Detektei Lessing

 

Finden Sie Nathalie!

 

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Zum wiederholten Male schon sah die Frau mit den Wicklern im Haar unruhig zur Wanduhr hinüber. Sie seufzte, schüttelte ungläubig mit dem Kopf und nahm einen weiteren Schluck aus dem Becher. Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit trank sie ihren Kaffee schwarz. Obwohl sie hundemüde war, wollte sie sich wach halten, um die Heimkehr ihrer Tochter nicht zu verpassen.

Der nächste Blick zur Uhr folgte unwillkürlich, war kaum zwei Minuten her und doch schürte er die Sorge um ihre fünfzehnjährige Tochter umso mehr. Mittlerweile war es Mitternacht. Im Fernsehgerät liefen die Spätnachrichten an. Bilder von Tod und Verbrechen flimmerten über die Mattscheibe, berichteten über das Elend aus aller Welt. Die absurdesten Gedanken purzelten durch ihren Kopf. Was ist, wenn Nathalie etwas zugestoßen ist? Das Kind ist alles, was ihr geblieben war. Das einzige, was ihr der nichtsnutzige Vater zurückgelassen hatte, nachdem er sie sitzen ließ.

Nathalie ist anders, geht mehr in ihre Familie, redete sie sich immer wieder ein, auch wenn die Realität eigentlich etwas anderes vermuten ließ. Nein, es musste die Pubertät sein. Dass sie wegen ihrer vielen Arbeit schon längst nicht mehr mitbekam, mit welchen Leuten ihre Tochter unterwegs war und wer inzwischen Einfluss auf ihr Kind hatte, war ihr nicht klar.

Noch ein Schluck aus dem Becher, noch ein Blick zur Uhr, noch mehr Sorgen. Der Wetterbericht fiel auch nicht gerade versöhnlich aus. Die Aussicht auf Regen passte zu ihrer Stimmung. Dann endlich vernahm sie das Klappern eines Schlüssels im Schloss der Wohnungstür. Elli zwang sich zur Ruhe, verharrte in scheinbar gelassener Stellung auf dem Sofa. Sie wartete bis Nathalie das Wohnzimmer betrat. Ihre kurzen rot, grün und schwarz gefärbten Haare waren zerzaust. Ihre Augen glasig und die Stimme mit der sie ihre Mutter ansprach war lallend.

„Hi, iss n bisschen später geworden.“ „Das sehe ich“, entgegnete Elli knapp. „Kannst du mir vielleicht mal sagen, wo du jetzt herkommst?“ „Kann ich vielleicht“, entgegnete das Mädchen mit einem breiten Grinsen. „Will ich aber nicht!“ „So kommst du mir diesmal nicht davon, meine Liebe“, hielt es Elli nun nicht länger auf dem Sofa. „Du hast zwei Wochen Stubenarrest und dein Handy kannst du während dieser Zeit auch vergessen.“ Nathalie lachte ihre Mutter aus, hob ihre rechte Hand und streckte Elli den Mittelfinger entgegen. „Kannst mich mal, Alte!“

„So lasse ich nicht mit mir reden!“, entgegnete Elli aufgebracht. „Leck mich!“ Das war der Moment, in dem der alleinerziehenden Mutter die Hand ausrutschte. Zum allerersten Mal überhaupt. Dementsprechend entsetzt reagierte Elli. „Das hast du nicht umsonst getan!“, fauchte Nathalie. „Ich hasse dich!“

Die Tür zum Kinderzimmer flog krachend ins Schloss. Elli starrte ihr fassungslos nach. Das Herz pochte ihr bis an den Hals, pures Adrenalin pumpte durch ihre Adern. Was um Himmels Willen war eigentlich gerade geschehen? Wie konnte sie sich nur so vergessen? All ihre Prinzipien waren von einer Sekunde zur anderen über den Haufen geworfen.

Minuten später hatte sie sich wieder im Griff. „Nathalie“, klopfte sie an die Kinderzimmertür, „…es tut mir Leid. Ich habe es nicht so gemeint.“ Doch hinter der Tür blieb es ruhig. Elli klopfte ein weiteres Mal, horchte und resignierte schließlich.

In dieser Nacht lag sie noch lange wach, grübelte, machte sich Vorwürfe und haderte mit ihrem Schicksal. Für wen rieb sie sich eigentlich Tag für Tag auf? Weshalb nahm sie all die Rückschläge hin, begann immer wieder von vorn und ertrug das ihr auferlegte Schicksal seit Jahren schon mit beinahe stoischer Disziplin? Die Antwort hierauf lag in der Verantwortung und der Liebe begründet, die sie ihrer Tochter entgegenbrachte. Doch nun schien ihr alles über den Kopf zu wachsen.

Irgendwann war sie schließlich eingeschlafen, doch auch jetzt ließen sie ihre Gedanken nicht zur Ruhe kommen, verfolgten sie bis in ihre Träume und rissen sie schweißgebadet aus den Federn. Die Ziffern ihres Radioweckers standen auf 04:42 Uhr, malten unaufhörlich beinahe mahnend rote Zeichen auf die Glasscheibe. Zwei Stunden noch, dann musste sie aufstehen, die Kleine wecken und ihre Schulbrote schmieren. Schnell noch das benutzte Geschirr in die Spüle räumen und schließlich wie an jedem Arbeitstag ins Geschäft. Viel verdiente Elli nicht, aber immerhin gelang es ihr, ganz ohne Hartz IV über die Runden zu kommen.

Elli tastete schlaftrunken nach dem kleinen Schalter ihrer Nachttischlampe. Gedämpftes Licht erhellte den kleinen Raum, gab den Blick auf den Bilderrahmen mit dem Foto frei, welches Nathalie mit ihrer Schultüte zeigte. Ein Lächeln huschte über Ellis gezeichnetes Gesicht. Was war sie doch für ein süßer Schatz…

Seufzend schob sie sich aus dem Bett, warf den Bademantel über und schlurfte in die Küche hinüber, wo sie sich ein Glas nahm, welches sie mit Wasser füllte. Ihre Finger drückten eine Tablette gegen die immer stärker werdenden Kopfschmerzen aus der Hülle. Sie hockte sich an den Küchentisch, vergrub ihren Kopf zwischen den Händen und versank in obskuren Gedanken. Fiktionen, die sich immer häufiger in ihr Bewusstsein drängten. Bilder, in denen sie von der Dunkelheit ihres Seins eingeholt und vereinnahmt wurde. Bilder, die ihr die letzten Kräfte zu rauben schienen. Bilder, die immer dann wiederkehrten, wenn die Not am schlimmsten und der Kummer am größten war.

Auch jetzt erlaubte sie dieser dunklen Seite des Lebens nicht, die Macht über sich zu ergreifen. Elli stemmte sich ihr entgegen, ließ ihre Faust auf die Tischplatte krachen und erhob sich. Nein, noch war sie nicht am Ende! So schnell gab sie nicht auf! Jetzt erst recht, machte sie sich trotzig Mut. Leise schob sie sich zur Kinderzimmertür, drückte die Klinke herunter, um sie einen Spalt breit zu öffnen.

Das grelle Flurlicht warf einen breiten Lichtstrahl in den dunklen Raum, gab den Blick auf Nathalies Bett frei. Die Bettdecke bis an die Ohren gezogen lag sie da, ihren Körper zusammengekauert, als läge sie in einem Höckergrab. Elli atmete erleichtert auf, um die Tür langsam hinter sich zu schließen. Dann verharrte sie. Ihre Gedanken folgten dem Blick, den sie gerade eben in den Raum geworfen hatte. Ihre Stirn krauste sich. Irgendetwas war nicht in Ordnung, war anders als sonst, weckte Zweifel in ihr und ließ sie die Tür erneut öffnen.

Nathalies Handy lag nicht an seinem Platz. Es hatte sich längst an die Stelle ihres Schnuffelbärchens gedrängt. Ohne das Ding ging ihre Tochter keinen Meter mehr. Schließlich fiel ihr Blick auf das Fenster. Die Zugluft hatte es einen Spalt breit aufgedrückt und mit einem Male fiel es ihr wie Schuppen von den Augen.

Angsterfüllt riss sie die Bettdecke zurück und blieb wie angewurzelt stehen. Was sich dort vor ihr im Bett krümmte, war nichts anderes als ein Berg Wäsche. Nathalie war abgehauen.

 

-2-

 

„Also Frau Weißhaupt, beim besten Willen und bei allem Verständnis für Ihre Situation, so geht das nicht. Es ist bereits das dritte Mal, dass Sie diesen Monat zu spät zur Arbeit kommen. Ich kann Ihr Verhalten nicht länger durchgehen lassen.“ „Aber ich bitte Sie, Herr Groschengräber, es wird bestimmt nicht wieder vorkommen.“ „Das versprechen Sie jedes Mal. Sie lassen mir einfach keine andere Wahl…“

Elli wurde es schwarz vor Augen, „Sie dürfen mich nicht entlassen“, flehte sie, bevor ihr schwindelig wurde und sich alles um sie herum zu drehen begann. Als sie wieder zu sich kam, fand sie sich auf der Couch im Büro ihres Chefs wieder. Herr Groschengräber saß auf der Lehne über ihrem Kopf und strich ihr über das Haar. „Was ist geschehen?“ stammelte sie, während sie langsam wieder zu sich kam. „Sie sind zusammengeklappt, Elli“, entgegnete der Mann im weißen Kittel. „Hier, trinken Sie“, sprach er mit ruhiger Stimme, während er ihr ein Glas reichte. Elli richtete sich auf und trank. „Puh“, schüttelte sie sich. „Das ist ja Schnaps!“ „Trinken Sie, Elli, er wird Ihnen gut tun.“

