Detektei Lessing

 

Band 50

 

Leo in Angst

1

Was war das nur wieder für ein Tag? Ein Montag, ja, aber warum verhalten sich ausgerechnet an diesem Tag die Leute immer so merkwürdig? Sie achten beim Autofahren nicht auf den Verkehr, sind aggressiv und ungeduldig. Oder kam es mir nur so vor? Eigentlich müssten sich doch alle am Wochenende entspannt und ausgeruht haben. Das Gegenteil schien der Fall. Während ich in meinen Gedanken das Problem aufzuarbeiten versuchte, schreckte ich auf. Als ich den großen Kasten vor der Schule ‚Am Teichgarten‘ entdeckte, war es schon zu spät. Ich ärgerte mich über mich selbst. Anstatt dreißig Stundenkilometer war ich mit mindestens vierzig geblitzt worden. Ich wusste es, es war ein gebrauchter Tag, an dem ich besser im Bett geblieben wäre. Was bleibt einem also übrig, als den ganzen Frust hinunterzuschlucken und weiterzufahren?

Auf dem ‚Juliusmarkt‘ bog ich links ab und fuhr über die Oker, die ‚Wallstraße‘ hinunter. Auch so ein Blödsinn, den man hier verzapft hatte, schimpfte ich wütend, als mir in der engen Straße auch noch zwei Radfahrer entgegenkamen. Ob sich der ehemalige Verkehrsminister jemals selber in einer vergleichbaren Situation befunden hatte? Ich musste unweigerlich an die Mautaffäre denken und wurde noch wütender, während ich in Richtung ‚Ziegenmarkt‘ abbog. Beim Anblick der alten Gefängnismauern wünschte ich mir, dass man auch Politiker für ihre kostspieligen Dummheiten härter bestrafen sollte.

Ich folgte dem geschwungenen Verlauf der Straße und sah mich bereits gedanklich im Café Klatsch an einem Cappuccino nippen, als unmittelbar vor mir aus einer Parklücke ein Mercedes schoss. Da mir ausgerechnet jetzt ein Wagen entgegenkam, blieb mir nur eine Vollbremsung. Leider brachte ich meinen Skoda nicht mehr rechtzeitig zum Stehen und kollidierte mit der Nobelkarosse. Das also auch noch. Was für ein Montag, seufzte ich erneut.

Nachdem ich ausgestiegen war, entdeckte ich eine Lady mittleren Alters hinter dem Steuer. Offenbar stand sie unter Schock. Da ich gegen die Fahrertür gefahren war und meinen Wagen noch nicht zurückgesetzt hatte, öffnete ich die Tür auf der Beifahrerseite. Die Frau zitterte am ganzen Körper. Zumindest konnte ich auf den ersten Blick keinerlei äußere Verletzungen feststellen. Selbst als ich bereits neben ihr auf dem Beifahrersitz saß, starrte sie noch regungslos aus dem Fenster.

„Hallo“, sprach ich sie behutsam an. „Mein Name ist Lessing. Haben Sie sich verletzt? Haben Sie Schmerzen?“ Erst jetzt drehte sie langsam ihren Kopf in meine Richtung und begann zu weinen. „Nein, ich glaube nicht.“ „Dann ist es nur ein Blechschaden“, versuchte ich sie zu beruhigen. „Also, kein Grund zu weinen.“ „Was wissen Sie denn! Das Auto ist mir doch ganz egal!“ „Na ja, so ganz egal sollte es Ihnen auch nicht sein“, entgegnete ich, während ich auf meinen Wagen deutete. Woraufhin sie ihr Gesicht in den Händen vergrub und erst recht zu schluchzen begann. Angesichts ihrer übermäßigen Reaktion fragte ich mich, ob die Frau unter Drogen stand oder Medikamente eingenommen hatte.

„Wenn es Ihnen lieber ist, müssen wir nicht die Polizei rufen. Wir machen ein paar Fotos, tauschen einfach unsere Namen und die Adressen aus und ich schicke ihnen dann die Werkstattrechnung.“ Allmählich schien sich die Ärmste etwas zu beruhigen. Ich reichte ihr meine Visitenkarte und erwartete im Gegenzug ihren Führerschein oder den Ausweis. „Sie sind Privatermittler?“, sah sie mich wie elektrisiert an. „Ja…“, entgegnete ich gedehnt. „Sie schickt der Himmel!“

Ihre Stimmungslage veränderte sich abrupt. Ich fragte mich erneut, ob nicht doch eventuell Drogen im Spiel waren. „Ich glaube, mein Mann betrügt mich“, überraschte sie mich. „Ich bin ihm bis zur Bank gefolgt und habe dann hier auf ihn gewartet. Bis er wieder aus der Ausfahrt kam.“ „Ich verstehe. Als Sie den Wagen Ihres Mannes sahen, wollten Sie ihn weiterverfolgen und haben dabei nicht auf den Verkehr geachtet“, reimte ich mir zusammen. „Genau“, bestätigte sie. „Jetzt ist er natürlich weg.“

Ein nachdrückliches Hupen riss uns aus dem Gespräch und machte auf den kleinen Stau aufmerksam, der sich in der Zwischenzeit in Richtung Gefängnis gebildet hatte. „Oh, ich glaube, wir sollten unser Gespräch besser an anderer Stelle fortsetzen.“ Ich verließ den Wagen, zückte mein Handy und machte einige Fotos von der Unfallstelle. Da ich bereits einige schlechte Erfahrungen gesammelt hatte, achtete ich darauf, dass ich dabei auch das Kennzeichen ihres Wagens mit aufnahm.

Kurze Zeit später saßen wir uns im Büro meiner Detektei gegenüber und Gerda Stolzenberg, wie ich inzwischen wusste, schilderte mir, wieso sie davon überzeugt war, von ihrem Mann mit einer anderen Frau betrogen zu werden.

