Detektei Lessing

 

Band 48

 

Finden Sie meinen Mörder

-1-

Es war der frühe Morgen eines verregneten Frühlingstages, als eine Frau Mitte fünfzig die Anmeldung meiner Detektei betrat. Sie wirkte gehetzt und verängstigt. „Guten Tag, ist Herr Lessing zu sprechen?“ „Meine Güte, Sie sind ja völlig durchnässt“, entgegnete Trude besorgt. „Ja, der Chef ist da, aber im Augenblick befindet er sich gerade in einer Besprechung mit einem Klienten. So pitschnass wie Sie sind, sollten wir die Zwischenzeit nutzen und Sie erst einmal trockenlegen, Am Ende holen Sie sich sonst noch den Tod“, meinte sie es gut. So fertig wie die Frau in diesem Moment war, begann sie jedoch wegen Trudes Äußerung zu weinen. „Ich hole ein Handtuch“, erklärte meine Azubine, während sie sich von ihrem Schreibtisch erhob.

„Am besten, Sie setzen sich erst einmal und holen Luft“, bot ihr Trude inzwischen einen Platz im Wartebereich an. „Aber dann mache ich alles nass“, zierte sich die Frau. „Das lassen Sie mal meine Sorge sein“, wiegelte Trude mit einer lapidaren Handbewegung ab. Die nach wie vor zittrig wirkende Frau folgte den Worten meiner Putzsekretärin und ließ sich auf einen der Stühle nieder. „So, hier ist das Handtuch“, kehrte Leonie aus der Küche zurück. „Ich habe gar nicht mitbekommen, dass es so heftig regnet“, bemerkte sie. „Auf die Wetter-App kann man sich nicht verlassen.“

„Sie müssen bedenken, dass solche Fotos lediglich eine geringe Beweiskraft vor Gericht haben“, erklärte ich meinem Klienten, während wir mein Büro verließen. „Besser Sie suchen das Gespräch mit Ihrem Nachbarn“, riet ich ihm. „Niemals! Mit diesem Kretin kann man kein normales Gespräch führen“, entgegnete der streitsüchtige Mann leider unbelehrbar. „Nein, nein, es bleibt wie besprochen.“ „Wie Sie meinen“, zuckte ich mit den Achseln. „Schließlich zahle ich Ihnen eine ganze Stange Geld dafür“, erinnerte mich mein Auftraggeber. Mir war es letztlich recht. Auch wenn ich zugeben muss, dass mir sein Nachbar eigentlich leidtat.

Nachdem ich Herrn Ringer verabschiedet hatte, widmete ich mich der Dame im Wartebereich. Es war mir nicht entgangen, wie fahrig die Frau vor sich hinstarrte. „Können Sie Frau Rettig zwischenschieben, Chef?“, signalisierte mir Trude in vertrauter Weise, dass die Angelegenheit der Dame keinen Aufschub duldete. Da ohnehin nicht allzu viel zu tun war, wie eigentlich meistens und mich der Anblick der Frau neugierig machte, bat ich sie in mein Büro.

„Was führt Sie zu mir, Frau Rettig?“ Sie hielt sich die Hand vor den Mund und sah mich aus verweinten Augen an. Ihr von Panik getriebener Blick spiegelte ihre Angst wider. „Bitte, finden Sie meinen Mörder.“ Meine Stirn krauste sich. Ich war mir nicht sicher, ob ich die Frau vor meinem Schreibtisch richtig verstanden hatte. „Ich fürchte, dass müssen Sie mir genauer erklären.“ Renate Rettig holte einige Male tief Luft, ehe sie Worte fand. „Es geht nun schon seit einigen Wochen. Am Anfang maß ich dem Ganzen keine Bedeutung bei, doch inzwischen bin ich mir sicher, dass mich jemand töten will.“

„Wie kommen Sie darauf?“, fragte ich verwundert. Die Frau öffnete ihre Handtasche und entnahm dieser einige Zettel, die sie vor mir auf den Schreibtisch legte. „Damit fing es an.“ Ich sah mir ein Blatt nach dem anderen an. Auch wenn die Botschaften nicht mit einem Datum versehen waren, konnte ich ihre vermutliche Reihenfolge an der zunehmenden Aggressivität erkennen, die der Verfasser in seinen Formulierungen verwendete. „Offenbar erlaubt sich da jemand einen bösen Scherz.“ „Ich bin nun wirklich nicht so leicht zu beeindrucken, Herr Lessing, aber als immer neue und gemeinere Beschimpfungen hinzukamen, begann ich mir Sorgen zu machen.“ „Das kann ich gut verstehen, dennoch bin ich noch nicht von der Ernsthaftigkeit der Drohungen überzeugt.“

Renate Rettig sah mich lächelnd an. Ich stutzte. Ihre Mimik verriet Enttäuschung, aber auch ein Stück weit Verständnis für meine Reaktion. „Das gleiche hat mir der Kommissar bei der Polizei auch gesagt.“ Ich fühlte mich bestätigt. „Ich gehöre schon wegen meines Berufs nicht zu den Menschen, die übertrieben ängstlich sind, aber als mich vor etwa zwei Wochen jemand beim Warten an einem Fußgängerüberweg auf die Straße schubste, als sich ein Bus näherte, wusste ich, dass die Drohungen ernst gemeint sind.“ „Und Sie sind sich sicher, dass Sie jemand absichtlich schubste?“, hakte ich nach. „Waren Sie mal bei der Polizei?“, beantwortete sie meine Frage mit einer Gegenfrage. „Sie stellen die gleichen Fragen wie der Kommissar.“ „Bei der Kriminalpolizei“, entgegnete ich. „Natürlich sind es stets ähnliche Fragen, die ein Ermittler stellt, aber auch wenn ich Ihrem Problem kritisch gegenüberstehe, heißt das nicht, dass ich Ihnen nicht glaube.“

