Buchstaben SVA . „Als ich daheim in unserem Tresor nachschaute, ob Oskar seinen Reisepass mitnahm, stieß ich auf diese Schachtel. Sie trägt die Aufschrift ‚GHS‘.“

„Ich fürchte, da bin ich überfragt“, gestand ich ein. Im selben Moment dachte ich an den Beruf des Vermissten. „Das ‚GHS‘ könnte für Generalhauptschlüssel stehen, aber was es mit der Zahl und dem Datum auf sich hat, habe ich auch keine Idee. Ich schlage vor, Sie lassen Zettel und Schachtel hier. Dann kümmere ich mich darum.“ „Werden Sie meinen Mann finden?“, fragte Frau Kosin das Schlimmste annehmend, während wir uns erhoben. „Machen Sie sich bitte keine allzu großen Sorgen, meistens gibt es für alles eine einfache Erklärung“, tröstete ich meine Klientin.

„Den Papierkram und alles Weitere machen Sie bitte mit Frau Berlitz. Wenn Sie so weit sind, würde ich gern mit Ihnen, sofern möglich, in das Geschäft Ihres Mannes fahren.“ „Jetzt gleich?“ „Wir sollten keine Zeit verlieren.“ „Bevor Sie loslegen, muss eines klar sein“, hielt sie inne. „Falls Oskar etwas Strafbares gemacht hat, möchte ich es wissen, bevor die Polizei davon erfährt. Sie haben doch so eine Art Schweigepflicht, oder?“ „Nein, dem unterliegen nur Priester, Anwälte und Ärzte, aber der Schutz eines Klienten hat immer Priorität.“ „Sonst hätte ich auch zur Polizei gehen können.“

Während ich Frau Kosin an Trudes Schreibtisch begleitete, bedeutete ich Leonie, dass sie mir in mein Büro folgen sollte. „Nehmen Sie bitte die Daten von Herrn und Frau Kosin auf, Frau Berlitz. Wir übernehmen den Auftrag zu den üblichen Konditionen. Ach und vergessen Sie bitte die Erklärung zum Datenschutz nicht.“

Nachdem ich die Tür zu meinem Büro hinter Leonie und mir geschlossen hatte, wies ich sie an, alles zusammenzupacken, was wir zur Beweismittelsicherung eines Tatorts benötigen. „Denken Sie bitte auch an das Fläschchen Luminol und die Schwarzlichtlampe.“ Meine Azubine sah mich fragend an. „Befürchten Sie, dass ihrem Mann etwas zugestoßen ist?“ „Ich glaube, wir müssen in dieser Sache mit allem rechnen.“ Als Leonie sah, wie ich meine Schusswaffe aus dem Tresor nahm und überprüfte, wusste sie, wie ernst ich den Fall nahm und auf was sie sich einstellen musste.

-2-

„Gibt es einen Firmenwagen?“, erkundigte ich mich bei meiner Auftraggeberin, nachdem wir auf der Rückseite des Geschäfts in der ‚Karlstraße‘ angekommen waren. „Nicht mehr. Oskar hat ihn vor einem halben Jahr verkaufen müssen, um wenigstens einen Teil der Schulden zu bezahlen. Seitdem fährt er mit unserem Wagen zur Kundschaft.“ „Sehen Sie den Wagen hier irgendwo?“ Frau Kosin sah sich konzentriert um. Vielleicht steht er vor dem Laden in der ‚Lange Straße‘? Während sie von Leonie begleitete wurde, packte ich unser Equipment aus. „Vorn steht er auch nicht“, kehrte sie kurz darauf kopfschüttelnd zurück.

„Er ist also mit dem Wagen unterwegs“, mutmaßte ich. Da Frau Kosin bereits in den Krankenhäusern angerufen hatte, konnte ich einen Unfall nahezu ausschließen. Selbst wenn Oskar Kosin keine Papiere bei sich trug, reichte im Normalfall eine einfache Halterabfrage, um seine Identität festzustellen. Inzwischen hatten wir den Laden durch die Hintertür betreten. „Und wenn er doch mit dem Wagen irgendwo verunglückte und nur noch nicht gefunden wurde?“ Genau dies war eine von den noch offenen Möglichkeiten, die außerhalb eines Normalfalls lagen.

„Sie sagten, Ihr Mann besäße ein Handy?“, erinnerte ich mich, während ich mich im Ladenlokal umsah. „Ja, aber da springt nur die Mailbox an.“ „Ich könnte eine Ortung des Handys veranlassen“, machte ich ihr etwas Hoffnung. „Ja, das ist gut. Machen Sie das.“ „Bitte rufen Sie Ihren Mann vorher noch einmal an“, bat ich. Sie zitterte am ganzen Körper, als sie das Telefon aus ihrer Handtasche kramte. Ich nahm es an mich und wählte die eingespeicherte Nummer. Im nächsten Moment vernahmen wir im Hinterzimmer einen Klingelton.