Die Kassiererin leerte das Glas und gab es zurück. Groschengräber schenkte nach. „Es geht schon wieder“, richtete sich Elli auf. Doch es ging noch nicht. Die Beine zitterten noch immer wie Espenlaub. „Bleiben Sie, ruhen Sie sich noch aus.“ „Aber ich muss doch in den Laden“, erwiderte Elli pflichtbewusst. „Nun, liebe Frau Weißhaupt“, hinderte Groschengräber sie mit ausgestrecktem Arm am Aufstehen. „Ich sagte bereits, dass ich Ihnen die erneute Verspätung nicht durchgehen lassen kann.“ Der Kassiererin jagte ein Kälteschauer über den Rücken. „Wenn sie mich entlassen, ist alles aus.“ „Aber Frau Weißhaupt“, lächelte der Mann im Kittel gönnerhaft. „Davon kann doch gar keine Rede sein.“ Er legte seine Hand auf ihr Knie. „Das lässt sich doch auch ganz anders regeln.“ Elli schob seine Hand zur Seite. „Sie wissen doch, eine Hand wäscht die andere“, womit er seiner Angestellten erneut über das Knie strich. „Sie sind eine attraktive Frau und noch dazu alleinstehend.“

Elli fuhr wie vom Blitz getroffen in die Höhe. Sie hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. „Niemals!“ fuhr sie ihren Chef entschlossen an. „Überlegen Sie, Elisabeth, wer wird schon eine Kassiererin einstellen, die in die Kasse griff?“ Elli verstand zunächst nicht, was ihr Chef damit sagen wollte. „Sie sehen, es liegt ganz bei Ihnen.“

Zu den Sorgen um Nathalie kam nun die Erpressung, der sie sich durch ihren Arbeitgeber ausgesetzt sah. Natürlich wollte Elli der Drohung ihres Chefs nicht nachgeben, aber andererseits wusste sie nicht, was sie gegen ihn ausrichten konnte. Wenn er seine Worte tatsächlich wahr machen würde, war es fast unmöglich, diese Vorwürfe zu entkräften.

An diesem Vormittag sehnte sie sich den Feierabend so ungeduldig wie selten zuvor herbei. Sie hatte sich vorgenommen, auf dem direkten Weg bei der Schule von Nathalie vorbeizugehen. Dort konnte sie ihre Tochter nach Schulschluss abpassen und zur Rede stellen. Ein Vorhaben, welches sich schneller als gedacht relativieren sollte.

„Lassen Sie sich meine Worte in aller Ruhe durch den Kopf gehen“, gab ihr Groschengräber mahnend mit auf den Weg, während Elli ihren Arbeitskittel in den Schrank hängte. Die Kassiererin versuchte seine Worte zu ignorieren, sich die Verunsicherung nicht anmerken zu lassen. Scheinbar gelassen griff sie nach ihrer Handtasche und verließ den Raum. Erst hinter der nächsten Hausecke erlaubte sie ihren Gefühlen freien Lauf. Einen Augenblick nur zum Durchatmen, einen Augenblick, indem sie sich die Tränen aus den Augen wischte, um bereits einen Moment später wieder stark zu sein.

 

Elli lehnte an einem der Kastanienbäume, von denen es einige auf dieser Seite des Schulhofes gab. Auch sie hatte diese Schule einige Jahre lang besucht. Die Erinnerungen daran waren recht gemischt. „Warten Sie auf Ihre Tochter, Frau Weißhaupt?“, vernahm sie plötzlich die Stimme von Nathalies Klassenlehrerin. Elli nickte ihr freundlich lächelnd zu. „Dann wissen Sie gar nicht, dass Nathalie schon seit Wochen nicht mehr am Unterricht teilnimmt?“, schlussfolgerte die verblüffte Pädagogin kopfschüttelnd. „Nein“, entgegnete Elli beschämt. „Eigentlich müssten Sie den Brief vom Schulamt längst erhalten haben.“ Es gehörte nicht viel Fantasie dazu, sich auszumalen, was mit dem Schreiben geschehen war.

„Die Versetzung Ihrer Tochter ist in höchstem Maße fraglich. Nathalie hat sich seit etwa vier Monaten sehr verändert“, erklärte die Pädagogin. „Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, dass es so schlimm um sie steht.“ „Ich bin überzeugt davon, dass der Punk, mit dem ich sie neulich in der Stadt sah, keinen guten Einfluss auf sie hat.“ Ellis Stirn krauste sich nachdenklich. „Was für ein Punk?“ „Ich kenne den jungen Mann nicht, aber ich vermute, dass er mindestens vier, wenn nicht fünf Jahre älter als Ihre Tochter ist.“

„Nathalie und ich hatten gestern Abend eine Auseinandersetzung, weil sie erst gegen Mitternacht nach Hause kam“, nutzte Elli die Möglichkeit, endlich mit jemandem zu sprechen. „Meine Güte, Sie sind ja völlig fertig“, bemerkte die Lehrerin. Ihr Blick fiel auf die Uhr an ihrem Handgelenk. „Ich habe zwar nicht viel Zeit, aber wenn Sie darüber sprechen wollen, könnten wir zusammen einen Kaffee trinken gehen.“

Einige Minuten darauf setzten sich die Frauen im Café Klatsch an einen Tisch, der sich ganz in meiner Nähe befand. Eine der Frauen hatte ein verweintes Gesicht. Offensichtlich beschäftigte sie ein Problem, wie ich der folgenden Unterhaltung entnahm.

„Ich komme einfach nicht mehr an Nathalie heran. Sie rebelliert gegen jede Regel und hält sich an keine Absprachen. Sie kommt und geht, wie es ihr in den Kram passt und nachdem ich sie gestern deswegen zur Rede stellte, hat sie sich einfach über Nacht durch das Fenster hinaus gestohlen“, schilderte die verzweifelte Mutter. „Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll.“ Die Frau, die ich zunächst für eine Bekannte der Frau hielt, griff in die Ledermappe, die sie mit sich führte. „Haben Sie sich schon an die Jugendhilfe gewandt?“ Die Mutter schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe Angst, dass sie mir das Kind wegnehmen und in ein Heim stecken.“ „Na, so schnell schießen die Preußen dann doch nicht. Bevor es zu einem solchen Schritt kommt, werden zunächst alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft.“

Die Worte der Frau schienen beruhigend auf die Mutter zu wirken. „Hier ist die Visitenkarte von Herrn Jordan. Er ist als Jugendbetreuer und Psychologe für den Landkreis Wolfenbüttel tätig. Wenn einer helfen kann, dann er.“ Die verzweifelte Mutter steckte das Kärtchen ein und atmete tief durch. „Haben Sie vielen Dank für Ihre Hilfe. Ich werde Ihren Rat beherzigen und mich mit diesem Herrn Jordan in Verbindung setzen.“ „Tun Sie das, Frau Weißhaupt. Ich bin sicher, dass sich Nathalie fängt.“

Es ist im Grunde nicht meine Art, ein Gespräch zu belauschen, aber letztendlich bin ich Privatdetektiv und schon von daher recht neugierig. Kurze Zeit später verabschiedeten sich die Frauen. „Halten Sie mich bitte auf dem Laufenden, Frau Weißhaupt. Ich werde inzwischen mit dem Direktor sprechen, damit er das Schulamt informiert. Wir wollen unnützen Ärger vermeiden. Bußgelder und Schlimmeres werden Nathalie in dieser Situation nicht wirklich helfen.“

 

-3-

 

„Hallo Chef“, begrüßte mich meine Putzsekretärin mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen. „Mittagspause beendet?“ „Sie wollten mich ja nicht begleiten.“ „Na, irgendjemand muss hier ja die Stellung halten.“ „Ach Trude, auch wenn es in letzter Zeit besser läuft, muss die Detektei nicht rund um die Uhr besetzt sein.“ „Es macht aber einen besseren Eindruck“, ließ sich die Gute nicht beirren. „Und abgesehen davon hat Doktor Börner während Ihrer Abwesenheit angerufen.“ Ich wurde hellhörig. „Sie möchten doch im Laufe des Nachmittags in seiner Kanzlei vorbeikommen.“ „Hat er angedeutet, um was es geht?“ „Wenn ich ihn richtig verstanden habe, sollen Sie etwas abholen.“ „Ah ja“, freute ich mich. „Dann weiß ich schon, worum es geht.“

Ich war bereits in einigen Fällen für die Kanzlei von Christoph Börner aktiv. Dabei hatten wir uns etwas angefreundet, was sich auch in der Auslastung meiner Detektei positiv bemerkbar machte. Ich hoffte, dass die Zeiten vorbei waren, in denen ich mir Sorgen darüber machen musste, woher ich Trudes Gehalt nehmen sollte. Immerhin hatte unsere Freundschaft auch die lange Zeit überdauert, in der ich wegen eines inszenierten Verkehrsunfalls im Koma lag. Bei derartigen Gelegenheiten zeigt sich, wer ein wirklicher Freund ist.

Ich saß kaum hinter meinem Schreibtisch, als auch schon Miriam hereinschneite. Wir hatten uns zwei Tage lang nicht gesehen. Achtundvierzig Stunden, die ich nonstop mit der Observation eines Mannes verbrachte, der im Verdacht stand, seine Firma im großen Stil zu bestehlen. Es gelang mir, ihn und seine Komplizen auf frischer Tat zu stellen und mit Hilfe der Polizei dingfest zu machen. Ein Erfolg, der dem Renommee meiner Detektei nur Auftrieb geben konnte. Die Begrüßung durch meine Freundin fiel dementsprechend überschwänglich aus.

