Detektei Lessing

Band 37

Moussaka

 

-1-

„Guten Morgen, Oberkommissar Sinner“, begrüßte Ruprecht Ramsauer den Ermittler. Dann sah er dessen Kollegen an und verkniff sich ein Lächeln, konnte sich allerdings den Kommentar nicht verkneifen. „Hallo Kommissar Schubert. War wohl eine lange Nacht, wie?“ „Der Kleine bekommt Zähne, da kriegt man kein Auge zu“, entgegnete der Ermittler schlaftrunken. „Sie sollten ihrem Sohn eine Veilchenwurzel geben, die hilft.“ „Meine Frau schwört auf einen harten Knust.“ Sinner verdrehte unterdessen die Augen. „Können wir uns dann irgendwann unserem Fall zuwenden?“

„Entschuldigen Sie bitte“, reagierte der Leiter der Spurensicherung aufgescheucht. „Bislang sieht alles nach einem erweiterten Suizid aus. Die zweite Leiche liegt oben, im Schlafzimmer. Doktor Schnippler ist noch bei der Leichenschau.“ Ramsauer zog das Laken zurück, unter der sich der Tote befand. „Hatte er Papiere bei sich?“, erkundigte sich Schubert. „Laut seines Personalausweises handelt es sich um einen gewissen Jürgen Bräutigam.“ „An der Klingel stand ein anderer Name“, erinnerte sich Sinner. „Stimmt, Bötcher“, bestätigte der Leiter der Spurensicherung. „Frau Simone Bötcher ist die Tote im Schlafzimmer. Nach unseren ersten Erkenntnissen handelt es sich bei Herrn Bräutigam nicht um den Lebensgefährten von Frau Bötcher. Da sie allerdings nur leicht bekleidet ist, sieht es momentan nach einer Affäre aus.“ „Mord aus Leidenschaft!“, legte sich Schubert ungewöhnlich schnell fest. „Na mal langsam mit den jungen Pferden“, bremste ihn Sinner. Er deutete auf den Mann mit der Waffe in der linken Hand. „Es könnte sich ebenso um einen Einbrecher handeln.“ Schubert und Ramsauer sahen sich irritiert an. „Nee Chef, weshalb sollte sich der Mann selbst das Leben nehmen?“ „Nur weil er die Waffe in der Hand hält, muss er sich ja nicht damit umgebracht haben“, ließ sich der Oberkommissar nicht von seinem Einwand abbringen. „Am besten, wir sehen uns erst einmal die Tote an“, schlug Schubert vor. „Vielleicht bringt uns das schon weiter.“

Kurz darauf erreichten die Kommissare den zweiten Tatort im Obergeschoss des Hauses. Der Rechtsmediziner hatte seine Arbeit gerade beendet. „Guten Morgen, Doktor Schnippler“, begrüßten ihn Schubert und Sinner. „Können Sie schon etwas zur Tatzeit sagen?“ Der Pathologe sah die Kommissare mit einem zerknirschten Gesichtsausdruck an und schüttelte dabei vage den Kopf. „Mitternacht, unter Vorbehalt. Plus minus eine Stunde. Genaueres wie immer erst nach der Obduktion.“ „Was ist mit dem zweiten Leichnam?“, ließ ihm Oberkommissar Sinner kaum Luft holen. „Dito.“ „War der Schuss aufgesetzt?“, erkundigte sich Schubert. „Wo jetzt, unten oder hier oben?“, reagierte der Mediziner verschnupft. Der Kommissar deutete auf die Tote im Bett. „Nein. Ich würde sagen, die Frau ist aus etwa zwei Meter Entfernung erschossen worden“, erklärte Schnippler. „Aber auch hier gilt, Genaueres erst nach der Obduktion.“ „Sie können uns doch aber sicherlich schon sagen, ob es vor dem Schuss zu einer körperlichen Auseinandersetzung kam“, ließ Sinner nicht locker.

Doktor Schnippler seufzte genervt. „Auf den ersten Blick konnte ich keine Hämatome oder ein wie auch immer geartetes Abwehrverhalten erkennen. Auch unter ihren Fingernägeln deutet nichts auf einen Kampf hin. Aber Sie wissen ja...“ „...Genaueres erst nach der Obduktion“, nahm ihm der Oberkommissar die Worte aus dem Mund. „Wann wird das sein?“ Während Doktor Schnippler seinen Pilotenkoffer zusammenklappte sah er abschätzend über den Rand seiner Brille. „Wenn ich mich reinhänge, schaffe ich es vielleicht noch bis zum Abend.“ „Dann hängen Sie sich bitte mit all Ihrem Elan rein, Doktor. Nichts ist so kontraproduktiv wie die Ungewissheit“, machte ihm Sinner Druck.

Während die Mitarbeiter der Spurensicherung damit beschäftigt waren, den Auffindeort der Leichen mit Klebefolien abzukleben, um mögliche DNS Spuren zu sichern, widmeten sich die Kommissare der jungen Frau, die den Unbekannten auf dem Fußboden liegend entdeckt und dessen Tod in der Notrufzentrale gemeldet hatte. Der zeitgleich mit den Polizeibeamten am Einsatzort eingetroffene Notarzt hatte sich zunächst um die Toten gekümmert und dann um die unter Schock stehende Freundin der erschossenen Frau. Als die Kommissare an den Rettungswagen traten, hatte sich die junge Frau so weit beruhigt, dass einer ersten Befragung nichts im Wege stand.

„Ich bin Hauptkommissar Sinner“, stellte sich der leitende Ermittler vor. „Der junge Mann an meiner Seite ist Kommissar Schubert“, deutete er auf seinen Kollegen. „Fühlen Sie sich in der Lage, uns einige Fragen zu beantworten?“ „Es geht schon“, nickte ihm die Zeugin zu. „Wieso haben Sie die Bötchers so früh aufgesucht?“ „Ich hole Simone dreimal in der Woche zum Joggen ab“, entgegnete Nele Anschütz. „Sie waren also mit den Bötchers befreundet“, schlussfolgerte Tim Sinner. „Eigentlich nur mit Simone“, konkretisierte die Befragte. „Wir haben uns vor etwa einem Jahr beim Laufen kennengelernt. Damals waren wir beide neu in der Stadt und somit froh jemanden gefunden zu haben, mit dem wir unsere Interessen teilen konnten.“ „Dann können Sie sicherlich einiges über das Privatleben der Toten sagen“, spekulierte Schubert. Die Befragte nickte.

„Sie sollten Frau Anschütz zunächst etwas Ruhe gönnen“, mischte sich der Notarzt ein. „Gut, dann werden wir Sie am besten heute Nachmittag in Ihrer Wohnung aufsuchen.“ „Ich hoffe, Sie haben Ihre Adresse bereits einem unserer Kollegen mitgeteilt“, vergewisserte sich der Oberkommissar. „Ich habe die Personalien der Zeugin aufgenommen“, bestätigte ein in der Nähe des Rettungswagens wartender Polizeibeamter, ehe Nele Anschütz reagieren konnte. „Gibt es jemanden, der sich um Sie kümmert?“, wandte sich Sinner an die Befragte. „Ich komme schon klar.“ „Gut, aber dann wird Sie zumindest eine Kollegin nach Hause fahren.“ „Sorgen Sie bitte dafür“, beauftragte Sinner den Beamten.