„Das ist es, das ist Oskars Handy!“, erkannte Frau Kosin das Klingelzeichen. „Es steckte in der Innentasche einer Jacke, die über einem Drehstuhl hing“, erklärte Leonie aus einem Hinterzimmer kommend. „Somit steht uns die Möglichkeit, das Gerät zu orten und auf diese Weise auch den Aufenthaltsort Ihres Mannes herauszufinden leider nicht mehr zur Verfügung“, musste ich die Hoffnung meiner Klientin zunichtemachen. „Ist dir da hinten sonst noch etwas aufgefallen?“, fragte ich meine Azubine. Leonie nickte. „Ich muss aber erst noch etwas überprüfen.“

„Ich verstehe das alles nicht“, resignierte die Klientin verzweifelt. „Er geht doch nicht ohne seine Jacke aus dem Haus.“ „Kennen Sie das Passwort?“, erkundigte sich Leonie, die sich das Handy des Vermissten genauer ansehen wollte. „Nein, ich wusste gar nicht, dass er das Gerät mit einem Code gesichert hat“, entgegnete Frau Kosin. „Macht nichts, das bekomme ich auch so heraus.“

Während sich Leonie dünne Gummihandschuhe anzog und das Fläschchen Luminol und die Schwarzlichtlampe nahm, ging ich mit unserer Klientin hinter den Verkaufstresen. Sie sollte nichts von dem mitbekommen, was Leonie im Hinterzimmer finden würde. „Wieviel Geld müsste sich etwa in der Ladenkasse befinden?“, lenkte ich sie ab. „Er hat immer so um die hundert Euro an Wechselgeld in der Kasse“, erklärte sie. Um eventuell vorhandene Spuren nicht zu verwischen, streifte ich mir ebenfalls Handschuhe über. „Fassen Sie bitte nichts an“, forderte ich meine Klientin vorsichtshalber auf.

Nachdem ich die Taste zum Öffnen der Schublade gedrückt hatte, wunderten wir uns über die leeren Fächer. „Entweder Ihr Mann hat die Kasse gestern Morgen gar nicht erst mit dem Wechselgeld bestückt, ober irgendjemand hat das Geld herausgenommen.“ „Chef!“, rief mich Leonie aus dem Nebenraum. „Warten Sie bitte hier“, forderte ich Frau Kosin auf. „…und fassen Sie bitte nichts an.“

Als ich das dunkle Hinterzimmer betrat, schaltete meine Azubine die Schwarzlichtlampe an. Im nächsten Moment wurden Blutspritzer sichtbar, die sich auf dem Fußboden verteilten. Jemand hatte sie ganz offensichtlich mit einem Reinigungsmittel zu entfernen versucht. Sie hatten ihren Ursprung ganz offensichtlich am Schreibtisch. Dies deutete auf eine Verletzung hin, die einer auf dem Drehstuhl sitzenden Person mit großer Wucht zugefügt worden war. Rechts, etwa einen Meter neben dem Drehstuhl wurde ein fast kreisrunder Blutfleck sichtbar. Er entstand meines Erachtens, als die verletzte Person, eventuell bewusstlos, vom Stuhl kippte und eine Zeitlang auf dem Fußboden lag.

„Was machen Sie denn hier?“, öffnete Frau Kosin entgegen unserer Absprache die Tür. Obwohl Leonie schnell reagierte und die Schwarzlichtlam pe abschaltete, waren ihr die Spritzer auf dem Fußboden nicht verborgen geblieben. „Ist das Blut?“, erahnte sie das Schlimmste. „Gehen Sie bitte hinaus. Es ist zu Ihrem Besten. Ich werde Ihnen gleich alles erklären.“ „Ich will wissen, was hier los ist!“, entgegnete sie energisch. „Wir haben Blutspritzer gefunden“, bestätigte ich, was sie längst vermutet hatte. „Bitte warten Sie vor der Tür und lassen Sie uns in Ruhe arbeiten.“

Auch wenn es mir schwerfiel, musste ich dafür sorgen, dass uns die Klientin den Tatort nicht kontaminierte. Die weitere Inaugenscheinnahme ergab eine konfuse Spurenlage. Nach Lage der Dinge waren weitere Blutflecke durch Schuhsohlen verbreitet worden. Weitere Blutflecke waren verwischt. „Es sieht so aus, als wäre etwas darüber geschliffen worden“, mutmaßte ich. Offensichtlich wurde Oskar Kosin gegen seinen Willen mitgenommen. „Wir müssen die Polizei einschalten, Chef“, erkannte Leonie den Ernst der Lage. „Ich befürchte, du hast Recht“, seufzte ich.