„Meinen Glückwunsch, Leo, dein Erfolg ist das Thema heute.“ „Na ja, war auch ein gutes Stück Arbeit. Ich habe geschlafen wie ein Murmeltier.“ Miriam strich mir über die Wange. „Wir haben allerhand nachzuholen. Wenn du magst, könnten wir ja mal wieder zu Jussuf gehen.“ „Wir könnten uns auch eine Pizza bestellen und es uns bei dir gemütlich machen“, schlug ich praxisorientiert vor. Meine Staatsanwältin kniff das rechte Auge zu. Eine Geste, die stets meine Alarmglocken zum Klingen bringt. „Aber wenn dir so viel daran liegt,…“ „Nein, nein, lass mal“, unterbrach mich Miriam. „Wir können es uns ja auch mal zu Hause gemütlich machen.“

Auch wenn meine Freundin überraschenderweise eingelenkt hatte, wurde ich das Gefühl nicht los, mühsam gesammelte Pluspunkte ohne Not verspielt zu haben. „Ich liebe deine Flexibilität“, hauchte ich ihr ins Ohr. Der Kuss und die damit einhergehenden Liebkosungen weckten in mir Appetit auf mehr. Obwohl bereits tausendfach geübt, hatte ich einmal mehr Schwierigkeiten, den Verschluss ihres BHs mit einer Hand aufzubekommen. Als die Träger endlich zurückschnellten und die Aussicht auf zwei herrliche Belohnungen freigaben, streckte Trude, wie immer ohne anzuklopfen, ihre Knollnase zur Tür herein. „Oh, störe ich?“ „Nein, natürlich nicht! Kommen Sie ruhig herein, vielleicht können Sie mir ja noch ein paar Tipps geben?“

Miriam prustete vor Lachen in ihre Bluse. Halb über den Kopf gezogen, die Hälfte ihrer Taille entblößt, wollte das seidige Stück weder vor noch zurück, was, wie ich erst jetzt bemerkte, am Reißverschluss meiner Hose lag. Dort hatte sich der Fummel irgendwie verklemmt. „Okay, vielleicht sollten Sie Ihren Hosenstall noch mal ganz öffnen.“ „Raus!“

Während sich meine Freundin vor Lachen nicht mehr einkriegte, tanzten meine angeschlagenen Hormone den Kriminaltango. Warum nur muss das Leben zuweilen so grausam sein?

Nachdem sich unser Tête-à-tête auf so unspektakuläre Weise erledigt hatte, war die süßeste Versuchung seit es Staatsanwältinnen gibt in das ganz in der Nähe liegende Gericht und damit an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt.

„Es tut mir wirklich unendlich Leid“, entschuldigte sich Trude, als ich die Anmeldung betrat. Meine Betriebstemperatur hatte ich wieder annähernd auf Normalmaß heruntergebracht und auch die Gestik in meinem Gesicht wies keine vampirartigen Züge mehr auf. „Schon gut“, winkte der Weltmännische in mir ab. „Taktgefühl ist halt nicht jedem gegeben“, schob der Kleinstädter in mir nach. Trude schluckte trocken. „Falls noch etwas sein sollte, erreichen Sie mich in der Kanzlei Börner.“ Meine Putzsekretärin nickte beflissentlich. „Ich schreibe inzwischen die Rechnung im Fall Mantei.“ „Gut, erledigen Sie das und dann nehmen Sie sich bitte die Kaffeeküche vor, die hat es nötig“ Trude nickte gehorsam. Endlich hatte ich mal wieder Oberwasser.

 

-4-

 

Die kleine Plastiktüte kreiste bereits zum wiederholten Mal durch die Reihe der Jugendlichen. „Scheiße man, du musst noch mal nachlegen, Alter“, reichte einer der Jungen die Tüte an sein Gegenüber zurück. „Zeig mal her.“ Zorro hielt sich die Öffnung unter die Nase und atmete tief ein. „Stimmt, der Pitsch knallt nich mehr.“ Zorro drehte den Verschluss der Pattextube auf und drückte eine nicht unerhebliche Menge des Klebers in die Plastiktüte. Mit dem Restinhalt gut vermischt reichte er sie an sein Gegenüber zurück, der sie sofort über Mund und Nase presste. „Boah, dass is ma ne Dröhne.“

Die nächste in der Reihe der Wartenden war Nathalie. Sie griff nicht weniger selbstverständlich nach dem Beutel als Paule, der Junge, der vor ihr geschnüffelt hatte und der seit einigen Wochen ihr Freund war. Noch inhalierte sie die Mischung aus Klebstoff und Verdünnung weniger intensiv als er und doch merkte sie, wie sie sich immer weniger unter Kontrolle hatte. Obwohl ihr jedes Mal speiübel von dem Zeug wurde, liebte sie die Momente, in denen sie scheinbar von allen Sorgen losgelöst durch Zeit und Raum zu gleiten schien.

Schlimm war es nur, wenn die Wirkung nachließ und nichts da war, mit dem sie die Sinne weiterhin vernebeln konnte. Dann kamen die unsäglichen Schmerzen, die ihr den Brustkorb zu sprengen drohten. Eingeholt von den eigenen Gedanken, die hundertfach, tausendfach gemeiner und elender waren als zuvor.

„Mann, Nathalie du musst richtig durchziehen, sonst hauts nich rein“; forderte Paule und drückte den Beutel mit beiden Händen zusammen. Die auf diese Weise stark erhöhte Dosis führte dazu, dass sich Nathalie daran verschluckte. „Bist du irre?“, keuchte sie, ehe sie die Augen verdrehte und quasi mit dem nächsten Atemzug in einen tranceartigen Zustand fiel. Es dauerte fast eine Stunde, ehe sie wieder zu sich kam. Wie ernst diese Situation eigentlich war, hatte keiner ihrer Freunde begriffen.

An diesem Abend ging Nathalie nicht nach Hause. Nicht einmal mit ihren Gedanken war sie bei ihrer Mutter. Solange der Klebstoff reichte, schwebten Sie und Paule auf einem kleinen Stern mitten in der Unendlichkeit des Universums. Auch wenn dieser Stern nicht mehr als die verkommene Laube eines Freundes war.

Irgendwann endete ihre Reise jedoch und das abrupte Erwachen, umgeben von der Tristesse der Wirklichkeit, war so hart und unerbittlich wie der Absturz mit einem ungeöffneten Fallschirm. Nathalie lag längst zu einem Häufchen Elend verkrampft auf dem Boden der Tatsachen, als sie immer noch versuchte an der Reißleine zu ziehen, immer noch versuchte, der ungeliebten Wirklichkeit zu entfliehen.

Unsägliche Schmerzen in Brust und Bauch ließen ihren noch jungen und doch schon so geschundenen Körper nicht zur Ruhe kommen. Sie raffte sich auf, schleppte sich zu Paule, der in einem alten Sessel kauerte und schlief. Sie musste ihn einige Male heftig rütteln, ehe er völlig desorientiert zu sich kam. „Oh Mann, was is`n?“, fuhr er Nathalie genervt an. „Ich habe das verdammte Gefühl, in meinem Bauch zieht sich alles zusammen“, erklärte das Mädchen mit schmerzverzerrtem Gesicht. „Alles easy. Mach dir nich ins Hemd, dass is hinterher immer so.“ „Aber so heftig war`s noch nie“, beharrte die Fünfzehnjährige. „Hast ja auch ne volle Ladung gezogen.“

Auch wenn der Teenager fürs Erste beruhigt war, blieb der Schmerz und die Morgenkühle, die ihr immer mehr zu schaffen machte. Sie warf sich eine übel riechende Decke über, die sie auf dem Bretterboden entdeckt hatte und kauerte sich in den anderen Sessel. Eine gefühlte Ewigkeit und doch nicht mehr als fünf Minuten später, rüttelte sie Paule erneut wach.

„Mir ist schrecklich kalt, ich habe immer noch Schmerzen und ich habe Hunger.“ „Is mir so was von egal. Ruf doch den Zimmerservice und geh mir nich auf n Piss.“ „Du bist so bescheuert“, schrie ihn Nathalie an. „Ich hau ab, mach doch deinen Mist allein.“ Wutentbrannt warf sie Paule die Decke an den Kopf, griff sich ihren Rucksack und stürzte aus der Laube. Paule fuhr genervt aus seinem Sessel und eilte ihr nach.

„Warte! Wo willst du denn hin?“ „Wohin schon, selbst zu Hause ist es tausendmal besser als hier.“ „Nun hör schon auf“, krauste sich die Stirn des Achtzehnjährigen. „Lass uns lieber was fürs Frühstück organisieren.“ „Ich denke, du hast kein Geld mehr.“ „Wer sagt denn, dass wir welches brauchen?“ Nathalie starrte ihren Freund verwirrt an. „Wirst schon sehen! Komm einfach mit.“

Kurz darauf standen sie auf dem Parkplatz eines Supermarktes. „Und jetzt?“, schaute sich das Mädchen suchend um. „Mach die Augen auf!“, entgegnete Paule, während er den Metalldeckel eines großen Containers nach hinten schob. „Es ist angerichtet“, grinste er über das ganze Gesicht. „Das ist ja wohl nicht dein Ernst?“, schüttelte Nathalie fassungslos den Kopf. „Warum denn nich?“ Er griff in den Müllbehälter und kramte ein Toastbrot, eine Gurke und schließlich eine Packung Käse hervor. „Schau dir das Zeug an, is alles top.“ „Ich verhungere lieber, als dass ich diese vergammelten Lebensmittel esse“, verweigerte sich seine Freundin. „Spätestens morgen bist du anderer Meinung.“

Während Paul seinen Rucksack aufschnürte und alles Brauchbare darin verschwinden ließ, wandte sich Nathalie angewidert ab. „He, schau mal“, grinste ihr Freund über das ganze Gesicht, „…Schinken. Der passt super zu unserem Käse.“ „Dein Käse!“, entgegnete sie ärgerlich. Erleichtert darüber, den Parkplatz schließlich wieder ungesehen verlassen zu haben, folgte sie Paul über die Okerstraße in die belebte Fußgängerzone. Sein Ziel war ein bei den Jugendlichen der Stadt seit vielen Jahren bekannter Treffpunkt. Während Paul die ersten Kumpel begrüßte, suchte sich Nathalie die letzten Cent zusammen, um sich ein Brötchen zu kaufen.

Aus dem Schaufenster der Bäckerei heraus fiel ihr Blick auf „die Stange“. Sie betrachtete Pauls Freunde mit gemischten Gefühlen. Eigentlich Typen, die ihr nicht ganz geheuer waren, Typen, von denen sie sich normalerweise ferngehalten hätte. Sie fragte sich, ob dies wirklich der Freiraum war, den sie sich erhofft hatte. Stück für Stück riss sie vom Brötchen ab, steckte es sich in den Mund und kaute ganz in ihren Gedanken versunken darauf herum, ehe sie ihn endlich hinunterschluckte.