Schubert sah sich nachdenklich um. Dabei fiel sein Blick auch auf mehrere Pressevertreter, die sich in einer Gruppe Schaulustiger jenseits der Absperrung versammelt hatte. „Die Schüsse müssen in der Nachbarschaft gehört worden sein“, schlussfolgerte Sinner. „Ich verstehe nicht, weshalb sich niemand dafür zu interessieren schien.“ „Ich frage mich, woher die Presse eigentlich schon wieder Wind von der Sache bekommen hat“, schüttelte der Kommissar den Kopf. „Solange die Kollegen so schlecht bezahlt werden, muss man sich nicht wundern, wenn sich der eine oder andere ein paar Euro dazuverdient“, zeigte Sinner Verständnis. „Schnappen Sie sich einen Kollegen und befragen Sie die Nachbarschaft. Vielleicht wurden die Schüsse ja doch von irgendjemanden gehört“, zuckte der Oberkommissar mit den Achseln. „Ich werde mich inzwischen bei Ruprecht erkundigen, ob es weitere Erkenntnisse gibt.“

„Kommissar Schubert, Kripo Wolfenbüttel“, stellte sich der Ermittler vor, während er gleichzeitig seinen Dienstausweis präsentierte. „Meine Kollegin Seifert.“ „Hallo.“ „Was wollen Sie?“ „Sie haben sicherlich von dem tragischen Tod Ihrer Nachbarin gehört“, kam der Kommissar ohne Umschweife auf den Grund seines Besuchs. „Nein!“, entgegnete der Angesprochene unerwartet. „Wir hätten dennoch einige Fragen an Sie. Schubert setzte einen Fuß nach vorn. „Vielleicht sollten wir uns besser drinnen unterhalten?“ „Brauchen Sie dazu nicht so einen schriftlichen Befehl?“ Schubert zog mit einem gequälten Lächeln seinen Fuß zurück. „Sie meinen offenbar einen Durchsuchungsbeschluss“, erklärte der Kommissar. „Den brauchen wir nicht, weil es sich in diesem Fall nur um eine Zeugenbefragung handelt.“ „Ich habe nichts gehört und nichts gesehen und jetzt habe ich auch gar keine Zeit mehr!“, reagierte der Mann barsch und schlug den Beamten die Tür vor den Nasen zu.

„Passiert Ihnen so etwas häufiger?“, schüttelte die Hauptmeisterin verständnislos den Kopf. „Hin und wieder. In solchen Fällen verschicken wir gern eine Einladung ins Präsidium. Also, notieren Sie bitte den Namen des Herren.“ Nicole Seifert war erstaunt wie gelassen der Kommissar blieb. Während sie sich zum nächsten Nachbarn begaben, schrieb sie den Namen Karl Reuber in ihr Notizbuch.

„Neue Tür, neues Glück“, verkündete Schubert zuversichtlich den Daumen auf den Klingeldrücker pressend. „Kommissar Schubert, Kriminalpolizei Wolfenbüttel“, stellte er sich vor, während er der alten Dame seinen Dienstausweis präsentierte. „Meine Kollegin Seifert.“ „Sie kommen sicher wegen des Geballers gestern Abend“, überraschte sie die Polizisten. „Es wird ja auch Zeit, dass jemand was dagegen unternimmt. Aber kommen Sie doch bitte herein.“ Schubert und seine Kollegin sahen sich verblüfft an.

„Sie haben die Schüsse also gehört“, vergewisserte sich der Kommissar. „Natürlich und ich trug noch nicht mal meine Hörgeräte. Eine Frechheit ist das! Anständige Leute wollen um diese Zeit schlafen.“ „Wissen Sie noch, um welche Uhrzeit die Schüsse fielen?“ „Junger Mann, ich bin alt, aber nicht senil! Es war exakt 23:25 Uhr.“ „Aber wenn Sie die Schüsse hörten, frage ich mich, weshalb Sie nicht die Polizei anriefen“, kam die Hauptmeisterin ihrem Kollegen zuvor. „Aber das habe ich doch“, behauptete Erika Dahlke. „Wie, Sie haben heute Nacht die 110 gewählt?“, konnte es Schubert nicht fassen. „Nein, heute Nacht nicht, aber beim letzten Mal.“

Schubert versuchte ruhig zu bleiben. „Was soll das heißen?“ „Junger Mann, ich spreche doch laut und deutlich, oder? Es vergeht keine Woche, in der die Jäger nicht wenigsten einmal auf den Feldern hinter der Siedlung auf Wildschweine schießen.“ „Jetzt verstehe ich“, griff sich Schubert an den Kopf. „Sie glauben, die Schüsse wurden von Jägern abgegeben. Na da haben wir uns missverstanden.“ „Wieso, was dachten Sie denn?“, runzelte die alte Dame die Stirn. „Wieviel Schüsse haben Sie eigentlich gehört?“, hakte die Hauptmeisterin nach. „Zwei oder drei ich bin mir nicht sicher, weil der dritte Schuss weiter weg war.“ „Nicht gerade viel für eine Jagd“, stellte Nicole Seifert fest. „Ja, stimmt“, pflichtete ihr die Zeugin bei. „Ich habe mich auch gewundert.“

„Ihre Nachbarin wurde erschossen“, stellte Schubert klar. „Welche denn, um Himmels Willen?“, starrte Erika Dahlke den Kommissar entsetzt an. „Frau Bötcher.“ „Oh Gott, oh Gott!“, schüttelte sie den Kopf. „Das musste ja ein schlimmes Ende nehmen.“ „Wie meinen Sie das, Frau Dahlke?“, fasste Schubert nach. „Ich mochte sie nicht besonders, aber er ist ein sehr freundlicher Mensch. Er hat ihr oft Blumen mitgebracht. Als die hier vor etwa einem Jahr herzogen, hatte ich das Gefühl, er wollte hier mit ihr einen Neuanfang machen.“ „Wie kommen Sie denn darauf?“, hakte Nicole Seifert nach. „Hat er Ihnen gegenüber Andeutungen gemacht?“ „Das brauchte er gar nicht, so etwas sehe ich doch auf den ersten Blick.“ „Aha.“ „Sie werden sehen, die hat ihn betrogen. Wahrscheinlich war es ein Mord aus Eifersucht. Man sieht so was ja oft im Fernseher. Aber dass es nun auch hier so weit gekommen ist…“

Erika Dahlke schüttelte fassungslos mit dem Kopf. „Wenn ich meinen Freundinnen davon erzähle, werden sie es mir bestimmt nicht glauben.“ „Eine letzte Frage noch“, kam Schubert zum Ende. „Sind Sie noch mal aufgestanden als Sie die Schüsse hörten?“ „Ja natürlich.“ „Haben Sie eventuell aus dem Fenster gesehen und ist Ihnen dabei vielleicht etwas aufgefallen?“ „Na logisch, rausgeschaut habe ich, aber gesehen habe ich leider nichts.“ „Gut, das war es fürs Erste“, bedankten sich die Polizisten. „Hier ist meine Karte, falls Ihnen noch etwas einfällt.“ „Sie rufen mich doch sofort an, wenn Sie den Täter gefasst haben, oder?“ „Natürlich, Frau Dahlke, Sie sind ganz bestimmt die Erste die es erfahren wird.“

„Wie sieht es aus, Ruprecht, konnten Sie in der Zwischenzeit weitere Erkenntnisse sammeln?“, erkundigte sich unterdessen Oberkommissar Sinner beim Leiter der Spurensicherung. „Nachdem die Kollegen auf die Frau trafen, die den Notruf abgesetzt hatte und durch die Terrassentür den Mann auf den Boden liegen sah, brachen sie die Tür auf und fanden kurz darauf im Obergeschoss den zweiten Leichnam“, rekonstruierte Ramsauer das Geschehen anhand der Aussagen der beiden Streifenpolizisten. „Abgesehen von den Spuren, die dabei verursacht wurden, gab es also keinerlei sonstige Einbruchsspuren“, schlussfolgerte Sinner. „So ist es“, bestätigte der Experte. „Frau Bötcher muss ihren Mörder also selbst ins Haus gelassen haben.“ Der Leiter der Spusi , nickte zustimmend.