„Das war längst noch nicht das Ende“, fuhr sie fort. „Als ich am nächsten Tag von der Arbeit nach Hause kam, fand ich die Türklinke meiner Haustür mit Blut verschmiert vor.“ „Haben Sie ein Foto davon gemacht?“ Sie verzog frustriert das Gesicht. „In diesem Augenblick habe ich an alles Mögliche gedacht, aber leider nicht daran.“ „Gab es weitere Vorkommnisse?“, wurde ich nun doch neugierig. „Und ob“, bestätigte sie. „Es ging mit einem toten Vogel in meinem Briefkasten weiter.“ Sie griff zu ihrem Handy. „Von diesem Zeitpunkt an habe ich alles fotografiert. Sehen Sie selbst.“

Meine potentielle Klientin reichte mir ihr Handy. Auf dem Foto war ein Spatz zu sehen, dem jemand den Kopf herumgedreht hatte. Das nächste Foto zeigte einen Karton, in dem ein Beutel mit Fäkalien zu sehen war. In einem weiteren Paket waren es irgendwelche blutverschmierte Innereien. „Kamen die Pakete mit der Post?“, fragte ich nach. „Ich kann es Ihnen nicht sagen. Als ich morgens das Haus verließ, oder von der Arbeit kam, standen sie vor der Haustür.“ „Wer auch immer Sie da auf dem Kieker hat, ist nicht dumm. Er hinterlässt keine offensichtlichen Spuren.“ „Bevor Sie danach fragen, ich habe die Inhalte der Pakete leider weggeworfen. Der Kommissar fragte auch danach, aber es war so ekelig.“ „Das ist nachvollziehbar“, zeigte ich Verständnis.

„Die Fotos müssten eigentlich ausreichen, damit die Polizei aktiv wird“, mutmaßte ich. „Aktiv ist nicht so ganz das richtige Wort für die Bemühungen, die der Kommissar in den nächsten zwei Wochen an den Tag legte. Außer dass meine Nachbarn nach ihren Beobachtungen befragt wurden, tat sich eigentlich nichts. Dafür bin ich inzwischen zum Gespött der Siedlung geworden“, seufzte sie. „Nach zwei Wochen erhielt ich Post von der Staatsanwaltschaft. Die Ermittlungen waren eingestellt. Offenbar muss man erst den Kopf unter dem Arm tragen, damit unsere Polizei die Sache ernst nimmt.“

„Ich kann Ihren Frust verstehen, aber auch wenn sich die Kollegen da nicht gerade mit Ruhm bekleckert haben, ist gerade die Dienststelle in Wolfenbüttel derzeit chronisch unterbesetzt“, versuchte ich eine Brücke für den Kommissar zu brechen. „Wissen Sie noch den Namen des Beamten?“ „Schubert“, entgegnete sie merklich enttäuscht. Der Kollege von Oberkommissar Sinner war mir gut bekannt. Im Grunde kein schlechter Mann, wenn auch gelegentlich etwas zu oberflächlich. „Gab es weitere Vorkommnisse?“ „Wenn Sie das Gefühl meinen, was ich habe, weil ich ständig von jemand verfolgt werde, oder die täglichen Telefonanrufe, bei denen sich nie jemand meldet, dann muss ich Ihre Frage mit ja beantworten.“

„Dass Sie mit den Nerven runter sind, kann ich verstehen. Leider deuten diese Beweise nicht auf ein bevorstehendes Tötungsdelikt, sondern lediglich auf eine geschmacklose Nachstellung“, seufzte ich. „Wenn es sich bei dem Schubser am Fußgängerüberweg tatsächlich um eine vorsätzliche Tat handelt, bereitet mir dies wirklich Sorge.“ „Sie glauben mir also?“ „Wurden die Kartons, die Sie vor Ihrer Haustür fanden, von der Polizei auf Spuren untersucht?“, wich ich ihrer Frage aus. „Sie haben die Kartons doch noch?“ „Ja, ich habe sie aufgehoben und nein, die Polizei hat sich nicht dafür interessiert.“

„Also gut, ich glaube Ihnen. Wenn Sie wollen, dass ich den Fall übernehme, müssen Sie mir zunächst die Ermächtigung unterschreiben, dass ich in Ihrem Namen tätig werden darf. Hinsichtlich meines Honorars darf ich Sie bitten, für drei Tagessätze in Vorkasse zu treten. Die erforderlichen Modalitäten besprechen Sie bitte anschließend mit meiner Sekretärin.“ „Ich danke Ihnen dafür, dass Sie mich ernst nehmen.“

„Sie hätten mich sicher nicht aufgesucht, wenn Sie sich nicht in Gefahr wähnten.“ Renate Rettig nickte mir dankbar zu. „Zunächst sollten wir alles sichern, was Ihnen als Beweismaterial bei einer möglichen Gerichtsverhandlung dienen kann. Dazu werde ich anschließend mit Ihnen nach Hause fahren und die Pakete an mich nehmen. Nun würde ich gern die Fotos von Ihrem Handy auf meinem Computer sichern.“ Während ich ihr Smartphone mit einem Kabel versah, erkundigte ich mich nach dem Ort, an dem der Anschlag auf sie geschah. Mit etwas Glück gab es in der Nähe des Tatorts eine Überwachungskamera.