Nathalie dachte an zu Hause, an ihre Mutter und schließlich an ein Telefongespräch, welches sie vor langer Zeit belauschte und nie wieder vergessen hatte. Sie war sich sicher, dass ihre Mutter darin mit dem tot geglaubten Vater gesprochen hatte. Auch die Ausreden ihrer Mutter konnten sie weder damals noch heute überzeugen. Für Nathalie stand fest, dass ihr Vater existierte und je mehr sie vom Leben ihres Freundes mitbekam, umso klarer wurde ihr, dass sie ihren Vater finden musste.

„He, Nati!“, rief ihr Paule zu. „Komm rüber zu uns. Ricci und Rübe kennst du noch nicht.“ Nathalie musterte die beiden hoch aufgeschossenen Typen ausgiebig. Sie glichen sich wie aus einem Ei gepellt. Selbst den Dreck hatten sie an denselben Stellen sitzen. „Hi“, lächelte sie ihnen gequält zu. „Hier“, reichte ihr einer der Zwillinge einen Joint zu. „Schon mal gekifft?“ „Klar“, entgegnete Nathalie cool, um sich keine Blöße zu geben. Der anschließende Zug von der Haschischzigarette ließ sie für einen Moment schwindelig werden. Sie hatte alle Mühe, sich nichts anmerken zu lassen.

„Hat´s voll drauf, deine Kleine“, grinste Ricci oder Rübe. So genau wusste es Nathalie nicht, war aber auch egal, sie mochte keinen von beiden. „Wenn du mal Bock auf´n richtigen Kerl hast, liegst du bei uns genau richtig“, feixte der andere, während er seine Lippen in vulgärer Weise anfeuchtete. „Okay“, entgegnete Nathalie gelangweilt, „…aber wo ist der Kerl, von dem du sprachst?“ „Ha“, belustigte sich Paule und schlug sich vor Vergnügen auf die Schenkel. „Der Schuss ging ja wohl nach hinten los!“

Nathalie zog ihren Freund zur Seite. „Ich muss mit dir reden. Lass uns wo anders hingehen.“ „Aber wir sind doch gerade erst gekommen“, verstand Paule die plötzliche Eile seiner Freundin nicht. „Es ist wichtig“, beharrte Nathalie. „Also schön, wenn´s wirklich so wichtig ist.“

Zehn Minuten später saßen die beiden Teenager auf der Rückenlehne einer Parkbank unterhalb der Seeliger Villa. Während Paule seinen Rucksack aufschnürte, um seine Schätze zu Tage zu fördern, erzählte ihm Nathalie von ihrer Mutter und dem Gespräch, welches sie vor langer Zeit belauscht hatte.

„Sie nannte ihn Zardak und so viel ich mitbekam, betreibt er eine Bar irgendwo in Braunschweig.“ „Wenn er sich für dich interessieren würde, würd er dich bestimmt nich inner Scheiße sitzen lassen, hä?“ „Er ahnt bestimmt nichts von meiner Existenz“, ergriff Nathalie für ihren Vater Partei. Paule kam ins Grübeln. Eine Eigenschaft, die er nur sehr selten anwandte. Meistens jedoch, wenn es um seinen Vorteil ging. „Wenn dein Alter ne Bar besitzt, hat er doch sicher ne Menge Kohle“, sinnierte er. „Sicher.“ Ohne sich groß anzustrengen, hatte Nathalie ihren Freund genau da, wo er ihr am meisten von Nutzen sein konnte. Sie kannte ihn lange genug, um zu wissen, in welche Richtung sich seine Gehirnzellen bewegten.

„Fragt sich nur noch, ob er sich über seinen unverhofften Nachwuchs freut?“, überlegte Paule argwöhnisch. Nathalie zuckte mit den Achseln. „Tja, das werde ich wohl nie erfahren.“ „Weshalb?“ „Wie stellst du dir das vor?“, spielte die Fünfzehnjährige die Ahnungslose. „Ich kann doch nicht einfach so zu Hause aufkreuzen und fragen, wo mein Vater wohnt.“ „Das brauchst du auch nicht. Ich werde dir bei der Suche helfen. Gemeinsam werden wir deinen alten Herrn schon finden.“ „Das würdest du für mich tun?“ „Logo“, erhob sich Paule großmütig. „Ich lass dich doch nich hängen.“

 

-5-

 

„Wenn ich Sie in mein Büro bitten dürfte?“, ergoss sich Groschengräber in einem Schwall blasierter Worte. So, wie er es immer tat, wenn er eine seiner Angestellten in den kleinen Raum oberhalb der Kassen bat. Die verspiegelten Scheiben unterbanden jeden Blick von außen und die gedämmten Wände erstarben jeden Laut, der nach außen dringen konnte. In Groschengräbers Adlerhorst, wie die Frauen das Büro nannten, befanden sich einige Monitore, die dem Filialleiter den Blick in die Warengänge und auf den Kassenbereich ermöglichten, sowie ein Tresor, ein Schreibtisch, ein großer Aktenschrank und eine Couch.

„Nehmen Sie Platz, Elli. Ich darf Sie doch Elli nennen?“, peilte sie ihr Chef lauernd an. Die eingeschüchterte Frau nickte zögerlich. „Ich vermute, Sie haben sich meinen großzügigen Vorschlag in aller Ruhe durch den Kopf gehen lassen?“ Ellis Gedanken purzelten durcheinander, ließen sich nur sporadisch in geordnete Bahnen lenken. Groschengräber setzte sich neben sie auf die Couch und schob seine Hand über ihr Knie und über die Schenkel. Sie ließ ihren Chef gewähren, ohne wirklich zu begreifen.

„Na siehst du, ist doch eigentlich ganz angenehm, oder?“ Der Mann im offenen Kittel erhob sich, schob die Schnalle seines Gürtels zurück und öffnete vor ihr stehend seine Hose. „Wenn du es mir jetzt gut machst, vergessen wir deine Verspätung.“ Elli wandte sich angewidert ab. „Stell dich nicht so an! Dein Balg ist ja wohl auch keine unbefleckte Empfängnis gewesen.“ Wütend über Ellis Reaktion presste er ihren Kopf zwischen seine starken Hände und zog ihn zu sich heran.

„Herr Groschengräber!“, klopfte eine von Ellis Kolleginnen in letzter Sekunde an die verschlossene Tür. „Herr Groschengräber!“ „Verdammt noch mal, ich sagte doch, dass ich nicht gestört werden will!“ „Da sind zwei Herren vom Ordnungsamt für Sie.“ Der Mann im weißen Kittel ließ von seiner Angestellten ab und zog den Reißverschluss seiner Hose wieder nach oben. „Aufgeschoben ist nicht aufgehoben“, beugte er sich zu Elli hinunter und fügte, seine Hand unter ihrem Kinn, grinsend hinzu: „Vorfreude ist die schönste Freude, gelle“

Auch wenn ihr Chef bis zum Feierabend keinerlei Anstalten mehr machte, sein Vorhaben doch noch in die Tat umzusetzen, spürte sie, wie seine Blicke, auch dann nicht mehr von ihr abließen, wenn er gar nicht in der Nähe zu sein schien. So sehr sie auch nach einem Ausweg suchte, so mehr wurde ihr bewusst, dass sie Groschengräber letztendlich auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war. Elli hatte Angst vor dem was sie am nächsten Morgen erwarten würde, denn Mittwochvormittag war sie mit ihrem Chef allein im Laden. Da kam es schon mal vor, dass für eine halbe Stunde kein einziger Kunde das Geschäft betrat. Aus ihrer Verzweiflung heraus fasste sie schließlich den Entschluss, sich für die nächsten Tage krankschreiben zu lassen.

Auf diese Weise konnte sie sich ihren Chef erst einmal vom Hals halten. Darüber hinaus wollte sie die Zeit nutzen, um auf eigene Faust nach Nathalie zu suchen. Aus Angst vor dem Jugendamt musste sie auf eine Vermisstenanzeige bei der Polizei verzichten. Wenn dort erst einmal aktenkundig war, dass sie nicht mit Nathalie klar kam und zu allem Überfluss auch noch von Groschengräber des Diebstahls bezichtigt wurde, würde man ihre Tochter in ein Heim stecken. Da gab es für Elli keinen Zweifel.

Noch bevor sie den Arzt aufsuchte, eilte sie in ihre Wohnung. „Nathalie, bist du zu Hause?“, rief sie, die Wohnungstür kaum hinter sich wieder ins Schloss gedrückt. Sie rannte von Raum zu Raum, ehe sie schließlich ernüchtert auf einem der Küchenstühle in sich zusammensackte. Tränen liefen ihr über das ungeschminkte Gesicht, wollten einfach nicht versiegen, drückten aus, was ihr Herz fühlte. Elli war am Ende, ohne es sich selbst einzugestehen. Es bedurfte nur weniger Worte, ehe Doktor Franke sie für eine Woche krankschrieb. Der Mediziner war seit vielen Jahren ihr Hausarzt. Ein einfühlsamer Mann, der Elli von Kindesbeinen an kannte.

„…und nun machen Sie sich erst einmal ein paar schöne Tage mit Ihrer Tochter.“ „Nathalie ist verschwunden, Herr Doktor. Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll.“ „Ich wusste doch, dass da irgendetwas im Argen liegt“, krauste sich die Stirn des Internisten. „Seit wann ist sie denn weg?“ „Seit gestern Morgen“, schniefte Elli. „Waren Sie schon bei der Polizei?“ Seine Patientin schüttelte den Kopf. „Ich habe Angst, dass sie mir Nathalie wegnehmen und in ein Heim stecken. Sie wissen doch, dass sie in letzter Zeit einige Male über die Strenge schlug.“ Doktor Franke wog nachdenklich den Kopf. „Nun, ganz so schnell geht es dann doch nicht, aber gänzlich unbegründet ist Ihre Angst auch wieder nicht. Haben Sie all ihre Freundinnen und Freunde angerufen?“ „Ja klar, aber von denen hat sie keiner gesehen.“

Der Mediziner überlegte einen Moment, ehe er etwas auf einen Zettel notierte und ihn zusammen mit der Krankmeldung über den Schreibtisch schob. „Lessing?“ „Der Name eines Detektivs“, erklärte der Doktor. „Ein Bekannter nahm kürzlich die Dienste dieser Detektei in Anspruch. Er war mit Preis und Leistung recht zufrieden.“ Elli steckte den Zettel eher zögerlich ein. „Ich weiß nicht so recht.“ „Sie können sich ja erst einmal unverbindlich informieren.“ Elli zuckte mit den Achseln. „Vielen Dank, Herr Doktor. Es war gut, mit Ihnen darüber zu sprechen.“ „Sie können jeder Zeit zu mir kommen“, entgegnete der Mediziner.

