Detektei Lessing

 

Nachtgiger

 

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„Die Geschichten, die ich euch heute Abend erzählen möchte, wurden über viele Generationen weitergegeben. Niemand von euch sollte sie als Märe oder Fantasy-Story abtun“, mahnte der Betreuer verschwörerisch. „So können wir uns auf vielerlei Dinge die zwischen Himmel und Erde geschehen, auch heutzutage in unserer durch präzise Wissenschaften geprägten Zeit keinen Reim machen. „Heute Nacht möchte ich euch zunächst die wahre Geschichte vom Sandmann erzählen.“

Das Lagerfeuer loderte unruhig, als Benno Stachel einen letzten Schluck aus der Wasserflasche nahm und den Zeigefinger seiner rechten Hand mit der Zunge befeuchtete, um die nächste Seite in dem großen dicken Buch umzublättern, welches auf seinem Schoß lag. Ein lauter Knall ließ die Kinder auffahren. Feuchtes Holz war durch die Hitze des Feuers geborsten, Funken sprühten hoch über das Feuer und wurden durch den einsetzenden Abendwind wie hunderte Glühwürmchen davongetragen.

„Ich warne euch, diese Sage beruht auf einer wahren Begebenheit und ist nichts für schwache Nerven. Wer sie nicht hören mag, hat von jetzt an noch eine Minute Zeit, um sich davonzuschleichen, sich in sein Zelt zu begeben und sich ganz tief in seinem Schlafsack zu verstecken.“ Benno Stachel vergewisserte sich durch einen letzten Blick in die Runde der um das Lagerfeuer herum sitzenden Kinder, dass keines unter ihnen war, welches der nun folgenden Geschichte nicht gewachsen war. „Nun denn, die Geschichte möge beginnen.“

Die Kinder lauschten gebannt. „Es trug sich im Jahre 1910 in der englischen Hauptstadt London zu, dass ein Kidnapper sein Unwesen trieb. Die Kinder hatten Angst davor, ins Bett zu gehen und ihre Eltern standen immer wieder besorgt in der Nacht auf, um nach ihnen zu sehen. Ihr müsst wissen, dass es nicht so wie heutzutage war. Es gab keine Alarmanlagen, stabile Fenster und Schlösser, die ein Eindringen unmöglich machten. Zudem lagen die engen Londoner Gassen während der langen Nächte zumeist im Dunkeln. Ganz zu schweigen von dem dichten Nebel, der von der Themse in fast jeder Nacht in die Stadt waberte. Das führte dazu, dass sich immer wieder finstere Gestalten in den Gassen herumtrieben.“

Benno sah in die Gesichter der Kinder. Er verstand es wie kein zweiter, Geschichten zu erzählen. „Ihr habt doch bestimmt schon einmal von den Trillerpfeifen der englischen Polizisten gehört, oder?“ „Na klar“, meldete sich einer der Jungen. „Die haben sich bei Gefahr gegenseitig gewarnt.“ „Genauso war es damals, Timo. Wenn einer der Polizisten etwas Verdächtiges sah, gab er seinen Kollegen mit der Trillerpfeife ein Signal und alle, die es hörten, liefen so schnell sie konnten an die Stelle, von der es kam.“ „Gar nicht so blöd“, nickte Leonhard anerkennend mit dem Kopf. „Das war nicht nur schlau, das war zudem, neben dem Schlagstock, ihre einzige Waffe“, fuhr Benno fort.

„Es wurden immer mehr Kinder vermisst und Scotland Yard, das ist so etwas wie bei uns die Kriminalpolizei“, erklärte Benno, „...war machtlos. Die Ermittler wunderten sich nur über einen feinen gelblichen Sand, den man des Öfteren in den leeren Betten der geraubten Kinder fand und ließ ihn untersuchen. So stellte sich schließlich heraus, dass es sich um eine neuartige Schlafdroge handelte. Nun war klar, weshalb die Kinder nicht um Hilfe riefen, während man sie entführte.“

„Das wäre das Richtige für meine Mutter“, zeigte sich einer der Jungen begeistert, „...da könnte ich mich nachts aus dem Haus schleichen, um meine Freunde zu treffen.“ „Seit wann hast du Freunde?“, feixten die anderen. „Eines Nachts“, fuhr Benno fort, „...wurde der Entführer schließlich dabei beobachtet, wie er mit zwei unterschiedlich großen Säcken aus dem Fenster eines Wohnhauses stieg. Da sich die Säcke nicht rührten, glaubte der Nachbar an einen Einbrecher. Da es damals kein Telefon und schon gar kein Handy gab, lief er so schnell er konnte durch die menschenleeren Gassen, bis er schließlich auf einen Polizisten stieß. Er beschrieb den vermeintlichen Einbrecher als kleinen, gedrungenen Mann von etwa vierzig Jahren. Als die Polizei schließlich an der Haustür seines Nachbarn klopfte, stellten die entsetzten Opfer fest, dass ihre beiden Kinder geraubt waren.“

„Der hat sie in Säcke gesteckt?“, fragte eines der Mädchen ungläubig nach. „So hat es der Nachbar beschrieben. Er wurde in der darauf folgenden Nacht übrigens ermordet und bestialisch verstümmelt in einer Gasse unweit seines Hauses aufgefunden. Neben seinem Leichnam entdeckte Scotland Yard das gleiche sandähnliche Schlafpulver, wie man es in den Betten der Kinder gefunden hatte.“ „Was wollte der Kerl denn mit all den Kindern?“ „Na, Lösegeld, was denn sonst!“, entgegnete Leonhard auf die Frage seines Zeltnachbarn. „Dieselbe Frage stellte sich auch die Polizei, denn es wurde niemals ein Lösegeldforderung gestellt“, widersprach Benno. „Keines der Kinder tauchte übrigens wieder auf.“

Ein weiterer Knall des im Feuer platzenden Holzes schreckte die Jugendlichen auf. Bennos Geschichte hinterließ offenbar erste Spuren. „Bis 1925 wurden mehr als dreißig Kinder vermisst, ehe der Spuk zumindest in London schlagartig vorbei war. Dafür klagten nun andere Städte über verschwundene Kinder. Auch hier gab es Zeugen und auch sie wurden ermordet und zerstückelt. Irgendwann gab es auch außerhalb Englands Meldungen von Kindern, die auf die gleiche Art gekidnappt wurden. Denn immer fand man Sand im Zimmer der Kinder. Erst im Jahr 1949 hörte das Grauen auf.“

„Aber es muss doch irgendwann eine Spur von einem der Kinder gegeben haben“, wollte sich Anna nicht mit dem abfinden, was Benno erzählt hatte. „Der Sandmann, wie ihr ihn heute kennt, war also damals keineswegs das liebe Gutenachtmännchen. Da die Kinder auch nach all den Jahren immer noch Angst davor hatten, allein ins Bett zu gehen, wurde zehn Jahre später das erste Mal die Kinderserie "Unser Sandmännchen" im Fernsehprogramm ausgestrahlt. Die Sendung sollte den Kindern vermitteln, dass der Sandmann friedlich sei. So gerieten die vermissten Kinder über die Zeit in Vergessenheit. Keiner weiß, ob es den Sandmann nicht doch noch gibt.“

„Der wäre ja inzwischen einhundert Jahre alt“, lachte Timo. „So alt wird keine Sau!“ „Ich glaube nicht, dass der Sandmann ein normaler Mensch war oder ist. Wer weiß, was er mit den Kindern machte? Vielleicht sind sie das Geheimnis seiner ewigen Jugend? Dass die Geschichte zumindest einen wahren Kern hat, seht ihr schon daran, dass sowohl der böse als auch der gute Sandmann die Kinder mittels Sand, welches er ihnen in die Augen streute, zum Schlafen brachte.“ Die Kinder zweifelten zumindest. „Erst gestern Abend sah ich einen kleinen, gedrungenen Schatten, der aus dem Fenster eines Hauses stieg. In seinen Händen trug er einen Sack.“ „Du flunkerst doch, Benno?“, zwinkerte ihm Anna zu. „Wenn ihr glaubt, ich hätte gelogen, ist ja alles gut und ihr werdet tief und fest schlafen, wenn nicht, empfehle ich euch heute Nacht auf der Hut zu sein, denn in der Finsternis treiben sich allerhand lichtscheue Gestalten herum.“

„Von was für Gestalten sprichst du, Benno?“, hatte Alexander gut aufgepasst. „Es gibt viele Sagen, die sich um entführte Kinder ranken. Kinder, die während des Schlafens aus ihren Betten geholt wurden und für immer verloren blieben. So hält sich in den Alpenländern seit Generationen die Fabel vom Nachtkrapp, oder vom Nachtgiger, wie ihn die Menschen in Süddeutschland nennen.“ „Von wem sprichst du, Benno?“ „Ich spreche von einem schwarzen Vogel, der all die Kinder holt, die zur Geisterstunde nicht in ihren Betten liegen. Ihm wird eine magische Kraft zugesprochen. Niemand hat je gesehen, wie es der Vogel anstellt und doch wissen alle, dass am nächsten Morgen stets ein Kind verschwunden ist.“

„So ein Quatsch!“, ließ sich Leonhard auch diesmal nicht von Bennos Geschichte beeindrucken. „Wie soll ein Vogel ein Kind holen und dann auch noch spurlos mit ihm verschwinden?“ Benno zuckte mit den Schultern. Tja, das hat sich die Polizei auch gefragt, als sie die Greifspuren der kräftigen Krallen sah, die der Vogel an jedem der Tatorte zurückließ.“ „Nee, also wirklich, ich bin ja durchaus bereit, dir das eine oder andere abzunehmen, aber jetzt trägst du wirklich zu dick auf“, pflichtete ihm Natascha bei. „Um was für einen Vogel soll es sich denn bei diesem Nachtgiger handeln?“ „Nachdem, was überliefert wurde, ist der Waldtrapp gemeint. Ein Schreitvogel, der in Bayern seit dreihundert Jahren als ausgestorben galt.“

„Also ich bin müde“, erhob sich Timo. Leonhard folgte seinem Beispiel. „Dann werden wir nun also zu unserem Zelt hinüberschreiten.“ „Ja, ja, ihr seid schon zwei ganz besondere Vögel.“ Benno klatschte in die Hände. „Es ist Zeit fürs Bett, Leute. In einer halben Stunde kontrolliere ich, ob das Licht aus ist und denkt dran, wer zur Geisterstunde noch wach ist, wird vom Nachtgiger geholt.“

-2-

Wer an einem Samstagvormittag in der Innenstadt von Wolfenbüttel mit dem eigenen Wagen unterwegs sein muss, braucht Geduld, denn um einen freien Parkplatz zu finden, bedarf es Nerven, die so dick sein sollten wie Drahtseile. Ich weiß nicht, wie oft ich auf meiner Suche mittlerweile das Museum für Früh und Spätkulturgeschichte umrundet hatte, doch ich spürte, wie sich mein Pulsschlag mit jeder weiteren Runde erhöhte. Seit die Verantwortlichen im Ordnungsamt jegliche Markierungen der Parkflächen aufgegeben hatten, wurden etliche Stellplätze durch egoistische Parkrüpel verschenkt. Ohne klare Regeln geht es halt für so manchen nicht.