„Ich stand an der Ecke ‚Breite Herzogstrasse‘ und wollte diese in Richtung Fußgängerzone überqueren“, erklärte sie. „Sie kamen also von der Volksbankseite“, rekapitulierte ich. „Genau“, bestätigte sie meine Schlussfolgerung. „Da gibt es natürlich oft Gedränge“, sprach ich aus Erfahrung. „Leider zeichnet die Kamera der Volksbank den Fußgängerüberweg nicht auf“, überlegte ich. „Gibt es einen Zeugen?“ Meine Klientin dachte angespannt nach. „Vielleicht der Busfahrer?“, erwog sie nachdenklich. „Der musste heftig in die Eisen gehen, um mich nicht zu überfahren.“ „Haben Sie den Namen?“ Frau Rettig schüttelte den Kopf. „Es war ja nichts weiter passiert und der Busfahrer musste ja auch weiter.“ „Aber Sie wissen noch den genauen Zeitpunkt des Vorfalls?“ „Dafür müsste ich in meinem Terminplaner nachsehen“, stutzte sie. „Aber ja, ich bin mir sicher, mir den Termin bei der Physiotherapie notiert zu haben.“ „Dann bekomme ich den Namen auch so raus. Der Fahrer könnte ein wichtiger Zeuge sein.“

Ihre Stirn krauste sich. „Von den anderen Passanten, die neben und hinter mir standen, müsste bestimmt noch jemand die Person gesehen haben, die mich stieß“, mutmaßte sie. „Möglich wäre es, aber machen Sie sich bitte keine großen Hoffnungen. Die Anonymität in der Masse wirkt wie eine Wand, hinter der man sich prima verstecken kann. Selbst wenn einer der Passanten etwas gesehen hat, wird er sich nicht melden, weil er davon ausgeht, dass der, der neben ihm stand, sich sicherlich melden wird.“ „Ja, die Menschen sind gegenüber anderen gleichgültig geworden. Jeder kocht seine eigene Suppe.“ „Da sagen Sie was“, seufzte ich.

„Kommen wir zu der Frage, wer Ihnen etwas Böses will. Sie werden sich dies sicherlich bereits selber gefragt haben“, suggerierte ich. „Mehr als einmal“, bestätigte die Frau vor meinem Schreibtisch. „Sind sie möglicherweise jemandem auf die Füße getreten?“ Frau Rettig sah mich ächzend an. „Hunderten, Herr Lessing. Das bringt mein Beruf so mit sich.“ „Was um Himmels Willen arbeiten Sie denn?“, hakte ich reichlich verwundert nach. „Ich bin Gerichtsvollzieherin.“ Es trieb mir einen kalten Schauer über den Rücken. „Damit rangieren Sie in der Skala der beliebtesten Wolfenbütteler sicherlich eher im unteren Bereich“, stellte ich fest. „Leider bedeutet dies auch, dass damit auch eine ganze Menge Arbeit auf uns zukommt.“

Renate Rettig sah mich irritiert an. „Auf uns?“ „So ist es. Nur Sie können wissen, mit welchem ihrer Klienten es mehr als den üblichen Ärger gab.“ „Sie sprechen von Anfeindungen und Drohungen?“ Ich nickte. „Nach dreißig Berufsjahren wird diese Liste sicher mehr als zehn Meter lang.“ Meine schlimmste Befürchtung war weit übertroffen. „Es würde eine Ewigkeit dauern, bis ich die Personen darauf überprüft hätte. Nein, ich denke der Zeitraum der letzten zwei Jahre ist ausreichend. Meiner Erfahrung nach würde ein Racheplan während dieser Zeitspanne umgesetzt oder aber er hat sich für die betreffende Person erledigt.“ „So einfach?“ Ich zuckte mit den Achseln. Irgendwo müssen wir eine Grenze ziehen.“

„Wie geht es jetzt weiter, Herr Lessing?“ „Während Sie mit meiner Sekretärin die Modalitäten besprechen, werde ich mit Herrn Schubert telefonieren. Danach würde ich Sie gern nach Hause fahren, um mit Hilfe Ihres Terminplaners den Zeitpunkt des Attentats herauszufinden und um die Kartons abzuholen. Wir hatten vorhin darüber gesprochen. Die Liste Ihrer potentiellen Widersacher brauche ich dann bis morgen Vormittag.“ Meine Auftraggeberin nickte zufrieden. „Es ist wirklich ein gutes Gefühl, wenn man ernst genommen wird und sich endlich etwas tut.“ „Dafür bin ich da.“

Während Trude wie abgesprochen alle notwendigen Daten aufnahm, kontaktierte ich Kommissar Schubert. „Hallo Tim, hier Leo, ist dein Kollege Schubert zu sprechen?“ „Weshalb rufst du mich an, wenn du den Kollegen sprechen willst?“, zeigte sich der Oberkommissar verwundert. „Wahrscheinlich habe ich seine Telefonnummer nicht griffbereit.“ „Du hast Pech, mein Freund, Schubert ist im Außeneinsatz.“ „Okay, vielleicht kannst du mir ja auch weiterhelfen.“ „Schieß los.“ „Es geht um Renate Rettig. Sagt dir der Name etwas?“ „Aber ja, das ist doch diese Gerichtsvollzieherin, die sich bedroht fühlt.“ „Ja genau“, bestätigte ich. „Da ist nichts dran. Schubert ist der Sache nachgegangen. Er geht davon aus, dass sich einer ihrer ehemaligen Schützlinge verbal rächen will. Er hat ihr geraten, die Sache nicht so ernst zu nehmen und dass sie sich nicht ins Bockshorn jagen lassen soll.“