Spurensicherung

„Momentan sind wir noch dabei, Schuhabdrucke und Sonstiges im Garten zu sichern“, fuhr Ramsauer fort. „Interessant ist vielleicht noch, dass Frau Bötcher nicht im Bett lag, als auf sie geschossen wurde. Die Wucht des Geschossaufpralls muss sie rücklings auf das Bett geworfen haben. Ich bin mir sicher, dass Doktor Schnippler bei der Bestimmung des Eintrittswinkels, den das Projektil verursacht hat, meine Meinung bestätigen wird.“ „Wenn dem so ist, liegt es auch auf Grund ihrer Bekleidung nahe, dass die Tote bereits ins Bett gegangen war“, überlegte Sinner. „Als ihr Geliebter nicht kam stand sie noch einmal auf, um nach ihm zu sehen. Genau in diesem Moment muss er dann vor ihr gestanden und geschossen haben“, rekonstruierte Ramsauer den möglichen Tathergang. „Dies würde allerdings der These vom Ende der Affäre widersprechen“, grübelte der Oberkommissar nachdenklich.

Im Gesicht des Kriminologen zeichnete sich ein Fragezeichen ab. „Die Tote macht doch nicht erst mit ihrem Geliebten Schluss und legt sich dann ins Bett, um ein letztes Mal mit ihm Sex zu haben“, stutzte der Oberkommissar. „Abgesehen davon schleppt der Mann doch nicht ständig eine Waffe mit sich herum.“ „Wenn Sie mich fragen, hatte der von vornherein die Absicht, seine Geliebte zu töten, legte sich der Leiter der Spurensicherung fest.“

Sinner schüttelte den Kopf. „Nein, nein, bevor wir uns hier den wildesten Spekulationen hingeben, müssen wir mehr über die Toten herausfinden. Was ist mit den Handys der Opfer?“ „Sind bereits auf dem Weg in die KTU .“ „Vielleicht gibt uns ihre Auswertung mehr Aufschluss über das Verhältnis der beiden Toten.“ Ramsauer nickte zustimmend. „Meine Elli und ich haben uns nie betrogen und wenn man sieht, wohin so etwas führen kann, esse ich auch weiterhin lieber jeden Tag Eintopf.“

Kriminaltechnische Untersuchung.

-2-

„Gut, dass Sie so schnell kommen konnten, Herr Bötcher“, begrüßte Kommissar Schubert den Ehemann der Ermordeten. „Ich habe mich nach Ihrem Anruf natürlich sofort in meinen Wagen gesetzt und bin losgefahren“, erklärte Anton Bötcher. „Wie Sie sich denken können, möchte ich natürlich wissen, was eigentlich geschah und ich möchte vor allem meine Frau sehen.“ „Zunächst mein herzliches Beileid.“ „Danke.“ Ihre Wünsche sind verständlich, aber da muss ich Sie leider noch um etwas Geduld bitten. Ihre Frau wird derzeit noch obduziert.“ „Können Sie das denn einfach so, ohne meine Einwilligung?“ „Da ein Gewaltverbrechen vorliegt, sind wir dazu verpflichtet. Es liegt doch sicherlich auch in Ihrem Interesse, den Tod Ihrer Frau so lückenlos wie möglich aufzuklären.“

Anton Bötcher tat einen tiefen Seufzer. „Ja, natürlich. Ich nehme an, dass mein Haus aus diesem Grund noch gesperrt ist?“ „Sie waren folglich schon daheim“, schlussfolgerte Schubert „Da es sich um einen Tatort handelt, ist dies leider unumgänglich.“ „Wie lange werde ich mein Haus nicht betreten können? Ich würde mich gern frisch machen und alles Notwendige für die Bestattung meiner Frau in die Wege leiten.“ Der Kommissar nickte seinem Gegenüber mitfühlend zu. „Ich denke, die Kollegen werden bis zum Nachmittag fertig sein.“ „Hauptsache, Sie kriegen das Schwein!“ Schubert sah dem Mann vor seinem Schreibtisch mit einiger Verwunderung in die Augen. „Von wem sprechen Sie?“ Anton Bötcher wirkte irritiert. „Na von dem Einbrecher. Ich hatte den Eindruck, dass ihr Kollege bei seinem Anruf von einem Einbruch sprach.“

„Da haben sie Oberkommissar Sinner in der Aufregung sicher falsch verstanden“, vermutete Schubert. „Wir wissen inzwischen, dass es sich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht um einen Einbruch handelt.“ „Was soll das heißen?“, verstand Bötcher nicht, was ihm der Kommissar sagen wollte. „Ihre Frau muss den Mann ins Haus gelassen haben.“ „Er schob ein Foto des vermeintlichen Mörders über den Tisch und beobachtete die Reaktion seines Gegenübers.

„Kennen Sie diesen Mann?“ „Ist er tot?“ „Ja“, hielt sich Schubert bedeckt. „Jetzt verstehe ich gar nichts mehr.“ Er sah sich das Foto abermals an. „Ist das der Mann, der meine Frau erschoss?“ „Kennen Sie den Mann?“, ließ Schubert seine Frage unbeantwortet. „Nein, nie gesehen! Ich verstehe das alles nicht. Ist das nun der Mörder meiner Frau?“ „Wir können es noch nicht mit Gewissheit sagen“, wurde der Kommissar nun etwas konkreter. „Unsere Kollegen von der Streife fanden den Mann tot in Ihrem Haus.“ „Wer ist das?“, wurde Bötcher zunehmend ungeduldiger. „Sagt Ihnen der Name Bräutigam etwas?“ Der Mann vor Schuberts Schreibtisch überlegte angespannt. „Nein, nie gehört.“ „Wir glauben, dass es sich bei dem Herrn um den Geliebten Ihrer Ehefrau handelte.“ Der Witwer schüttelte energisch den Kopf. „Niemals!“

In diesem Moment klopfte es an der Tür und Marlies Knoop betrat das Büro der Kommissare. Während Anton Bötcher seine Gedanken ordnete und bemüht war, alle Gefühle in den Griff zu bekommen, teilte die Leiterin der Kriminaltechnik dem Kommissar die ersten Ergebnisse der Handyauswertung des Toten und den Abschluss der Spurensicherung im Haus des Opfers mit.

„Entschuldigen Sie bitte die kurze Unterbrechung, aber es gibt interessante Neuigkeiten“, fuhr der Kommissar fort. „Wir fanden auf dem Handy von Max Bräutigam eine SMS, die ihm Ihre Frau gestern schrieb. Darin teilte sie dem vermeintlichen Liebhaber mit, dass Sie sich über Nacht auf einem Seminar in Hamburg befinden. Ferner bittet sie ihn zu ihr zu kommen, weil sie mit ihm reden muss.“ „Ich verstehe das alles nicht“, beteuerte Anton Bötcher. Er vergrub sein Gesicht zwischen den Händen und begann zu weinen. „Sie ahnten nichts von alledem?“, schlussfolgerte Schubert aus seinen Worten und der Art und Weise, wie er mit den Neuigkeiten umging. „Natürlich nicht. Ich verstehe nicht, wie sie mir so etwas antun konnte.“

„Sie werden sicherlich verstehen, wenn ich Sie im Hinblick auf die Affäre Ihrer Frau nach Ihrem Alibi fragen muss“, tastete sich der Kommissar in diese nicht gerade pietätvolle Frage. „Das ist jetzt nicht Ihr Ernst“, reagierte der Befragte pikiert. Schubert schürzte die Lippen. „Ich muss Ihnen leider diese Frage stellen. Sie ist lediglich Routine und dient nur dazu, Sie aus dem Kreis möglicher Verdächtiger auszuschließen.“ „Verstehe“, lenkte der Witwer ein. „Wie Sie ja wissen, nahm ich an einem Seminar in Hamburg teil. Es gibt zahlreiche Kollegen, die dies bestätigen können.“ Schubert schob einen Block über den Schreibtisch. „Bitte notieren Sie uns einige Namen und soweit möglich die Telefonnummern Ihrer Kollegen.“

