Detektei Lessing

Band 41

Leidensweg

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Wie so oft in den vergangenen Jahren war der für die Jahreszeit erwartete Schnee ausgeblieben. Was für die Kinder, die eigentlich mit ihren Schlitten auf den Rodelberg wollten, eher enttäuschend war, war für Leander Sommer wie ein Geschenk des Himmels. Der Verwaltungsfachangestellte der Stadt Königslutter baute gerade für sich und seine Familie ein Einfamilienhaus am ‚Lutterberg‘. Jeder Tag ohne Eis und Schnee war für ihn ein Tag, an dem er seinen Bau voranbringen konnte.

Eigentlich wollte er seine Wohnung zum Jahresende aufgeben und in das fertige Haus umziehen, doch schon seit Wochen war klar, dass die Baufirma den angestrebten Termin zur Fertigstellung nicht halten konnte. Gottlob hatte sein Vermieter ein Einsehen und verlängerte das Mietverhältnis um drei Monate. Eine weitere Verlängerung war allerdings nicht möglich. Darüber hinaus belasteten ihn in dieser Zeit die nicht eingeplanten Mietkosten. Aufgrund der zusätzlichen Kosten für die Beseitigung der durch den Bauunternehmer verursachten Baumängel wusste Leander Sommer nicht mehr ein und aus.

„In zwei Wochen ist Sylvester, Schatz“, begann Larissa das Gespräch. Leander ahnte bereits, was seine Frau ihm sagen wollte. „Ich habe mich ja mittlerweile damit abgefunden, dass Weihnachtsfest zwischen Umzugskartons zu feiern, aber wenn du dem Bauunternehmer jetzt nicht endlich Paroli bietest, sitzen wir zu Ostern immer noch hier auf den gepackten Kartons.“ „Du hast ja recht, Larissa, aber jedes Mal, wenn ich dem Kerl den Pfusch seiner Leute unter die Nase reibe, redet er sich heraus und verspricht für Abhilfe zu sorgen.“ „Nur, dass sich daraufhin nie etwas tat“, seufzte Larissa. „Ich habe mit Christoph Börner gesprochen. Wir müssen alles fotografieren und ihm für die Beseitigung der Baumängel Fristen setzen.“

Leander sah seine Frau fragend an. „Wer bitteschön ist Christoph Börner?“ „Der Mann von Detlef. Wir trafen uns letztes Jahr bei einer Lesung im Schmidt-Terminal in Wolfenbüttel.“ Leander nickte. „Jetzt erinnere ich mich. Der Mann ist Anwalt.“ „Genau. Ich habe mit ihm telefoniert. Falls wir seine Hilfe brauchen, sollen wir uns bei ihm melden.“ Der Beamte seufzte. „Einen Anwalt können wir uns nicht auch noch leisten. Ich versuche es erst einmal mit den Fotos und der Fristsetzung. Ich denke, wenn ich Mautzen unter Druck setze, wird er einlenken.“ „So geht es jedenfalls nicht weiter.“ „Ich weiß, mein Schatz. Lass mich mal machen, ich kriege das schon hin.“

Tags darauf erschien der Bauunternehmer erst eine Stunde nach dem angesetzten Termin. Ein solches Verhalten war für Leander Sommer längst nicht mehr provokant. Er war froh, dass Mautzen überhaupt noch auf der Baustelle erschien. Es grenzte ohnehin an ein Wunder, dass kurz vor Weihnachten so viele Handwerker an der Arbeit waren. Nach allem, was in den vergangenen Wochen und Monaten auf der Baustelle geschehen, oder besser, nicht geschehen war, freute sich der Bauherr darüber.

„Hallo Herr Sommer“, betrat der Bauunternehmer mit ausgestreckter Hand den Rohbau. „Es wird Zeit, dass Sie endlich kommen“, entgegnete Leander, während er den Handschlag verweigerte. „Na ja, Sie wissen ja, wie das so ist. Der Tag müsste doppelt so lang sein, um das Nötigste erledigen zu können. Ich habe leider auch gar nicht viel Zeit“, begann der Bauunternehmer sein übliches Spielchen. „Wo also drückt der Schuh?“

Der Bauherr schüttelte fassungslos den Kopf. „Als wenn Sie das nicht genau wüssten. Ich machte Sie bereits vor Wochen auf die Maßungenauigkeiten der Fensteröffnungen aufmerksam. Die Stürze sind zu kurz, so dass die Auflager zu knapp sind. Das Dach ist an beiden Giebeln undicht und im Keller sind zwei Außenwände feucht. Es liegt auf der Hand, dass die Isolierung defekt ist.“

Gerd Mautzen verzog missgelaunt das Gesicht. „Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich mich um die Öffnungen für die Fenster kümmern werde. Was die Kellerwände betrifft, handelt es sich um Staunässe. Sie sollten sich in Geduld fassen. Wenn erst einmal alles fertig ist, verschwindet die von allein.“ „Ich lasse mich nicht länger von Ihnen vertrösten. Vor Weihnachten sollte bereits Schlüsselübergabe sein, nun sprechen Sie von Ostern.“ „Für die Handwerker der Subunternehmer kann ich nichts. Da müssen Sie sich schon an die betreffenden Leute wenden“, versuchte sich Mautzen aus der Verantwortung zu stehlen.