„Hartwig leitet mein Unternehmen, seit ich es von meinen Eltern hinterlassen bekam“, erklärte sie. „Also ungefähr fünf Jahre. Während der Pandemie standen wir mit dem Rücken zur Wand. Um eine Insolvenz anzuwenden, mussten wir unseren Fuhrpark ausdünnen.“ „Da haben Sie sicherlich einige schlaflose Nächte hinter sich“, bekundete ich einfühlsam. „Das kann ich Ihnen sagen. Seit letztem Jahr geht es langsam wieder bergauf. Hartwig ist während dieser Zeit oft selber hinter dem Steuer gesessen und obwohl es längst nicht mehr notwendig ist, behielt er es bis heute bei.“

Mein erster Gedanke war sicherlich mit ihrem identisch. Irgendwo auf einer dieser Touren hatte er eine Frau kennengelernt. Was zunächst eine Affäre war, wuchs möglicherweise zu einer Beziehung, die ihr Mann nicht mehr aufgeben möchte. Aber war es wirklich so? „Wohin gehen diese Reisen denn im Allgemeinen?“, hakte ich nach. „In der ersten Zeit fuhr er in die Schweiz und nach Österreich. Soviel ich weiß, fährt er seit einigen Monaten nur noch in die Schweiz“, berichtete sie. „Sie gehen also davon aus, dass ihr Mann in der Schweiz oder auf dem Weg dorthin eine Beziehung zu einer anderen Frau unterhält“, schlussfolgerte ich.

Gerda Stolzenberg zuckte mit den Schultern. „Was würden Sie denken?“ „Das gleiche wie Sie, aber wenn Sie herausfinden wollen, was wirklich dahintersteckt, sollten Sie ihren Mann entweder zur Rede stellen oder beobachten.“ „Na ja, das mit dem Beobachten hat ja nicht so gut geklappt.“ Ich sah sie mild lächelnd an. „Wenn Sie wollen übernehme ich das für Sie, aber so ganz billig wird die Sache nicht.“ „Was würde es mich denn kosten, wenn Sie ihn eine Woche lang auf Schritt und Tritt verfolgen?“ „Mein Tagessatz beläuft sich auf 500€, wobei darin noch keine Spesen enthalten sind.“ „Also etwa 5000€ für eine Woche“, überschlug sie. „Nicht gerade günstig, aber ich hoffe, Sie sind es wert.“ „Bislang hat sich niemand beklagt.“

Nachdem mir meine Klientin alles Wesentliche über ihren Mann erzählt hatte, konnte ich sie im Hinblick auf die zu erwartenden Kosten beruhigen. „Ich werde Herrn Stolzenberg zunächst zwei Tage lang beschatten. Sollte er sich in dieser Zeit mit keiner anderen Frau treffen, können wir tatsächlich davon ausgehen, dass er seine Affäre während der Touren in die Schweiz trifft. In diesem Fall werde ich erst wieder aktiv, wenn eine solche Tour ansteht. Es wäre also von Vorteil, wenn Sie mir den Terminplan Ihres Mannes zur Verfügung stellen könnten.“ Meine Klientin überlegte einen Moment. „Das sollte eigentlich kein Problem sein.“ „Am besten fotografieren Sie ihn ab und senden ihn mir via Mail zu“, schlug ich vor. „Meine Sekretärin wird Ihnen die Adresse und die Bankdaten geben. Ich darf Sie bitten, für die ersten drei Tage in Vorleistung zu treten. Darüber hinaus wird Ihnen Frau Berlitz den Auftrag vorlegen, den Sie bitte unterschreiben.“

Wir erhoben uns und reichten einander die Hände. „Wenn Sie noch etwas Bedenkzeit benötigen…?“ „Danke, Herr Lessing, aber ich habe mir diesen Schritt gut überlegt. Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.“ Eine taffe Frau, dachte ich mir, während ich hinter ihr meine Bürotür schloss und hinter meinen Schreibtisch zurückkehrte. Nun hieß es erst einmal einen Werkstatttermin für die Reparatur meines Wagens zu machen. Auch wenn der Schaden eher gering war, wollte ich nicht ewig damit herumfahren.

Nach einigen desillusionierenden Telefonaten hatte ich endlich einen Wellnessurlaub für mein Auto eingebucht. Da es sich laut Versicherung um einen sogenannten Bagatellschaden handelte, wurde mir für den Zeitraum der Reparatur auch keinen Ersatzwagen gestellt. Anstatt mit meinem Freund, dem Rechtsanwalt Christoph Börner zu drohen, lenkte ich seufzend ein. Es muss ja nicht immer der Konfrontationskurs sein. Da Axel gerade sein Bein in Gips hatte, würde er mir für diesen Tag sicherlich seinen Wagen ausleihen.

„Hast du schon gesehen, dass dir jemand auf den Skoda aufgefahren ist?“, stürmte Miriam in mein Büro. „Ich bin jemandem aufgefahren“, stellte ich klar. Meine Liebste sah mich prüfend an. „Scheint ja noch alles dran zu sein.“ „Du kannst beruhigt sein, die Versicherung des Unfallverursachers wird für den Schaden aufkommen. Die Dame war gerade noch hier. Sie hat mich als Detektiv engagiert.“ „Das ist jetzt nicht dein Ernst“, schüttelte Miriam den Kopf. „Du lässt aber auch keine Gelegenheit aus.“ „Was ist falsch daran, das Schicksal auf den richtigen Weg zu bringen.“

2

Da Leonie ihrem Jahresurlaub genommen hatte und Axel mit einem gebrochenen Bein ausfiel, blieb die Observation des untreuen Ehemannes an mir allein hängen. Da kommen schnell mal 16 Stunden am Tag zusammen. So gesehen war mein Honorar ganz sicher nicht zu üppig bemessen. Während ich Hartwig Stolzenberg auf Schritt und Tritt folgte, versuchte Trude im Internet mehr über die Firma Burgreisen herauszufinden.

„Mitte 21 muss die Firma tatsächlich kurz vor der Pleite gestanden haben“, informierte sie mich über das Handy. „Damals kam Hartwig Stolzenberg nicht drumherum, die Hälfte seines Fahrzeugparks zu verkaufen.“ „Offensichtlich hat der Erlös aus diesen Verkäufen der Firma den Gang in die Insolvenz erspart“, schlussfolgerte ich. „Es deutet einiges darauf hin, dass dem nicht so war“, widersprach meine Computerfee. „Anfang 22 fand ich wieder mehrere Annoncen, in denen er weitere Busse zum Verkauf anbot.“

Ich stutzte. „Wie viele Fahrzeuge blieben ihm denn dann letztendlich?“ „Ich sprach mit einer Freundin in der Zulassungsstelle. Demnach blieb es bei dem Bestand.“ „Bleibt die Frage, was die Firma letztlich rettete“, überlegte ich. „Offenbar läuft es derzeit so gut, dass er mittlerweile zwei Busse zurückkaufen konnte“, fügte Trude an. „Man müsste Einblick in die Buchungslisten haben“, sinnierte ich, „…dann könnte man nachvollziehen ob alles mit rechten Dingen zuging.“