Bötcher schien alles andere als verständnisvoll, war jedoch bemüht, der Bitte nachzukommen. „Da die Tatzeit um Mitternacht liegt, sollten Sie zumindest am Abend davor von jemandem gesehen worden sein“, konkretisierte der Kommissar. „Wie stellen Sie sich das vor? Ich habe die Nacht allein auf dem Hotelzimmer verbracht.“ „Sie haben doch sicherlich noch mit ihren Kollegen einen Absacker getrunken oder sind Sie schon nach dem Abendessen zu Bett gegangen?“, versuchte ihm Schubert behilflich zu sein. „Sie werden lachen, aber so war es. Der Tag war anstrengend und mir brummte der Schädel. Da bin ich früh auf mein Zimmer.“

Der Ermittler war sich alles andere als sicher, ob er dem Witwer glauben sollte. Falls er ihn belog, hatte Bötcher eine bühnenreife Show abgeliefert. „Die Arbeiten zur Beweissicherung in Ihrem Haus sind übrigens abgeschlossen. Sie können die Räume also wieder betreten“, erklärte ihm Schubert. „Ich weiß gar nicht, ob ich mein Haus so schnell wieder betreten will. Nach allem, was ich nun weiß, muss ich erst damit fertig werden und einen klaren Kopf bekommen. Wahrscheinlich nehme ich mir heute ein Hotelzimmer.“ „Ihre Telefonnummer haben wir ja. Ich rufe sie an, wenn die Obduktion Ihrer Frau abgeschlossen ist.“

Bötcher erhob sich. Er schien angeschlagen. „Im Moment weiß ich gar nicht, ob ich sie überhaupt noch einmal sehen will“, entgegnete der Gehörnte. „In diesem Fall müsste ich die Eltern Ihrer Frau um die Identifizierung bitten.“ „Ja, machen Sie das“, entschied sich Bötcher. „Ich brauche jetzt erst mal etwas Abstand.“ „Das kann ich verstehen“, nickte ihm Schubert mitfühlend zu. „Bitte halten Sie sich vorerst zu unserer Verfügung.“ „Ich bin Referent für pharmazeutische Produkte“, erklärte Anton Bötcher. „Ich bin viel unterwegs, manchmal mehrere Tage lang.“ „Wenn Sie uns vorher informieren, gibt es da keinerlei Probleme. Sie stehen ja nicht unter Tatverdacht.“ „Na, das beruhigt mich aber“, rang sich Bötcher ein gequältes Lächeln ab und verließ das Büro.

Schubert sah ihm nachdenklich nach und fragte sich, ob er in gleicher Situation ebenso reagieren würde. Der Tod seiner Frau schien ihn weniger zu berühren, als die Tatsache, dass sie ihn betrogen hatte. Sinners Rückkehr vom Tatort riss ihn aus den Gedanken. „Hat sich der Ehemann der Ermordeten schon bei Ihnen gemeldet?“, erkundigte sich sein Chef. „Sie müssten Bötcher eigentlich noch begegnet sein“, entgegnete Schubert. „Er ist gerade raus.“ „Schade, aber ich bin sicher, Sie haben ihn auch ohne mein Zutun auf den Zahn gefühlt.“ „Ich denke, der Mann hat nichts von der Affäre seiner Frau geahnt“, rang sich der Kommissar zu einer Einschätzung durch. „Nichtsdestotrotz werde ich als nächstes seine Angaben überprüfen.“ „Tun Sie das, Schubert. Ich komme übrigens gerade aus der Pathologie. Der Tote hat Schmauchspuren an seiner linken Hand. Wenn wir nun noch einen Hinweis auf eine Affäre von Simone Bötcher mit dem Toten finden, können wir den Fall zu den Akten legen.“

Im nächsten Augenblick klopfte es zaghaft an der Tür. „Herein!“ Die Tür blieb zu. Sinner verdrehte die Augen und erhob sich, um nachzusehen. Vor ihm stand die junge Frau, die Simone Bötcher gefunden hatte. „Guten Tag. Sie sind doch die Kommissare, die den Tod von Simone Bötcher bearbeiten.“ „So ist es. Treten Sie doch näher.“ Sinner zog einen der Besucherstühle zurück und bot ihr einen Platz an. „Wir hatten uns heute Morgen kurz vor dem Haus der Bötchers gesprochen“, bemerkte er. „Sie hätten sich nicht extra hierherbemühen müssen. Wir wären heute Nachmittag ohnehin zu Ihnen gekommen.“ „Ich habe es zu Hause einfach nicht länger ausgehalten“, entgegnete die junge Frau.

„Fühlen Sie sich denn in der Lage, uns einige Fragen zu beantworten?“, brachte es Schubert auf den Punkt. Nele Anschütz nickte. „Wie ich Ihnen ja bereits sagte, bin ich…, war ich die Freundin von Simone und ich möchte gern eine Aussage machen“, erklärte die junge Frau. „Ich bin Oberkommissar Sinner und mein freundlicher Kollege hört auf den Namen Schubert“, bemühte sich Sinner um eine lockere Atmosphäre. „Ich war seit etwa einem Jahr mit Simone befreundet. Sie hat mir von der Beziehung zu Max erzählt.“ Die Kommissare spitzten die Ohren. „Wissen Sie, seit wann diese Affäre schon lief?“, hakte Schubert nach. „Ich schätze ungefähr ein halbes Jahr“, entgegnete Nele Anschütz. „Aber gestern Abend wollte sie mit ihm Schluss machen, weil sie sich für ihren Ehemann entschieden hatte.“ „Gab es einen triftigen Grund für diesen Entschluss?“, wollte es Sinner genau wissen. „Nach allem, was mir Simone erzählte, war Max in letzter Zeit sehr besitzergreifend.“

Sinner und Schubert sahen sich gelassen an. Mit der Aussage von Nele Anschütz hatten sie das letzte Puzzleteilchen zur Aufklärung des Verbrechens erhalten. „Das erklärt natürlich die Tat“, bestätigte sich für Sinner nun der Zusammenhang. „Nachdem Ihre Freundin mit Max Bräutigam Schluss gemacht hatte, wollte er dies nicht akzeptieren und sie nicht gehen lassen“, schlussfolgerte er. „Wie gelangten Sie eigentlich ins Haus?“, hakte Schubert nach. Die Terrassentür stand offen.“ Ihre Aussage deckte sich mit der Feststellung der Spurensicherung.

„Können Sie sich vorstellen, dass Ihre Freundin ein letztes Mal mit ihm geschlafen hat?“, bemühte sich Kommissar Sinner auch die letzte Ungereimtheit aus dem Weg zu schaffen. „Auch wenn es jetzt etwas absurd klingen mag, aber genau so war Simone. Sie konnte in ihrer Art schon recht widersprüchlich sein“, sinnierte Nele Anschütz. „Aber so war sie eben.“

-3-

„Herzlichen Glückwunsch, mein Schatz“, hauchte mir Miriam mit erotischer Stimme ins Ohr. „Ich habe eine Überraschung für dich, Liebster.“ Voller Vorfreude auf das, was mit den nächsten Atemzügen auf mich zukommen würde, öffnete ich die Augen. Doch anders als erhofft hatte meine Liebste erheblich mehr als das halbseidige schwarze Etwas an, was ich ihr zum Nikolaus geschenkt hatte. Sie hob das Tablett mit den seitlichen Klappfüßen über mein Bettdeck und füllte den Becher mit Kaffee. „Zur Feier des Tages darfst du heute im Bett frühstücken“, lächelte sie gönnerhaft.