 

-6-

 

„Wir kriechen erst einmal bei einem Kumpel unter“, erklärte Paule seiner staunenden Freundin. „Castro hat eine eigene Wohnung in der City.“ „Und dein Freund hat nichts dagegen, wenn du mich einfach mitbringst?“ „Quatsch, der Kubaner ist voll locker drauf. Aber du lernst ihn ja bald kennen.“

Die Ziehharmonika, wie Nathalie den verlängerten Bus von Kindesbeinen an nannte, umkurvte ein großes Kaufhaus und schob sich in die pulsierende Metropole der Braunschweiger City. Nathalie liebte es, durch die vielen kleinen und großen Geschäfte zu bummeln, Klamotten anzuprobieren, sich irgendwo mit einem Eis in der Hand hinzusetzen und die vorbeigehenden Leute zu studieren. Leider waren solche Ausflüge an der Seite ihrer Mutter eher selten gewesen.

„Wir müssen hier raus!“, sprang Paule unvermittelt auf. Er hatte zwei Kontrolleure an der Haltestelle ausgemacht. „Sind wir denn schon da?“, erkundigte sich Nathalie verwundert. „Quatsch nicht! Wenn die Tür aufgeht, musst du dicht hinter mir bleiben.“ Auch wenn die Fünfzehnjährige nicht begriff, was Paule eigentlich meinte, so merkte sie doch, dass er recht angespannt war.

„Jetzt!“, rief er, während sich die Ausstiegstüren der Ziehharmonika auseinander schoben, und sprang voraus. Nathalie sah, wie Paule einen Mann, der ihm den Weg versperren wollte, zur Seite rammte und davonlief. Einen Moment lang stand sie wie angewurzelt da, zu keiner Reaktion fähig und doch war dies der Moment, in dem sich ihr weiteres Leben entscheiden sollte. Sie sah den zweiten Kontrolleur wild gestikulierend auf sich zukommen und handelte schließlich aus dem Gefühl der Panik heraus. „Warte auf mich, Paule!“, rief sie ihrem Freund nach, ehe sie ihm mit schnellen Schritten folgte.

„Warum hast du so lange gewartet?“, keuchte Paule außer Atem. Sie hatten das Magniviertel erreicht, waren durch eine offene Toreinfahrt geflüchtet und versteckten sich nun im Hinterhof eines Hauses. „Mach das nie wieder, du Arsch!“, schrie sie Paule an, während sie mit den Fäusten gegen seine Brust hämmerte. „Ich hatte nicht den leisesten Schimmer, was eigentlich ab….“ Weiter kam Nathalie nicht, weil ihr Paule die Hand auf die Lippen presste.

Zwei Polizisten betraten den Hof, um allem Anschein nach ihnen Ausschau zu halten. Die Teenager hielten den Atem an, duckten sich noch tiefer hinter die Holzkisten. Die Beamten sahen sich genauer um, kamen dabei immer näher und näher. Paule stand kalter Schweiß auf der Stirn. Nathalie spürte, wie er immer unruhiger wurde, wie sich seine Muskeln und Sehnen immer mehr anspannten. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis er die Nerven verlor und aus ihrem Versteck sprang, um davonzulaufen.

„Wer weiß, wo die Kids abgeblieben sind?“, sagte der Beamte, der ihnen am nächsten stand. Nathalie konnte bereits den Hauch seines Atems riechen. „Wenn du mich fragst, sind die längst über alle Berge“, entgegnete sein Kollege mürrisch. „Du hast sicher Recht, hier sind sie zumindest nicht.“ „Es gibt mit Sicherheit Wichtigeres, als die Stadt nach zwei jugendlichen Schwarzfahrern zu durchkämmen.“ Der ältere Polizeibeamte schlug seinem Kollegen auf die Schulter. „Widmen wir uns lieber den wahrhaft großen Dingen des Lebens.“ „Du sprichst doch nicht etwa von dem XXL Döner, den wir im Einsatzwagen zurücklassen mussten?“

Während die Polizisten feixend den Hof verließen, entspannten sich Paules Gesichtszüge nur langsam. „Wenn die uns erwischt hätten, wäre ich ziemlich am Arsch gewesen“, erklärte er erleichtert. „Die haben mich noch wegen ner anderen Sache auf der Liste.“ Nathalie wurde hellhörig. „Du hast mir gar nichts davon erzählt.“ „Musst auch nicht alles wissen.“ Eine Erklärung, die Nathalie nicht wirklich ausreichte, doch für den Augenblick beließ sie es dabei.

„Ich glaube, die Luft ist rein“, erhob sich Paule vorsichtig. „Wie weit ist es denn noch bis zu diesem Castro?“ „Wir sind gleich da.“

Kurze Zeit später standen die Teenager vor einem Bauzaun, der mit einigen Graffitis verziert war. Paule drückte eines der Felder zurück und bedeutete seiner Freundin, ihm zu folgen. Sie durchquerten ein verwildertes Grundstück, auf dem etliche alte Ziegelsteine, verwittertes Holz, rostige Eisenstangen und Berge von Müll lagerten. „Wo wohnt denn nun dein toller Kumpel?“, wurde Nathalie allmählich ungeduldig. „Hier!“, entgegnete Paule, während er die Zweige eines dichten Gebüschs zur Seite drückte.

Nathalie traute ihren Augen nicht. Im hintersten Bereich des Grundstücks, umgeben von haushohen, fensterlosen Mauern, standen sie unmittelbar vor den Resten eines Abbruchhauses, wie es in ihren schlimmsten Fantasien nicht hätte aussehen können. „Na, da staunste, wa?“, brachte es Paule auf den Punkt. „Los komm, Castro freut sich bestimmt über unseren Besuch.“ „Du hast se wohl nicht mehr alle?“, weigerte sich Nathalie entsetzt. „In die Bruchbude bringen mich keine zehn Pferde!“ Paule zuckte mit den Achseln. „Na ja, das Hilton ist es vielleicht nicht, aber es ist besser als nichts. Oder weißte was Besseres?“

„He Leute!“, rief ihnen jemand aus einem Fenster der oberen Etage zu. „Seht zu, dass Ihr Land gewinnt, hier ist Privatbesitz!“ „Hi, Castro, ich bins, Paule.“ „Pablo?“ „Ja, ja.“ „Kommt rauf.“ „Du hasts gehört“, wandte sich Paule an seine Freundin. „Wir sollen reinkommen.“ „Pablo?“ entgegnete Nathalie verwundert. „Weiß der Henker, weshalb er mich so nennt.“

Nathalie traute weder der Situation noch der Standfestigkeit der Ruine. „Geh du erst mal allein hinein.“ Paule verdrehte die Augen. „Aber du kommst dann nach“, bestand er darauf. „Ja, ja“, entgegnete die Fünfzehnjährige. „Vielleicht“, schob sie um einiges leiser nach, während sie sich auf einem umgekippten Stahlfass niederließ. Insgeheim ärgerte sie sich über sich selbst. Wie konnte sie nur derart naiv gewesen sein? Paule war sicherlich ein lieber Kerl und sein Angebot, ihr bei der Suche nach ihrem Vater zu unterstützen, war echt süß, aber woher sollte er die Connection haben, die nötig war, um ein solches Vorhaben zu einem guten Abschluss zu bringen?

„He Senorita“, plärrte Castro unvermittelt aus dem Fenster, „…was hast du für eine Problemo? Komm hoch!“ Der Typ mit dem wuchtigen Bart ließ keinen Widerspruch zu, was er Nathalie durch die Art und Weise, in der er ihr zuwinkte, deutlich machte. Auch wenn ihr die Sache nun eher noch unheimlicher geworden war, folgte sie der Aufforderung des Bärtigen.

Wenigstens war ihr Paule bis zum Eingang entgegengekommen. „Müssen wir wirklich hierbleiben?“, unternahm sie einen letzten Versuch, ihren Freund doch noch zur Umkehr zu bewegen. „Du nervst!“, wurde Paule schroffer. „Allmählich musst du dich entscheiden, ob du nach deinem Vater suchst, oder ob du unter den Rockzipfel deiner Mutter kriechen willst.“ Nathalie atmete tief durch. „Du hast ja Recht, aber schau dich doch mal um, wo sollen wir denn hier schlafen?“ „Weiber“, seufzte Paule und zog seine Freundin mit sich.

Nachdem sie die knarrende Holztreppe hinter sich gelassen hatten, standen sie inmitten eines Flohmarktes. War Nathalie beim Anblick der Ruine entsetzt, so war sie nun nicht minder überrascht. Was der Bärtige hier angehäuft hatte, stand der Ausstattung eines Museums in nichts nach. Die alte Kommode und das Sofa stammten sicherlich aus dem Sperrmüll. Etliche Teppiche, die der Kubaner

im gesamten Raum verteilt hatte, sorgten für eine gewisse Gemütlichkeit. Ein Gasherd, eine Spüle, ein Tisch und drei Stühle bildeten so etwas wie eine Küche.

Castro saß in einem Ohrensessel und nippte an einer Tasse Tee. „Willkommen in Guantanamo“, grinste ihr der Kubaner entgegen. Nathalie starrte auf die Zahnlücke, durch die der Bärtige geräuschvoll seinen Tee schlürfte. „Setz dich zu mir, kleine Senorita“, winkte er sie zu sich. Die Teenager ließen sich auf dem Sofa nieder. „Tee?“, musterte sie der Kubaner, während er nach der Kanne griff. Nathalie nickte dem wesentlich älteren Mann zu.