„Was meinen Sie, Chef?“ „Die Wende kam genau zum richtigen Zeitpunkt. Bei solchen Zufällen werde ich schon von Haus aus immer hellhörig. Noch dazu, wenn die Buchungen zu einer Zeit in die Höhe gingen, wo der Rest der Branche immer noch unter der Coronaflaute litt.“ „Stimmt, meine Freundinnen trauten sich auch erst Mitte 22 wieder auf Bustour zu gehen.“ „Genau das meine ich, aber das lässt sich natürlich nur durch die Auslastung der Busse nachvollziehen“, resümierte ich. „Über das Internet komme ich da nicht dran. Es sei denn…“

„Wir werden uns zu keinerlei ungesetzlichen Handlungen hinreißen lassen, Trude“, untersagte ich ihr, den Computer der Firma zu hacken. „Es würde bestimmt niemand mitbekommen. Die verfügen sicherlich über keine ausgeklügelte Firewall.“ „Ich werde unsere Klientin darum bitten, dann ist es völlig legal und kostet mich keine schlaflosen Nächte.“ „Seit wann sind Sie so bange, Chef?“ Ich suchte nach der passenden Antwort. „Na ja, Sie werden halt auch älter.“

Da saß ich nun in meinem Wagen, das Gespräch mit Trude war beendet, und ich sah nachdenklich zum Eingang einer Steuerberatungsgesellschaft. Hartwig Stolzenberg war vor einer Weile darin verschwunden. Die Worte meiner Putzsekretärin hatten mich kalt erwischt. Auch wenn sie nichts anderes als die Realität beschrieben, führten sie mir eine unabdingbare Tatsache vor Augen, die ich bislang erfolgreich verdrängt hatte. Ich wurde älter! Eine Form von Panik keimte in mir auf. War dies der Eintritt in die Midlifecrisis?

Die Zielperson verließ das Gebäude mit einer Aktentasche und zwei weiteren Ordnern, die sie sich unter den Arm geklemmt hatte. Sie sah gestresst aus, nicht anders als ich, wenn ich vom Steuerberater kam und dennoch hatte ich das Gefühl, es ginge Hartwig Stolzenberg nicht gut. In einer solchen Situation holt man sich gerne Trost bei einem vertrauten Menschen. Vielleicht würde er mich nun zu seiner Geliebten führen. Er legte die Akten auf die Rücksitzbank und sah sich um, bevor er in seinen Wagen stieg und losfuhr. Bevor er mich sehen konnte, tauchte ich auf den Beifahrersitz ab. Hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden?

Es gibt Menschen, die sich permanent beobachtet fühlen, es gibt Menschen, die ein schlechtes Gewissen haben und es gibt Menschen, die einen siebten Sinn entwickelt haben, wenn es tatsächlich so ist. Zu welcher dieser Fraktionen Hartwig Stolzenberg gehörte, war noch nicht klar. Fakt war, dass ich akribisch darauf achten musste, nicht von ihm bemerkt zu werden. Folglich folgte ich ihm mit einem gerade noch vertretbaren Abstand.

Zu meiner Ernüchterung war bereits einige Straßen weiter klar, wohin die Fahrt ging. Die Firma Burg-Reisen hatte ihren Sitz in der ‚Timmerlahstraße‘ in ‚Broitzem‘ und genau dorthin ging offensichtlich unsere Fahrt. Abgesehen von dem Busunternehmen waren hier eine Reihe weiterer Firmen angesiedelt. Metallbau, Fensterbau, Fruchthandel und andere. Ich parkte meinen Wagen so, dass ich von meinem Standort einen großen Teil des Betriebshofes sowie den Eingang zum Verwaltungsgebäude überblicken konnte. Auf dem Parkplatz der Mitarbeiter zählte ich acht Fahrzeuge. Sicherlich hatte die Firma während der Pandemie auch einiges an Personal entlassen müssen. Ein Schicksal, welches die Firma mit vielen anderen gemein hatte.

Gegen 16 Uhr verließen mehrere Mitarbeiter das Gebäude. Ich fotografierte sie mit dem Tele-Objektiv meiner Rollei-Kamera. Mit dieser ließen sich sogar über größere Distanzen Nahaufnahmen machen, die wiederum dabei halfen, die einzelnen Personen zuzuordnen. Falls ich später Infos zu Betriebsinterner benötigte, wusste ich so, an wen ich mich wenden konnte.

Letztlich blieben vier Fahrzeuge übrig. Da es sich mehr und mehr bewölkte und somit dunkler wurde, konnte ich hinter drei Fenstern im Obergeschoss Licht sehen. Etwa um 17:30 Uhr fuhr ein leerer Reisebus auf das Gelände. Er parkte an einem für die Busse des Unternehmens ausgewiesenen Plätze. Der Fahrer stieg aus und begab sich in eine Garage, aus der er mehrere Reinigungsgeräte holte. Anschließend beobachtete ich, wie er den Bus säuberte und gegen 18:15 Uhr mit einem PKW das Gelände wieder verließ. Ich bemerkte, wie sich hinter den beleuchteten Fenstern einige Lamellen bewegten. Allem Anschein nach wurde die Abfahrt des Fahrers von dort aus kontrolliert.

Ein langer Tag, dachte ich mir, während ich mir einen Becher Kaffee aus meiner Thermosflasche eingoss. Sicher kein Traumberuf, wenn man an den stetig zunehmenden Verkehr und die damit verbundene Hektik dachte. Kurz darauf fuhr der Wagen meiner Klientin an mir vorbei und bog auf den Betriebshof. Sie hielt direkt vor der Tür des Verwaltungsgebäudes, stieg aus und sah zu den beleuchteten Fenstern im Obergeschoss hinauf. Diesmal bewegte sich keine der Lamellen.

Nach kurzem Innehalten betrat Gerda Stolzenberg das Gebäude. Ich fragte mich, ob sie sich von ihrem Besuch eventuell etwas Bestimmtes versprach. Nein, das war etwas zu viel Klischee für meinen Geschmack. Zumindest war ich auf das, was folgen würde, mehr als gespannt.