Jetzt nur keinen Fehler machen, dachte ich. „Oh, da hast du dir aber Mühe gemacht“, strahlte ich über alle vier Backen. „Und wie der Kaffee und die Brötchen duften“, lobte ich. „Was ist das für ein Kuvert?“ „Öffne ihn doch, dann siehst du, was darin ist“, schürte Miriam meine Erwartungen. Als ich die Bestimmung des Gutscheins las, waren alle meine Erwartungen tatsächlich bei weitem übertroffen.“ „Ein Tanzkurs für uns beide? Das ist ja der Wahnsinn!“ Und genauso meinte ich es auch. „Freust du dich?“ „Na klar mein Schatz“, versuchte ich mir die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. „Du hättest mir keine größere Freude machen können.“ „Da fällt mir aber ein Stein vom Herzen“, atmete Miriam erleichtert auf. „Ich befürchtete schon, du würdest dich nicht darüber freuen.“ „Aber ich bitte dich, da verkennst du mich aber.“ „Ich habe uns auch schon angemeldet“, setzte sie noch einen drauf. „Nächste Woche geht es schon los.“ „Toll.“

Nach dem Frühstück plärrte Ramona, was dazu führte, dass es keinen Nachtisch gab. Wenn das Kind ruft, verlieren auch ausgeklügelte Verführungskünste ihre Wirkung. Hilflos und frustriert blieb ich in den Federn zurück. Als schließlich auch noch der Duft voller Windeln durch das Schlafzimmer waberte, war es das bei mir mit jeglicher Erotik. Ich verschwand im Bad und entdeckte prompt die nächste graue Strähne auf meinem Kopf. Als wenn es nicht ausreichte, wenn man auf dem Papier wieder ein Jahr älter geworden war, musste es nun auch noch für jedermann sichtbar sein. Ich fragte mich, ob es legitim war, wenn man sich als Mann die Harre färben ließ.

„Guten Morgen, Chef“, trällerte Trude gut gelaunt, als ich meine Detektei betrat. „Morgen Trutchen“, erwiderte ich gedankenfroh. „Meinen herzlichsten Glückwunsch zum Geburtstag“, wirbelte sie um den Schreibtisch herum, um mich liebkosend in ihre Arme zu schließen. „Vielen Dank, meine Liebe. Sie können mich übrigens wieder loslassen.“ „Oh entschuldigen Sie, aber ich war so sehr von meinen Gefühlen überwältigt.“ „Kein Problem, aber nun wollen wir wieder zum Alltag zurückkehren.“ Meine Putzsekretärin kehrte an ihren Arbeitsplatz zurück.

„Was steht denn für heute an?“, erkundigte ich mich in der Hoffnung, dass es Anmeldungen oder Einträge gab. „Tja Chef“, druckste sie herum. „Da sieht es für heute leider nicht so gut aus.“ „Was ist nur los, sind die Wolfenbütteler über Nacht solide geworden?“ „Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen“, bezweifelte Trude meine Befürchtung. Vielleicht sollten Sie mal in der Kanzlei von Herrn Börner anrufen. Möglicherweise hat er ja was für uns.“ Ich stieß einen tiefen Seufzer aus. „Es ist kein Wunder, wenn ich graue Haare bekomme.“ Die gute Seele winkte ab. „Nee Chef, das liegt am Alter.“

Ich hatte mich gerade zu einem Anruf bei Christoph durchgerungen, als jemand die Detektei betrat. Wenig später öffnete Trude die Tür zu meinem Büro und fragte mich, ob ich etwas Zeit erübrigen konnte. Obwohl ich von der vielen Arbeit gestresst war, ließ ich die Klienten hereinführen.

„Kann ich Ihnen etwas anbieten?“, erkundigte ich mich zuvorkommend. „Meine Sekretärin ist für ihren wirklich ausgezeichneten Kaffee bekannt.“ „Wir wollen Ihnen keine Umstände bereiten. Es ist sehr freundlich, dass Sie uns dazwischenschieben.“ Ich bat Trude einen Kaffee zu servieren und spitzte die Ohren, als mir die Kaufmanns vom Tod ihrer Tochter und den Umständen erzählten, die dazu führten.

„Simone hat meiner Frau vom Neuanfang erzählt, den sie und Anton in Wolfenbüttel machen wollten“, bekundete Heiko Kaufmann. „Die beiden wohnten bis vor etwa einem Jahr in Hamburg, nur zwei Straßen von uns entfernt. Anton hatte sie damals mit einer anderen Frau betrogen und sich schließlich für unsere Tochter entschieden. Als er dann in eine Filiale seiner Firma nach Braunschweig wechseln konnte, ergriffen sie die Gelegenheit, um alles hinter sich zu lassen. Aus genau diesem Grund glauben wir nicht an eine Affäre mit einem anderen Mann.“

„Sie sagten, die Polizei geht von einem erweiterten Suizid des vermeintlichen Liebhabers Ihrer Tochter aus“, wiederholte ich die Worte des potentiellen Klienten. „Haben Sie der Polizei Ihre Einwände mitgeteilt?“ Er winkte ab. „Dieser Kommissar Sinner verhielt sich äußerst stur. Er meinte, es gäbe keinen Zweifel am Tathergang. Die Spurenlage sei eindeutig und unser Schwiegersohn hätte ein Alibi, weil er angeblich zur Tatzeit auf einem Seminar in Hamburg war“, warf die Mutter der Toten ein.

„Ich kenne die Kommissare und bin mir sicher, dass sie das Alibi überprüft haben“, gestand ich Sinner und Schubert zu. „Unser Schwiegersohn habe wegen eines Staus im Elbtunnel keine Möglichkeit gehabt, in der verbleibenden Zeit nach Wolfenbüttel zu fahren, die Tat zu begehen und rechtzeitig in das Hotel zurückzukehren“, zweifelte der Vater der Toten an der Begründung der Kommissare. „Ich frage mich nur, weshalb er dann ein Zimmer in einem Hotel nimmt und nicht bei uns schläft.“

„Das ist allerdings merkwürdig“, runzelte ich die Stirn. „Wie ist denn Ihr beider Verhältnis zu Ihrem Schwiegersohn?“, hakte ich nach. „Nun ja, nachdem Anton unsere Tochter betrogen hatte, ist es etwas angespannt. Aber letztendlich halten wir uns aus der Ehe der beiden.“ „Ihre nicht gerade harmonische Beziehung zu Ihrem Schwiegersohn wird sicherlich der Grund sein, weshalb er sich für ein Hotelzimmer entschied“, schlussfolgerte ich. „Sorry, aber wir trauen dem Braten nicht“, widersprach mir Frau Kaufmann. „Der hat sich dort unter Garantie mit seiner alten Liebe getroffen. Sie wissen doch, Herr Lessing, alte Liebe rostet nicht.“

Es war keine große Sache, die Mutmaßung meiner potentiellen Klienten zu überprüfen. Zu diesem Zweck musste ich nicht einmal persönlich nach Hamburg fahren. Ich dachte da sofort an einen befreundeten Detektiv, der mir noch einen Gefallen schuldig war. Was mich allerdings viel stutziger machte, war die Tatsache, dass die Tote ganz offensichtlich selber einen Liebhaber hatte. Sinner und Schubert waren gute Ermittler. Wenn sie den Fall zu den Akten gelegt hatten, dann sicherlich erst nachdem sie alle anderen Wahrscheinlichkeiten eines gewaltsamen Todes überprüft hatten.

„Was erwarten Sie speziell von mir?“, stellte ich die Gretchenfrage. „Meine Frau und ich brauchen einfach Gewissheit, um mit dem Tod unseres Kindes abschließen zu können“, erklärte Heiko Kaufmann. „Das kann ich gut verstehen“, nickte ich dem sehr gefasst wirkenden Ehepaar zu. „Sie müssen sich allerdings darüber im Klaren sein, dass meine Recherchen auch Begebenheiten aufdecken könnten, die in Ihnen möglicherweise weiteren Kummer auslösen könnten“, spielte ich wie immer mit offenen Karten.