Ich schüttelte innerlich den Kopf. „Macht ihr es euch da nicht etwas zu leicht?“, bekundete ich mein Unverständnis. „Mich musst du aus der Nummer rauslassen, da hat allein Schubert ermittelt. Aber mal ehrlich, wenn der Typ merkt, dass er keinen Erfolg hat, wird er seine Bemühungen sicherlich sehr schnell einstellen.“ „Hat er nicht. Die arme Frau saß mir gerade ziemlich angeschlagen gegenüber. Sie fühlt sich von der Polizei im Stich gelassen.“ „Du weißt ebenso gut wie ich, dass wir uns nicht um jede Lappalie kümmern können. Sei doch froh, so klingelt es wenigstens in deiner Kasse.“ „So siehst du das?“, fragte ich angekratzt. „Na ja, sei mir bitte nicht böse, aber ich muss los. Melde dich, wenn du in der Sache etwas Konkretes hast.“

Ich beendete irritiert das Gespräch. „Ganz sicher nicht!“, bekundete ich stinksauer, während ich das Handy einsteckte und mein Büro verließ. Meine Enttäuschung über den Oberkommissar stand mir ins Gesicht geschrieben. Frau Rettig wartete bereits auf mich. „Wie ich sehe, sind Sie mit dem Schriftkram bereits fertig“, versuchte ich mir den Ärger nicht anmerken zu lassen. Die Furchen zwischen meinen Augenbrauen sprachen jedoch eine eindeutige Sprache. So reagierte Leonie ungewöhnlich folgsam, als ich sie aufforderte, uns zu begleiten.

Während unserer Fahrt nach Linden erinnerte ich mich an meinen allerersten Fall als Detektiv. Er führte mich damals ebenfalls in das ‚Lindenfeld‘. Es ging um eine blutige Erbschaftsauseinandersetzung. Kein einfacher Fall, aber letztlich zumindest mit einem guten Ende für die Gerechtigkeit.

-2-

Das Haus von Renate Rettig befand sich so ziemlich am Ende eines Bogens, der die Straße aus nördlicher in östliche Richtung verbog. Zwischen ihrem Haus und der Straße, die nach Neindorf führt, sah ich einen Acker in dreieckiger Form. In westlicher Richtung gab es seit kurzem einen Kreisel, der das Neubaugebiet oberhalb der Okertalsiedlung erschließt. Seit damals hatte sich hier einiges verändert. Dann dachte ich an meine Jugendzeit zurück und an die Abende, die ich zusammen mit einem Freund in dessen VW Käfer auf dem ‚Mäuseberg‘ verbrachte. CB-Funk war das Medium der Zeit. Erpel 22 lautete mein Skip. Ich weiß es wie heute, denn es war eine unbeschwerte Zeit.

Ich stoppte meinen Wagen hinter dem meiner Klientin am rechten Fahrbahnrand vor ihrem Grundstück. Ein kleines, aber feines Häuschen stand darauf. Hier und da gab es das eine oder andere zu reparieren, auf- oder wegzuräumen, aber im Großen und Ganzen machte ihr Domizil einen gepflegten Eindruck. Allerdings war das Haus sicherlich auch noch nicht älter als zwanzig Jahre.

„Bewohnen Sie das Haus allein?“, erkundigte ich mich, während meine Auftraggeberin die Haustür aufschloss. „Nachdem mein Mann vor zehn Jahren an Krebs verstarb, wollte ich mich nicht wieder binden. Hans war die Liebe meines Lebens“, erzählte sie quasi zwischen Tür und Angel. „Gehen Sie doch schon mal ins Wohnzimmer. Ich hole inzwischen die Kartons aus dem Keller.“ Leonie und ich sahen uns gerade die gerahmten Fotos auf den Kommoden und an den Wänden an, als uns ein spitzer Schrei alarmierte. Renate Rettig hielt sich an einem der Garderobenhaken fest, die neben der geöffneten Tür zur Kellertreppe angebracht waren.

Während sich Leonie um unsere Auftraggeberin kümmerte, ging ich der Ursache ihres Schreiens nach. Ein Blick nach unten reichte völlig. Etwa auf halber Höhe baumelte eine tote Ratte an einer Drahtschlinge. Auf der sich darunter befindenden Stufe hatte sich eine kleine Blutlache gebildet. Eine Szene, die an Geschmacklosigkeit nur schwer zu überbieten war.

Wer auch immer für diese abscheuliche Posse verantwortlich war, musste die Abwesenheit von Frau Rettig genutzt haben, um in ihr Haus einzubrechen. Dabei kam ihm sicherlich die Nähe zur hinter dem Haus gelegenen Wiese sehr gelegen. Das angrenzende Buschwerk bot ausreichend Deckung, um sich auch am Tage ungesehen anzuschleichen. Ich wies Leonie an, sich um unsere Klientin zu kümmern und ging auf die Suche nach der Einbruchstelle. Irgendwo musste ihr Widersacher ja ins Haus gelangt sein.

Da sich auch nach mehr als einer Stunde intensiver Suche, trotz meiner Erfahrung aus über dreißig Berufsjahren nicht die kleinste Spur eines gewaltsamen Aufbruchs gefunden hatte, blieb die Schlussfolgerung, dass sich der Eindringling mittels eines Nachschlüssels Zutritt verschafft haben musste.

„Sie meinen, der Kerl besitzt einen Schlüssel zu meinem Haus?“, fragte mich Renate Rettig entsetzt. „Ich kann keine Einbruchsspuren entdecken. Es wäre also die einzig plausible Erklärung. Sie werden nicht drum herumkommen und die Zylinder der Haustür und der Kellertür auszuwechseln.“ Die Klientin war schockiert. „Aber da kommt doch heute kein Handwerker mehr“, reagierte sie besorgt. „Das ist allerdings ein Problem“, gab ich ihr recht. „Können Sie die Schlösser nicht einbauen?“, flehte sie mich an. „Normalerweise machen wir so etwas nicht, aber in Anbetracht der Situation mache ich mal eine Ausnahme.“ Meine Auftraggeberin bedankte sich überschwänglich.