„Den Spuren nach wurde jemand niedergeschlagen“, erklärte ich unserer Auftraggeberin. „Mit hoher Wahrscheinlichkeit dürfte es sich dabei um Ihren Mann handeln“, fuhr ich fort. „Mir bleibt nichts anderes übrig, als die Polizei zu informieren.“ „Moment!“, legte Frau Kosin ihre Hand auf mein Handy. „Es ist doch noch gar nicht sicher, dass es sich dabei um meinen Mann handelt. Vielleicht hat er sich selber versehentlich verletzt und wollte mit dem Wagen nur ins Krankenhaus fahren.“ „Weshalb wehren Sie sich so sehr gegen das Einschalten der Polizei? Sie wissen doch mehr, als Sie mir bisher verraten haben.“ Meine Klientin druckste herum. „Entweder Sie erzählen mir jetzt alles, was Sie wissen, oder ich informiere sofort die Polizei“, entgegnete ich mit Nachdruck.

„Nachdem Sie von einem Generalhauptschlüssel sprachen, machte ich mir wegen der anderen Buchstaben und der Ziffern Gedanken. Auf der Suche nach einer Erklärung fand ich eine weitere Notiz, in der etwas von 12 Schließzylindern im Straßenverkehrsamt stand. Ich erinnerte mich dann an einen Einbruch in das Straßenverkehrsamt, über den ich in der Wolfenbütteler Zeitung gelesen hatte. Da ich weiß, dass Oskar vor einigen Jahren die Schließanlage installiert hatte, war mir klar, dass er sich in seiner Not mit den falschen Leuten zusammengetan haben musste.“ „Und nun haben Sie Angst, dass er ins Gefängnis muss, wenn es herauskommt.“

Sie winkte ab. „Daran gibt es wohl keinen Zweifel, Herr Lessing“, entgegnete meine Klientin. „Aber was passiert wohl, wenn die Polizei mit viel Getöse ermittelt?“, fragte sie mich. „Die Verbrecher, die meinen Mann nach Ihrer Einschätzung mitnahmen, werden sich seiner entledigen. Er weiß viel zu viel über sie und deswegen werden Sie ihn töten.“ Auch wenn in ihrer Abwägung nach meinem Geschmack etwas zu viel Krimi steckte, traf sie im Kern zu. „Oberkommissar Sinner ist ein sehr fähiger Ermittler. Er wird die Suche nach Ihrem Mann mit äußerster Vorsicht vorantreiben“, versuchte ich sie zu beruhigen. „Sie waren bei der Braunschweiger Kripo als Hauptkommissar tätig. Was kann dieser Sinner, was Sie nicht mindestens genauso gut können?“

Leonie stand etwas abseits und grinste sich eins. Die Argumente meiner Auftraggeberin waren nicht so ohne weiteres von der Hand zu weisen. „Also gut, ich verstehe Sie und ich werde alles daransetzen, Ihren Mann zu finden, aber sowie ich merke, dass es für ihn zu gefährlich wird, werde ich die Polizei einschalten.“ „Danke.“ „Eins habe ich bis jetzt allerdings nicht so recht verstanden. Weshalb macht sich ihr Mann über alles Notizen?“ „Er vergisst in letzter Zeit immer mehr“, verriet sie uns mit belegter Stimme. „Wahrscheinlich wird bei ihm irgendwann eine Demenz eintreten. Sein Vater litt bereits daran.“

„Das tut mir leid“, reagierte Leonie, bevor ich es konnte. „Mein Opa war auch dement. Ich weiß, was auf Sie zukommen wird.“ Meine Azubine sah mich herausfordernd an. „Wir müssen Herrn Kosin finden.“ Ich nickte ihr ächzend zu. Gegen so viel Frauenpower war ich wohl machtlos. „Ich brauche den Schlüssel zum Laden. Wir müssen hier jede Spur, jeden Fingerabdruck und jedes Beweismittel sichern, was uns einen Schritt weiterbringen könnte.“

-3-

Ein solcher Fall ist ideal, wenn es um pragmatischen Unterricht für eine Auszubildende geht. Natürlich ist der Beruf des Detektivs kein herkömmlicher Ausbildungsberuf, aber da es auch darum ging, für die Nichte von Christoph Börner und dessen Lebensgefährten eine Perspektive zu schaffen, war mein Engagement umso wichtiger. Die junge Frau war zum ersten Mal seit ihrem Schulabschluss von einer Arbeit überzeugt und genau dies war an der Art und Weise zu sehen, mit der sie sich einbrachte. Die Lehrbücher, die ich ihr besorgt hatte und mit denen ich selber während meiner Zeit in der Polizeischule gelernt und einen Teil meines Wissens bezogen hatte, waren das eine, die Praxis war das andere.

Während sich Trude die Geschäftsunterlagen des Betriebes und alle Aufzeichnungen ansah, zu denen Oskar Kosin von behördlicher Seite aus verpflichtet war, um diese auf eventuell vorhandene Ungereimtheiten zu überprüfen, waren Leonie und ich mit der Spurensicherung im Laden beschäftigt. Jeder auch noch so unwichtig erscheinende Print, jedes Haar, jede DNS-Spur wurde von uns fotografiert, gesichert und katalogisiert. Um das Handy des Vermissten auswerten zu können, bedurfte es einer speziellen Software, mit der sich die Codierung umgehen ließ. Da ich weder über das erforderliche Fachwissen noch über das Geld für die Anschaffung dieses eher selten benötigten Programms verfügte, beauftragte ich einen alten Bekannten, der dem Chaos Computerclub angehört. Matze Klug hatte mir in der Vergangenheit schon einige Male weitergeholfen.