Die Eheleute sahen sich einen Moment lang in die Augen und bedeuteten mir schließlich, dass sie sich dessen bewusst waren. „Wir wollen wissen, weshalb unsere Tochter sterben musste. So wie es sich derzeit darstellt, kann es nicht gewesen sein.“ „Also gut, ich übernehme den Fall.“

Trude trug das Tablett mit dem frisch gebrühten Kaffee im richtigen Moment herein. „Was kosten Ihre Recherchen eigentlich?“, stellte Frau Kaufmann die Frage, auf die ich bereits gewartet hatte. „Das ist vom Umfang meiner Ermittlungen abhängig. In diesem Fall berechne ich keinen Stunden- sondern einen Tagessatz, der bei dreihundertfünfzig Euro liegt. Da kann es durchaus sein, dass ich schon mal vierundzwanzig Stunden im Einsatz bin. Hinzu kommen natürlich noch eventuell anfallende Spesen. Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass ich den Fall in drei Tagen oder einer Woche gelöst habe, dass wäre unseriös, aber ich kann Ihnen versprechen, keine unnötigen Kosten zu verursachen und Sie stets auf dem Laufenden zu halten.“

Die Eheleute sahen sich erneut in die Augen und nickten mir dann wortlos zu. Ich hatte also wieder einen interessanten Fall, an dem ich mir fast die Zähne ausbeißen sollte. „Sie haben nicht zu viel versprochen“, lobte Heiko Kaufmann. „Der Kaffee Ihrer Sekretärin ist wirklich äußerst schmackhaft.“ „Wie läuft das jetzt mit Ihrem Honorar?“, erkundigte sich meine Klientin. „Frau Berlitz wird Ihnen meine Bankverbindung mitteilen. Sie überweisen mir dann bitte den allgemein üblichen Vorschuss von drei Tagessätzen.“ „Gut, dann weiß ich Bescheid“, schien Frau Kaufmann einverstanden.

„Ich brauche dann Ihre Adresse und am besten Ihre Handynummer, sowie die Anschrift Ihrer Tochter. Ich nehme an, Sie bleiben wegen der Formalitäten noch einige Tage in Wolfenbüttel?“ „Unser werter Schwiegersohn besteht auf eine hiesige Beerdigung. Somit bleiben wir noch solange hier“, erklärte mein Auftraggeber erregt. „Wir sind im Hotel Kronprinz abgestiegen.“ „Gut, ich gehe davon aus, dass Sie schon recht bald von mir hören werden“, versprach ich, während wir uns erhoben und ich die Klienten in Trudes Sekretariat begleitete.

Ich überlegte mir, dass mir ein Blick in die Ermittlungsakte der Polizei einen ausgezeichneten Einstieg in den Fall verschaffen würde. Die Frage war nur, auf welchem Weg ich dieses erste Ziel erreichen konnte. Meinem Freund und ehemaligen Kollegen bei der Braunschweiger Kriminalpolizei konnte ich nicht schon wieder belästigen und Sinner brauchte ich mit einer solchen Bitte gar nicht erst kommen. Blieb nur Miriam übrig. Immerhin hatte ich Geburtstag und meine Zusage zur Teilnahme an dem dämlichen Tanzkurs stand ja auch noch aus.

Als ich daheim vorfuhr, traf ich auf den Rest meiner Familie. Miriam kehrte gerade erst samt Hund und Kinderwagen von ihrem Morgenspaziergang zurück. „Hast du schon Feierabend gemacht?“, fragte sie freudig überrascht. „Nein, ich habe heute Morgen einen dringenden Fall hereinbekommen“, entgegnete ich nicht ohne Hintergedanken. „Hauptsache, du bist heute Abend pünktlich“, reagierte Miriam in der erhofften Weise. „Ich weiß, du hast einen Tisch bei Yusuf bestellt“, tat ich nachdenklich.

„Leopold Lessing, wage es ja nicht, mich zu versetzen!“ „Nichts liegt mir ferner, mein Schatz, aber dieser Fall...“ Ich strich mir verlegen über den Nacken. „Mit etwas Hilfe deinerseits käme ich natürlich schneller voran.“ „Ach, daher weht der Wind!“, durchschaute die Staatsanwältin in ihr die kleine List natürlich sofort. Was nicht tragisch war, weil der Zweck bekanntlich die Mittel heiligt. „Du weißt, was ich davon halte, wenn du mich vor deinen Karren spannst“, reagierte Miriam nicht sehr erbaut. „Tja, da geht es mir mit dem Tanzkurs, den du mir geschenkt hast, ganz ähnlich“, gab ich zu bedenken.

Die nächsten Sekunden entschieden buchstäblich über Sieg und Niederlage. Das Lächeln meiner Liebsten signalisierte schließlich ihr Einlenken und somit ein Unentschieden. „Du bist heute Abend pünktlich?“, sah sie mich herausfordernd an. Ich nickte mit einem schweren Seufzer. „Der Tanzkurs läuft?“ Ich seufzte und nickte letztlich ein weiteres Mal.

„Also gut, um was geht es?“ „Erweiterter Suizid im Fall Bräutigam und Bötcher.“ Miriam sah mich mit Erstaunen an. „Ich hörte davon. Oberkommissar Sinner hat in der Sache ermittelt.“ „So ist es“, bestätigte ich. „Okay, das dürfte kein Problem sein. Ich schicke dir die Ermittlungsakte via Mail in die Detektei.“ „Danke.“ Ich drückte Miriam einen Schmatzer auf und wollte mich gerade wieder in die Richtung meines Autos drehen, als mich ein einziges Wort daran hinderte.

„Moment!“ Ich verharrte schlagartig in meiner Bewegung. „Du wolltest, dass Bea zu deinem Geburtstag bei uns ist, dann kümmere dich auch um sie.“ „Kannst du nicht...?“ „Nein!“, schnitt mir mein Schatz das Wort ab. Entsprechend der verwendeten Tonlage wusste ich, dass ich in dieser Hinsicht auf verlorenem Posten stand. Ohne weiteren Widerstand öffnete ich die Tür zur Rückbank und ließ Bea einsteigen. Was sich meine deutsche Dogge nicht zweimal sagen ließ, wenn es ums Autofahren ging.

„Aber setz dich nicht auf meinen Hut.“ Als sich Bea hochzufrieden zu mir herumdrehte, hatte sie den Stetson bereits zwischen ihren sabbernden Lefzen. Meine Bemühungen, den Hund zur Herausgabe zu bewegen, waren nicht gerade von Erfolg gekrönt. Allein Miriam amüsierte sich angesichts meiner untauglichen Versuche königlich. Natürlich hielt sie diese Momente mit ihrem Handy fest. Mir schwante Fürchterliches.

„Hallo Trude“, begrüßte ich meine Putzsekretärin. Bea stakste mir durch die Tür folgend in die Detektei. „Oh, Sie haben Ihren Hund dabei“, stellte Trude erstaunt fest. „Wie Sie sehen, trägt sie meinen Stetson. Bitte reinigen Sie das gute Stück und dann sehen Sie bitte im Mailpostfach nach, ob Ihnen meine Frau schon die Ermittlungsakte für unseren neuen Fall zugeschickt hat“, wies ich die gute Seele an. „Die liegt schon ausgedruckt auf Ihren Schreibtisch.“ Ein Pfiff entfleuchte meinen Lippen.

Mein Auftraggeber hatte mir das Ergebnis der polizeilichen Ermittlungen ziemlich umfassend weitergegeben. Wobei ihm Oberkommissar Sinner natürlich keine Einzelheiten mitgeteilt hatte. Die Tochter meines Auftraggebers wurde aus zwei Metern Entfernung frontal durch einen einzigen Schuss aus einer 9 mm Beretta getötet. An der linken Hand und dem Unterarm ihres Liebhabers wurden Schmauchspuren sichergestellt. Der zeitliche Abstand zwischen dem Mord an Simone Bötcher und Max Bräutigam betrug etwa eine Viertelstunde. Bei der Obduktion des Leichnams der Ermordeten fanden sich Rückstände einer Mahlzeit. Kartoffeln, Rinderhack, Tomate, Mehl, Aubergine, Knoblauch, Origano und Ei ließen auf das griechische Gericht Moussaka schließen. Da sich im Magen des Täters dieselben Zutaten fanden und deren Analyse klar ergab, dass die Toten aus demselben Topf gegessen hatten, musste Sinner davon ausgehen, dass sie ihre letzte Mahlzeit gemeinsam eingenommen hatten. Was für ein Ende, dachte ich mir.