Gegen 19 Uhr erlosch das Licht im Obergeschoss und kurz darauf sah ich, wie beide gemeinsam aus dem Eingang kamen. Während sich meine Klientin in ihren Wagen setzte, verschloss ihr Mann die Tür, gab seiner Frau ein kurzes Handzeichen und stieg in seinen Wagen. Woraufhin beide Fahrzeuge das Betriebsgelände verließen. Ich fragte mich, ob es mit ihrer Ehe schon so schlecht bestellt war, dass sie in getrennten Autos fuhren, denn wenig später erreichten sie ihre Villa auf dem ‚Neuer Weg‘ in Wolfenbüttel.

Ebenso wie das Busunternehmen hatte meine Auftraggeberin das herrschaftliche Haus mit dem großen Grundstück von ihren Eltern geerbt. Gerda Stolzenberg war also das, was man allgemeinhin als eine gute Partie bezeichnet. Da sie erst seit sieben Jahren mit Hartwig Stolzenberg verheiratet war, fragte ich mich, ob sie bereits eine Ehe hinter sich hatte, oder ob es vorher keinen geeigneten Kandidaten gab. Nun, über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten, aber auch mit über fünfzig Jahren machte sie keine schlechte Figur.

3

Bevor Trude Feierabend machte, rief sie mich auf meinem Standposten an und setzte mich über das Ergebnis ihrer Recherchen ins Bild. Demnach musste die Burg-Busreisen GmbH mittlerweile wieder schwarze Zahlen schreiben, denn die Firma suchte händeringend Personal. Damit erklärte sich auf den ersten Blick, weshalb Hartwig Stolzenberg immer noch selber hinter dem Lenkrad saß. War der Verdacht seiner Ehefrau also unbegründet? Nach ihren Worten wich er auf ihre Fragen aus, tat ihre Verdächtigungen einfach nur als Hirngespinste und Fantastereien ab.

Erst auf den zweiten Blick erhärtete sich ihr Verdacht, wie sie mir in unserem Gespräch am Tag unseres Kennenlernens erzählt hatte. So brachte er von den Fahrten in die Schweiz ein Hemd mit, was sie nie zuvor sah und welches einen Duft an sich hatte, den sie nicht benutzte. Dafür fehlte andere Kleidung, die erst nach einer weiteren Tour in die Alpenrepublik wieder auftauchte. Als sie Hartwig danach fragte, zuckte er nur lapidar mit den Schultern. Ein Verhalten, was sie bis dahin nicht von ihm kannte.

Es war bereits dunkel, als ich die Observation der Villa abbrach und ziemlich müde nach Hause fuhr. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Zielperson noch einmal das Haus verlassen würde, war eher gering. Da mich weder Leonie noch Axel ablösen konnten, musste ich mir meine Kräfte einteilen. Gerade wenn nichts passiert, ist eine Observation besonders anstrengend. Abgesehen davon habe ich noch ein Privatleben.

„Unsere Tochter schläft schon“, empfing mich Miriam mit vorwurfsvollem Blick. „Die Kleine wollte einfach nicht schlafen gehen, weil sie dich unbedingt noch sehen wollte. Sie hat lange gegen ihre Müdigkeit angekämpft, ehe sie einschlief.“ Ich öffnete leise die Tür zu ihrem Zimmer, um mich davon zu vergewissern, dass es ihr gut ging. Natürlich ging es ihr gut, aber mir nicht, weil ich ein schlechtes Gewissen hatte.

Ramona mochte es schon als Baby nicht, wenn wir das Licht in ihrem Zimmer über Nacht anließen. Dementsprechend weit musste ich die Tür öffnen, damit vom Flur etwas Licht auf ihr Bett fiel. Vorsichtig schlich ich zu ihr und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Es stimmt, an den Kindern sieht man, wie die Zeit vergeht. Jedes Mal, wenn ich so vor ihr stehe, nehme ich mir vor, mehr Zeit mit ihr zu verbringen und jedes Mal bleibt es bei dem Wunsch danach. Daran ändert auch der Gedanke an meine eigene Kindheit nichts. Natürlich wollte ich es einmal besser machen als meine Eltern, doch dann waren da all diese scheinbar wichtigen Gründe, die dem eigenen Anspruch entgegenstanden.

Miriam und ich waren in unseren jeweiligen Berufen erfolgreich, weil wir Spaß daran hatten und weil wir viel Zeit investierten. Auch wenn wir mit Tanja ein sehr liebevolles Kindermädchen für Ramona engagiert hatten, konnte sie uns natürlich nicht ersetzen. So versuchten wir beide, die wenige Zeit, die wir mit unserer Tochter hatten, so intensiv wie möglich zu nutzen.

„Ich weiß, dass du es dir nicht immer so einrichten kannst, wie du gern möchtest“, flüsterte Miriam, während sie mir über den Rücken strich, „…aber es wird immer deutlicher, wie sehr du ihr fehlst.“ Ich stieß einen tiefen Seufzer aus und schloss leise die Tür zum Kinderzimmer.

„Vielleicht kann ich es einrichten, am Samstag wieder mit euch in die Therme nach Bad Harzburg zu fahren“, schlug ich vor. „Dann kannst du auch bei dem Juwelier nach dem Armband schauen.“ „Ach Leopold, es geht doch nicht darum, dass wir mal was gemeinsam unternehmen“, entgegnete Miriam mit einem Blick, der mich umso mehr ins Grübeln brachte. „Selbstverständlich sind solche gemeinsamen Unternehmungen auch wichtig, aber was ihr wirklich fehlt sind feste Strukturen.“ In meinem Gesicht stand ein Fragezeichen. „Bis vor einem Jahr haben wir zumindest drei oder viermal die Woche gemeinsam Mittag gegessen und am Abend hast du regelmäßig mit ihr gespielt und sie anschließend ins Bett gebracht. Leider geschieht dies mittlerweile nur noch sehr selten.“

Ich wusste, dass Miriam Recht hatte, aber wie sollte ich es ändern? „Dein Job frisst dich mehr und mehr auf“, nannte sie das Problem beim Namen. „Du weißt, wie wichtig es mir ist, erfolgreich zu sein und damit die Hälfte zum Familienunterhalt beizutragen“, erklärte ich. Mein Schatz schüttelte den Kopf. „Das ist doch nichts anderes als so ein Männerding. Wir leben nicht mehr im letzten Jahrhundert. Was wäre so schlimm daran, weniger Geld als ich nach Hause zu bringen?“ Die Mimik in meinem Gesicht schien wie ein offenes Buch zu sein. „Ich dachte, die Sache mit deinem Ego liegt weit hinter uns.“

War ich bislang bemüht, zumindest nach einem Ansatz für eine Lösung des Problems zu suchen, hatte mich Miriam mit ihren Worten nun auf dem falschen Fuß erwischt. „Bei der Justiz im Gericht wird eine Stelle frei. Das wäre doch was für dich.“ Ich sah Miriam entsetzt an. „Das ist jetzt nicht dein Ernst.“ „Wieso? Du hättest geregelte Arbeitszeit und ein festes Gehalt“, versuchte sie mir den Job tatsächlich schmackhaft zu machen. Ich musste mich sehr zusammenreißen, um nichts Falsches zu sagen. Ein altes Rezept, vorher einige Male tief durchzuatmen half.