„Wie alt ist der Typ eigentlich, dem das Handy gehört?“, erkundigte er sich als allererstes bei mir. „So Mitte fünfzig“, entgegnete ich. „Warum fragst du?“ Matze winkte ab. „Na dann wird mir so manches klar.“ Ich sah den Programmierer mit hochgezogenen Brauen fragend an. „Die kleinen Filmchen für gewisse Stunden waren ziemlich abgefahren“, grinste Matze süffisant. „Ich glaube, darüber möchte ich nichts weiter wissen“, reagierte ich überrascht. „Ich hoffe, du hast nichts dagegen, dass ich mir den Film kopiert habe?“ „Was hast du?“, glaubte ich meinen Ohren nicht zu trauen. „Nichts, ich habe mir nur einen kleinen Scherz erlaubt.“ Die Frage war, ob ich ihm glauben konnte, aber andererseits war es mir auch egal.

„Hast du etwas gefunden, was für mich von Interesse sein könnte?“ „Ich stieß auf einige gelöschte Dokumente. Es gelang mir, sie wiederherzustellen. Vorsichtshalber habe ich sie für dich ausgedruckt.“ Ich nahm ich die Papiere entgegen und warf einen ersten Blick darauf. Es handelte sich um mehrere Namenslisten mit den dazugehörigen Adressen in einem Umkreis von etwa 50 Kilometern. Ich hoffte inständig, dass es sich nicht um Kundenlisten handelte. Wenn Oskar Kosin diese Listen an die Leute weitergab, die ihn aller Wahrscheinlichkeit nach in seinem Laden niedergeschlagen hatten, konnte dies nur bedeuten, dass er Gewissensbisse bekam und zur Polizei gehen wollte. „Das sieht gar nicht gut aus“, schüttelte ich den Kopf. „Ist wohl nicht das, was du erwartest hast?“, deutete Matze meine Reaktion. „Es ist schlimmer als erwartet, las ich eine ‚SMS‘, in der Oskar den Einbrechern mitteilte, dass er mit der Sache nichts mehr zu tun haben wollte.

Damit hatte sich meine Annahme bestätigt. Ein Fehler, die Ganoven davon in Kenntnis zu setzen. Wie sollte er auch wissen, wie gefährlich ihm die Gangster werden konnten? „Kannst du den Adressaten dieser ‚SMS‘ herausfinden?“ Matze sah bereits beim Anblick der Telefonnummer, dass es sich um ein Prepaid-Handy handelte. „Ich kann es versuchen, aber wenn es sich um Profis handelt, lässt sich der Nutzer sicher nicht mehr ermitteln, weil er die Sim-Karte längst entsorgt hat.“ „Probiere es einfach.“ Sekunden später wurde Gewissheit, was Matze und ich befürchtet hatten. Somit blieb mir nichts anderes übrig, als mit dem, was ich hatte, zur Polizei zu gehen.“ Hoffentlich war es nicht schon zu spät.

„Na super!“, reagierte Oberkommissar Sinner nicht anders als erwartet. „Du hättest damit sofort zu mir kommen müssen.“ „Das weiß ich jetzt auch, aber anstatt weitere Zeit zu verlieren, sollten wir die Leute auf den Listen benachrichtigen, damit sie die Augen offenhalten.“ „Das wird denen nichts nutzen, die bereits Opfer eines Einbruchs wurden. Ganz abgesehen davon hast du wichtige Beweismittel zurückgehalten und einen möglichen Tatort kontaminiert.“ Ich verdrehte die Augen. „Ohne mich hättest du nicht mal Kenntnis von einer Straftat. Abgesehen davon musste ich zunächst überprüfen, ob an der Sache überhaupt etwas dran ist.“ Ich reichte ihm die Fotos, die Leonie am Tatort zur Beweismittelsicherung geschossen hatte. Der Ermittler schüttelte genervt den Kopf. „Sag mal, willst du mich verarschen? Das Zimmer ist voller Blutrückstände. Die stammen wohl kaum vom Nasenbluten.“

Ich hob beschwörend die Hände. „Es hätte ebenso gut sein können, dass sich Herr Kosin abgesetzt hat.“ „Ach so, na dann wäre ja alles gut“, reagierte der Oberkommissar sarkastisch. „Der gute Herr Kosin wäre mit der Kohle und dem Diebesgut verschwunden und hätte sich seiner Festnahme entzogen. Ist es das, was du wolltest?“ „Jetzt mach mal nen Punkt, Tim“, wurde ich sauer. „Du kennst mich wohl lange genug, um zu wissen, dass mir dies fernlag! Es geht mir nach wie vor um das Leben des Mannes. Er ist durch eine Notlage in diese Situation geraten und hat unbestritten einen Fehler gemacht, den er ganz offensichtlich bereut. Der Rücktritt von einer Straftat wird strafmildernd bewertet. Warum wohl?“