Ich baute die Zylinder aus und fuhr in den Baumarkt. Leonie blieb solange als Personenschutz zurück. Bei dem Gedanken an ihre Qualitäten als Judokämpferin musste ich mir keine Sorgen um die Klientin machen. Nach weniger als zwei Stunden waren die neuen Zylinder eingebaut und zwischen der Buchse ihres Festnetzanschlusses und dem Telefon war ein Aufzeichnungsgerät mit Nummernspeicher geschaltet. Falls der Stalker oder was immer die Person auch war erneut anrief, würde seine Nummer und das Gespräch gespeichert. Beides gab unserer Auftraggeberin genügend Sicherheit, um sich in ihrem Haus allein aufhalten zu können. Letztlich machten wir uns mit dem Datum des Anschlags und den sichergestellten Kartons auf den Weg in die Detektei.

„Ist schon eine ziemliche Sauerei, eine alte Frau auf diese Weise anzugehen“, schimpfte meine Azubine. „Ich frage mich die ganze Zeit, wie die Person an den Schlüssel kam, um ihn nachmachen zu lassen“, weihte ich Leonie in meine Gedanken ein. „Vielleicht ist Frau Rettig in einem Verein oder bei einem Fitnessclub angemeldet?“, überlegte sie. „Gute Idee“, lobte ich. „Sagte sie nicht, sie sei am Tag des Anschlags auf dem Weg zu ihrem Physiotherapeuten gewesen?“, ergänzte ich die Liste der Möglichkeiten. „Wir müssen sie unbedingt fragen, ob es sich dabei um den ersten Termin handelte“, überlegte Leonie. „Ich werde sie nachher noch anrufen“, versprach ich.

Frau Rettig hatte sich mächtig ins Zeug gelegt. Bereits am späten Nachmittag desselben Tages hatte sie uns die Liste gemailt, in die sie alle Namen von Personen eintragen sollte, die sie während der letzten zwei Jahre im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit bedroht hatten. Da der Fall eilig war, machten sich Trude und Leonie sofort an deren Überprüfung. Was war aus den Personen geworden? Hatten sie Hab und Gut verloren? Hatte sich der Partner von ihnen getrennt? Waren Sie womöglich aufgrund ihrer Schulden mit einer Haftstrafe belegt worden? Alles Gründe, die so manchem ausreichen, um den in ihren Augen Schuldigen zu betrafen.

Nachdem mir meine Auftraggeberin von ihren Hobbys und Freizeitaktivitäten berichtet hatte, sammelte ich die Namen all der Personen, mit denen sie bei der Gelegenheit zusammengekommen war. Dazu gehörte der Masseur ebenso wie die Sprechstundenhilfe bei ihrem Hausarzt oder der Hausmeister im Gericht. Nach etlichen Stunden intensiver Fleißarbeit hatten wir nicht einen einzigen Treffer. Keiner der Namen fand sich auf der Liste wieder. Entweder hatte sich Frau Rettig ihren Feind nicht im Beruf gemacht, oder wir hatten irgendetwas übersehen.

„Feierabend für heute!“, rief ich gegen 21 Uhr in die Runde. „Heute Abend kommen wir ohnehin nicht weiter. Ich schlage vor, dass wir morgen erst um 10 Uhr anfangen. Bis dahin habe ich noch einmal mit Frau Rettig über weitere Personen gesprochen, mit denen sie im Laufe der letzten Jahre zusammentraf.“ „Einer von ihnen muss ja am Ende den Schlüssel nachgemacht haben“, resümierte Trude. „Vielen Dank für eure Zeit. Eine gute Nacht und dann bis morgen.“

„Na, lässt du dich auch mal sehen?“, erkundigte sich Miriam, nachdem ich das Wohnzimmer betrat. „Ich dachte schon, ihr würdet die ganze Nacht durcharbeiten.“ „Danke für dein Verständnis. Anders als Kommissar Schubert bin ich davon überzeugt, dass sich meine Klientin in ernster Gefahr befindet.“ Mein Schatz sah mich fragend an und so erzählte ich ihr mit wenigen Worten, um was es ging.

„Es ist natürlich nicht leicht, in einem solchen Fall, in dem sich ein Polizist lediglich aus der Aussage eines vermeintlich betroffenen Opfers eine Meinung bilden muss, richtig zu entscheiden. Gerade in einer knapp besetzten Dienststelle wie der in Wolfenbüttel musste Schubert seine Entscheidung sicherlich auch von der Dringlichkeit des Falles anhängig machen.“ „Kein Mensch macht Schubert einen Vorwurf, aber wenn die Bedrängnis, der sich Frau Rettig ausgesetzt fühlt, ein Maßstab für eine Strafverfolgung sein muss, dann läuft etwas in unserem Polizeiapparat falsch.“

Miriam verstand meine Unzufriedenheit, musste die Situation aber auch aus der Sicht der Staatsanwaltschaft sehen. Was bedeutete, dass jeder Polizeieinsatz natürlich auch einen Unkostenfaktor darstellt, für den sich am Ende jemand rechtfertigen muss. „Es ist gut, dass du dich der Sache angenommen hast“, lenkte Miriam ein. „Falls doch mehr dahintersteckt, weißt du ja, dass ich stets ein offenes Ohr für dich habe.“ Ich drückte ein Auge zu und sah meinen Schatz aus dem anderen skeptisch an. „Falls ich also deine Unterstützung brauche, kann ich auf dich zählen?“ „So war es gedacht“, hauchte sie, während sie mein Glas mit Rotwein füllte. Es schien doch noch ein schöner Abend zu werden.