„So, du suchst also nach deinem Vater?“, brachte es Paules väterlicher Kumpel auf den Punkt. Nathalie bestätigte überrascht. „Es ist viele Jahre her, als ich meine Familie für immer verlor“, seufzte er. „Ich kenne keinen Mann mit dem Namen Zardak, aber ich werde mich für dich umhören.“ „Haben Sie etwas zu essen?“ „Kannst Castro zu mir sagen, Kleines“, lächelte der Mann mit der Zahnlücke, während er auf den Gasherd zeigte. „Es müsste noch etwas von der „Mi Camino“ da sein.“ Was auch immer der Kubaner da auf dem Herd hatte, es war Nathalie egal. Hauptsache es war etwas gegen ihren immer heftiger werdenden Hunger.

„Ihr könnt erst einmal hier bleiben“, fuhr sich der Mann im Ohrensessel nachdenklich durch den massigen Bart. „Hast du ein Foto deines Vaters?“ Nathalie schüttelte den Kopf. „Kannst du ihn wenigstens beschreiben?“ „Ich habe leider keine Erinnerung an ihn und ein Foto gab es auch nicht“, erklärte sie, „…aber möglicherweise betreibt er hier in Braunschweig eine Bar.“ Castro stöhnte. „Das wird sicher nicht leicht, aber ich werde sehen, ob ich etwas herausbekomme.“

-7-

 

Inzwischen war ich im Wolfenbütteler Tierheim so etwas wie ein Stammgast. Meine Besuche galten einer deutschen Dogge. Getarnt als Polizeihund hatte mich das Tierchen mehr oder weniger geplant aus einem langen Koma erweckt. Trieb mich anfangs mehr eine Mischung aus Mitleid und Dankbarkeit an seinen Zwinger, hatten wir uns mittlerweile etwas angefreundet.

„Hallo, Herr Lessing“, begrüßte mich Gerda Tietze geradezu überschwänglich. „Die Bea wartet schon sehr ungeduldig auf sie.“ „Tja, leider ist man nicht immer Herr über seine Zeit.“ „Wem sagen Sie das, Herr Lessing. Wem sagen Sie das. Aber mal was anderes, verehrter Herr Lessing. Wie wäre es denn, wenn Sie die Bea zu sich nehmen würden?“ Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Die gute Gerda hatte da eine Frage aufgeworfen, die ich mir nicht in meinen kühnsten Träumen gestellt hätte. Ich, der ich seit ewigen Zeiten geradezu eine Phobie gegen jeden Hund hatte, sollte der stolze Besitzer einer Dogge werden? „Nee wirklich, so sehr ich die Bea auch in mein Herz geschlossen habe, so wenig könnte ich mir eine solche Verbindung vorstellen.“ „Schade“, entgegnete Gerda, „…ich denke, Sie beide wären ein wirklich gutes Gespann. Vielleicht überlegen Sie es sich ja noch mal.“ „Nein, nein, wirklich nicht.“

Auch während der folgenden Stunde, in der ich mit Bea durch die angrenzenden Grünanlagen spazierte, gingen mir die Worte der Tierpflegerin nicht aus dem Sinn. Wo sollte ich das Tier artgerecht halten? Bea bedurfte mehr Zeit als die tägliche Stunde, die ich geradeso für sie abknapsen konnte. Nein, nein, alles, was darüber hinausging, war utopisch. Überdies war ich froh, halbwegs mit dem Tier klarzukommen, Wer weiß, wie er reagieren würde, wenn ich mit ihr schimpfen musste?

Ich hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, als Bea im Gebüsch eine Wildente aufschreckte. Ehe ich überhaupt begriff, was geschah, sprang der Hund über die angrenzende etwa ein Meter hohe Buchsbaumhecke und setzte dem Vogel nach. Dass er dabei seine Leine und die am anderen Ende hängende Person mit sich zog, interessierte ihn eher beiläufig. Ohne jede Chance, ihm wenigstens aufrechten Schrittes folgen zu können, katapultierte er mich aus dem Stand über die Hecke. Mein Stetson segelte in hohem Bogen davon. Immerhin gelang es mir, mich einigermaßen sportlich abzurollen und wieder auf die Beine zu kommen. Nutzen sollte mir dies allerdings auch nichts, denn die wilde Hatz war an dieser Stelle längst nicht zu Ende.

Während Bea unbeirrt weiter ihrem J agdtrieb folgte, versuchte ich indes mein Handgelenk aus der Leinenschlaufe herauszuziehen. So bemerkte ich gar nicht, wie ich dem Ufer des Ententeiches immer näher kam. Zu allem Überfluss änderte der dämliche Vogel nun auch noch seine Fluchtrichtung und flog auf das Wasser hinaus. Überflüssig zu erwähnen, was im nächsten Moment geschah. Auch Bea schlug einen Haken und sprang mit einem sehenswerten Satz ins kühle Nass. Das war der Augenblick, in dem ich meine Hand aus der Schlaufe bekam. Unmittelbar am Ufer kam ich zum Stehen. Hatte ich bislang alle mir in dieser Situation einfallenden Kommandos gegeben, fielen mir nun nur noch Worte ein, mit denen ich mein Missfallen zum Ausdruck brachte.

Ein Fehler, wie mir bereits mit dem nächsten Wimpernschlag klar wurde. Wäre ich weniger wütend gewesen, hätte sich meine Aufmerksamkeit sicherlich mehr auf meine Umgebung konzentriert. So hatte ich keine Chance, als die unterspülte Uferböschung unter meinen Füßen ins Wasser brach und ich mich bis zum Hosenbund sitzend in der trüben Brühe des Ententeichs wiederfand.

„Alles in Ordnung bei Ihnen?“, vernahm ich zu allem Überfluss auch noch eine Stimme hinter mir. Als ich mich umdrehte, wusste ich, weshalb mir die Stimme bekannt vorkam. „Geben Sie mir Ihre Hand“, bat die Frau, die mir am Tag zuvor im Café Klatsch aufgefallen war, ihre Hilfe an. Keine Frage, dass ich mir reichlich blöde vorkam, als sie mir aus dem Wasser half. Die Brühe schoss mir aus allen Ritzen, während ich wie ein begossener Pudel vor ihr stand und reichlich bedröppelt aus der Wäsche guckte.

„Ich habe Ihr Missgeschick beobachtet“, lächelte sie mir mitleidig zu. „Ihrem Hund würde ich für einen Monat die Leckerlis sperren.“ Ich starrte in die Richtung, in der Bea verschwunden war und sah nichts als kreischendes Federvieh, welches noch immer aufgeschreckt am Himmel kreiste. „Haben Sie gesehen, wohin mein Hund lief?“ Die gute Frau verzog ihr Gesicht teilnahmsvoll. Ihre ausgestreckte Hand deutete auf das große Entenhäuschen auf der kleinen Insel, etwa einhundert Meter von uns entfernt. Was ich daraufhin im Eingang des weiß gestrichenen Häuschens erblickte, ließ mir fast den Atem stocken. Bea schien darin irgendwie festzustecken. Zu sehen war jedenfalls nur ihr Hinterteil und ihre panikhaften Bemühungen, sich aus jener misslichen Lage zu befreien.

Je ungestümer sich das Tierchen dabei verhielt, umso mehr schien es sich zu verkeilen. Das Holzhaus wankte bereits bedrohlich, als ich zurück ins Wasser sprang und zur Insel hinüberwatete. Ein Moment, in dem ich mir überlegte, was besser war, meine Hundephobie oder die Unterkühlung, die ich mir gerade zuzog?

Wie auch immer, der Anblick der so hart bestraften Kreatur ließ mich alle aufkommenden Zweifel schnell vergessen. Die Ärmste hatte sich so unglücklich mit der Leine im Inneren des Häuschens verfangen, dass sie ohne Chance war, sich selbst zu befreien. Dies sah Bea offensichtlich genauso, denn kaum dass ich sie wieder flott hatte, kannte ih re Dankbarkeit keine Grenzen mehr. Ihre Emotionen schlugen mir buchstäblich um den Hals und ihre klebrige Zunge quer durch das Gesicht. Ich hatte Bea gerettet. Im Grunde waren wir nun quitt.

Wieder festen Boden unter den Füßen, erwartete uns die Frau aus dem Café. Meinen Stetson in der einen Hand, eine Brieftasche, die der meinen ähnelte, in der anderen, stand sie lächelnd am Ufer. Der Griff an die Stelle, an der ich das Leder üblicherweise aufbewahre, verriet mir, dass es sich nur um meine Börse handeln konnte. Ihre Gestik bestätigte meine Annahme. „Sie lag dort drüben, neben ihrem Hut, Herr Lessing“, deutete sie auf die Stelle, an der ich die Hecke so elegant übersprungen hatte. Ich nahm beides dankbar entgegen.

„Ihr Unfall muss ein Wink des Schicksals gewesen sein“, erklärte sie kopfnickend. „Davon können Sie ausgehen“, pflichtete ich ihr bei, ihre Aussage auf meinen gerade gefällten Entschluss beziehend. „Es passt einfach nicht.“ Die Frau aus dem Café sah mich fragend an. „In meinem Leben ist kein Platz für einen Hund“, redeten wir nach wie vor aneinander vorbei. „Sie sind doch Privatdetektiv“, fuhr sie fort. Ich wurde stutzig. „Ja und?“ Sie griff in ihre Handtasche und förderte einen Zettel zu Tage. „Doktor Franke empfahl Sie mir. Ich möchte Sie engagieren.“

 

-8-

 

Den Termin mit Frau Weißhaupt hatte ich auf den späten Nachmittag gelegt. Schließlich musste ich zunächst Bea im Tierheim abliefern und ein heißes Bad war nach der Entledigung der nassen Klamotten ebenso notwendig. Mit dem, was ich im Café Klatsch aufgeschnappt hatte, war ich gespannt auf das, was mir Frau Weißhaupt von ihrer Tochter erzählen würde.