„Also, was das mit meinem Ego angeht, bin ich anderer Ansicht. Ich denke nicht, dass es etwas damit zu tun hat, sondern eher mit meiner Überzeugung. Wenn ich lediglich etwas weniger zum Unterhalt der Familie beisteuern würde, hätte ich ganz gewiss kein Problem damit, aber hier geht es nicht ums Geld, sondern um die Dinge, die mir im Leben, abgesehen von meiner Familie, wichtig sind. Genau wie deine Arbeit für dich eine Berufung ist, ist es für mich nichts anders.“ Miriam verzog das Gesicht. „Das kannst du doch nun wirklich nicht miteinander vergleichen.“

Ich war schockiert. „So wenig hältst du von meiner Arbeit? Seit wann ist das so? Habe ich etwas falsch gemacht?“ „Im Grunde liegt es an mir“, rückte sie allmählich mit dem eigentlichen Problem heraus. „Immer dann, wenn du einen dieser heiklen Fälle bearbeitest, halte ich es vor Angst um dich kaum aus. Weiß ich, ob ich dich heile wiedersehe?“ Ich nahm Miriam in den Arm und drückte sie an mich. „Kannst du die gefährlichen Fälle nicht ablehnen?“ „Wenn ich einen Auftrag übernehme, weiß ich nie, wohin die Reise geht. Selbst die harmloseste Sache kann übel enden“, erklärte ich. „Das ist es ja“, seufzte sie. „Wir haben ein Kind, was dich ebenso braucht wie mich. Ich will nicht eines Tages als alleinerziehende Witwe enden.“ „Das wirst du nicht, eine Frau wie du bleibt nicht allein“, versuchte ich sie aufzumuntern.

„Wenn du glaubst, dass das ein Trost wäre, schätzt du mich falsch ein.“ „Das war ein Scherz.“ „Aha.“ Ich rieb mir nachdenklich das Kinn. „Es wäre nicht fair, wenn ich dir verspräche, noch besser auf mich aufzupassen, weil ich schon immer zuerst an die Eigensicherung dachte und erst dann mein weiteres Vorgehen davon abhängig mache. Man kann nie jede Eventualität ausschließen, aber das kannst du ebenso wenig. Ich möchte dich nur an deine Entführung aus dem Gerichtssaal erinnern. Weder du noch ich können das Schicksal beeinflussen.“ „Ich weiß, aber man kann das Risiko minimieren.“ „Dazu müssten wir in die Zukunft sehen können. Nur dann hättest du damals gewusst, wie der Mann auf das Urteil reagiert.“ „Du hast recht“, stimmte mir Miriam nachdenklich zu.

„Glaub mir, du willst keinen mürrischen Mann an deiner Seite haben, der mit sich und seinem Leben unzufriedenen ist. „Nee, das will ich wirklich nicht. Der alte Griesgram, der abends neben mir laut auf dem Sofa schnarcht reicht mir allemal.“ „Wie ich? Das kann gar nicht sein, weil ich im Gegensatz zu dir nicht vor dem Fernsehapparat einschlafe. Und überhaupt, wenn hier einer schnarcht, bist du das“, lachte ich. Woraufhin mir mein Schatz das Sofakissen auf die Rübe zog und das Weite suchte. „Na warte, das kriegst du wieder!“

4

Auch wenn sich meine Klientin im Großen und Ganzen aus den geschäftlichen Dingen in ihrer Firma heraushielt, konnte sie mir bei einem Anruf immerhin die Namen des Disponenten sowie der Buchhalterin und der Sekretärin ihres Mannes sagen. Trude fand im Internet sehr schnell heraus, welche Gesichter zu ihnen passten, wo sie wohnten und wie sie ihre Freizeit verbrachten.

„Na, wenn diese Dame nicht das Klischee einer gutaussehenden Chefsekretärin bedient, weiß ich auch nicht.“ Das Foto, was mir Trude daraufhin entgegenhielt, zeigte eine attraktive Frau Mitte dreißig. „So wie die aussieht, hat die es doch gar nicht nötig zu arbeiten“, lächelte sie süffisant. Ich hatte die Frau fotografiert, während ich Hartwig Stolzenberg vor dem Betriebshof observierte. Ebenso wie eine ältere Frau, die recht sportlich auf mich wirkte. Dabei handelte es sich der Recherche meiner Putzsekretärin nach um die Buchhalterin des Unternehmens.

Mein erster Eindruck hatte mich nicht getäuscht. Dennoch war ich recht erstaunt, als mir Trude die Sportart verriet, in der sie bereits einige Erfolge für sich verbuchen konnte. „Sie läuft Marathon und gehört auf Facebook einer Laufgruppe an.“ Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. „Können Sie herausfinden, wo die gute Frau trainiert?“ „Ist bereits geschehen, aber wenn Sie davon ausgehen, dass Frau Lampe innerhalb eines Vereins gedrillt wird, muss ich Sie enttäuschen. Soviel ich über die Facebook-Gruppe herausfand, läuft sie abends ab 19Uhr von Volkmarode nach Schandelah und wieder zurück.“

„Wow! Das wäre ganz sicher nichts für mich“, gestand ich. „Obwohl es dem Ansatz über Ihrem Hosenbund sicherlich ganz guttäte.“ „Was für ein Ansatz?“, entgegnete ich an mir heruntersehend. „Ich habe Ihnen bereits eine Laufkarte ausgedruckt. Nur für den Fall, dass Sie mit der Frau ins Gespräch kommen wollen.“ „Das war sehr weitsichtig von Ihnen, Trude, aber ich glaube eher nicht.“

Bereits am nächsten Tag stand ich in Jogger und Laufschuhen am Ende der ‚Alte Dorfstraße‘ in Schandelah. Da Frau Lampe mir zuliebe nicht von ihren täglichen Trainingsplan abrücken wollte, hatten wir uns am Ausgangspunkt ihrer Laufstrecke verabredet. Bis zu diesem Zeitpunkt war ich der Auffassung, auch als untrainierter Mann mit ihr mithalten zu können.