-3-

Es war schon dunkel, als Renate Rettig gegen 22 Uhr zu ihrem allabendlichen Spaziergang aufbrach. Eine ihrer liebgewordenen Gewohnheiten, um die sie sich auch durch einen wildgewordenen Irren nicht bringen lassen wollte. Ein Ritual, bei dem sie ihre angegriffene Lunge vor dem Zubettgehen noch einmal durchlüften lies. Natürlich hatte sie Angst, dass ihr der Wahnsinnige irgendwo auflauern würde, aber was auch immer in ihrem Leben geschehen war, sie hatte sich nie versteckt und schon gar nicht unterkriegen lassen.

Sie trat auf den Gehweg vor ihrem Grundstück und schloss hinter sich die Gartenpforte. Von hier aus wandte sie sich nach rechts und schlenderte gemütlich den Bürgersteig entlang. Ab und zu wurde die Stille von einem der Fahrzeuge unterbrochen, die vom Kreisel herkommend in Richtung Neindorf fuhren. Für einen kurzen Moment, wurde die Dunkelheit dabei durch das grelle Licht ihrer Scheinwerfer zerrissen. Nachdem sie einige Meter gegangen war, wunderte sie sich über einen laut aufheulenden Motor. Sie drehte sich herum, konnte jedoch keinen Wagen sehen, der das laute Brummen verursachte. Sie tat es als jugendliches Imponiergehabe ab und ging weiter. Im nächsten Moment hörte sie, wie das Fahrzeug mit quietschenden Reifen anfuhr und schnell näherkam.

Als sie sich schließlich erneut umdrehte, war der Wagen weniger als einhundert Meter von ihr entfernt. Der Fahrer schaltete das Fernlicht an. Weil sie durch das grelle Licht geblendet war, konnte sie kaum noch etwas erkennen. Sie hielt sich schützend die Hand vor die Augen. Erst im letzten Moment begriff sie, dass die Lichter direkt auf sie zukamen. Der Wagen jagte den Bordstein des Bürgersteigs hinauf. Es schien für eine Sekunde so, als würde der Fahrer die Gewalt über das Fahrzeug verlieren. Die Lichter schlingerten weiter auf sie zu. Die Distanz zu ihnen verkleinerte sich rasant. Die Gerichtsvollzieherin stand wie angewurzelt da, kaum zu einer einzigen Regung fähig und doch in dem Bewusstsein, dass sie reagieren musste, wenn sie am Leben bleiben wollte.

Nur durch einen beherzten Sprung in letzter Sekunde rettete sie sich über den niedrigen Zaun ihres Nachbarn. Funken sprühten, als der Kotflügel des Fahrzeugs auf der Mauer des Zaunes entlang schliff. Nachdem sich Renate Rettig wieder aufgerappelt hatte, sah sie nur noch, wie die Rücklichter des Wagens an der nächsten Kurve verschwanden. An den gegenüberliegenden Häusern gingen die Haustüren auf. Einige Nachbarn traten heraus und hielten neugierig nach der Quelle des Getöses Ausschau. Andere rissen die Fenster auf und schimpften, ohne überhaupt zu wissen, was der Grund für den Lärm war.

Frau Rettig stand nach wie vor schockiert im Garten ihres Nachbarn. Eigentlich hatte sie noch nicht begriffen, dass sie gerade um Haaresbreite einem Mordanschlag entkommen war. Offensichtlich war niemand zu Hause, denn weder ging das Licht an noch kam jemand zu ihr in den Garten. Wie sollte sie Herrn Schüttauf nur erklären, wie die Kratzer in die Mauer seines Zauns gelangten? Da sie von keinem der Anlieger bemerkt wurde und nach und nach auch der letzte Nachbar wieder in seinen vier Wänden verschwunden war, beendete Frau Rettig ihren Spaziergang und kehrte zurück nach Hause.

Als erstes setzte sie sich in ihre Küche und schenkte sich auf den Schreck ein Weizenkorn ein. Gleich darauf noch einen zweiten und etwas später einen Dritten. Nachdem sie nicht mehr am ganzen Körper zitterte und sich wieder beruhigt hatte, überlegte sie, ob sie so spät noch in der Detektei anrufen konnte. Nach einem Blick zur Uhr entschied sie sich dagegen, nahm eine Beruhigungstablette und ging ins Bett. Es dauerte eine ganze Weile, ehe sie in den Schlaf fand. Einzig der nüchterne Gedanke, dass es ihr Mörder in dieser Nacht kein zweites Mal versuchen würde, wirkte beruhigend auf sie.

Der Wagen der Schüttaufs stand auch am nächsten Morgen nicht wie gewohnt im Carport. Frau Rettig schlussfolgerte, dass sich die Familie im Urlaub befand. Sie atmete erleichtert auf, so konnte sie sich über das weitere Vorgehen zunächst mit dem Detektiv besprechen. Auf keinen Fall wollte sie, dass der Mann, der es auf sie abgesehen hatte, durch seine Anschläge Einfluss über ihr Leben erlangte. Vor allem gehörte ihre Arbeit zu diesem Leben und dorthin wollte sie nun fahren, um ihm ein Zeichen ihrer Stärke zu senden. Als sie die Fahrertür zu ihrem Dacia öffnete, sah sie auf die Rücksitzbank. Dort lauerte niemand auf sie. Schließlich waren Kriminalfilme ihre große Leidenschaft. Wie immer parkte sie ihren Wagen auf einem der Dauerparkplätze im Parkhaus Rosenwall. Da kein Hausbesuch anstand, verbrachte sie den Vormittag mit einigen liegengebliebenen Büroarbeiten. Gegen Mittag machte sie sich dann auf den Weg in die Detektei.