„Woher willst du wissen, dass der Ehemann deiner Mandantin nicht doch weiterhin mit den Einbrechern zusammenarbeitet?“ „Weil ich lesen kann“, erwiderte ich gefrustet. „Du hast die ‚SMS‘, die er den Täter schickte, doch auch gelesen.“ „Wenn es so ist, wie du sagst, verstehe ich nicht, weshalb er nicht gleich zur Polizei ging“, argumentierte Sinner. „Wahrscheinlich hatte er vor genau dieser Reaktion Angst“, warf ich dem Oberkommissar vor.

Sinner brauchte einige Minuten, ehe er sich endlich auf seine Arbeit besann. „Also gut, retten wir, was zu retten ist“, sagte er und stürmte aus dem Büro, welches er sich mit Kommissar Schubert teilte. „Wir kümmern uns zunächst um die Benachrichtigung der Kunden des Schlüsseldienstes. Zeitgleich veranlasse ich vermehrte Kontrollfahrten an allen relevanten Adressen, um die Einbrüche zu verhindern. Gleichzeitig begibt sich die Spurensicherung in den Laden des Vermissten. Vielleicht lässt sich ja noch etwas finden, was du und deine Auszubildende übersahen“, konnte er sich einen kleinen Seitenhieb nicht verkneifen. „Was hältst du davon, wenn sie dabei ist und den Profis ein wenig über die Schulter schaut?“ „Warum nicht?“ „Was ist mit Oskar Kosin?“, hakte ich nach, ohne auf seinen Spruch einzugehen. „Der Mann könnte sich in großer Gefahr befinden.“

Sinner rümpfte die Nase. „Bislang wissen wir lediglich, dass es zu einer blutigen Auseinandersetzung in seinem Laden kam“, entgegnete er bedächtig. „Du sagtest gerade selbst, dass seine weitere Mittäterschaft nicht auszuschließen ist. Alles, was ich derzeit für den Mann tun kann, ist die Fahndung nach seinem Wagen.“ Das war besser als nichts. „Ich versuche inzwischen mehr über die Entführer herauszufinden“, erklärte ich. Der Oberkommissar ließ keinen Zweifel daran, dass er nicht sonderlich erbaut von der Tatsache war, dass ich in dem Fall weiterermitteln würde, aber er wusste nur zu genau, dass ich mich nicht davon abbringen ließ. „Keine Alleingänge!“, gab er mir mit auf den Weg. Ich war schon fast an der Tür, als er noch einmal nachlegte. „Ich verlange von dir, dass du mich ständig auf dem Laufenden hältst, klar?“ Ich versprachs, was sollte ich auch machen?

-4-

„Hallo Chef, es gibt Neuigkeiten“, empfing mich Trude, kaum dass ich die Tür zu meiner Detektei hinter mir geschlossen hatte. „Gut, dann kommen Sie mit in mein Büro“, forderte ich die gute Seele auf. Zu meiner Überraschung war Leonie bereits damit beschäftigt, Fotos vom Tatort sowie andere Indizien an die Wand zu pinnen.

„Wenn Sie genau hinsehen, werden Sie erkennen, in welcher Weise sich das Blut des Opfers im Raum verteilt.“ Es war klar, worauf Leonie hinauswollte. „Die Blutspritzer führen in einem Winkel von etwa 120 Grad vom Schreibtisch weg in Richtung Tür.“ „Genau, aber wenn Sie noch genauer hinsehen, erkennen Sie, dass in der unmittelbaren Nähe des Schreibtischs nur verhältnismäßig wenige Spritzer, sich etwas weiter aber erheblich mehr Blut verteilte.“ Sie deutete mit einem Lineal auf die betreffenden Stellen. „Was heißt das deiner Meinung nach?“, fragte ich, weil ich die Ursache nicht erkannte.

Leonie holte tief Luft. „Das Blut wäre sicher nicht in dieser Weise und mit dem Druck ausgetreten, wenn das Opfer am Hinterkopf getroffen worden wäre. Ich glaube, Oskar Kosin bemerkte, wie jemand den Raum betrat. Als er sich diesem zuwandte und die Absicht erkannte, war es jedoch zu spät. Der Schlag mit einem schweren Gegenstand traf ihn etwa an der linken Schläfe. Der Angreifer muss ungefähr in halblinker Position zu ihm gestanden haben. Er bekam die Blutspritzer ab, die auf dem Fußboden fehlen.“

„Ich bin wirklich beeindruckt“, gestand Trude ein, die Leonies Ausführungen mitbekommen hatte. Ich rieb mir nachdenklich das Kinn. „So könnte es tatsächlich gewesen sein. Die Frage ist, ob Oskar Kosin diese Verletzung überlebte.“ Meine Azubine deutete auf ein weiteres Foto, welches neben dem ersten angepinnt war. „Wie Sie schon am Tatort vermuteten, dürfte das Opfer aufgrund des Schlages zusammengebrochen sein und zumindest einige Minuten lang auf dem Fußboden gelegen haben. Die entfernte Blutlache auf der rechten Seite des Schreibtischs deutet zumindest daraufhin.“ „Drüber waren wir uns ja schon im Geschäft einig“, stimmte ich zu.