„Wie ich sehe, haben Sie sich einigermaßen gut vorbereitet“, lobte sie meine Aufmachung. Sie müssen verstehen, dass ich mein Training für den Berlin-Marathon nicht unterbrechen kann.“ Ich holte tief Luft. Allein ihre Absichtsbekundung verschlug mir den Atem. „Da laufen Sie mit? Alle Achtung“, zollte ich ihr Respekt.

Während sich Frau Lampe mit unterschiedlichen Dehnübungen locker machte, versuchte ich ihrem Vorbild zu folgen. „Wie ich Ihnen schon am Telefon sagte, arbeite ich für Frau Stolzenberg. Meine Klientin sagte mir, dass Sie bereits seit fünfzehn Jahren als Buchhalterin für ‚Burg-Reisen‘ tätig sind.“ „Das stimmt. Können wir?“, trippelte sie ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. „Ja klar, wir können uns ja während des Laufens weiter unterhalten“, lächelte ich ihr hoffnungsfroh zu. Bereits nach fünfzig Metern lag ich bereits so weit hinter ihr zurück, dass eine Unterhaltung nur noch mit Megaphon möglich gewesen wäre.

„Laufen Sie schon mal vor!“, rief ich ihr zu. „Ich hole Sie schon wieder ein.“ Ihre Antwort begrenzte sich in einem kurzen Handzeichen. Wieder zurück an meinem Wagen, lud ich das Klappfahrrad aus, welches mir der Nachbar zur Verfügung gestellt hatte, montierte es und schwang mich auf den Sattel. Dass man diesen ebenfalls durch eine Stellschraube fixieren musste, hatte mir vorher niemand gesagt. Dass man sich auf dem Ding einen Wolf strampelt, auch nicht.

Wie auch immer, zehn Minuten später hatte ich Frau Lampe eingeholt. „Sie schummeln ja, Herr Lessing“, lachte sie, als ich neben ihr auftauchte. Völlig außer Atem brauchte ich einige Minuten für meine Antwort. „Zumindest sind Sie kreativ. Also, stellen Sie ihre Fragen.“

Auch wenn ich Trude nur ungern Recht gab, war klar, dass ich in Zukunft etwas für meine Kondition tun musste. „Tja also, da haben Sie ja schon einige Jahre für den Vater meiner Klientin gearbeitet. Ich nehme an, Herr Stolzenberg hat den Betrieb im Sinne seines Schwiegervaters weitergeführt?“ „Sie wissen doch, wie das so ist“, entgegnete sie vage. „Natürlich hatte Herr Stolzenberg seine eigenen Vorstellungen. Er wollte expandieren und war im Grunde auf einem guten Weg, aber dann kam Corona und der Kauf der neuen Busse fiel ihm auf die Füße.“ „Er musste den Fahrzeugpark also wieder ausdünnen“, schlussfolgerte ich.

Bevor die Marathonläuferin auf meine Frage antworte, bog sich der Weg plötzlich in einer Kurve nach links. Als ich den Lenker einschlug und mich nach links legte, drehte sich der Sattel entgegen jeglicher physikalischer Gesetze nach rechts. Trotz Erdanziehungskraft schaffte ich es gerade noch, einen Sturz zu vermeiden. Zum Stehen kam ich allerdings erst auf einem Feld zwischen lauter Zuckerrüben.

Frau Lampe konnte vor Lachen nicht weiterlaufen. Auch wenn mir im ersten Moment nicht danach war, steckte sie mich letztlich doch an. „Tut mir leid, wenn Sie Ihr Training nun doch meinetwegen unterbrochen haben.“ „Falls Sie ihren Job nicht mehr machen können, sollten Sie eine zweite Karriere als Comedians anstreben.“

Nachdem ich das Klapprad des Nachbarn geborgen und den Sattel fixiert hatte, setzte die Buchhalterin ihr Training und ich ihre Befragung fort.

„Wir sprachen über den Fahrzeugpark“, erinnerte ich die Buchhalterin. „Er musste mehrere Busse mit hohen Verlusten verkaufen und einige Fahrer entlassen“, seufzte sie. „Aber dann ging es ja ziemlich schnell wieder bergauf“, hielt ich mit meiner Skepsis nicht hinter dem Berg. „Die Busse müssen quasi über Nacht wieder voll ausgelastet gewesen sein.“ „Hören Sie, Herr Lessing, ich bin jenseits der Fünfzig. Wenn ich jetzt meinen Job verliere, bekomme ich wahrscheinlich keinen neuen mehr.“ Anhand ihrer Reaktion wurde klar, dass ich auf dem richtigen Weg war.

„Wenn das Finanzamt spitzbekommt, dass die Zahlen nicht stimmen und Sie als Buchhalterin die illegalen Machenschaften Ihres Chefs decken, brauchen Sie ganz gewiss keinen Job mehr, weil Sie dann nämlich in der Knastwäscherei arbeiten.“ „Wenn Sie mir drohen, ist unser Gespräch an dieser Stelle beendet“, empörte sie sich. „Drohen? Ich will Ihnen den Hintern retten!“, machte ich ihr ihre Situation bewusst. „Wann bekamen Sie zum ersten Mal Zweifel?“ „Es waren die Busse, die meistens nur zur Hälfte mit Fahrgästen gefüllt den Hof verließen. In den Abrechnungen aber immer bis auf den letzten Platz ausgebucht waren.“ Die Zahlen wurden also geschönt.

„Konnte es nicht sein, dass an weiteren Haltestellen Leute zustiegen?“, hakte ich nach. „Das sagte ich mir zunächst auch, aber nachdem ich die Fahrer darauf angesprochen hatte, wurde klar, dass die Busse im besten Fall zu zwei Dritteln ausgelastet waren.“ „Aber auf diese Weise musste er doch doch viel mehr Steuern abführen“, überlegte ich. „Das ist richtig, aber so wird schmutziges Geld sauber und dem Unternehmen geht es besser.“ „Fragt sich nur, woher das Schwarzgeld stammt?“, eruierte ich. „Das dürfte dann wohl Ihr Job sein“, bekundete Frau Lampe.