Der Ordnung halber wurde das Alibi des Anton Bötcher überprüft. Der Rezeptionist des Hamburger Hotels Richmond konnte sich erinnern, ihn gegen 21 Uhr im Foyer gesehen zu haben. Da der Elbtunnel an diesem Abend wegen Bauarbeiten teilweise gesperrt war und sich aus diesem Grund in beide Richtungen Staus gebildet hatten, wäre es dem Ehemann auch mit dem Zug nicht möglich gewesen, in nur drei Stunden zum Tatort zu gelangen.

Die Auswertung der sichergestellten Handys durch die KTU erbrachte eine SMS, in der die Ermordete ihren Liebhaber um ein Treffen bittet. Es schloss mit den Worten: Wir müssen reden. Kein Wunder also, dass Sinner die Ermittlungen einstellte und den Fall schloss. Ein erweiterter Suizid lag so nahe, dass ich mich fragte, wo ich mit meinen Recherchen ansetzen sollte. Der einzige, der nach meinem derzeitigen Kenntnisstand ebenfalls ein Motiv hatte, war der gehörnte Ehemann der Toten. Um ein Gefühl für den Fall zu bekommen, musste ich mich mit dem Witwer treffen.

-4-

„Guten Tag, ich ermittle im Zusammenhang mit dem Tod Ihrer Nachbarin“, sprach ich eine ältere Dame an, die ich, auf dem Weg zu Bötcher zufällig in ihrem Garten antraf. „Sie haben ja sicherlich von der schrecklichen Tat gehört.“ „Was ist das für eine Rasse?“ erkundigte sie sich auf Bea deutend. „Eine deutsche Dogge.“ „Ein schönes Tier. Seitdem immer mehr von diesen Ausländern in unser Land gelassen werden, wird es auch immer unsicherer“, schimpfte sie. „Jetzt sind Mord und Totschlag schon in der Nachbarschaft angekommen. Mein Mann und ich trauen uns im Dunkeln nicht mehr aus dem Haus.“

„Wie kommen Sie denn darauf, dass ein Ausländer etwas mit dem Tod Ihrer Nachbarin zu tun haben könnte?“, erkundigte ich mich überrascht. „Da fragen Sie noch? Lesen Sie denn keine Zeitung? Die haben ihre Hände doch überall im Spiel.“ Ich schluckte meine Antwort auf diesen Blödsinn mit einem tiefen Seufzen hinunter. „Haben Sie Kontakt zu Ihren Nachbarn?“ „Na ja, wie das eben so ist. Guten Tag, guten Weg. Mehr war da eigentlich nicht“, erklärte die alte Dame. „Da haben Sie wohl nicht viel von der Ehe der Bötchers mitbekommen?“ Die Nachbarin zuckte mit den Achseln. „Die sind ja erst vor etwa einem Jahr hierhergezogen. Große Mühe, um mit Unsereiner ins Gespräch zu kommen, haben die sich nicht gegeben. Ich kann nur sagen, dass er ihr jedes Mal, wenn er ein paar Tage weg war, einen Strauß Blumen mitgebracht hat. Da kann sich mein Ernst eine Scheibe abschneiden. Aber der kommt ja gar nicht auf eine solche Idee.“

Sie sah zum Stall hinüber. „Der hockt ja lieber den ganzen Tag lang bei seinen Karnickel. Abends stinkt er dann wie einer von seinen Rammlern.“ Der Traum von einer glücklichen Ehe gehörte bei diesem Paar offensichtlich der Vergangenheit an. „Ich wäre niemals auf die Idee gekommen, dass die während der Abwesenheit ihres Mannes fremd geht“, flüsterte sie mir zu. „Der arme Herr Bötcher. Wahrscheinlich war das auch der Grund, weshalb die von Hamburg nach Wolfenbüttel zogen.“ „Wie kommen Sie denn darauf?“, hakte ich nach. „Na, das liegt doch auf der Hand. Weshalb sollte man wohl sonst aus der Großstadt in die Provinz ziehen?“ So ganz aus der Luft gegriffen schien ihre Überlegung nicht zu sein.

„Können Sie sich noch an die Tatnacht erinnern?“, stellte ich meine letzte Frage. „Na hören Sie mal. Bei dem ganzen Trubel am nächsten Morgen. Mein Mann kam ja kaum mit dem Wagen durch die Absperrung, als er mich zum Arzt fahren wollte.“ „Ist Ihnen am Abend jemand aufgefallen? Haben Sie ein fremdes Auto vor dem Haus der Bötchers parken sehen? Oder haben Sie in der Nacht die Schüsse gehört?“, erkundigte ich mich. „Ja genau so war´s“, entgegnete sie.

„Wie, äh?“, fragte ich verwirrt. „Na wir haben gesehen, wie der fremde Mann seinen Wagen parkte und im Haus verschwand“, präzisierte sie. „Gegen Mitternacht haben wir dann die Schüsse gehört. Erst den einen und eine ganze Weile später den zweiten und den dritten.“ „Drei Schüsse?“, hakte ich nach. „Ich bin mir nicht sicher, weil der dritte Schuss viel weiter weg war. Vielleicht irre ich mich auch und es waren mehr.“ „Weshalb riefen Sie nicht die Polizei, wo Sie doch so für Recht und Ordnung sind?“, bezog ich mich auf ihre absonderlichen Äußerungen zu Beginn des Gesprächs. „Das Feld und der Wald sind nah, da schießen die Jäger öfter mal auf Wildschweine.“ Endlich kam da mal eine Erklärung, die durchaus Sinn machte. „Wurden Sie eigentlich schon von der Polizei befragt?“, hakte ich nach. „Wie denn, wir waren doch den halben Tag lang bei meinem Arzt.“ Ich fragte mich, weshalb Sinner und Schubert eine solche Befragung nicht nachgeholt hatten. „Vielen Dank für Ihre Auskünfte.“

Den Ermittlungsakten zufolge, muss der fremde Mann Max Bräutigam gewesen sein. Zu ihm gehörte der vor dem Haus geparkte Wagen, der inzwischen in die Verwahrstelle der Polizei in der Ahlumer Straße gebracht worden war. Ich hoffte, Anton Bötcher daheim anzutreffen, denn ich war gespannt auf das, was er mir erzählen würde.

Die Haustür wurde erst nach mehrfachen Klingeln geöffnet. Zum Vorschein kam ein schwankender Mann mit zerzaustem Haar, unterlaufenen Augen und lallender Stimme. Kurz, ein Betrunkener. Er sah nicht so aus, als könnte er mir auch nur eine einzige meiner Fragen beantworten. „Es wird wohl das Beste sein, wenn ich später wiederkomme“, teilte ich dem Mann das Resultat des Eindrucks mit, den sein Zustand auf mich machte. „Wieso?“, überschlug sich seine Stimme. „Kommen Sie ruhig rein.“

Ich überlegte noch, ob ich seiner Einladung nachkommen sollte, als er mir auch schon in die Arme sackte. Der Mann brauchte meine sofortige Hilfe, so viel war klar. Der Kummer über den Verlust seiner Ehefrau schien ihn zum Alkohol getrieben zu haben. Ich hakte ihn unter und schleppte ihn in sein Wohnzimmer, wo ich ihn auf dem Sofa ablegte. Der Mann war völlig fertig. „Ich rufe am besten einen Krankenwagen“, erklärte ich, während ich mein Handy hervorkramte.