Irgendwann hatte ich in der Nähe der Hauptkirche ein Plätzchen gefunden. Nach etlichen Jahren, in denen der Blick auf das Gotteshaus durch riesige Gerüste verbaut war, konnte man endlich sehen, was sich hinter den Planen getan hatte. Ein so bedeutender protestantischer Kirchenbau, wie die im 17. Jahrhundert errichtete Marienkirche, die Gotik, Renaissance und Barock in einzigartiger Weise miteinander verbindet, ist schließlich erhaltenswert. Trotz Parkplatznot in der Innenstadt störten mich die unmittelbar an der Kirche geparkten Autos. Das schöne Fotomotiv erhält auf diese Weise leider einen störenden Einfluss.

Genau das galt auch für die klobige Toilettenanlage, die seit einiger Zeit als Provisorium den Kornmarkt schmückte. Da gefiel mir sogar der alte Kiosk besser, wie er bis dato an gleicher Stätte zu finden war. Ich ließ den Maggiwürfel links liegen und nutzte die kleine Passage zum Stadtmarkt. Da wo sich vor etlichen Jahren das Kinderparadies befand, ein Spielzeugladen, in dem ich als Bub alles für den Modellbau bekam, wurden jetzt Antiquitäten, Kaffee und Kuchen angeboten. Die alte Apotheke gegenüber gab es auch nicht mehr. Irgendwie unterliegt wohl alles einem natürlichen Wandel und dennoch muss ich sagen, dass mir die Schnelllebigkeit unserer Zeit nicht gefällt. Computer und Internet werden dafür sorgen, dass es den Einzelhandel, wie wir ihn heute kennen, schon in einigen Jahren nicht mehr geben wird. Man kann nur hoffen, dass uns wenigstens Wochenmärkte, wie der, auf dem ich mich nun befand, erhalten bleiben.

Ein Blick auf das rege Treiben an Buden und Zelten, Wagen und Ständen, inmitten eine einzigartigen Fachwerkkulisse, entschädigt bei weitem für alles Ungemach auf der Suche nach einem Parkplatz. Ich liebe diese Idylle, die heile Welt, die Gerüche und die Rufe der Standbetreiber. Kaum, dass ich jedoch den lieblichen Geruch meiner Lieblingsbratwurst in der Nase hatte, waren es gänzlich andere Rufe, die mich auf einen jungen Mann aufmerksam machten, der mitsamt einer Handtasche durch die schmalen Gänge zwischen den Ständen rannte. Dabei schubste er alle, die sich ihm in den Weg stellten oder ihm einfach im Weg waren, rücksichtslos zur Seite.

Ich stand zwischen Käsewagen und Eierstand, als er dicht an mir vorbeilaufen wollte. Es reichte ein schlichter Beinhaken, dem ich ihm überraschend stellte, um ihn zu Fall zu bringen. Der Kerl schlug lang hin und blieb zunächst benommen liegen. „Entschuldigen Sie, aber das Täschchen gehört doch sicherlich nicht Ihnen.“ Womit ich das etwa einen Meter neben ihm gelandete Diebesgut an mich nahm. Der wütende Blick des jungen Mannes traf mich nicht unvorbereitet. Wie er jedoch auf die absurde Idee kam, ich hätte ihm etwas weggenommen, konnte ich mir nun wirklich nicht erklären.

„He Alter, lass mal die Hände von meiner Tasche, sonst hau ich dir auf die Klappe.“ Ich sah mich nach beiden Seiten um und tippte mir fragend auf die Brust. „Meinen Sie mich?“ „Was glaubst du wohl, du Pappnase?“ „Nun, ich war mir nicht ganz sicher, aber wenn Sie tatsächlich mich meinen, dann ist das wohl so.“ „Bist du bescheuert, Alter? Rück mit der Tasche raus und mach dich vom Acker.“ Ich lächelte mein Gegenüber mitleidig an. „Ich fürchte, Ihrer Bitte nicht nachkommen zu können und schlage daher vor, dass Sie sich bei der alten Dame entschuldigen.“

Der Dieb grinste mich irritiert an. Unser nicht ganz alltägliches Gespräch hatte mittlerweile einige Schaulustige angelockt. Es fehlte nur noch, dass sie Wetten auf uns abgeschlossen hätten. Mein Gegenübers hatte sich seine Nase bei dem Sturz auf die Pflastersteine ein wenig angeschlagen. An seiner Stirn würde sich in den nächsten Tagen eine ziemliche Beule entwickeln und die Hose über seinem rechten Knie war aufgescheuert. Allmählich dämmerte ihm, dass er seine Blessuren mir zu verdanken hatte. Ich bemerkte, wie sich seine Wut steigerte und sich seine Fäuste ballten.

„Offensichtlich haben Sie nicht die Absicht, sich bei der Dame zu entschuldigen“, resümierte ich. Mein Gegenüber fuchtelte mit seiner Hand in einer Weise vor meinem Kopf herum, wie ich sie absolut nicht ausstehen konnte. „Man Alter, du musst komplett verrückt sein“, entgegnete er von sich überzeugt. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sich seine Wut entladen sollte. Ich entschloss mich, dem zuvorzukommen, indem ich mir kurzerhand seinen Zeigefinger schnappte und ihn nach hinten bog. Für die folgende Figur hätte er beim Eiskunstlauf nicht mal eine 6,0 erhalten. Das immer zahlreicher vertretende Publikum applaudierte ihm trotzdem. „Aua!“, schrie er wütend, während er mit der anderen Hand um sich schlug. „Du brichst mir ja den Finger!“ „Dann sollten Sie ihn besser ruhig halten.“

Ein in dieser Weise nach hinten gebogener Finger verursacht bei jeder Bewegung erhebliche Schmerzen. „Am besten, Sie verhalten sich solange ruhig, bis die Polizei hier ist“, erklärte ich dem Häufchen Elend. „Ich mache dich fertig!“, drohte er, während ich den Notruf wählte. „Sie sollten besser nichts versprechen, was Sie nicht halten können.

Inzwischen hatte sich auch die bestohlene Dame in der Arena eingefunden. Sie war überaus dankbar, als ich ihr die Tasche aushändigte und sich der Dieb bei ihr entschuldigte. Letzteres war weniger von seiner Einsicht, als von der Sorge zu seinem Finger getragen. Wie auch immer, die gerufenen Polizisten waren froh, den gesuchten Langfinger endlich dingfest machen zu können. Die Mädels am benachbarten Imbissstand kredenzten mir eine Bratwurst und riefen im Gleichklang: „Dankeschön!“ Es sind eben diese besonderen Kleinigkeiten, die das Leben in der alten Residenzstadt so angenehm machen.

-3-

Als Betreuer Benno Stachel wenig später seine Runde durch das Zeltlager machte, schien alles so zu sein, wie an den Abenden zuvor. Aus einigen Zelten drangen kichernde Stimmen, in anderen wurde erst auf sein Geheiß hin das Licht gelöscht und in wieder anderen lagen die Kids bereits in friedlichem Schlaf. Für Benno war es schon das fünfte Zeltlager der evangelischen Kirche. Wie immer fand es auf einem der Felder oberhalb des einhundertachtzig Seelen Dörfchens Mönchevahlberg statt.

Benno sah skeptisch zum Himmel. Ob es diesmal wohl trocken blieb? Das Pfingstzeltlager war in den vergangenen Jahren schon einige Male von heftigen Unwettern heimgesucht worden. Im letzten Jahr mussten sie den Platz sogar vorzeitig räumen, weil durch ein Unwetter Unmengen von Regenwasser sturzbachartig über den Berghang ins Tal schossen. Fast war man versucht zu glauben, dass der Himmel die Kinder auf eine ernste Probe stellen wollte.

In dieser Nacht jedoch schien es trocken zu bleiben. Die Sterne funkelten, als seien sie geradewegs von tausend Kindern blank gewienert worden und ein mildes Lüftchen strich über die sich sanft wiegenden Baumwipfel. Benno nahm einen tiefen Atemzug und seufzte. Seine Gedanken waren bei seiner Mutter, die er erst kurz vor Weihnachten nach einer schlimmen Krankheit verloren hatte. Drei Jahre lang hatte er sie aufopferungsvoll gepflegt, hatte ihretwillen all seine sozialen Kontakte abgebrochen und auf ein eigenes Leben verzichtet. Umso wichtiger war es nun für ihn, wieder am Zeltlager teilnehmen zu können.

„Alles ruhig im Rund“, berichtete er den anderen Betreuern nach seiner Rückkehr zum Lagerfeuer. Tom, Maike, Daniel und Vera hatten bereits aufgeräumt und es sich am Feuer gemütlich gemacht. Benno bemerkte, wie sie miteinander kuschelten, obwohl sie nicht zusammen waren. Er setzte sich und ignorierte es, wie er es immer tat, wenn sich Pärchen in seiner Nähe aufhielten. Er selbst hatte kein Glück bei den Mädchen. Irgendwie schienen sie ihn nicht für voll zu nehmen. Das war schon immer so und eigentlich hatte er sich daran gewöhnt. Mit den Kids war das anders, die sahen zu ihm auf und bewunderten ihn für die tollen Geschichten, die er zu erzählen wusste. Ihnen gegenüber hatte er keine Selbstzweifel, denn in ihrer Nähe fühlte er sich wohl.

„Willst du?“, riss ihn Tom unvermittelt aus der Welt seiner Gedanken. „Du weißt doch, ich rauche nicht.“ „Das ist keine Kippe“, erwiderte der Zwanzigjährige. „Bist du verrückt?“, begriff Benno. „Du kannst hier doch nicht kiffen! Wir tragen die Verantwortung für über vierzig Kinder.“ „Mach dir nicht ins Hemd“, kicherte Maike. „Die Kids schlafen längst.“ „Mach dich locker, Benno. Wir haben jetzt auch mal Pause“, stand ihr Daniel bei. „Ach, lass den doch, der kriegt eh nichts auf den Schirm“, schloss sich nun auch Vera der Meinung der anderen Betreuer an. „Macht was ihr wollt, ich hau mich hin. Morgen wird ein langer Tag.“

Kurz darauf hatte sich Benno vor dem Zelt niedergelassen, in dem die Kinder lagen, die ihm anvertraut waren. Er betreute die größte Gruppe, alles Jungen im Alter von zehn bis vierzehn Jahren. Das Lager bestand aus Zelten, die für zehn Personen ausgelegt waren. In seinem waren elf Kinder zusammengerückt. Sein Schlafplatz befand sich direkt am Eingang. Damit er auch im Schlaf bemerkte, wenn sich jemand an ihm vorbei schleichen wollte, griff er in jeder Nacht zu einer kleinen List, die er seit seinem zweiten Einsatz als Betreuer immer wieder erfolgreich anwendete.