„Was ich erst bei der Rekonstruktion bemerkte, ist dieser Abdruck.“ Leonie brachte ein weiteres Foto ins Spiel. Ich musste schon zweimal hinsehen, um etwas zu erkennen. „Könnte ein halber Schuhabdruck sein“, rätselte ich unter zur Hilfenahme all meiner Fantasie. „Es könnte nicht, Chef, es ist ein Schuhabdruck. Als das Opfer aus dem Raum transportiert wurde, muss der oder einer der Täter versehentlich in die Blutlache getreten sein und dabei diesen Abdruck seines Schuhs zurückgelassen haben.“

„Du hast lediglich diesen einen Abdruck gefunden?“, hakte ich nach. Leonie nickte. „Dafür weiß ich allerdings auch, von welcher Marke er stammt.“ „Wie das?“, fragte ich verblüfft. „Es ist das Profil. Nur der Sportschuhhersteller ‚Sprinter‘ hat diese markante Sohle.“ „Alle Achtung, Leonie. Wirklich sehr gute Arbeit.“ „Zu irgendetwas müssen die ganzen Bücher ja nutze sein. Übrigens ließen sich Reste eines der Blutspritzer, die bei der Reinigung des Tatortes übersehen wurden, sichern. Sie reichte mir ein Tütchen. „Um die Analyse müssen Sie sich allerdings kümmern.“

Ein Besuch bei Doktor Schnippler in Braunschweig und ein Abgleich mit dem Notfallausweis von Oskar Kosin brachte die Bestätigung. Der Verletzte war kein anderer als der Ehemann unserer Klientin. „Glauben Sie, dass Oskar noch am Leben ist?“, fragte sie mich, nachdem ich ihr den Ausweis zurückgegeben hatte. Im Grunde deutete die Tatsache, dass die Täter den Tatort akribisch gereinigt hatten, eher auf das Gegenteil, aber das konnte ich ihr unmöglich sagen. Stattdessen machte ich es mir zu meiner Aufgabe, Zuversicht zu vermitteln.

„Solange die Gangster Ihren Mann brauchen, werden sie ihn gut behandeln“, brachte ich ein überzeugendes Argument ins Spiel. Frau Kosin nickte erleichtert. „Sie finden ihn doch, oder?“ „Das ist genau der Punkt über den ich noch mit Ihnen sprechen wollte“, begann ich meine Beichte etwas verhalten. „Sie waren bei der Polizei“, erahnte sie, worauf ich hinauswollte. „So ist es. Nachdem klar wurde, dass sich eine ganze Reihe der Kunden Ihres Mannes in Gefahr befinden, war es meine Pflicht, die Kripo einzuschalten.“ „Ich mache Ihnen keinen Vorwurf, Herr Lessing. Es gab sicher keine andere Möglichkeit. Aber ich möchte, dass Sie sich auch weiterhin um den Fall kümmern.“ Ich versprach es auch, weil ich selber großes Interesse daran hatte. Immerhin hatte ich den Namen des Mannes auf der Liste gelesen, von dem Miriam und ich unser Haus gekauft hatten.

„Es sind zwei Aspekte, die dafür sprechen, dass die Einbrecher einen großen Bogen um unser Haus machen“, versuchte ich Miriam zu beruhigen. „Zum einen werden sie das Schild 'Detektei Lessing' an der Hauswand lesen...“ „Was ist, wenn die kein Deutsch lesen können?“, unterbrach mich meine besorgte Frau. „...zum anderen passen die Nachschlüssel nicht mehr, weil ich noch vor unserem Einzug sämtliche Schlösser ausgetauscht habe“, brachte ich meinen Satz zu Ende. „Ich weiß nicht“, schien ich Miriam nicht restlos überzeugt zu haben. „Was, wenn die sich davon nicht abhalten lassen?“ „Dann sind immer noch die Kameras und die Bewegungsmelder da, die ich nach Ramonas Entführung außen am Haus angebracht habe. Du siehst also, unser Haus ist auch ohne die Alarmanlage sicher, die der Vorbesitzer durch die Firma von Herrn Kosin einbauen ließ.“