Nachdem wir uns einige Atemzüge wortlos nebeneinander herbewegt hatten, weil jeder für sich die neue Situation überdachte, brachen wir gleichzeitig unser Schweigen. „Wie geht…“ „Haben Sie…“ „Fragen Sie zuerst“, ließ ich der Buchhalterin den Vortritt. „Wie geht es denn nun weiter?“ „Solange ich nicht herausgefunden habe, was hinter alledem steckt, bleibt alles beim Alten. Wenn Sie ihn jetzt anzeigen, gibt es keine Beweise und er wird versuchen, Ihnen alles in die Schuhe zu schieben.“ „Aber ich habe mit alledem doch nichts zu tun!“ „Was sicher nicht einfach zu beweisen wäre. Haben Sie denn wirklich keine Ahnung, woher das Geld kommen könnte?“ Frau Lampe stoppte abrupt ab. „Nein, das nicht, aber da waren so merkwürdige Typen im Betrieb. Ich begegnete ihnen auf dem Flur vor dem Büro des Chefs.“

Ich bremste ebenfalls und hielt neben ihr. „Was waren das für Männer?“ Ihre Stirn krauste sich. „Ganz merkwürdige Typen, denen ich nachts nicht begegnen möchte. Südländer, wenn ich mich recht erinnere.“ „Können Sie die Begegnung zeitlich eingrenzen?“, hakte ich interessiert nach. „Ich würde sagen, so Anfang 22, vielleicht März oder April.“ „Würde das ungefähr in die Zeit fallen, als Ihnen die Differenz bei der Auslastung der Busse zum ersten Mal auffiel?“

Wir saßen inzwischen auf einem Baumstamm, der mit weiteren Stämmen am Wegrand lag. Frau Lampe dachte angespannt nach. „Das mit den Bussen fiel mir erst zwei, drei Monate später auf.“ Das konnte passen. Was auch immer diese Männer anzubieten hatten, es würde sicherlich einige Zeit in Anspruch nehmen, ehe sich dieses Geschäft für Stolzenberg auszahlte.

„Ich lege Ihnen nahe, sich vorerst ruhig zu verhalten. Erledigen Sie die Arbeit weiterhin wie gewohnt. Lassen Sie sich nichts anmerken und sprechen Sie vor allem mit niemandem darüber. Ich weihe inzwischen Frau Stolzenberg ein und dann überlegen wir unser weiteres Vorgehen. Auf jeden Fall werde ich Sie zeitnah informieren. Bis dahin nehmen Sie bitte allenfalls mit mir Kontakt auf. Sie finden die Telefonnummer der Detektei im Internet und im Telefonbuch.“ „Haben Sie keine Karte?“ „Damit sie jemand bei Ihnen findet?“ Sie nickte.

 

 

5

„Guten Tag, Frau Stolzenberg“, begrüßte ich meine Auftraggeberin in meiner Detektei. „Nehmen Sie bitte Platz. Darf ich Ihnen einen Kaffee oder etwas anderes anbieten?“ „Bitte ein Mineralwasser, wenn möglich Medium.“ Ich drückte die Ruf-Taste meiner Gegensprechanlage und bestellte das gewünschte Getränk. „Es klang am Telefon so, als konnten Sie schon etwas herausfinden“, ließ meine Klientin ihrer Neugier freien Lauf. „Nicht das, was Sie erwarteten, aber allemal brisant genug, um Sie zu einem Gespräch zu bitten.“

Die Sorgenfalten in ihrem Gesicht gruben sich noch tiefer ein. „Sie erzählten mir bei unserem Vorabgespräch von der drohenden Insolvenz der Burg-Reisen GmbH und davon, dass es ihrem Mann nur durch die Veräußerung mehrerer Busse und der Entlassung einiger Fahrer gelungen war, dass Unternehmen vor der Pleite zu bewahren.“ „Genau so war es“, bestätigte Frau Stolzenberg. „So zumindest sieht es auf den ersten Blick aus. Leider ergaben die Recherchen ein anderes Bild.“

Ihre Buchhalterin, Frau Lampe, erzählte mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit, dass die Zahlen für die Sitzplatzbuchungen in den Bussen massiv geschönt wurden.“ Meine Klientin stutzte. „Aber das macht doch gar keinen Sinn, weil das höhere Einnahmen suggerieren würde, für die dann auch höhere Steuern gezahlt werden müssten.“ „Es sei denn, Ihr Mann würde mit einer Nebentätigkeit Geld verdienen, welches er auf unauffällige Weise dem Unternehmen zu Gute kommen lässt.“

Frau Stolzenberg erschrak. „Ja aber, woher soll er das Geld denn haben?“ „Vielleicht ist genau dies der Grund für die Fahrten in die Schweiz und nicht eine Affäre, wie Sie bislang annahmen?“, brachte ich sie zum Nachdenken. Nach einer Weile verzog sie ihr Gesicht und schüttelte den Kopf. „Ich bin mir sicher, dass eine Frau ihre Finger im Spiel hat. Ich kenne meinen Mann. Er ist so verändert, geht mir aus dem Weg und reagiert ertappt, wenn ich unvermittelt ins Zimmer komme. Vielleicht lebt die Affäre meines Mannes in der Schweiz und wer weiß, vielleicht hat diese Frau auch etwas mit den Manipulationen zu tun? Sie müssen herausfinden, was dahintersteckt, Herr Lessing.“

Meine Stirn legte sich in Falten. „Dazu müsste ich eine Busreise nach Zürich buchen“, überlegte ich. „Und weil es sicherlich auffällt, wenn ich eine solche Reise allein unternehme, wäre es sinnvoll, wenn meine Assistentin mit mir verreist. Tante und Neffe fallen sicher weniger auf“, schlug ich vor. „Sie haben Recht, Herr Lessing.“ „Allerdings müsste ich die Reisekosten in dem Fall auf die Spesenrechnung setzen“, gab ich zu bedenken. „Sie können online buchen. Je eher desto besser. Ich glaube, er fährt in zwei Tagen die nächste Tour.“

Während ich meine Auftraggeberin zum Ausgang begleitete, zwinkerte ich meiner Putzsekretärin lächelnd zu. „Falls Ihr Mann die Tour doch nicht selber fahren sollte, wäre es gut, wenn Sie mich rechtzeitig informieren“, bat ich Frau Stolzenberg. „Sie können sich auf mich verlassen“, entgegnete sie und verließ die Detektei.