Wenn er sich schlafen legte, band er das eine Ende eines dünnen Fadens auf der seinem Platz gegenüberliegenden Seite des Eingangs an die Zeltstange. Das andere Ende spannte er über einen kleinen Stock und band es an seinen großen Zeh. So blieb der Faden auch dann gespannt, wenn er sich während des Schlafens bewegte. Es lag auf der Hand, dass der dünne Faden in der Dunkelheit nicht gesehen wurde. Wenn jemand daran hängen blieb, zerriss er zwar, aber einerseits reichte Benno der kurze Schmerz, den er dabei an seinem Zeh verspürte, um wach zu werden, andererseits blieb seine kleine List somit ein Geheimnis, denn keines der Kinder war ihm jemals auf die Schliche gekommen.

Er lächelte sanft, als er daran dachte, doch dann fielen ihm wieder Tom, Maike, Daniel und Vera ein, deren Stimmen er immer noch vom Lagerfeuer her vernahm. Dumme Gänse, unreife Proleten , schimpfte er innerlich. Die werden schon sehen, was sie davon haben, wenn sie ihren Job nicht ordentlich machen , schmunzelte er in der Vorahnung, dass irgendwann etwas Schreckliches geschehen könnte. Dann sah er wieder hinauf zum Himmel, versuchte die Sternbilder zu deuten, beobachtete die Fledermäuse, wie sie miteinander spielten und lauschte dem Schrei der Eule, oder war es ein Käuzchen? Er zuckte mit den Schultern, egal. In dieser Nacht lag etwas Besonderes, in dieser Nacht lauerte die Unwirklichkeit des Seins in der Form des Scheins.

-4-

Seit Stunden bereits hatte das Dunkel der Nacht Bäume und Sträucher am Rande der idyllisch gelegenen Weide fest umschlungen. Längst waren die Tiere der Nacht zum Leben erwacht. Ihre Laute hallten durch gespenstisch anmutende Nebelschwaden, die nur wenige Zentimeter über den am Tage zuvor von der Frühlingssonne erwärmten Lehmboden krochen. Mit der Dunkelheit war auch die Kühle der noch frühen Jahreszeit zurückgekehrt. Die Vampire der Nacht schwebten lautlos über Erhebungen der Landschaft und den Bauten, die an dieser Stelle von Menschenhand geschaffen waren.

Es waren Zäune, die eine riesige Weidefläche umfriedeten. Auf ihr ein Holzverschlag, der den hier unter freiem Himmel befindlichen Pferden bei schlechtem Wetter oder bei stechender Sonne als Zuflucht dienen sollte. Nur das gelegentliche Schnauben eines der in einer Gruppe äsenden Tiere und die Rufe eines Käuzchens, irgendwo in weiter Ferne, unterbrach gelegentlich die Stille. Dennoch, es war eine trügerische Ruhe.

Ab und an erhellte das Mondlicht für kurze Zeit die Weide und man konnte das friedliche Miteinander der Tiere beobachten. Sie standen dicht gedrängt, ganz so, als wollten sie sich gegenseitig wärmen. Es war das Käuzchen, welches die langsam näherkommende Gestalt zuerst bemerkte. Sie war dunkel gekleidet, hatte die Kapuze ihrer Jacke weit über den Kopf gezogen und sie bewegte sich wie jemand, der böses im Schilde führte. Fast könnte man meinen, der Vogel würde Unheil spüren, denn er begann nun häufiger zu rufen. So, als wollte er die Tiere der Umgebung vor jener dunklen Gestalt warnen. Doch davon unbeirrt setzte der Eindringling seinen Weg fort, schlich sich immer näher an das Gatter heran, um seine perfide Lust zu befriedigen.

Eine Nachteule beobachtete aus ihrem Versteck, hoch oben in einem Baumwipfel, wie sich die Gestalt eine Taschenlampe einsteckte, den mitgeführten Rucksack wieder geräuschlos verschloss und das Gatter überwandt. Der Unbekannte schien sich in dieser Gegend bestens auszukennen. Zielstrebig steuerte er auf den Unterstand zu, in dem er die Pferde vermutete. Schon seit einiger Zeit, bei Tags und auch des Nachts, hatte er die Tiere, aber auch die Umgebung beobachtet. Erst als er sicher war, in dieser Nacht seinen Trieben ungestört nachgehen zu können, hielt ihn die Vorsicht nicht länger zurück. Zwanghaft zogen ihn die Tiere in seinen Bann, lechzte er danach der Herr über Leben und Tod zu sein.

Seine abnormen Phantasien suggerierten ihm tiefrote, blutige Bilder, die sich vor seinem geistigen Auge in pure Erotik verwandelten. Wollüstige Schauer durchströmten seinen Körper, brachten ihn in Ekstase, forderten ihn auf, endlich sein perverses Spiel zu beginnen. Die Gestalt schlich auf den Unterstand zu. Für einen kurzen Augenblick, nicht länger als ein einziger Atemzug erhellte der Mond die Szenerie. Ein Moment, der dem Unbekannten ausreichte, um festzustellen, dass die Pferde nicht wie gewohnt im Unterstand waren.

Er zerbiss einen Fluch zwischen den Lippen und sah sich irritiert um. Wieder kam ihm zwischen dunklen Wolken aufblitzendes Mondlicht gelegen. Er entdeckte die kleine Herde am westlichen Ende der Weide unter einem Baum. Auch wenn ihm die neue Situation alles andere als vorteilhaft erschien, gab es für ihn nun kein Zurück mehr. Zu viel hatte er während der vergangenen Wochen in die von Erwartungen getragenen Phantasien investiert, Zu weit waren die Gefühle in ihm bereits gegoren, zu stark war das Verlangen danach, seine Rache zu befriedigen. Die Gier, diese Phantasien endlich zu erleben, fesselte ihn, zog ihn magisch in seinen Bann.

Er wusste, dass ihn die Pferde längst bemerkt hatten. Aber er wusste auch, wie aufgeschlossen und neugierig sie gegenüber ihrem besten Freund, dem Menschen, waren. Er hatte keine Skrupel dies schamlos auszunutzen. Langsam, jede hektische Bewegung vermeidend, ging er in normal aufrechter Haltung auf die Tiere zu. Näher und näher. Immer dann, wenn das Mondlicht zwischen den Wolken hindurch drang und ihn zu verraten drohte, verbarg er die Waffe, die er mit sich führte, hinter seinem Rücken. Er wusste, dass die intelligenten Tiere ihn ganz genau beobachteten. Er kam ihnen näher und näher, bis er schließlich den Atem der eleganten Vierbeiner hören konnte. Einen Augenblick wollte er sich noch an ihrem Anblick erfreuen, wollte noch diesen hoch stimulierenden Augenblick auskosten, ehe er geschehen ließ, weshalb er an diesen Ort gekommen war.

Er hatte sich eine Stute für sein martialisches Vergnügen ausgewählt. Muskeln und Sehnen spannten sich, waren kurz vor dem Zerreißen. Die Lanze in der einen, seine Machete in der anderen Hand schoss er plötzlich auf, sprang aus dem Schutz der Dunkelheit, einem Puma gleich, auf das anvisierte Pferd zu und stieß die von ihm eigens zu diesem Zweck präparierte Lanze dem Tier in den Hals.

Er wollte sein Opfer zunächst fluchtunfähig machen. So, wie schon viele Male vorher. Nun zog er die Lanze zurück. Sein wirrer Blick hielt nach dem nächsten Opfer Ausschau. Doch dieses Mal hatte er Pech. Die anderen Tiere hatten früh genug panikartig die Flucht ergriffen. Der irre Pferderipper stieß einen Fluch aus und widmete sich wieder der Stute. Seine Finger umkrampften die mitgebrachte Machete, dann stach er gezielt zu und vollendete sein wahnsinniges Werk. Als er schließlich befriedigt aufschaute, seine Hände und das Gesicht mit Blut verschmiert, sah er in die Augen eines Kindes.

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Vom Osten her lag ein tiefer Schatten auf der Weide. Die ersten Sonnenstrahlen suchten sich ihren Weg durch die Baumwipfel des Assewaldes, um den dichten Nebel, der wie Blei auf der Wiese lag, über die Felder davonzujagen. Es war noch früh, als Vivien ihren Handwagen am Spielplatz vorbei die kleine Anhöhe hinaufzog. Der quirlige Jack Russel flitzte neben ihr, immer am Feldrand entlang, dem Wald entgegen. Links die Bänke und das Gestell an dem die Schaukeln im Morgenwind baumelten. Rechts der Bolzplatz, der einmal mehr mit Maulwurfshügeln überseht war.

Vivien gehörte auch damals nicht zu den Jugendlichen, die sich hier oben verabredeten. Ihr Leben hatte sie den Pferden gewidmet und dorthin waren sie und Morpheus auch nun gerade, so wie an jedem Morgen unterwegs. „Meine Güte, Morpheus, was ist denn los? So zappelig wie heute bist du doch sonst nicht.“ Der kleine Jack Russel ließ sich nicht beruhigen, im Gegenteil, je näher sie dem Gatter kamen, umso aufgeregter sprang er herum. Vivien sah sich beunruhigt um, konnte aber nichts Außergewöhnliches feststellen, Sie tat Morpheus Aufregung mit dem Jagdinstinkt ab, die ihren Hund nicht selten in Erregung versetzte.

Die Koppel befand sich am Ende des breiten Weges, der sich wie ein Wurm die Anhöhe hinauf schlängelte. Da, wo der befestigte Weg endete, hatte sich eine glitschige Mulde gebildet, in der sich sonst das Regenwasser sammelte, welches über den schmalen Stieg herabströmte, der von hier aus in den Wald hinaufführte. Noch immer trübten Nebelschwaden die Sicht. Abgesehen von ihrem eigenen Friesen standen vier weitere Pferde auf der Koppel. Die junge Frau klappte die Falle zurück, mit der das Gatter gesichert war und nahm Morpheus kürzer an die Leine. „Meine Güte, was ist denn los? Heute Morgen bist du ja geradezu außer Rand und Band.“ Vivien schüttelte verständnislos den Kopf. Sie wunderte sich allerdings auch über die Pferde, die sich sonst bereits kurz nach ihrer Ankunft am Gatter einfanden.

Endlich vernahm sie das typische Schnaufen der Pferde und dann sah sie, wie zunächst eines der Pferde, dann ein zweites und noch eines aus dem dichten Nebel auftauchten. Vivien rief nach ihnen, lockte sie mit den mitgebrachten Möhren, doch die Vierbeiner blieben wie angewurzelt im Halbkreis stehen. „Milan!“, rief die junge Frau nach ihrem Friesen. „Milan!“ Doch das sonst so anhängliche Tier blieb verschwunden. Stattdessen sah sie, indem sie sich der Gruppe der anderen Pferde langsam näherte, etwas im Graß liegen. Ihr Pulsschlag erhöhte, ihre Schritte beschleunigten sich. Morpheus wurde noch aufgeregter.