„Das ist jetzt nicht Ihr Ernst, Frau Rettig!“, konnte ich die Worte meiner Klientin kaum glauben. „Ist Ihnen denn nicht klar, dass sie beinahe das Opfer eines Mordanschlags wurden?“ „Ja doch, sicherlich, aber es hat doch wieder niemand gesehen. Meine Nachbarn steckten ihre Köpfe doch allesamt erst heraus, als alle Messen längst gesungen waren.“ „Wenn schon nicht die Polizei, dann hätten Sie wenigstens mich anrufen müssen“, warf ich ihr vor. „Es war doch schon so spät“, rechtfertigte sie sich. „Sie können mich zu jeder Tages- und Nachtzeit anrufen, Frau Rettig“, versprach ich. „Das ist schließlich mein Job.“ Meine Klientin wusste, dass sie sich falsch verhalten hatte, aber sie wollte sich halt nicht ihr Leben von einem Verbrecher diktieren lassen. „Beim nächsten Mal weiß ich Bescheid.“ Ich schüttelte seufzend den Kopf.

„Die Liste, die Sie uns zur Verfügung stellten, hat uns leider nicht weitergebracht“, brachte ich meine Auftraggeberin auf den neusten Stand der Ermittlungen. „Entweder wir weiten die Zeitspanne für die Personen um ein weiteres Jahr aus, oder es fallen Ihnen weitere Personen ein, mit denen Sie in Ihrer Freizeit zu tun haben. Wie auch immer, ich fürchte, Sie müssen da noch einmal intensiv in sich gehen.“ „Mal ehrlich, Herr Lessing, das kommt doch der Suche nach der berühmten Nadel im Heuhaufen gleich. Nachdem ich einem Pfändungsauftrag nachgekommen bin, weiß ich in den allermeisten Fällen doch gar nicht, was aus den Betroffenen wird. Wenn es keine andere Möglichkeit gibt, Schulden zu tilgen, geschieht es nicht selten, dass die Leute im Gefängnis landen.“ „Wo sie natürlich einen gewissen Hass gegen die Gesellschaft und sicher auch gegen Sie entwickeln“, schlussfolgerte ich. Meine Klientin stimmte mir nickend zu.

„Vielleicht sollten wir weniger auf die Zeitspanne achten, sondern mehr Augenmerk darauf richten, was Ihrer Kundschaft nach der Pfändung widerfuhr“, resümierte ich. „Das könnte Sinn machen“, pflichtete mir Frau Rettig bei. „Was machen wir denn nun mit Ihnen?“, überlegte ich laut. „Personenschutz wäre durchaus angebracht. Vielleicht sollte ich noch einmal mit Herrn Schubert sprechen.“ „Das können Sie vergessen“, widersprach Frau Rettig energisch. „Eher lege ich mich abends mit der Flinte meines Vaters ins Bett.“ „Ich lasse Sie auf keinen Fall ohne Schutz!“, bestand ich auf eine andere Lösung. „Könnten Sie nicht...?“ „...und wer ermittelt Ihren Widersacher?“ Meine Klientin seufzte. „Vielleicht gibt es ja eine andere Möglichkeit?“, sinnierte ich. „Einen Augenblick bitte, ich bin gleich wieder da.“ Da ich um die Qualitäten meiner Auszubildenden in der Kunst der Selbstverteidigung wusste, wollte ich sie zumindest fragen, ob sie sich eine solche Aufgabe zutrauen würde.

„Es wäre nur für die nächsten Nächte. Ich glaube nicht, dass es der Attentäter noch einmal am Tage versuchen wird.“ „Ich werde den Mistkerl schon gebührend empfangen“, entgegnete Leonie nicht anders als von mir erwartet. „Du musst dir darüber im Klaren sein, dass der nächste Anschlag auch für dich gefährlich werden kann“, mahnte Trude. „Das bin ich“, ballte Leonie ihre Fäuste. „Ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache, Chef“, brachte Trude ihr Bedenken zum Ausdruck. „Vielleicht haben Sie Recht, Trude,“ bekam ich ebenfalls Zweifel an meiner Idee. „Was soll schon passieren?“, versuchte Leonie unsere Skepsis zu zerstreuen. „Sie haben die Zylinder ausgewechselt und alles andere überprüft.“

Ich biss angespannt die Lippen zusammen. „Es bleibt ein unkalkulierbares Restrisiko.“ „Unser Beruf birgt Tag für Tag ein Restrisiko. Wenn ich mir dessen nicht bewusst wäre, hätte ich Zahnarzthelferin gelernt.“ Ich stieß einen tiefen Seufzer aus. „Wenn der Kerl ins Haus will, muss er Lärm machen. Genug Zeit, um Sie anzurufen und mich auf den Typen vorzubereiten.“ „Übrigens ist es keineswegs sicher, dass es sich bei dem Täter um einen Mann handelt“, gab ich beiläufig zu Bedenken.