„Wollen Sie was von mir, Chef?“, stutzte Trude irritiert. „Was halten Sie von einer Dienstreise in die Schweiz?“ „Wie, Sie und ich?“ „Warum nicht?“ „Weil wir noch nie zusammen verreist sind.“ „Dann wird's aber höchste Zeit, meinen Sie nicht auch?“ Aber nur wenn jeder von uns sein eigenes Zimmer bekommt“, machte Trude zwinkernd zur Bedingung. „So sollte es sein, wenn Tante und Neffe eine Reise tun“, scherzte ich.

„Sie wollen mich doch verkackeiern, Chef“, hielt die gute Seele mein Angebot noch immer für einen Posse. „Nein, bestimmt nicht. Ich habe die Reise gerade mit unserer Auftraggeberin besprochen. Ihr Mann fährt übermorgen wieder nach Zürich. Frau Stolzenberg vermutet, dass er dort eine Affäre hat. Es liegt also nahe, ihn dort zu observieren. Was liegt also näher, als mit meiner Tante mitzufahren?“ „Schon übermorgen! Ach herrjemine, wie soll ich das nur Axel klarmachen? Gerade jetzt, wo er das Bein gebrochen hat.“ „Na ja, solange er nicht beide Arme in Gips hat…“ Trude schüttelte den Kopf. „Sie sind unmöglich, Chef.“

„Wo willst du hin?“, hakte Miriam ungläubig nach. „Ich muss im Auftrag meiner Klientin in die Schweiz, wo ich ihren Ehemann observieren soll“, erklärte ich. Mein Schatz sah mich verwundert an. „Trude wird mich auf dieser Reise unterstützen“, schob ich nach. „Moment, nur noch mal zu meinem besseren Verständnis. Du und Frau Berlitz fliegen für…, wie lange sagtest du?“ Ich runzelte die Stirn. „Zum einen fliegen wir nicht, sondern reisen mit dem Bus und zum anderen sagte ich noch nicht, wie lange die Tour dauern wird.“

„Also ehrlich, du kannst doch nicht einfach einen Auftrag annehmen bei dem du über mehrere Tage unterwegs bist“, zeigte sich Miriam nicht gerade erfreut. „Gerade jetzt, nachdem wir uns gerade darauf geeinigt haben, dass du kürzertrittst, um mehr Zeit für die Familie zu haben.“ Ich sah ihr ungläubig in die Augen. „Sorry, aber da musst du wohl etwas falsch verstanden haben. Natürlich will ich so viel Zeit wie möglich mit Ramona und dir verbringen, aber wir hatten uns ebenso darauf verständigt, dass mir meine Arbeit sehr wichtig ist. Ich verlange doch auch nicht, dass du auf deine Seminare verzichtest.“

Mir fiel auf, wie oft wir uns in letzter Zeit in dieser Hinsicht uneins waren, aber wenn ich mich jedes Mal zurücknahm, um keinen Streit zu riskieren, tat ich mir auf lange Sicht keinen Gefallen damit. „Als wir uns kennen und lieben lernten, wusste jeder von uns, auf was er sich einließ“, versuchte ich Miriam meinen Standpunkt klarzumachen. „Unsere Arbeit ist ein wichtiger Bestandteil unseres Lebens. Ohne sie würden wir beide nicht mehr das sein, was uns ausmacht.“ Nichts anderes versuchte ich ihr kurz zuvor in einem ähnlichen Gespräch schon einmal zu erklären.

„Du hast Recht, Leopold“, lenkte mein Schatz ein. „Ich denke, drei, vier Tage bekommen Ramona und ich es auch ohne dich hin, aber du musst mir versprechen, nach diesem Fall mindestens für eine Woche keine neuen Fälle anzunehmen.“ Meine Nackenhaare sträubten sich. „Ich verspreche dir, keine neuen Fälle zu bearbeiten“, präzisierte ich.“ Miriam sah mich durchdringend an. „Also schön, dann eben so.“

Wenn dies der Kompromiss war, nachdem wir gesucht hatten, sollte es mir recht sein. Wenn er sich auf ähnliche Situationen anwenden ließ, die ohne Frage noch vor uns lagen, um so besser. Fakt war, dass diese Diskussionen zwar leidig waren, es allerdings keine Patentlösung gab, wenn wir trotz Familie an unserer Berufung festhalten wollten. Ich war gespannt, ob Trude mit Axel weniger Probleme haben würde.

Der folgende Tag war mit allerlei Vorbereitungen gespickt. Es liegt auf der Hand, dass eine Detektei nicht ohne Weiteres für ein paar Tage geschlossen werden kann. Immerhin gab es Ermittlungen in anderen Fällen, die zwar bereits abgeschlossen waren, aber vor der Erstellung einer Rechnung zunächst gerichtsfest ausgewertet werden mussten. Versicherungsgesellschaften gehören in dieser Hinsicht zu den eher schwierigen Auftraggebern. Wenigstens zahlten sie gut.

Zwei Tage später war es dann so weit. Miriam fuhr uns nach Broitzem zum Busterminal. „Hast du auch alles eingepackt?“, nervte Miriam und begann alles, was sie für wichtig hielt, aufzuzählen. „Du brauchst für jeden Tag einen Schlüpfer und frische Strümpfe.“ Ich verdrehte die Augen. Wie peinlich war das denn? „Vielleicht sprichst du etwas lauter, ich glaube die alte Frau hinter mir hat dich nicht verstanden.“ Miriam schüttelte fürsorglich den Kopf. „Nun sei doch nicht gleich wieder beleidigt. Ich mache mir eben Gedanken.“

Nachdem wir uns endlich verabschiedet hatten, weil Miriam einen unaufschiebbaren Termin am Gericht hatte, waren Trude und ich die Letzten, die einstiegen. Außer uns nahmen etwa zwei Dutzend Reisende an der Tour teil. Der Bus war also nur zur Hälfte besetzt. Beim Anblick der Mitreisenden bestätigte sich meine Vorahnung. Offensichtlich war ich der Benjamin in der Rentnergang. Wie gut, dass ich Trude an meiner Seite hatte. Als Erklärung für die Begleitung meiner geliebten Tante musste ihr schlechter Gesundheitszustand herhalten.

Detektei Lessing Band 30 „Der süße Durst nach Rache“