Zunächst erkannte sie nur eine graue Jacke, dann eine Jeanshose und schließlich den Körper eines Menschen. Es war gespenstisch, wie die Pferde ihn scheinbar schützen wollten. „Ich bin jetzt da“, versuchte Vivien behutsam auf die Tiere einzuwirken und sie sanft aber bestimmt von dem Körper wegzudrücken. Als sie sich endlich zu der Person hinabbeugen konnte, erkannte sie in ihr ein Kind. Sie drehte ihn zu sich herum, damit sie sehen konnte, was mit ihm geschehen war. Im nächsten Moment wurde ihr klar, dass der Junge nicht mehr am Leben war und doch begann sie sofort mit den Wiederbelebungsmaßnahmen. Selbst Morpheus schien den Ernst der Lage erkannt zu haben. Er war wie ausgewechselt, ließ sich samt der Leine neben den Jungen ablegen und drückte das Maul winselnd zu Boden. Tausende Gedanken stürzten ihr durch den Kopf, doch der eine, das Leben des Jungen zu erhalten, wog schwerer als alle übrigen zusammen.

Irgendwann schwanden ihre Kräfte, es wurde ihr schwindelig und die Erkenntnis, den Kampf gegen den Tod verloren zu haben, gewann die ernüchternde Oberhand. Ihre Mitgliedschaft in der freiwilligen Feuerwehr des Ortes hatte ihr genügend Sachverstand vermittelt, um sich eine solche Schlussfolgerung zuzutrauen. Entsetzt wich sie zurück, ängstlich sah sie sich um. Etwas Schreckliches musste hier geschehen sein. Sie zog ihr Handy hervor, wählte den Notruf und setzte entgegen jedweder Vernunft die Wiederbelebungsmaßnahmen fort. Vielleicht irrte sie sich ja doch.

Während sie voller Angst auf die Polizei wartete, hörte sie, wie vom nahe gelegenen Zeltplatz des Pfingstlagers nach jemandem gerufen wurde. Wem sonst als diesem Jungen, der da vor ihr im Gras lag, sollten die Rufe gelten? Vivien überlegte, ob sie den Rufen antworten sollte. Sie versuchte kühlen Kopf zu bewahren, dachte jedoch nur noch an ihr eigenes Pferd. Hin und hergerissen von ihrer Pflicht, bei dem Leichnam des Jungen bleiben zu müssen und der Sorge um Milan, sah sie immer wieder über die Koppel, doch der Nebel schien das Drama verbergen zu wollen.

Die Zeit, die es brauchte, bis die Polizei und der Rettungswagen am Ort des Geschehens eintrafen, zog sich unendlich dahin. Noch ehe die Rettungskräfte eintrafen, kam einer der Betreuer bis an den Zaun, der die Weidefläche umgab. „Entschuldigung, haben Sie einen dreizehnjährigen Jungen gesehen?“, erkundigte er sich bei Vivien, ohne das Kind im Gras sehen zu können. „Kommen Sie vorsichtig herüber“, forderte ihn Vivien auf. In der Stimme der jungen Frau lag etwas so Eindringliches, dass sich Benno nicht eine Sekunde lang fragte, ob er der Aufforderung der Unbekannten folgen sollte. Erst als er den Zaun überwunden hatte und sich der Stelle näherte, an der die Frau im Gras kniete, sah er den Körper des Jungen.

„Mein Gott, Leonhard, was ist mit dir?“, stürzte er zu Boden. „Er hört Sie nicht mehr, er ist tot“, erklärte Vivien mit einer Ruhe, die schon beängstigend war. „Was um Himmels Willen ist passiert?“, erkundigte sich der Betreuer, während er den Jungen seinerseits auf einen Pulsschlag überprüfte. „Ich weiß es nicht“, entgegnete Vivien. „Als ich hier ankam, standen die Pferde um ihn herum.“ „Sie werden ihn doch wohl nicht...?“ „Ich habe Polizei und Krankenwagen alarmiert“, unterbrach ihn Vivien. „Es wird das Beste sein, wenn Sie den Rettungskräften entgegen gehen, um ihnen den Weg zu weisen.“ „Ach so, ja gut. Ich sage nur schnell im Lager Bescheid.“ „Lassen Sie das! Je weniger Leute hier herumlaufen, umso weniger Stress bedeutet es für die Pferde, oder wollen Sie, dass uns die Tiere durchgehen?“

Auf dem Weg über den Waldweg, dem Spielplatz entgegen, musste Benno pausenlos an den vermeintlich toten Jungen denken. Leonhard war einer der Kinder, für die er verantwortlich war. Er hatte in seinem Zelt geschlafen. Sie würden ihm die Schuld an dem Tod des Jungen zuweisen. Wie sollte er den Eltern entgegentreten, ihnen verständlich machen, dass es nicht sein Verschulden war? Benno war übel, noch ehe er den Spielplatz erreichte, musste er sich übergeben. Als er sich wieder einigermaßen im Griff hatte, sah er den Krankenwagen und gleich danach den Wagen des Notarztes die Straße hinaufkommen. Winkend eilte er den Rettern entgegen.

„Wir müssen noch ein Stück über den Weg in den Wald hinein“, erklärte er dem Fahrer. „Kann man da mit dem Wagen rauf?“ „Ja, ja, fahren Sie einfach nach. Der Junge liegt auf der Weide“, erklärte Benno und lief los. Der Fahrer folgte seiner Aufforderung zögerlich. Vor dem Gatter angelangt, ließen sowohl die Sanitäter als auch der Notarzt die Fahrzeuge zurück. „Hoffentlich kommen wir hier auch wieder weg“, begutachtete der Fahrer des RTW den doch sehr geringen Platz zum Wenden. Benno wies auf die etwa fünfzig Meter von ihnen entfernte Frau. „Da hinten liegt er. Sie müssen sich beeilen.“ „Am besten gehen Sie wieder nach unten und warten auf die Polizei“, schlug der Notarzt vor. „Okay“, nickte Benno eifrig.

„Ich glaube, der Junge ist tot“, empfing Vivien die herbeigeeilten Retter. „Er hat seit mindestens zehn Minuten nicht mehr geatmet. Ich habe die ganze Zeit über versucht ihn zu reanimieren.“ „Das haben Sie prima gemacht“, lobte der Notarzt. „Ich übernehme jetzt.“ Dankbar, die Verantwortung nun endlich in kompetente Hände abgeben zu können, zog sich Vivien zurück. Sie war mit ihren Kräften am Ende, als sie Morpheus zur Seite zog und sich in den Rasen setzte.

Die Pferde standen mittlerweile auf einem abgelegenen Teil der Weide. Da sich der Nebel inzwischen soweit gelichtet hatte, wurde nun auch der Unterstand mit seinen bizarren Silhouetten sichtbar. Wie ein abgetakeltes Geisterschiff erhob es sich aus der weißen Gischt einer unbändigen Brandung. Inmitten dieser Gischt tauchte plötzlich ein schwarzer Felsen aus dem Nebelmeer. Viviens spitzer Schrei zerriss urplötzlich die trügerische Ruhe des frühen Morgens. Das, was auf den ersten Blick wie ein Felsen anmutete, war nichts anderes, als ihre geliebte Friesenstute.

 

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Einsatzkräfte der Polizei hatten das hügelige Gelände weiträumig abgesperrt. Über den Fundort des Leichnams war ein nach allen Seiten offenes Zelt aufgebaut worden. Mitarbeiter der Spurensicherung fotografierten jedes Detail aus jeder Position, sichteten, skizzierten und erfassten jedes auch noch so kleine Teilchen, was sich auf der Wiese fand. Nach der Leichenschau durch den Rechtsmediziner war klar, dass der Junge keines natürlichen Todes und aller Wahrscheinlichkeit nach auch durch keinen Unfall gestorben war.

In der Nähe des Unterstandes war ein Tierarzt mit dem Leichnam des Pferdes beschäftigt. Das Tier war fürchterlich zugerichtet und ziemlich sicher das Opfer eines geistesgestörten Pferderippers geworden. Die junge Frau, die den Jungen gefunden und die Rettungskräfte alarmiert hatte, war gleichzeitig die Besitzerin des Tieres. Es liegt auf der Hand, dass sie beim Anblick ihres Pferdes einen Schock erlitt. Woraufhin sie durch die Sanitäter in den Krankenwagen gebracht und vom Notarzt ärztlich versorgt worden war. Die Kinder des nahegelegenen Zeltlagers erhielten inzwischen seelsorgerische Betreuung durch einen Pfarrer der örtlichen Kirchengemeinde. Die drei unverletzt gebliebenen Pferde konnten durch einen im Ort ansässigen Hufschmied auf eine andere Weide gebracht werden. Inwieweit die Tiere durch die Vorkommnisse psychisch in Mitleidenschaft gezogen wurden, wird sich wohl erst in der Zukunft zeigen.

„Nun Doktor, was haben Sie für mich?“, erkundigte sich Oberkommissar Sinner beim Rechtsmediziner. „Zunächst ist dies nicht der Tatort. Der Leichnam wurde offenbar hierher gebracht, um den Anschein zu erwecken, dass der junge Mann bei einem Unfall mit den Pferden ums Leben kam. Die Umsetzung dieses Verwirrspiels erfolgte allerdings reichlich dilettantisch. So fand ich in der Kopfwunde des Opfers deutliche Rückstände von Erde. Der Junge ist mit einem Stein erschlagen worden, daran besteht kein Zweifel.“

„Dieser Fall wirft mehr Fragen auf, als er Antworten gibt“, sinnierte der Oberkommissar. „Möglicherweise wurde der Junge Augenzeuge, als sich der Ripper an dem Pferd verging und musste deshalb sterben.“ „Dies herauszufinden, ist Ihr Brot verehrter Herr Oberkommissar“, erwiderte der Rechtsmediziner. „Ich kann nur genau hinhören, was mir der Leichnam des Jungen zu erzählen hat.“ „Dann hören Sie bitte ganz genau hin, Doktor Wohlfahrt und bitte, hören Sie schnell, denn allzu viel ist es nicht, was uns die Spurenlage bislang verrät.“ „Ich bin mir sicher, dass Sie irgendwo einen Stein mit dem Blut des Opfers finden werden“, machte ihm der Doktor Mut. „Vorausgesetzt, der Mörder hat die Tatwaffe weggeworfen“, unkte der Oberkommissar. „Tja, etwas Glück gehört eben manchmal dazu.“

Während sich eine Hundertschaft daran machte, das umgebende Gelände nach der vermeintlichen Tatwaffe und anderen eventuell relevanten Gegenständen abzusuchen, suchten Sinner und sein Kollege Schubert das Zeltlager auf. Auch wenn es für manchen pietätlos erscheinen mag, sind Aussagen am präzisesten, solange die Spur noch warm ist. Abgesehen davon waren bislang noch keine Eltern eingetroffen, die sich bei jeder Gelegenheit in die Befragung ihrer Kinder einmischen würden.