So saßen wir uns also bei einer Tasse von Trudes ausgezeichnetem Kaffee in der Sitzecke meines neuen Büros gegenüber. „Seit wann ist Nathalie verschwunden?“, stellte ich die erste Frage, von der ich die Antwort eigentlich bereits kannte. „Gestern Morgen, als ich sie zur Schule wecken wollte, lag sie nicht mehr in ihrem Bett.“ Ich machte mir einige Notizen. „Gab es zuvor einen Streit zwischen Ihnen und Nathalie?“ Auch diese Antwort kannte ich. „Sie kam in letzter Zeit immer öfter viel zu spät heim. Diesmal hatte ich sie zur Rede gestellt. Leider zeigte sich Nathalie nicht sonderlich einsichtig.“ „Wie alt ist Ihre Tochter?“ „Fünfzehn“, entgegnete die besorgte Mutter. „Es ist wichtig, dass Sie nichts verheimlichen. Ich kann Ihre Tochter nur dann finden, wenn Sie volles Vertrauen zu mir haben.“ Frau Weißhaupt nickte mir einsichtig zu. „Also, gab es eventuell einen weiteren Grund, der Nathalie zu diesem Schritt bewogen haben könnte?“ Meine Klientin hing für einige Sekunden ihren Gedanken nach, ehe sie nachdenklich den Kopf schüttelte. „Ich weiß es doch auch nicht“, begann sie in ihrer Verzweiflung zu weinen. Ich reichte ihr ein Papiertaschentuch und wartete einige Momente, ehe ich meine Befragung fortsetzte.

„Verstehen Sie mich bitte nicht falsch“, bohrte ich vorsichtig weiter. „An der Art und Weise, in der Sie gerade Ihre Antwort formulierten, sehe ich, dass es etwas gibt, was Sie selbst an Ihrer Aussage zweifeln lässt.“ „Sie haben recht, Herr Lessing. Es gibt da tatsächlich etwas, von dem ich allerdings nicht glaube, dass Nathalie etwas davon ahnt.“ Meine Klientin tat sich augenfällig schwer. Offensichtlich lag ihr etwas Belastendes auf der Seele.

„Wie Sie sich denken können, hat Nathalie einen Vater.“ Ich schürzte erwartungsvoll die Lippen. „Ich habe ihr erzählt, dass er bei einem Autounfall ums Leben kam, als sie noch sehr klein war. Sie müssen wissen, dass wir nicht verheiratet waren und dass er mich während der Schwangerschaft sitzen ließ.“ „Nun“, seufzte ich anteilnehmend, „…leider geschieht so etwas häufiger.“ „Nathalies Vater betreibt eine Bar im Braunschweiger Rotlichtmilieu. Ich war daher recht froh, dass er nichts von seiner Tochter ahnte.“

Da ich selbst viele Jahre bei der Braunschweiger Kripo als Hauptkommissar tätig war, kannte ich im Grunde alle Größen der Szene. „Wie ist der Name des Mannes?“ „Zardak.“ „Zardak?“, fragte ich nach. Meine Klientin nickte zustimmend. Diesen Namen hatte ich nie zuvor gehört. „Handelt es sich um einen Spitznamen?“ „Ich kann es Ihnen nicht sagen. Für mich gab es nur diesen Namen.“ Falls es sich um einen Nachnamen handelte, konnte er kroatischen oder serbischen Ursprungs sein. „Handelt es sich bei dem Herrn um einen Landsmann?“, erkundigte ich mich daher bei Frau Weißhaupt. „Ja! Wenn ich auch sonst nicht viel von Zardak weiß, das weiß ich genau.“

Entweder war jener Herr keineswegs die große Nummer in der Szene, oder er stand so weit oben, dass er mir und meinen damaligen Kollegen von der Kripo nicht oder nur unter einem anderen Namen bekannt war. „Überlegen Sie, Frau Weißhaupt. Könnte es sein, dass Nathalie in Ihrer Wohnung einen Hinweis auf ihren Vater fand? Hat sie möglicherweise einen Brief gefunden? Haben Sie mit dem Mann telefoniert oder ihn irgendwann getroffen?“ „Nein, wir hatten keinerlei Kontakt.“ Sie stockte, überlegte und verzog das Gesicht. „Wir haben vor einiger Zeit miteinander telefoniert. Das liegt aber schon Jahre zurück und ich glaube auch nicht, dass mich Nathalie dabei belauschte.“

„Nun gut, ich werde mich zunächst in ihrem Freundeskreis umsehen. Vielleicht ist sie irgendwo untergekommen, vielleicht treibt sie sich aber auch irgendwo mit diesem Punk herum.“ Meine Klientin stutzte. „Woher wissen sie von dem Punk?“ O je, ich hatte mich verplappert. „Nun, ich bin Privatermittler. Wissen ist mein Kapital.“ Die gute Frau sah mich mehr als verwundert an. Offensichtlich konnte sie sich nicht an unsere Begegnung im Café erinnern. Was mich angesichts der Sorge um ihre Tochter nicht weiter wunderte.

„Aber ich habe doch all ihre Freunde schon angerufen“, erklärte Frau Weißhaupt. „Bei denen war sie auch nicht.“ „Vielleicht wissen Nathalies Freunde tatsächlich nicht, wo sich Ihre Tochter aufhält, vielleicht ist aber auch einer unter ihnen, der die Unwahrheit sagt. Ich brauche die Namen und die Adressen oder zumindest die Telefonnummern dieser Freunde.“ „Ich suche sie gleich heraus und gebe sie Ihnen durch.“ „Das ist nicht nötig, wenn es Ihnen recht ist, werde ich Sie nach Hause begleiten. Ich würde mir gern Nathalies Zimmer ansehen, um mir ein Bild von Ihrer Tochter zu machen.“ „Jetzt gleich?“ „Ich denke, wir sollten keine Zeit verlieren. Die Chance, Nathalie unbeschadet zurückzubekom-men, sinkt mit jedem Tag.“

Die kleine Mietwohnung in der Jahnstraße war einfach, aber gemütlich eingerichtet. Die Handschrift einer fürsorglichen Mutter war in jeder Ecke deutlich zu sehen. „Nathalie ist ohne jeden Vater aufgewachsen?“, fragte ich, während mir meine Klientin die Tür zum Kinderzimmer öffnete. „Wie sagt man so schön, gebranntes Kind scheut das Feuer.“ Das Zimmer des Mädchens unterschied sich kaum von denen, wie ich sie in der Vergangenheit gesehen hatte. An den Wänden Poster von irgendwelchen Popstars, Kuscheltiere auf dem Bett und ein weißer Schuhkarton darunter. „Dann bekamen Sie auch keinerlei Unterhalt für Nathalie“, lenkte ich unser Gespräch in eine Richtung, die meiner Klientin unangenehm war. „Wir brauchen sein schmutziges Geld nicht!“

Mittlerweile hatte ich den Schuhkarton unter dem Bett hervorgekramt und auf den kleinen Schreibtisch Marke Jugendzimmer abgestellt. „Ihr allerheiligstes Refugium, wenn ich nicht irre.“ Meine Klientin schien nicht sonderlich überrascht zu sein. Sie wusste also von Nathalies persönlicher Schatzkiste. Ich öffnete den Deckel des Kartons und fand die üblichen Liebesbriefe jugendlicher Verehrer, eine vollbusige Barbiepuppe, mehrere Autogrammkarten und einen kleinen Teddy. Auf den ersten Blick nichts Außergewöhnliches. Fast hatte es den Anschein, als sei dies lediglich ein Pseudoversteck, welches ausschließlich dazu diente, ihrer Mutter etwas vorzumachen.

Ich sah mir den Teddy genauer an und ertastete darin einen Sicherheitsschlüssel, wie er zu einer kleinen Geldkassette passt. Während sich im Gesicht meiner Klientin Erstaunen abzeichnete, sah ich mich nach einem geeigneten Versteck um. Unter der losen Bodenplatte ihres Kleiderschranks fand ich schließlich die erwartete Kassette. Das Staunen meiner Klientin steigerte sich ins Unermessliche, als ich darin einen Zettel mit dem Namen Zardak und ein Päckchen Kondome fand. „Nathalie kannte also den Namen ihres Vaters.“ „Ich sehe diese Notiz zum ersten Mal“, bekundete die besorgte Mutter kopfschüttelnd.

„Wenn sie ihren Vater tatsächlich findet, wird er sie gewiss nicht mit offenen Armen aufnehmen. Schließlich ahnt er nichts davon, ihr Vater zu sein.“ Die Panik in den Augen meiner Klientin deutet auf ein dunkles Geheimnis hin. „Kann es sein, dass ich noch etwas wissen sollte?“, hakte ich daher nach. „Ich weiß nicht, was Sie meinen, Herr Lessing.“ Jedes weitere Bohren hätte mich an dieser Stelle nicht weitergebracht. Folglich musste ich selber herausfinden, was hinter alledem steckte.

„So, ich hoffe, dass ich keinen von Nathalies Freunden vergessen habe“, reichte mir meine Klientin wenig später die verlangte Liste. „Wenn es weitere Freunde gibt, werde ich es schon herausfinden“, beruhigte ich sie. „Hoffentlich ist ihr nichts zugestoßen. Wenn ich sie doch nur nicht…“ „Sie haben sich nun wirklich nichts vorzuwerfen, Frau Weißhaupt. Schließlich konnten Sie Ihrer Tochter nicht alles durchgehen lassen.“

 

-9-

 

„Was ist los mit dir Castro, bist wohl unter die Schnüffler gegangen?“, entgegnete der Mann hinter der Bar misstrauisch. „Sagen wir mal, es ist mir ein persönliches Anliegen.“ Der Kubaner schob dem Barkeeper einen Fünfziger über die Theke. Jerry griff nach dem Schein, war jedoch nicht schnell genug, weil ihn der Kubaner sofort wieder zurückzog. „Erst die Auskunft – dann die Kohle.“ „Ich kenne niemanden mit diesem Namen, aber ich könnte mich ja mal umhören.“ „Da, wo dieses Scheinchen herkommt, gibt es weitere“, erhöhte der Kubaner den Einsatz. „Lass dich morgen Abend hier sehen, Castro. Bis dahin bin ich vielleicht schlauer.“ „Also schön, morgen Abend.“

Der Mann, den seine Freunde Castro nannten, kannte sich im Milieu gut genug aus, um zu wissen, dass er nicht nur auf ein Pferd setzen durfte. Die nächste Bar auf seiner Liste gehörte zu der Art Etablissements, um die er sonst einen weiten Bogen machte. Castro war gewiss nicht zimperlich, wenn es darum ging, wie und wo er seine kleinen Deals durchzog, doch die Löwenbar war in den knallharten Händen eines serbischen Clans und damit selbst für ihn ein gefährliches Pflaster. Wer auch immer hier auf eigene Rechnung arbeiten wollte, bekam es mit diesen skrupellosen Herren zu tun.