„Musstest du ausgerechnet diesen Fall annehmen?“, warf sie mir ungerechterweise vor. Ich lachte kurz auf. „Nur gut, dass Frau Kosin damit zu mir kam, ansonsten hätten wir gar nicht gewusst, dass wir auf der Liste stehen.“ „Stimmt“, seufzte sie. „Aber bis diese Verbrecher aus dem Verkehr gezogen sind, gehe ich mit Ramona in ein Hotel.“ „Also gut, vielleicht ist es das Beste so, aber in ein Hotel brauchst du nicht. Ich wollte dir ohnehin einen Urlaub auf dem ‚Twelkenhof‘ vorschlagen. Axel und Bea würden sich sehr freuen und für Ramona ist es dort tausendmal schöner als in einem Hotel.“ „Eine Superidee, Schatz. Wenn du mir versprichst vorsichtig zu sein, kann ich damit leben.“

-5-

Der blaue BMW von Oskar Kosin blieb ebenso verschollen wie der Schlosser selbst. Die potentiellen Einbruchsopfer waren vorgewarnt und Oberkommissar Sinner und die eigens gebildete Soko 'Liste' arbeitete am Limit. Einige Tage lang blieb alles ruhig, plötzlich jedoch wurden Sinner und seine Mitarbeiter durch die Meldung von einem Einbruch aufgeschreckt. Offenbar wurde das erste Ziel der Einbrecherbande zuvor einige Tage ausgekundschaftet. Als die Gewohnheiten der Bewohner hinreichend durchleuchtet waren und sie das Haus verlassen hatten, versuchten die Gangster mit dem Nachschlüssel, den Herr Kosin aufgrund seiner Kundendaten angefertigt hatte, ins Haus zu gelangen. Als sie feststellten, dass dieser nicht passte, drangen sie mit Gewalt ein und lösten dabei die Alarmanlage aus. Erst nach mehreren vergeblichen Versuchen sie abzuschalten gaben sie ihr Vorhaben auf.

Da mich Oberkommissar Sinner in Kenntnis setzte, profitierte ich von den Ergebnissen, die sich bei der Befragung in der Nachbarschaft ergeben hatten. Durch den lauten Alarm wurden die Einbrecher bei ihrer Flucht von mehreren Zeugen beobachtet. Einer von ihnen machte sogar mit seinem Handy einige Fotos. Auch wenn diese die Gangster nicht sonderlich gut wiedergaben, gelang es Sinners Kollegen zumindest, einen der Täter mittels Gesichtserkennungsprogramms zu identifizieren. Es handelte sich um den über Interpol gesuchten Polen, Jaroslav Katschinsko.

Der bei der Flucht verwendete Sprinter war erst am Morgen der Tat in Salzgitter gestohlen worden. Die Hoffnung, über diesen Wagen die Spur zu den Tätern aufnehmen zu können, zerschlug sich bereits am Tattag, als man den Sprinter brennend in einem Waldstück bei Mattierzoll auffand. Die Täter hatten den Transporter angezündet, um ihre Spuren darin zu verwischen. Allerdings gelang ihnen dies nur zum Teil, denn die Spurensicherung konnte in dem Wrack noch einige brauchbare Fingerabdrucke sicherstellen. Einer dieser Prints war mit einem der Abdrücke aus dem Geschäft von Oskar Kosin identisch. Wir waren also auf der richtigen Fährte.

„Ich frage mich nur, wie lange sie den Ehemann meiner Klientin am Leben lassen“, überlegte ich in Anbetracht der Tatsache, dass sich aufgrund der Warnungen durch die Soko ‚Liste‘ ein Haus nach dem anderen als Flop erweisen musste. „Wir dürfen nicht so lange warten, bis er nicht mehr von Wert für die Bande ist“, bereitete ich den Oberkommissar auf meine Idee vor. „Wie wäre es, wenn wir die Typen in einen Hinterhalt locken.“ Sinner sah mich irritiert an. „Wie soll das denn gehen?“ „Es müsste sich um ein Haus handeln, was auf der Liste steht“, erklärte ich. „Ich befürchte, dass sich einer der Besitzer auf ein solches Unterfangen einlassen würde.“ Ich sah den Ermittler schelmisch lächelnd an. „Du weißt sicher nicht, dass mein Haus auf der Liste steht.“ „Ist nicht wahr.“ „Oh doch.“

„Moment, dein Name wäre mir doch mit Sicherheit aufgefallen“, kamen Sinner Zweifel. „Das will ich hoffen“, entgegnete ich humorvoll. „Offenbar war der vorherige Besitzer Kunde des Schlüsseldienstes.“ „Ja, wenn das so ist, hätte es allerdings auffallen müssen, als die Kollegen die ebenfalls auf der Liste angegebene Telefonnummer anriefen“, überlegte Oberkommissar Sinner. „Miriam und ich nahmen jeweils unsere alten Rufnummern mit“, führte ich aus. „Ah ja, somit gehört dein Haus ebenfalls zu den gefährdeten Objekten, auf die wir ein besonderes Augenmerk legen müssen“, sinnierte Sinner.