„Das sind die Polizisten, die den Tod von Leonhard untersuchen“, stellte Maike die Kommissare vor. „Bitte sagt ihnen alles, was ihr wisst“, forderte sie die Kinder auf. „Was ist denn eigentlich mit Leo passiert?“, erkundigte sich einer der Jugendlichen, ehe Sinner seine erste Frage anbringen konnte. „Um genau das herauszufinden, sind wir hier“, entgegnete der Oberkommissar. „Wie ihr inzwischen wisst, ist Leonhard nicht mehr am Leben. Wir wollen nun herausfinden, wer dafür verantwortlich ist. Dazu brauchen wir so viele Informationen, wie ihr sie uns geben könnt. So können dies auch Mitteilungen sein, die euch unwichtig erscheinen mögen, doch für uns, aus einem anderen Blickwinkel heraus oder im Zusammenspiel mit weiteren Informationen ein Indiz sein könnten, welches uns den entscheidenden Schritt voran bringt.“

Oberkommissar Sinner hatte offensichtlich genau den richtigen Ton getroffen. Die Kids schilderten den Kommissaren, wie ihr Nachmittag mit Leonhard verlaufen war. Obwohl die Ermittler bei der Befragung äußerst geschickt und umsichtig vorgingen, ergab sich aus den Angaben der Kinder nichts, was die Kommissare hätte aufhorchen lassen.

„Nun würde ich gern Leonhards Schlafplatz sehen“, erklärte Sinner der Betreuerin. „Kein Problem, Chef, ich glaube Benno ist gerade im Zelt.“ „Wie viele Aufsichtspersonen sind Sie hier eigentlich?“, hakte Sinner nach. „Fünf Betreuer für etwa vierzig Kinder“, entgegnete Maike. „Kommen im Schnitt folglich acht Kinder auf einen Erzieher.“ Maike schüttelte energisch den Kopf. „Das Wort hören wir hier nicht so gern. Wir sind so etwas wie die Coaches unserer Schutzbefohlenen.“ „Wie muss ich mir den Umgang mit den Kindern vorstellen?“ „Waren Sie selbst denn nie bei den Pfadfindern oder den Falken?“, interessierte sich die junge Frau für den Ermittler. „Leider nicht“, musste Sinner einräumen. „Da haben Sie aber eine ganze Menge verpasst, Herr Kommissar.“ „Ich fürchte, Sie müssen mir schon etwas auf die Sprünge helfen.“

„Neben nützlichen Tipps zum Survivaltraining, Naturkunde, dem Spaß bei einer Schnitzeljagd oder einer Nachtwanderung gehört es ebenso zu unseren Aufgaben, das Gemeinschaftsgefühl und das soziale Miteinander zu fördern“, schlüsselte Maike ihren Auftrag auf. „Da haben Sie eine ganze Menge Verantwortung“, gestand ihr der Oberkommissar zu. „Darauf können Sie wetten. Die meisten von uns sind schon seit einigen Jahren dabei. Wenn es uns keinen Spaß machen würde, hätten wir schon längst hingeworfen.“ „Dann ist die Bezahlung wohl nicht so besonders?“, schlussfolgerte Sinner. Maike lachte kurz auf. „Was für eine Bezahlung? Wir bekommen lediglich eine Art Aufwandsentschädigung, aber wegen der paar Kröten macht das hier keiner. Es ist viel mehr die Arbeit mit den Kindern und wahrscheinlich auch der Idealismus, den jeder einzelne von uns mitbringt.“

„Wie war das heute Morgen, als Sie bemerkten, dass der Junge verschwunden war?“, stoppte Sinner unvermittelt, noch bevor sie das Zelt erreichten, in dem Leonhard zumindest den ersten Teil der Nacht verbracht hatte. „Na ja, Benno war ziemlich aufgeregt, als er in mein Zelt kam“, erzählte Maike. „Er fragte mich, ob sich Leo in der Nacht in mein Zelt geschlichen hätte.“ Sinner sah die Betreuerin irritiert an. „Wenn Sie sich an die eigenen Sturm und Drangzeiten erinnern, wissen Sie sicherlich, dass so etwas schon mal vorkommt.“ „An solche Zeiten kann ich mich überhaupt nicht erinnern“, verkniff sich der Kommissar ein Grinsen. „Der Junge hatte also eine Freundin in Ihrem Zelt?“, schmunzelte Sinner. „Das war eher allgemein gehalten“, relativierte Maike. „Leonhard interessierte sich zwar für Mädchen, aber etwa Festes gab es da noch nicht.“

Der Oberkommissar nickte ernüchtert. „Der Junge war also nicht in Ihr Zelt gewechselt.“ „Leider nicht. Ich half Benno dann beim Suchen, aber Leonhard war wie vom Erdboden verschluckt. Wir haben dann den Suchradius ausgedehnt.“ „Gestatten Sie mir abschließend noch eine Frage“, setzten Maike und Sinner ihren Weg fort. „Wie kommt Herr Stachel mit den Kindern zurecht?“ „Die Kids lieben Benno“, entgegnete Maike lächelnd. „Keiner kann so gut Geschichten erzählen wie er. Aber warum fragen Sie?“ „Fragen sind nun einmal mein tägliches Geschäft“, wich der Oberkommissar aus.

„So, da sind wir“, stoppte Maike vor dem Zelt, welches mit dem geringsten Abstand zum Waldrand aufgebaut war. Aus dem Inneren des Zeltes drangen verschiedene Stimmen, die sich angeregt unterhielten. „Sie brauchen mich ja jetzt nicht mehr, ich muss wieder ins Hauptzelt. Die ersten Eltern werden sicherlich gleich eintreffen, um ihre Kinder abzuholen.“ „Gehen Sie nur, jetzt komme ich auch allein zurecht.“

Der Oberkommissar betrat das Zelt und stieß auf eine Gruppe Jugendlicher, die gerade damit beschäftigt waren, ihre Schlafplätze zu räumen. „Herr Stachel, nehme ich an“, begrüßte Sinner den Betreuer. „Und Sie sind wahrscheinlich von der Polizei“, brauchte Benno nicht lange raten. „So ist es.“ „Sie haben sicherlich einige Fragen an mich“, schlussfolgerte der Betreuer. „Ich schlage vor, nach draußen zu gehen.“ Sein Blick auf die anwesenden Kinder verdeutlichte den Grund für seinen Wunsch.

„Frau Limbach steht noch unter Schock. Sie wird zurzeit noch ärztlich versorgt. Somit sind Sie im Augenblick der Einzige, der etwas Licht in diese Tragödie bringen könnte“, erklärte der Oberkommissar. „Der Notarzt setzte uns darüber in Kenntnis, dass Sie die Rettungskräfte auf die Koppel führten, während Frau Limbach bereits mit den Wiederbelebungsmaßnahmen beschäftigt war.“ „Das stimmt“, bestätigte der Betreuer. Auf meiner Suche nach Leonhard traf ich auf die junge Frau. Als ich sie sah, beugte sie sich bereits über den Jungen. Sie hatte auch schon den Krankenwagen und die Polizei benachrichtigt.“

„Seit wann vermissten Sie den Jungen?“, hakte Sinner nach. „Er befand sich nach dem Aufstehen nicht mehr auf seiner Matratze. Wann er das Zelt tatsächlich verlassen hat, kann ich nicht sagen. Ich habe leider nicht die leiseste Ahnung, wie er an mir vorbeikam.“ Sinner sah den Betreuer fragend an. „Wie wollen Sie denn mitkriegen, wenn sich eines der Kids an Ihnen vorbei schleicht?“ „Na ja, nach all den Jahren als Aufsicht hat man da so seine Tricks“, entgegnete Benno verschwörerisch. „Die da wären?“, zeigte sich der Oberkommissar interessiert.

Benno erzählte von dem Faden, den er vor dem Ausgang des Zeltes zwischen Zeltstange und seinem großen Zeh gespannt hatte. „Leonhard muss davon gewusst haben. Eigentlich ist der Trick ziemlich zuverlässig.“ „Es stellt sich die Frage, weshalb der Junge überhaupt das Zelt verließ. Wohin wollte er? War er mit jemandem verabredet oder hat er womöglich irgendetwas gehört? Gibt es eigentlich eine Nachtwache?“ „Tom und Daniel wollten sich die Nachtwache teilen.“ „Gut zu wissen.“

„Haben Sie eine Idee, was Leonhard außerhalb des Zeltlagers wollte?“, bezog Sinner den Betreuer in seine Überlegungen ein. „Ich nahm ja auch zunächst an, Leo hätte sich in Maikes Zelt geschlichen, aber dort war er ja dann auch nicht“, seufzte Benno. „Weshalb sollte er ausgerechnet in dieses Zelt hinüberwechseln?“ „Leo schwärmt für Maike“, erklärte Benno. „Sieh an, davon hat mir Ihre Kollegin gar nichts erzählt.“ „Kunststück, sie wusste ja auch nichts davon. Leo hat es mir gestern Abend unter dem Siegel der Verschwiegenheit gebeichtet. Es ist besser, wenn Sie es nie erfährt.“ Sinner stimmte dem Betreuer kopfnickend zu.

„Sie trafen also auf Frau Limbach, als diese bereits mit den Erste Hilfe Maßnahmen beschäftigt war“, knüpfte der Oberkommissar an. „Genauso war es“, bestätigte Benno. „Ist Ihnen zu diesem Zeitpunkt noch etwas anderes auf der Koppel aufgefallen?“ „Abgesehen von den Pferden, die sich in der Nähe des Verschlags aufhielten, war nichts zu sehen. Allerdings lag der hintere, zum Wald hin gelegene Teil der Koppel in dichtem Nebel.“ Sinner rieb sich nachdenklich das Kinn. „Dann hatten Sie zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht gesehen, was mit dem Pferd von Frau Limbach geschah?“, erkundigte sich der Oberkommissar. „Wieso, was ist denn mit dem Pferd?“ „Es wurde auf bestialische Weise getötet“, erklärte der Ermittler.

Der Betreuer schüttelte nachdenklich den Kopf. „Leo muss etwas gehört haben“, kombinierte er. „Dieses Zelt ist am nächsten zur Koppel gelegen. Ich verstehe nur nicht, weshalb er mich nicht weckte, oder zumindest zu Tom oder Daniel ging.“ „Wo wird denn üblicherweise die Wache gehalten?“, hakte Sinner nach. „Am Feuerplatz“, erläuterte Benno. „Alle halbe Stunde etwa findet eine Kontrollrunde statt.“ „Wo finde ich die beiden?“ Der Betreuer sah aus dem Eingang des Zeltes. Tom ist gerade mit dem Pfarrer in seinem Zelt. Wir warten darauf, dass die Eltern eintreffen, um die Kinder abzuholen.“

„Sie wollen das Zeltlager also abbrechen“, schloss der Oberkommissar aus den Worten des Betreuers. „Unter diesen Umständen kann man ja schließlich nicht weitermachen, als sei nichts geschehen.“ Sinner nickte zustimmend. „Glauben Sie, Leo hat den Ripper bei dessen abscheulicher Tat beobachtet?“ „Im Augenblick deutet zumindest einiges daraufhin.“ „Dann wurde er bestimmt dabei entdeckt und musste deshalb sterben.“ „So könnte, muss es aber nicht gewesen sein“, relativierte Sinner. „Na hören Sie, das liegt doch auf der Hand, oder wurde er etwa missbraucht?“

Der Oberkommissar wurde hellhörig. „Wie kommen Sie denn darauf?“ „Na, man hört doch immer wieder von Kinderschändern, die sich des Nachts an Ferienheimen herumdrücken und so.“ „Ich kann Sie beruhigen, bislang deutet nichts auf ein Sexualdelikt hin.“ Benno schien erleichtert. „Sie müssen verstehen, gerade in der Hinsicht geschahen in der Vergangenheit böse Dinge. Da würde uns sicher niemand mehr seine Kinder anvertrauen.“ „Ist ein totes Kind weniger schlimm?“, verstand Sinner die Logik nicht.