„Ich will keinen Arzt!“ „Sie haben wahrscheinlich eine Alkoholvergiftung“, versuchte ich ihn von der Notwendigkeit zu überzeugen. „Blödsinn, ich kann ja noch gerade gehen.“ Schon das Aufstehen klappte nicht. Er knickte ein und landete auf dem Teppich neben dem Sofa. Als ich ihm aufhalf, übergab er sich in hohem Bogen auf seine Kleidung. „Ich will duschen“, lallte er und robbte quer über den Fußboden. Am liebsten hätte ich die Kurve gekratzt, aber da gab es dieses ungeschriebene Männergesetz. „Okay, wo ist das Bad?“, erkundigte ich mich, während ich ihm gleichzeitig auf die Beine half.

Kurz darauf hatte ich ihn in seinen schmutzigen Klamotten in die Dusche gestellt und das kalte Wasser aufgedreht. Auch wenn er dadurch nicht nüchtern wurde, war er schlagartig um einiges klarer im Kopf. Entgegen der langläufigen Meinung, dass Kaffee nüchtern macht, wird der im Körper befindliche Alkohol am besten durch reichlich Bewegung und noch mehr Mineralwasser abgebaut. Zwei Stunden später war Anton Bötcher so weit, dass ich ein vernünftiges Gespräch mit ihm führen konnte.

„Wie ich bereits sagte, bin ich Privatermittler. Ich arbeite zwar häufig mit der Polizei zusammen, recherchiere aber in diesem Fall für jemand anderen. Ich nehme an, dass die restlose Aufklärung der Umstände, die zum Tod Ihrer Frau führten, auch in Ihrem Interesse liegt.“ „Ja natürlich“, bestätigte Anton Bötcher, weil ich ihm durch die Art meiner Fragestellung keine andere Wahl ließ. „Ich verstehe nur nicht, weshalb Sie das Ergebnis der polizeilichen Ermittlungen anzweifeln. Demnach soll es doch wohl keinen Zweifel geben, dass dieser Bräutigam meine Frau erschoss, weil sie die Affäre beenden wollte.“ „Es sind Widersprüche aufgetaucht, die unbedingt weitere Recherchen notwendig erscheinen lassen“, erläuterte ich.

„Was soll das heißen?“, krauste sich die Stirn meines Gegenübers. „Ich kann Ihnen leider noch nichts Konkretes sagen, aber es könnte sich alles völlig anders zugetragen haben“, hielt ich mich bedeckt und schürte gleichzeitig seine Neugier. Eine gewisse Anspannung signalisierte mir sein Interesse. „Was machen Sie beruflich, Herr Bötcher?“, begann ich mit der Befragung. „Ich arbeite für ein bekanntes Pharmaunternehmen.“ „Deshalb sind Sie viel auf Reisen“, schlussfolgerte ich. Der Witwer nickte. „Ich stelle den Kliniken in Norddeutschland neuartige Geräte und Behandlungstechniken vor“, erklärte er. „Demnach diente das Seminar in Hamburg der Weiterbildung?“, schlussfolgerte ich. „So ist es“, bestätigte er. „Weshalb sind Sie vor einem Jahr von Hamburg nach Wolfenbüttel gezogen?“ „Ich weiß zwar nicht, was diese Frage mit dem Tod meiner Frau zu tun hat, aber bitte. Ich bekam ein interessantes berufliches Angebot.“

„Sind Sie nie auf den Gedanken gekommen, Ihre Frau könnte Ihre berufsbedingten Reisen für eine Affäre nutzen?“ „Nein!“, entgegnete Bötcher klar und deutlich. „Unsere Ehe funktionierte gut. Es gab keinen Grund für Simone, um fremdzugehen.“ „Und dennoch tat sie es“, konfrontierte ich ihn mit der Wahrheit. „Ja, es sieht ganz so aus“, stimmte er mir schweren Herzens zu. „Kannten Sie den Mann eigentlich?“, hakte ich nach. Mein Gesprächspartner schüttelte den Kopf. „Ich habe den Mann nie zuvor gesehen. Es ist so, als würde ich meine eigene Frau nicht mehr kennen.“

Ich war mir noch nicht hundertprozentig sicher, ob ich Bötchers Worten trauen konnte, aber wenn er mich belogen hatte, hatte er seine Mimik dabei perfekt unter Kontrolle. Es gibt einige Reaktionen, die einen Lügner entlarven. Eine recht zuverlässige Geste ist beispielsweise der zwanghafte Blick nach links oben. Eine von mehreren Verhaltensweisen, die auf jeder Schulung zum Kommissar ausführlich gelehrt werden.

„Ihnen dürfte sicherlich bekannt sein, dass Ihre Frau von dessen Freundin, einer gewissen Nele Anschütz, entdeckt wurde“, leitete ich meine nächste Frage ein. „Kommissar Sinner erwähnte es“, bestätigte der Pharmazievertreter. „Wie stehen Sie zur Freundin Ihrer Frau?“ Er zuckte leicht mit den Achseln, blies etwas Luft aus dem Mund und überlegte, ehe er eine Antwort gab. „Ich weiß, dass meine Frau seit etwa einem Jahr mit Frau Anschütz befreundet war. Im Grunde habe ich sie kaum zu Gesicht bekommen. Abgesehen davon, dass die beiden zusammen joggten, traf sich Simone eigentlich immer nur dann mit ihr, wenn ich auf Reisen war. Ich habe die Frau etwa fünf, sechs Mal gesehen.“ Ich stutzte. „Sie haben nie etwas gemeinsam unternommen?“ „Es gab nie einen Anlass.“ „Gut, das war es dann auch schon. Vielen Dank für Ihre Unterstützung.“

Ich konnte kaum glauben, was er mir erzählte, aber weshalb sollte er lügen? Es sei denn, er wollte nicht mit Nele Anschütz in Verbindung gebracht werden. Was wiederum darauf schließen ließ, dass der Witwer und die Freundin der Toten ebenfalls etwas am Laufen haben könnten. Ein mögliches Motiv würde sich in diesem Fall allerdings ändern. Zum einen interessierte mich nun, wie teuer ihm eine Scheidung gekommen wäre, zum anderen, ob es tatsächlich eine Beziehung zu Nele Anschütz gab.

Ich erhob mich, um zu gehen, als mir ein fehlendes Sofakissen auffiel. „War das Sofa schon immer so?“, fragte ich den immer noch ziemlich angeschlagenen Hausherrn. Der sah mich irritiert an. „Was meinen Sie?“ Ich deutete auf den Ottomanen. „Gehört dort nicht noch ein Kissen dazu?“ „Jetzt wo Sie es sagen, fällt es mir auch auf.“ Er zuckte mit den Achseln. „Keine Ahnung wo es abgeblieben ist.“ „Na ja, es ist ja wahrscheinlich auch nicht so wichtig.“ Anton Bötcher wollte sich ebenfalls erheben, geriet aber leicht ins Straucheln. „Bleiben Sie ruhig sitzen, ich finde allein hinaus.“

Beim Einstieg in meinen Wagen warf ich noch einen letzten Blick auf das ansehnliche Einfamilienhaus der Bötchers. Es befand sich am nördlichen Ende der Dr.-August-Wolfstieg-Straße. Das ganze Viertel am oberen Rand des „Kaltes Tal“ existiert erst seit wenigen Jahren. Von hier aus kann man herrlich zum und im Oderwald joggen. Einige Wege, die am Feldrand entlangführen, werden von den Anwohnern gern zum Spazierengehen genutzt. Sie verbinden zwei Spielplätze miteinander.

Ich überlegte, ob dies auch für Miriam und mich das richtige Fleckchen Erde wäre. Falls Anton Bötcher wieder nach Hamburg zurückkehren wollte, könnte man ihm eventuell ein Angebot machen. Ich nahm mir vor, am Sonntag mit Miriam und Ramona hier spazieren zu gehen. Viel Zeit blieb uns leider nicht bis zur Kündigung unserer Wohnung und dem Abriss des Mietshauses. Abgesehen davon wurde der Platz in unserer Wohnung zusehends kleiner.