An diesem Abend jedoch versprach genau diese Bar gute Aussichten, an Informationen zu gelangen. Doch bereits der Türsteher machte dieses Vorhaben zunichte.

„Das ist ja wohl nicht dein Ernst?“, hielt ihn der muskelbepackte Mann von der Security mit dem ausgestreckten Arm zurück. „Leute wie du haben hier nichts zu suchen.“ „Hast du etwas gegen mein Outfit einzuwenden?“, stellte sich Castro in Pose. „Glaub mir“, ließ sich der Hüne nicht aus der Ruhe bringen, „…es ist besser, wenn du einfach nur deine Klappe hältst und ein Türchen weiter gehst.“ Ein Typ im Armanikostüm drängte sich an ihnen vorbei. In seinem Schlepptau befanden sich zwei kichernde dunkelhäutige Grazien. „Was ist mit denen da, ist mein Geld weniger wert?“ „Ich sage es dir nicht noch einmal, du Penner“, wurde der Türsteher jetzt energischer, „Verpiss dich!“

Angesichts der freundlichen Worte beugte sich der Kubaner der Aufforderung und zog weiter. Nur zum Schein und auch nur so weit, bis ihn der Bodyguard aus den Augen verlor. Castro hatte längst einen Weg gefunden, um auf andere Weise in die Bar zu gelangen. Es war dieser unbändige Jagdtrieb, der ihn, ausgelöst durch das Verhalten des Türstehers, dazu veranlasste, mittels eines Bolzenschneiders die Toreinfahrt des Nachbargrundstücks aufzubrechen. Vielleicht war es aber auch einfach nur Neugier, die ihn über die im Hinterhof gelegene Mauer auf das angrenzende Flachdach einer Garage und damit auf das Grundstück der Serben trieb.

Er wollte gerade hinunterklettern, als eine Tür zum Hof geöffnet wurde. Grelles Licht zerriss die schützende Dunkelheit, zwang den Kubaner in die Knie und schließlich flach auf den Bauch. Während eine Küchenangestellte einen Eimer mit Müll ausleerte, betraten zwei Männer den Hof. Sie zündeten sich Zigaretten an. Die flackernde Flamme des Feuerzeugs erhellte einen Moment lang ihre Gesichter. Der Kubaner kannte sie nicht, hatte sie niemals zuvor gesehen. Sie schwiegen, bis die Frau den Hof verlassen hatte.

„Die Sache steigt morgen Nacht“, erklärte der kleinere der beiden Männer. „Deine Aufgabe wird es sein, die Qualität der Ware zu prüfen.“ Sein Gegenüber nickte. „Wie lange brauchst du für die Analyse?“ „Keine drei Minuten“, entgegnete der größere Mann. Im Gegensatz zu dem Kleinen hatte er volles schwarzes Haar und einen wuchtigen Schnauzer. „Nun gut, ich schätze, unser Lieferant wird sich solange gedulden müssen.“ „Alles, was ich für meine Arbeit benötige, ist etwas Licht“, erklärte der Bärtige. „Das dürfte kein Problem sein. Einer meiner Männer wird dir eine Lampe halten.“ Der Bärtige nickte zufrieden. „Wo wird die Übergabe stattfinden?“ Der kleine Dicke lächelte sanftmütig. „Du wirst es rechtzeitig erfahren.“

Der Kubaner wusste nur zu genau, von was die Männer sprachen und es war ihm ebenso klar, was ihm blühte, wenn man ihn erwischen würde. Er presste seinen Oberkörper so dicht wie nur möglich auf das Garagendach, wagte es kaum zu atmen, geschweige denn sich zu rühren. Doch so groß seine Vorsicht auch war, so groß war auch seine Gier danach, Kapital aus diesem Wissen zu schlagen. So kreisten seine Gedanken bereits um die Frage, wie er es anstellen musste.

Die Informationen, die er bislang hatte, reichten nicht aus, um mit dem Feuer zu spielen. Er beschloss, die Nachforschungen für seinen Freund an dieser Stelle abzubrechen und zunächst auf eigene Rechnung aktiv zu werden. Wenn er es geschickt anstellte, versprach diese Sache einen gewaltigen Profit. Es war die Chance, auf die er so lange gewartet hatte. Auf einen Schlag würde er den Sumpf, in dem er lebte, endgültig hinter sich lassen.

Der Morgen graute bereits, als endlich das letzte Licht in der Löwenbar erlosch. Vom Flachdach der Garage aus hatte Castro sowohl einen guten Blick auf das, was vor der Bar als auch auf das, was im Hinterhof geschah. Stundenlang hatte er dort oben verharrt, sich nicht einmal eine Zigarette angesteckt, um sich durch das Aufglimmen der Glut nicht zu verraten. Die Kühle der Nacht war ihm tief in die Glieder gezogen und die Müdigkeit tat ein Übriges, doch die Aussicht auf eine fette Beute hatte ihn immer wieder motiviert.

Einen Augenblick wartete er noch, ehe er sich über die Dachkante schob und lautlos wie eine Katze am Regenfallrohr hinab in den Hinterhof der Bar glitt. Er staunte, wie einfach es ihm die Serben machten. Kein Bewegungsmelder, kein Hund, nicht einmal ein Sicherheitsschloss, welches ihm seine Arbeit zumindest erschwert hätte. Im matten Lichtschein seiner Taschenlampe zeichneten sich mehrere Türen ab. An einer klebte ein Schild mit der Aufschrift ‚Büro‘. Selbst diese Tür war unverschlossen. Castro staunte nicht schlecht, als sein Blick den Raum erfasste. Die Wand zur Bar war eine einzige verspiegelte Glasscheibe, durch die der Boss jederzeit das Geschehen in der Bar beobachten konnte. Inmitten des Raumes, auf samtweichem roten Teppich ein Schreibtisch aus Marmor und Glas. An den anderen Wänden Bilder und Fotos, die wahrscheinlich aus Serbien stammten.

Der Kubaner hielt inne. Auf einem der Fotos erkannte er den kleinen Mann wieder, den er im Hof belauscht hatte. Das musste der Boss gewesen sein. Sollte dieser Typ am Ende Zardak sein? Castro rief sich das Bild des Mädchens vor sein geistiges Auge, verglich es mit dem Foto an der Wand und konnte beim besten Willen keine Übereinstimmung erkennen. „Ein so hässlicher Vogel wie du kann vielleicht schön singen…“, lachte er, „aber tanzen…?“

Zumindest sagte ihm das Foto, dass in der Löwenbar nicht nur Getränke serviert wurden. Um die Serben unter Druck setzen zu können, reichte dieses Wissen allerdings nicht. Er musste herausfinden wann und wo der Deal über die Bühne gehen sollte. Wenn es ihm dann gelang, im richtigen Moment einige Fotos zu schießen, hatte er ausgesorgt.

Castro sah sich weiter um, versuchte die Schubladen des Schreibtisches zu öffnen, doch diese waren zu seiner Überraschung verschlossen. Jeder Versuch, die Schlösser mit seinem Spezialwerkzeug aufzubekommen, scheiterte. Sie aufzubrechen, hätte die Serben alarmiert und womöglich den Deal platzen lassen. Also sah er sich die übrigen Schränke genauer an. Im Garderobenfach stieß er schließlich auf ein Jackett und in dessen Innentasche auf ein Smartphone. „Kann es sein, dass du wirklich so dämlich bist, hässlicher Vogel?“, murmelte Castro in hoffnungsvoller Erwartung.

„Ganz so dämlich leider dann doch nicht“, stellte er nach kurzer Inaugenscheinnahme fest. Das Handy war durch ein Passwort gesichert. „Okay, du alter Kubaner“, sagte sich Castro, „…zwei Versuche hast du, ehe es der Besitzer merkt.“ Nach kurzer Überlegung tippte er den Namen der Bar in die Tastatur. „Mist!“ Er überlegte weiter. „Sollte das hässliche Vögelchen am Ende doch…?“ Castro tippte den Namen Zardak in das Smartphone ein. Er selbst war wohl am meisten überrascht, als ihn das Gerät mit der nächsten Einstellung willkommen hieß.

„Also doch. Das nennt man dann wohl zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen“, frohlockte der Kubaner, während er durch das Menü und schließlich den Terminplaner seines Besitzers blätterte. Unter dem Datum des nächsten Tages stieß er schließlich auf den Eintrag: 2 Uhr Hafenparade.

Im selben Augenblick fiel grelles Licht durch die große Glasscheibe zur Bar. Castro erschreckte fast zu Tode, als der Mann aus dem Hinterhof schnellen Schrittes auf die Scheibe zueilte. Nun war keine Zeit zu verlieren. Der Kubaner steckte das Smartphone zurück in die Innentasche des Jacketts, zog den Schrank zu und tauchte hinter dem Schreibtisch ab. Mit demselben Wimpernschlag wurde das Licht eingeschaltet und der Serbe betrat das Büro. Castro hielt den Atem an.

Der Mann, der aller Wahrscheinlichkeit Nathalies Vater war, steuerte den Garderobenschrank an und entnahm ihm das Jackett. Dann wandte er sich dem Schreibtisch zu, näherte sich einige Schritte, blieb stehen, wühlte in den Taschen und förderte kopfschüttelnd das Smartphone zu Tage. Castro betete zur heiligen Mutter Gottes, dass sich das Gerät inzwischen abgeschaltet hatte. Offensichtlich waren seine Gebete erhört worden, denn der Serbe warf das Jackett achtlos über die Schreibtischplatte, drehte sich zur Tür, löschte das Licht und zog pfeifend ab.

 

 

Mi Camino la Montana = kubanisches Nationalgericht