„Sind Sie Tom?“, begrüßte der Oberkommissar den zweiten Betreuer. „Nein“, widersprach der junge Mann im schwarzen Rolli. „Ich bin Pfarrer Lennarts. Tom ist gerade mit einem der Jungen zum Feldweg hinunter gegangen. Die ersten Eltern treffen ein, um ihre Sprösslinge abzuholen. Ich nehme an, Sie sind von der Polizei.“ „Oberkommissar Sinner. Im Gegensatz zu Ihnen scheint man mir meine Berufung anzusehen.“ Der Pfarrer zog den Kopf zwischen die Schultern. „Ich bitte um Vergebung, es ist eines meiner Laster, den Menschen auf den ersten Blick einen Beruf zuzuschreiben.“ „Das ist interessant“, zeigte sich Sinner neugierig. „Darf ich fragen, wie Sie mir auf die Schliche kamen?“ Der Geistliche schmunzelte. „Der Kugelschreiber mit dem Hoheitsabzeichen in Ihrer Brusttasche hat Sie verraten.“

Der Oberkommissar zeigte sich beeindruckt. „Sie hätten bei der Polizei Karriere machen sollen.“ „Da bleibe ich lieber bei meinen Schäfchen. Die sind weniger schwarz als die Ihren.“ „Wie dem auch sei, lieber Herr Pfarrer, falls Sie sich mal beruflich verändern wollen…“ Der Geistliche winkte amüsiert ab. „Da kommt ja Tom auch schon“, deutete der Mann im schwarzen Rolli auf den Betreuer. „Der Oberkommissar wollte zu dir.“ „Zu mir?“, fragte Tom verwundert. „Ach so, ja natürlich“, schien er zudem etwas nervös zu sein. „Es geht natürlich um Leonhard.“ „Natürlich“, bestätigte Oberkommissar Sinner. „Um was sonst?“ „Wie kann ich Ihnen weiterhelfen?“

„Ich würde sagen, wir gehen ein paar Schritte“, schlug der Ermittler vor. Tom sah sich hektisch zu den im Zelt verbliebenen Kindern um. „Geh nur, Tom, ich kümmere mich.“ „Hier geht alles drunter und drüber“, erklärte der Betreuer. „Ich weiß gar nicht, wie die Kids diese schreckliche Sache verkraften sollen.“ „Glauben Sie mir, Kinder sind belastbarer, als wir es ihnen zutrauen.“ „Eine solche Situation ist außergewöhnlich. Gestern Abend haben wir noch miteinander am Lagerfeuer gesessen und Gruselgeschichten erzählt und heute ist einer aus ihrer Mitte tot. Wer weiß, ob dieses Zeltlager jemals wieder stattfinden wird und selbst wenn, werden wir nie wieder so unbeschwert sein können.“ „Da haben Sie sicherlich Recht, Tom, aber nun geht es erst einmal darum, den Schuldigen zu fassen und dazu brauche ich Ihre Hilfe.“

Der Betreuer schluckte trocken. „Fragen Sie, Herr Kommissar.“ „Ich hörte, Sie und ein gewisser Daniel teilten sich die Nachtwache.“ „Na ja, so war es zumindest abgesprochen, aber ich habe die Wache dann doch allein gehalten.“ „Gab es dafür einen besonderen Grund?“, wollte Sinner wissen. Tom druckte verlegen herum. „Ich muss Sie doch wohl nicht daran erinnern, dass es hier um Mord geht“, verschärfte Sinner den Ton. „Daniel und Vera wollten die Nacht miteinander verbringen. Ich habe versprochen, nichts zu sagen.“ Tom verzog das Gesicht, als hätte er in eine besonders saure Zitrone gebissen. „Daniel ist mein Freund“, schob er nach. „Sie sagen ihm doch nichts...?“ „Das kann ich nicht versprechen.“

„Ich sage es Ihnen lieber gleich“, schob der Betreuer ein schlechtes Gewissen. „Ich mache mir deswegen bereits die größten Vorwürfe.“ „Sie sind eingeschlafen“, nahm ihm Sinner die Bürde. „Woher...?“ „Wie sollen Sie die ganze Nacht durchwachen können, wo Sie sich den ganzen Tag um die Kids gekümmert haben?“ Tom fiel ein Stein vom Herzen. „Sie haben also nichts von dem gehört, was auf der Pferdekoppel geschah?“, brachte es der Ermittler auf den Punkt. „Ich muss wohl ziemlich fest geschlafen haben.“ „Ich gehe mal davon aus, dass Sie auch nicht so ganz nüchtern waren“, suggerierte der Oberkommissar. „Nein, also da muss ich entschieden widersprechen“, wehrte sich der Betreuer. „Wir haben keinen Alkohol getrunken.“ „Na schön, dann habt ihr eben gekifft“, ließ sich Sinner nicht ins Bockshorn jagen. „Meinen Sie, ich weiß nicht, was in so einem Zeltlager abgeht? Ich war selbst bei den Falken, also erzählen Sie mir nichts!“ Tom gab kleinlaut bei.

Für Oberkommissar Sinner entwickelte sich dieser Fall zu einem einzigen Desaster. Bislang gab es weder eine verwertbare Spur die auf den Mörder hindeutete noch war die Tatwaffe gefunden worden. Sollten der Tod des Jungen und der des Pferdes tatsächlich zusammenhängen? Hatte Leonhard seine Neugier wirklich mit seinem Leben bezahlen müssen? Wie krank muss ein Mensch sein, der sich in solch perfider Weise an einem Pferd vergeht? Der Oberkommissar wusste, das eine Menge Arbeit auf ihn zukam, musste er diesen Fall doch mit all denen vergleichen, die während der letzten Jahre in Niedersachsen geschehen waren und bei denen Pferde auf ähnliche Weise gequält wurden.

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Nach unserer Werbeaktion mit Axel als wandelnde Litfaßsäule, war die Auftragslage zum ersten Mal seit Monaten wieder richtig gut. Auch wenn es zum überwiegenden Teil nur kleinere Aufträge waren, so hatte ich dennoch gut zu tun und verdiente endlich genug, um mir keine Sorgen über die nächste Miete oder wegen Trudes Gehalt machen zu müssen. Zudem hatte meine Detektei deutlich an Renommee gewonnen. Nun hoffte ich auf die großen Fälle, von deren Aufklärung seit Sherlock Holmes wohl jeder Privatdetektiv träumt.

Seit ich meinen vermeintlich sicheren Job als Hauptkommissar bei der Braunschweiger Kriminalpolizei an den berühmten Nagel gehängt hatte, war bereits eine ganze Menge schmutziges Wasser die Oker hinunter geflossen. So konnte ich den Mord an meinem damaligen Dienstpartner aufklären und seinen Mörder, Hauptkommissar Findegram, der mich seit meiner Zeit bei der Kripo immer wieder diffamiert hatte, seiner gerechten Strafe zuführen. Ich hatte meine peinliche Phobie gegen Hunde überwunden und dem inzwischen pensionierten Hauptkommissar Kleinschmidt so manche schlaflose Nacht bereitet. Zudem hatte ich ganz nebenbei die Frau meines Lebens getroffen und sie bis heute festgehalten. Ich konnte mit meinem Leben also durchaus zufrieden sein.

„Chef, ich habe einen Anruf von der Kanzlei Börner in der Leitung“, erklärte meine Sekretärin, nachdem ich ihren Anruf entgegengenommen hatte. „Sind Sie da?“ „Stellen Sie durch, Trude.“ „Rechtsanwaltskanzlei Börner, Anneliese Rotenburg am Apparat.“ Ich erinnerte mich an die niedliche Reno . „Spreche ich mit Herrn Lessing?“ „So ist es“, bestätigte ich. „Moment bitte, ich stelle durch.“ Es folgten melodische Klänge aus irgendeiner Klaviersonate. „Hallo Leo“, begrüßte mich Christoph beinahe überschwänglich. „Es gibt Arbeit für dich.“ „Oh ja, schön“, ließ ich mich zu einem wahren Beifallssturm hinreißen. „Was ist los? Besonders happy scheinst du ja nicht zu sein.“ „Na ja, es kommt darauf an, was du für mich hast. Kleinkram habe ich ehrlich gesagt momentan genug.“ „Würde der Mord an einem Kind deine Aufmerksamkeit wecken?“ „Ich bin in fünf Minuten bei dir!“

Christoph berichtete mir, die Verteidigung eines Tatverdächtigen übernommen zu haben, dem der Mord an einem elfjährigen Jungen zur Last gelegt wurde. „In den letzten Tagen gab es nur einen Fall, bei dem ein Kind ums Leben kam“, überlegte ich. „War nicht ein Pferderipper im Focus der Ermittlungen?“ „Da liegst du schon richtig, Leopold, aber unter den Fingernägeln des Opfers fanden sich Hautreste von einem der Betreuer.“ „Deines Mandanten, nehme ich an“, schlussfolgerte ich. „Wie hast du das nur wieder erraten?“ „Und natürlich bist du einmal mehr von dessen Unschuld überzeugt.“

Christoph Börner biss die Zähne zusammen. „Ehrlich gesagt, bin ich mir diesmal nicht so sicher“, entgegnete mein Freund. „Er gibt an, unschuldig zu sein und das reicht, um eine bestmögliche Verteidigung zu erhalten.“ „Was gibt er denn an, wie seine DNA unter die Fingernägel des Jungen gelangen konnte?“ „Benno Stachel war als Betreuer für das Zelt verantwortlich, in dem der Teenager schlief. Er sagt, er wäre aufgewacht, als der Junge zum ersten Mal das Zelt verlassen wollte. Als er bemerkte, dass er schlafwandelte, vermied er es, ihn anzusprechen und folgte ihm stattdessen. Irgendwann wäre er dann gestolpert. Als er ihn auffangen wollte, krallte sich der Junge an seinem Arm fest.“ „Ich verzog ungläubig das Gesicht. „Ich gebe zu, die Erklärung ist etwas hausbacken“, verstand Christoph meine Mimik, „...aber es wäre zumindest eine Möglichkeit. Abgesehen davon fand sich die DNA einer weiteren, bislang unbekannten Person.“

Ich überlegte einen Moment. Zugegeben, der Fall stellte eine willkommene Abwechslung zu all dem Kleinkram der letzten Wochen dar. Vielleicht war dies sogar der Auftrag, auf den ich so lange gewartet hatte. „Was erwartest du bei der Sache von mir?“ „Du hast sicherlich auch von dem Pferderipper gehört, der zur Tatzeit auf der benachbarten Koppel sein schreckliches Spiel trieb.“ „Es war nicht zu überlesen.“ „Du solltest herausfinden, ob der Junge den Pferderipper tatsächlich beobachtete.“ „Dazu müsste ich herausfinden, wer der Kerl ist.“ „Na, dann weist du ja jetzt, was ich von dir erwarte.“ „Aber unser Freund Sinner, wird sicher längst nach dem Ripper fanden lassen“, verstand ich nicht so recht, weshalb Christoph zweigleisig fahren wollte.