„Eben nicht“, erwiderte ich. Womit ich bei meinem Gegenüber ein gewisses Unverständnis hervorrief. „Ich befürchte, dir nicht so ganz folgen zu können, Leo.“ „Wir könnten die Einbrecher in eine Falle locken“, eröffnete ich dem Oberkommissar meine Überlegung. „Ich glaube nicht, dass die Frau Staatsanwältin damit einverstanden wäre“, argumentierte Sinner gegen diese Möglichkeit. „Abgesehen davon wäre das viel zu riskant. Wir können dein Haus schließlich nicht rund um die Uhr verdeckt überwachen.“ „Das braucht ihr doch auch gar nicht“, konkretisierte ich meine Idee. „Ramona und Miriam sind einstweilen zu Axel in die Twelkenmühle gezogen. Du siehst, ich kann mich also in Ruhe auf die Lauer legen...“ „...und einschlafen!“, unterbrach mich der Ermittler. „Du kannst nicht nächtelang wachliegen. Das schlag dir aus dem Kopf.“

„Hast du eine bessere Idee?“, lockte ich Sinner aus der Reserve. „Ich glaube, ich habe noch den alten Zylinder den der Vorbesitzer in der Nebeneingangstür hatte“, überlegte ich zu allem entschlossen. „Die Schilder, mit denen ich für die Detektei werbe, montiere ich ab, damit die Ganoven nicht abgeschreckt werden.“ „Sag mal, hörst du mir eigentlich zu?“ „Denkst du an den Ehemann meiner Auftraggeberin?“ Sinner schüttelte ratlos den Kopf. „Gehst du etwa immer noch davon aus, dass der keine gemeinsame Sache mit den Einbrechern macht?“ „Wenn es so ist, dann gewiss nicht freiwillig, wie das Blut in seinem Geschäft deutlich machen dürfte.“

„Wer sagt dir eigentlich, dass die Ganoven dein Haus nicht schon längst beobachten?“ „Die können auch nicht überall gleichzeitig sein“, argumentierte ich recht dünn. Der Oberkommissar verdrehte die Augen. „Also gut, ich weiß zwar noch nicht, wie ich den Einsatz von zwei Kollegen gegenüber Staatsanwalt van der Waldt rechtfertigen soll, aber irgendetwas wird mir schon einfallen“, lenkte der Leiter der Soko 'Liste' letztlich doch noch ein. „Du bist halt ein intelligenter Mensch“, grinste ich über alle vier Backen.

„Es versteht sich von selbst, dass Miriam erstmal nichts von unserer kleinen Idee erfahren muss“, bat ich Sinner um Diskretion. Der hob abwehrend die Hände. „Deine Idee“, bekundete er und stahl sich nicht ohne Grund aus der Verantwortung. „Schon gut, wenn die Sache nicht so ausgehen sollte, wie ich es erwarte, nehme ich alles auf meine Kappe.“ „Etwas anderes hatte ich auch gar nicht erwartet“, bekräftigte der Oberkommissar augenzwinkernd.

„Was ist mit den anderen Fingerabdrücken aus dem Sprinter?“, griff ich eine der Informationen auf, die mir Sinner zu Beginn unseres Gesprächs gegeben hatte. „Abgesehen von Katschinsko gab es bislang keinen weiteren Treffer in der Datenbank. Wir verfolgen seit einiger Zeit ein Umdenken bei den Einbruchsbanden, wenn es um die Rekrutierung neuer Mitglieder geht“, führte Sinner aus. „Offenbar werden nur noch Ersttäter angeheuert, die zwar angelernt werden müssen, aber dafür strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten sind.“ „Ziemlich clever", musste ich den Köpfen der organisierten Kriminalität zugestehen. „Die verfügen natürlich über ein riesiges Reservat von Arbeitslosen, die zu allem bereit sind.“ „Auf diese Weise verhindern sie, dass wir ihnen über die Verbrecherkarteien auf die Schliche kommen“, seufzte Sinner. „Sowie sie Grund zur Annahme haben, dass einer dieser Rekruten bei uns verbrannt ist, tauschen sie ihn gegen einen Nachrücker aus“, machte der Oberkommissar das Dilemma deutlich.

„Aber ihr bleibt dran, oder?“, hakte ich nach. „Na was denn sonst“, bekräftigte Sinner. „Du sagtest, der Transporter sei am Morgen des Einbruchs in Salzgitter gestohlen worden“, sinnierte ich. „Ja und?“ „Weißt du, wo genau?“ „Wozu willst du das wissen?“, fragte der Oberkommissar mit gekrauster Stirn. „Ich würde mich gern mit dem Eigentümer des Wagens unterhalten“, entgegnete ich. „Das haben meine Leute längst getan.“ „Hast du die Adresse, oder nicht?“ „Hat dir Miriam schon mal gesagt, dass du manchmal ziemlich penetrant sein kannst?“ „Sie meint eher, ich sei zu nachlässig“, verblüffte ich mein Gegenüber.