„Soll ich nun auf unsere Klientin aufpassen oder nicht?“, fieberte Leonie meiner Entscheidung entgegen. „Du wirst Reizgas mitnehmen und ständig den Akku deines Handys im Blick behalten,“ „Sie können sich darauf verlassen, Chef.“ „Also gut, dann werde ich meinen Vorschlag jetzt Frau Rettig unterbreiten. Wenn unsere Auftraggeberin einverstanden ist, werden wir es versuchen.“ Womit ich mich Trude zuwandte. „Frau Rettig wird uns eine weitere Liste mit Namen zukommen lassen. Diesmal wird es sich um Gepfändete handeln, die ihren Tilgungsraten nicht nachkommen konnten. Sie überprüfen diese Namen bitte darauf, ob die Betreffenden im Gefängnis ihre Schulden absitzen mussten und ob sie durch die Pfändung in eine Notsituation gerieten.“ „Geht klar, Chef“, nickte Trude und verschwand hinter dem Monitor ihres Computers. Ich wusste nur zu gut, dass sie mit meiner Entscheidung nicht einverstanden war, aber im Grunde hatte ich keine andere Wahl.

Ich signalisierte Leonie, dass sie mich in mein Büro begleiten sollte. „Sie kennen Frau Fischer ja bereits.“ Frau Rettig lächelte Leonie zu. „Wenn es Ihnen recht ist, wird Frau Fischer während der kommenden Nächte ein Auge auf Sie haben.“ Eine gewisse Skepsis in den Augen meiner Klientin blieb mir nicht verborgen. „Frau Fischer ist eine ausgebildete Kampfsportlerin“, erklärte ich. „Sie wird Sie im Ernstfall schützen.“ „Na wenn das so ist, werden wir zwei Hübschen es uns schon gemütlich machen, nicht wahr?“, wirkte Frau Rettig erleichtert. „Das machen wir“, lächelte Leonie aufmunternd.

„Ich müsste dann jetzt auch los“, drängte unsere Klientin unvermittelt. „Ich habe in einer halben Stunde einen Räumungstermin“, erklärte sie. „Eigentlich ging ich davon aus, Sie würden mir noch die Mauer zeigen, an der das Fahrzeug entlang schleifte.“ „Sorry, aber Job ist Job, nicht wahr?“ „Nun gut, dann werde ich die Stelle sicherlich auch allein finden.“ „Drei Häuser weiter links neben meinem Haus. Es handelt sich um einen roten Ziegelsteinzaun mit Querstangen“, beschrieb sie. „Ich werde die Stelle schon finden.“

Fünfzehn Minuten später standen Leonie und ich vor dem vermeintlichen Tatort. Die Aufnahme und Sicherung von Spuren ist ein ganz wesentlicher Bestandteil einer guten Ausbildung. Es versteht sich also von selbst, dass Leonie dabei war, als ich die Lackreste des Wagens an der Mauer sicherstelle. Es gab genügend Anhaftungen, um ihr Gelegenheit zu geben, das gerade Gelernte selber praktisch umzusetzen. Die Lackzusammensetzung lässt sich in den allermeisten Fällen im Labor so genau bestimmen, dass sich daraus auf den Typ des Fahrzeugs schließen lässt. Schwieriger ist es da, diese Analyse auf Staatskosten bestimmen zu lassen. Eines war allerdings sofort klar. Es handelte sich augenscheinlich um einen blauen Wagen.

Während Leonie und ich die Spuren der nächtlichen Attacke sicherten, weckten wir die Neugier eines Nachbarn. „Sind Sie von der Polizei?“, erkundigte er sich. Ehe ich ihm meine Zulassung zum Privatermittler präsentieren konnte, erzählte er vom Lärm, der ihn am späten Abend aus dem Schlaf vor dem Fernsehgerät aufgeschreckt hatte. „Ich wohne dort drüben“, deutete er auf ein nobles Einfamilienhaus. „Da ist wohl ein Auto gegen gefahren?“ Ich nickte. „Als ich vom Garten aus nachsah, war nichts mehr zu sehen.“ „Wie spät war es da?“, hakte ich nach. „Das muss um kurz nach zehn gewesen sein. Die Nachrichten auf dem Zweiten liefen noch. Ich dachte erst, der Lärm käme aus dem Fernseher.“

„Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen?“, fragte ich obwohl ich seine Antwort bereits erahnte. „Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, ich habe hier im Garten jemanden gesehen.“ Es lag auf der Hand, dass er von Renate Rettig sprach. „Haben Sie die Person erkannt?“ Er ging nicht auf meine Frage ein. „Irgendwie war das alles unheimlich. Ich bin dann auch wieder ins Haus gegangen, weil meine Frau nach mir rief.“ „Ich habe schon geklingelt, aber es macht niemand auf“, erklärte ich. „Die Schüttaufs sind im Urlaub. Vor nächster Woche kommen die auch nicht wieder, aber ich habe für den Notfall eine Telefonnummer“, entgegnete der Nachbar. „Na ja, allzu viel ist ja auch nicht passiert. Gönnen wir der Familie ihren Urlaub“, schlug ich vor, um einem Anruf des alten Herrn vorzubeugen. „Wenn die Leute nach ihrer Rückkehr davon erfahren, ist es noch früh genug.“ Der alte Herr stimmte mir kopfnickend zu, drehte sich wortlos um und ging.

„Zum ersten Mal hat der Täter hier ein höheres Risiko in Kauf genommen“, sinnierte ich, während ich die Straße in die Richtung hinabsah, aus der das Fahrzeug gekommen war. „Er riskierte es bei seinem Anschlag, von Zeugen beobachtet zu werden. Selbst die Gefahr, dabei selber verletzt zu werden, schreckte ihn nicht ab. Ganz offensichtlich sinkt seine Hemmschwelle.“ „Die Abstände zwischen den Taten werden ebenfalls kürzer“, fiel Leonie auf. „Ich fürchte, wir haben nicht mehr viel Zeit, bis er erneut zuschlägt“, pflichtete ich ihr bei.