„Wenn der Kerl nichts mit dem Mord an dem Jungen zu tun hat, wird es ihm leichter fallen, dies jemandem mitzuteilen, der ihn nicht gleich hinter schwedische Gardinen bringen will“, erklärte der Anwalt seine Überlegung. „Du glaubst, er würde sich anonym an mich wenden?“, vollzog ich die Gedanken meines Freundes nach. „Wer weiß, vielleicht hat er ja seinerseits etwas gesehen, was uns bei der Aufklärung dieses Verbrechens weiterhilft.“

„Also schön, angenommen, ich ermittele in dieser Sache, wer trägt meine Kosten? Nachdem, was ich in der Zeitung las, verfügt dein Mandant nicht gerade über ein dickes Bankkonto.“ „Ich kann dich beruhigen, Herr Stachel hat das Haus seiner Mutter geerbt.“ „Man muss schließlich sehen, wo man bleibt“, rechtfertigte ich meinen Einwand. „Du bist nicht so recht von der Unschuld des Mandanten überzeugt, nicht wahr?“, brachte es Christoph auf den Punkt. „Das allein ist es nicht“, druckste ich herum. „Soviel ich gehört habe, wurde der Junge missbraucht.“ „Das kannst du nur von Miriam wissen“, zeigte sich Börner überrascht. „Falsch, ehe mir meine geliebte Staatsanwältin die Augen öffnet, lässt sie mich blind in einen Abgrund laufen.“ „Also jetzt übertreibst du aber.“

„Du kannst es mir schon glauben, Christoph, ehe Miriam aus der Schule plaudert, muss die Oker rückwärts fließen.“ „Es ist sicher besser, Berufliches und Privates zu trennen“, pflichtete mir mein Freund bei. „Schaffst du es nicht, leidet sicherlich die Beziehung darunter.“ „Ach weißt du, Christoph, es gibt noch genügend andere Quellen, die ich anzapfen kann.“ „Na, das hast du ja mal wieder sehr pragmatisch ausgedrückt.“ „Man bemüht sich.“

Christoph reichte mir eine Mappe. Ich habe dir hier einige Infos über Benno Stachel zusammengestellt. Ich hoffe, sie bringen dich weiter.“ Ich schlug das Pamphlet auf und begann darin zu lesen. „Dein Mandant ist vierundzwanzig. Er erblickte als einziges Kind des Ehepaares Stachel das Licht der Welt“, las ich quer. „Der Wolfenbütteler Friseurmeister betrieb in der Lessingstadt einen gut gehenden Salon. Nach dem Tod des Familienoberhauptes und der nicht bestandenen Gesellenprüfung des Juniors musste die Witwe den Betrieb letztendlich schließen.“ Ich sah über den Rand des Aktendeckels. „Wenn ich den Fall übernehme, heißt dies, dass sämtliche Beweise die ich finde, auch die, die Benno Stachel belasten, an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet werden.“ „Was sich jawohl von allein versteht“, reagierte Christoph verärgert. „Hier wird nichts verschleiert oder unter den Tisch fallen gelassen!“ „Ich habe nichts anderes erwartet.“

„Bislang ist keine Untersuchungshaft angeordnet“, erklärte der Rechtsanwalt. „Die Hautpartikel unter den Fingernägeln des Opfers allein reichen nicht aus. Der Haftrichter konnte die Erklärung, die Stachel hierzu gab, nicht ausschließen. Sollte Sinner jedoch einen weiteren Beweis beibringen, geht er ab.“ „Gut, dann werde ich mir meinen Klienten zuallererst mal aus der Nähe ansehen.“ „Wenn es dir recht ist, begleite ich dich. Stachel wohnt auf dem Juliusmarkt.“ „Dort befand sich doch auch der Friseursalon“, erinnerte ich mich. „Der Mandant ist nie bei seinen Eltern ausgezogen.“

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„Es gibt Arbeit, Trude“, stürmte ich zurück in die Detektei. „Wem sagen Sie das, Chef, wem sagen Sie das? Sie hatten Ihr Handy offensichtlich ausgeschaltet.“ „Ach ja, kramte ich den kleinen Alleskönner hervor. „Wie Sie wissen, war ich mit Rechtsanwalt Börner in einer wichtigen Besprechung.“ „Sie arbeiten auch für meinen alten Freund, Christoph Börner?“, trat ein distinguierter recht kräftig wirkender älterer Herr aus dem Sichtschatten meiner Augen hervor. „Entschuldigen Sie, wenn ich Sie unangemeldet überfalle, Herr Lessing, aber die Umstände ließen mir leider keine andere Wahl.“ Der Mann kam mir irgendwie bekannt vor, aber in diesem Moment konnte ich ihn, so sehr ich mich auch mühte, nicht zuordnen.“

„Ich wollte Herrn von Ott einen Termin geben“, erklärte Trude, „...aber...“ „...er ließ sich einfach nicht abwimmeln“, ergriff der sonore Herr das Wort. „Ihre Sekretärin trifft keine Schuld an meinem Überfall. Ich würde Sie gern engagieren.“ Jetzt wusste ich, woher ich den Mann kannte. Viktor von Ott war Politiker im Landtag und genoss als solcher in Wolfenbüttel hohes Ansehen. „Ich fürchte, momentan kaum genug Zeit zu haben, um einen weiteren Auftrag anzunehmen.“ „Nun hören Sie sich doch erst einmal an, was ich Ihnen zu sagen habe.“ „Also gut“, wollte ich ihn zumindest nicht vor der Tür stehen lassen, „...treten Sie bitte näher.“ „Danke.“

„Seien Sie so lieb, Frau Berlitz, und bringen Sie uns einen Kaffee. Sie trinken doch Kaffee, oder?“ „Leidenschaftlich gern“, gestand von Ott. „Es geht um meinen Neffen. Er ist Tatverdächtiger in einem Mordfall“, kam der Landtagsabgeordnete schnell zur Sache. „Ihr Neffe heißt nicht zufällig Benno Stachel?“ „Der Junge ist der Sohn meines verstorbenen Bruders. Er hat mir geschworen, nichts mit der Sache zu tun zu haben. Sie können sich vorstellen, wie hoch die Wellen schlagen würden, wenn erst bekannt werden würde, dass Benno mein Neffe ist.“ „Zudem gerade wieder Wahlen zum Landtag anstehen, nicht wahr?“ „Sie sagen es, Herr Lessing.“

„Nun, dann kann ich Sie in soweit beruhigen, als dass ich den Fall bereits übernommen habe. Wie Sie ja bereits mitbekamen, arbeite ich mit der Kanzlei Börner zusammen.“ „Ich ahnte es, als ich den Namen des Anwalts vernahm. Was die Kosten angeht, die bei Ihrer Recherche entstehen, stellen Sie diese bitte mir in Rechnung.“ „Wenn Sie darauf bestehen.“ Von Ott griff nach seinem Mantel. „Sie haben völlig freie Hand. Tun Sie, was getan werden muss, aber halten Sie mich auf dem Laufenden.“ „Kein Problem“, versprach ich. „Und... ehe ich es vergesse. Benno sollte nicht erfahren, dass ich Sie bezahle. Mein Verhältnis zu seiner Familie war nicht immer das Beste.“

Mir war es egal, so war ich zumindest, was mein Honorar betraf, auf der sicheren Seite. „Wie Sie wollen.“ Er reichte mir eine Visitenkarte. „Unter dieser Telefonnummer können Sie mich am besten am frühen Abend erreichen.“ „Was können Sie mir über Ihren Neffen sagen?“ „Ich habe leider einen wichtigen Termin. Am besten bilden Sie sich persönlich eine Meinung zu Benno.“ „Tja, das hatte ich ohnehin vor“, entgegnete ich beharrlich. „Wir hören voneinander, Herr Lessing“, sprach er, griff sich seinen Hut und verschwand.

„Was war denn das gerade?“, erkundigte sich Trude, das Tablett mit den Kaffeetassen in der Hand, ihren Blick auf den wehenden Mantel des Besuchers gerichtet. „Ein Politiker halt.“ „Und was machen wir jetzt mit dem Kaffee?“ „Trinken?“ Trude zuckte mit den Schultern, setzte eine Tasse auf meinem Schreibtisch ab und die andere auf ihrem. „Komischer Kauz, wählen würde ich den nicht.“ „Fürs Erste würde es ausreichen, wenn Sie die Akte seines Neffen studieren. Er ist Tatverdächtiger in einer Mordsache.“

Während sich meine Putzsekretärin hinter ihrem Schreibtisch niederließ und genüsslich Kaffee trank, telefonierte ich mit Doktor Michael Wohlfahrt, der laut Akte den toten Jungen obduziert hatte. Obwohl der Rechtsmediziner wusste, dass ich selbst lange Zeit bei der Kripo gearbeitet hatte und gerade in letzter Zeit mit Oberkommissar Sinner kooperierte, lehnte er es ab, mit mir über die Obduktion des toten Jungen zu sprechen. Die Recherchen eines Privatermittlers bewegen sich zwar oftmals am Rande der Legalität und eröffnen dem Ermittler somit nicht selten Wege, die ein Kriminalbeamter nicht gehen kann, aber wenn es darum geht, an derartige Befunde zu gelangen, kann sich dieser Vorteil eben auch ins Gegenteil umkehren.

„Ich fahre mit Börner zu Benno Stachel. Falls etwas sein sollte, können Sie mich über mein Handy erreichen.“ „Okay“, nickte Trude. „Versuchen Sie sich bitte in der Zwischenzeit etwas über die Übergriffe auf Pferde zu informieren. Mich würde interessieren, wann und wo diese Fälle auftraten, aber auch wie sie ausgeführt wurden. Versuchen Sie alles über Pferderipping herauszufinden.“ „Das müssen doch Wahnsinnige sein“, ereiferte sich Trude. „Wenn Sie Wahnsinn mit Krankheit gleichsetzen, haben Sie sicherlich Recht.“ „Nein, ich meinte Wahnsinn im Sinne von Irre!“, bekräftigte Trude ihre Aversion. Ich winkte ab. „Sie wissen, wie Sie mich erreichen.“

Eine halbe Stunde später parkte ich meinen Skoda auf dem Juliusmarkt. Das Ladenlokal, in dem die Familie Stachel noch bis vor einigen Jahren einen Friseursalon betrieben hatte, stand zurzeit leer. Ich konnte mich an mindestens ein Geschäft erinnern, welches in der Zwischenzeit erfolglos darin betrieben wurde. So beschaulich dieses zu blaublütiger Zeit errichtete Viertel auch auf den Betrachter wirken musste, so abgeschieden von allen konsumfreudigen Massen, die durch die ansässigen Geschäfte hätten strömen können, war dieser Markt leider auch.

„Guten Tag Herr Stachel“, begrüßte Börner seinen Mandanten. „Dies ist Herr Lessing, der Detektiv, von dem ich sprach“, deutete Christoph auf mich. Der Tatverdächtige sah mich skeptisch an. „Na, dann kommen Sie mir mal ins Haus.“ Wir folgten dem Betreuer durch den mit Keramikasphalt ausgelegten Hausflur. Ein Belag, wie er häufig in alten Fachwerkhäusern anzutreffen ist. Die schmale Holztreppe ächzte unter unseren Schritten. Um im Obergeschoss erhobenen Hauptes unter den Deckenbalken hindurchgehen zu können, musste ich meinen Stetson abnehmen. An den Wänden zeichnete sich der Gilb vergangener Jahrzehnte ab und auch sonst schien die Zeit in diesem Gemäuer stehen geblieben zu sein.

„Herr Lessing wird unabhängig von der Polizei nach dem wahren Mörder suchen“, erklärte der Rechtsanwalt, nachdem uns der Mandant einen Platz in seinem Wohnzimmer angeboten hatte. „Glauben Sie wirklich, dass es nötig ist, wenn...“ Er unterbrach sich, um sich mir zuzuwenden. „Nichts gegen Sie, Herr Lessing, aber die Kripo wird diesen verrückten Pferderipper sicherlich überführen.“ „Aber Herr Stachel, wir haben doch darüber gesprochen. Ein Detektiv hat ganz andere Möglichkeiten.“ „Wenn Sie bezüglich der Kosten Bedenken haben“, mischte ich mich kurzerhand ein, „...kann ich Sie beruhigen. Meine Recherchen kosten Sie keinen Cent.“ Christoph Börner sah mich verwundert an. Er wusste ja bislang nichts von meinem heimlichen Auftraggeber, aber er kannte mich lange genug, um zu wissen, dass ich noch irgendetwas in petto hatte.

„Na wenn das so ist...“, gab sich der Mandant erleichtert. „...dann können Ihre Ermittlungen ja nur von Vorteil für mich sein.“ „So ist es“, pflichtete ihm Christoph bei. Ich sah Benno Stachel mit allem Nachdruck in die Augen. „Was ich allerdings von Ihnen erwarte, ist absolute Ehrlichkeit.“ Mein Gegenüber nickte mir beflissentlich zu. „Bei meinem Studium Ihrer Aussagen ist mir das eine oder andere aufgefallen“, begann ich den Ablauf des Tatabends auf meine Weise zu rekonstruieren. Sie erwähnten einen Trick, den Sie bereits seit einigen Jahren anwenden, um die Jugendlichen am Verlassen des Gemeinschaftszeltes zu hindern. So bemerkten Sie es, als sich Leonhard schlafwandelnd an Ihnen vorbei aus dem Zelt stahl, aber nicht, als er es einige Zeit später ein weiteres Mal tat.“ „Was mir ein Rätsel ist“, bekundete der Tatverdächtige. „Sind Sie sicher, dass Ihnen der Junge kein Theater vorspielte, um einer möglichen Bestrafung zu entgehen?“

Benno Stachel überlegte einen Augenblick, bevor er antwortete. „Ich glaube, ich hätte bemerkt, wenn er nur so getan hätte, als wenn er schlafwandeln würde. Abgesehen davon stürzte er ja auch und so etwas kann man nicht spielen.“ Der Tatverdächtige hatte meine kleine Hinterlist mit Bravour bestanden. Entweder war er so clever, meiner Finte nicht auf den Leim zu gehen, oder aber die Kratzer an seinem Oberarm waren tatsächlich das Resultat eines Sturzes, bei dem der Junge aus dem Schlafwandel erwachte. Was ich letztendlich glauben würde, musste seine weitere Befragung ergeben.

„Sie brachten den Jungen also daraufhin ins Zelt und zu seinem Schlafplatz zurück“, fuhr ich fort. „Genau“, bestätigte er. „Vorher musste ich ihn allerdings noch beruhigen. Leonhard stand total neben sich. Er wusste zunächst überhaupt nicht, wo er eigentlich war. Ich hatte alle Hände voll zu tun, um ihn unter Kontrolle zu halten.“ Aus den Erzählungen im Bekanntenkreis wusste ich, dass ein solches Verhalten durchaus typisch für einen Schlafwandler sein kann. „In nehme an, Sie haben sich daraufhin wieder hingelegt und sind nach einer Weile eingeschlafen?“ „Richtig.“ „In Ihrer Aussage bei der Kripo gaben Sie an, den Zwirnsfaden erneut gespannt zu haben“, erinnerte ich mich. „Könnte es sein, dass Sie dabei beobachtet wurden?“ Der Betreuer zuckte mit den Schultern. „Ausschließen kann ich das natürlich nicht. Aber das würde ja bedeuten, dass Leo von Anfang an vorhatte, das Zelt wieder zu verlassen.“

Dies war der Augenblick, in dem ich Benno Stachel glaubte. Denn eine weitere Möglichkeit drängte sich auf. Auch wenn der Sturz des vermeintlichen Schlafwandlers nicht gewollt war, so konnte es immerhin sein, dass sich der Junge von vornherein mit jemand treffen wollte. Handelte es sich dabei möglicherweise um eine heimliche Liebe aus dem Zeltlager oder hatte er sich am Ende sogar mit seinem späteren Mörder verabredet? Es war unbedingt notwendig, das weitere Umfeld des Opfers zu beleuchten. Hierbei waren die letzten Tage und vielleicht sogar Wochen im Leben des Jungen von Bedeutung.

„Es deutet zumindest einiges auf diese Möglichkeit hin“, nahm ich die Schlussfolgerung des Betreuers auf. „Kann es sein, dass sich Leonhard mit einem Mädchen aus dem Lager verabredet hat?“ Benno schmunzelte. „Also, wenn er für irgendein Mädchen Augen hatte, dann nur für Maike, das war offensichtlich.“ „Wie ging ihre Kollegin damit um?“ „Soviel ich weiß, wollte sie Leo am nächsten Morgen darauf ansprechen, aber dazu kam es ja dann nicht mehr.“

In meinen kriminologisch mutierten Synapsen rumorte es ohne Unterlass. Hatte sich Leo möglicherweise aus dem Zelt geschlichen, weil er zu der Betreuerin wollte? Konnte es sein, dass er sie im Schlaf überraschte und vielleicht sogar bedrängte? War es auszuschließen, dass sich die völlig überrumpelte Frau mit einem Stein zur Wehr setzte, den sie vorsorglich zu ihrer Verteidigung vor ihrem Nachtlager deponiert hatte? Gesetzt den Fall, es hätte sich so zugetragen, hätte sie sich anschließend an dem Jungen vergehen und den Leichnam dann auf die Koppel schleppen müssen.

„Warum auch immer sich der Junge aus dem Zelt schlich, er muss kurz darauf seinem Mörder begegnet sein“, sinnierte ich. „Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich dabei um einen Mann, den das Opfer kannte“, überlegte Börner. „...denn aus welchem anderen Grund hätte sich der Junge sonst mit ihm treffen sollen?“ „Wenn es so war, frage ich mich, weshalb ihn der Bekannte dann mit einem Stein erschlug?“ „Wir wissen noch nicht, ob es sich bei der Tatwaffe tatsächlich um einen Stein handelte“, unterbrach mich Christoph. „Das Tatwerkzeug wurde immer noch nicht gefunden. Es ist nicht gänzlich auszuschließen, dass die Kopfverletzung des Jungen nicht doch durch den Huftritt eines der Pferde verursacht wurde.“

„Aber dann könnte es sich ja möglicherweise sogar um einen Unfall handeln“, gab der Tatverdächtige zu Bedenken „Was, wenn ihn dieses perverse Schwein betäubte, sich an ihm verging und ihn anschließend einfach auf der Koppel zurückließ?“ Börner und ich sahen uns nachdenklich an. „Genau genommen klingt diese Variante sogar am wahrscheinlichsten“, räumte ich ein. „Die Frage ist nur, weshalb sich Leonhard mitten auf der Pferdekoppel verabredet haben soll.“ „Um Klarheit zu bekommen, wäre es gut, wenn es einen Zeugen gäbe“, brachte es Börner auf den Punkt. „Falls der Pferderipper gesehen hat, was geschah, wird er sich wohl kaum freiwillig bei der Polizei melden.“ „Warum kann er nicht der Mörder sein?“, hakte der Betreuer nach. „Weil es mehr als unwahrscheinlich ist, dass er zunächst ein Pferd tötet, sich dann an einem Kind vergeht und dieses dann ebenfalls ermordet.“ „Ich verstehe das alles nicht“, schüttelte Benno Stachel den Kopf. „Wer um Himmels Willen tut so etwas?“ „Sehen Sie jetzt, wie wichtig es ist, jeder dieser Möglichkeiten nachzugehen?“, fragte ich den Tatverdächtigen. „Es gibt so viele Fakten, die man gar nicht berücksichtigt“, stimmte er mir zu. „Umso wichtiger ist es, dass Sie noch einmal genau nachdenken.“ Ich reichte ihm meine Karte. „Rufen Sie mich an.“ Benno nickte.

„Sag mal, was war das denn?“, erkundigte sich Christoph, kaum dass wir wieder im Auto saßen. Es goss mittlerweile aus allen Kübeln. Das kühle Nass schoss nur so über die Dachrinnen und klatschte auf die grau rot gepflasterten Straßen. Das direkt vor uns stehende, etwas eigenwillige Reiterdenkmal des Herzogs, welches eigentlich eher an eine zerknautschte Pappmaschee erinnerte, triefte aus allen Ritzen. „Was meinst du?“ „Wieso kosten deine Recherchen plötzlich nichts mehr?“ „Das habe ich nicht gesagt“, widersprach ich. „Ich sagte, dein Mandant bräuchte mich nicht bezahlen.“ Die Stirn des Anwalts krauste sich. „Ich hatte heute Morgen Besuch von dem Landtagsabgeordneten Viktor von Ott. Er möchte die Kosten für meine Ermittlungen übernehmen.“ Das Fragezeichen im Gesicht meines Freundes wurde immer deutlicher. „Was hat Ott mit meinem Mandanten zu tun?“ „Ott ist der Onkel von Stachel. Da sein Verhältnis zu seinem Bruder nicht so gut war, möchte er allerdings nicht, dass dein Mandant erfährt, wer meine Kosten für ihn übernimmt.“ „Ach deshalb tatest du so geheimnisvoll.“

 

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