Inzwischen waren mehrere Handwerker durch das immer lauter werdende Streitgespräch aufmerksam geworden. „Ich setze Ihnen eine Frist bis zum Ende des Jahres. Falls die Mängel bis dahin nicht behoben sind, werde ich mich an einen Rechtsanwalt wenden und Sie verklagen!“ Mautzen lachte provozierend. „Wenn Sie glauben, mich unter Druck setzen zu können, werde ich die Arbeiten an Ihrem Haus ganz einstellen lassen.“ „Jetzt machen Sie einfach, wofür Sie bereits das Geld bekommen haben!“, schrie ihn der Bauherr an. Mautzen schüttelte grinsend den Kopf. „Ich habe Sie gewarnt.“ Dann wandte er sich von Sommer ab. „So, Männer, hier ist jetzt Schluss für heute. Packt zusammen!“ Leander riss ihn an der Schulter zurück. Es kam zu einem Handgemenge. „Wenn Sie das machen, bringe ich Sie um!“

-2-

Es war noch dunkel, als Gerd Mautzen die Heckklappe seines Geländewagens öffnete und die Tasche mit den Jagdgewehren einlud. Er wandte sich noch einmal um und räusperte sich. Als er sein Anwesen im hellen Mondlicht sah, umspielte ein mildes Lächeln die sonst so harten Gesichtszüge. Er war stolz auf das, was er sich in vielen Jahren harter Arbeit aus dem Nichts aufgebaut hatte. Ohne Moos nichts los, lachte er innerlich, während er sich in seinen Jeep setzte.

Die vergangenen Jahre waren oftmals hart und nicht selten unerbittlich gewesen, aber sie hatten dem Unternehmer auch die Augen geöffnet und ihm klargemacht, dass er nicht zimperlich sein durfte, wenn er dem Abgrund nicht wieder so nah kommen wollte. Nur durch die Fusion mit einer anderen Baufirma hatte er damals die Insolvenz abwenden können. Aber das war Schnee von gestern. Heute stand seine Firma wieder gut da und das sollte auch so bleiben. Da durfte er keine Rücksicht auf kleine Bauherren wie Sommer nehmen.

Zufrieden mit sich und seinem Leben drehte er den Zündschlüssel und startete den Motor. Der soll ruhig mit seinem Anwalt kommen, dachte er. Auf ein Gutachten folgt ein Gegengutachten. Mal sehen, wie schnell dem Kerl das Geld ausgeht? Er putschte sich, indem er mit der Faust auf das Lenkrad schlug.

Kurz darauf fuhr er von der Landstraße 290 nach rechts in einen Waldweg ab, der ihn zu seinem Jagdrevier ‚am großen Rhode‘, etwa 300 Meter vom Flüsschen ‚Wabe‘ entfernt führte. Schon viele Male war er diesen Weg gefahren, schon so manche Nacht hatte er auf dem Hochsitz verbracht, die Natur und die Stille genossen. Immer dann, wenn es Probleme mit der Firma gegeben hatte, brauchte er die Jagd, um den Kopf freizubekommen. Es gab nichts Erhabeneres für ihn, als seine Sinne zu schärfen, gebannt zu warten, bis ihm das Schicksal ein lohnendes Ziel vor die Flinte treibt. Dann der Moment, in dem er das Tier im Fadenkreuz hat, er den Atem anhält und sich sein Finger schließlich um den Abzug krümmt.

Ein Knall, aufgescheuchtes Leben strebt davon. Der Tod bringt das getroffene Wild jäh zum Erliegen, hält Einzug. Er, als der Richter über das Schicksal hat sein Urteil vollendet. Es folgt Stille. Ehrfürchtige Stille, in der er dem Leben Demut zollt. Es ist der Respekt, den der Jäger seinem Opfer entgegenbringt.

Mautzen stieg über die Leiter nach oben, schloss das Vorhängeschloss auf und drückte die Klappe unter dem Hochsitz nach oben. Er zog den Rucksack vom Rücken und schob ihn durch die Öffnung im Boden nach oben. Schließlich kletterte er selbst hindurch und schloss die Klappe wieder. Er spürte, wie müde seine Knochen allmählich wurden. Auch wenn er es sich nicht eingestehen wollte, waren die Jahre auch an ihm nicht spurlos vorbeigegangen. Schnaufend setzte er sich auf die Holzbank und drehte den Verschluss an seinem Flachmann auf. Er nahm einen ordentlichen Schluck Kräuterbitter daraus und schraubte ihn wieder zu.

Der Hochprozentige tat ihm gut. Langsam kam er wieder zu Atem. Er packte das Nachtsichtgerät, die Thermosflasche mit dem Tee und die Flinten aus, dann nahm er einen weiteren Schluck aus dem Flachmann und griff nach dem Fernglas. Der Mond schien hell genug und bot somit ausreichend Sicht auf das etwa zwanzig Meter vor ihm liegende Feld. Er wusste, dass die jungen Keimlinge so manchen Feinschmecker anlocken würden.

Gebannt verharrte er so, bis er nach einer Weile ein unangenehmes Kribbeln in seinen Fingern bemerkte. Er schob es auf die leichten Minusgrade und rieb sich die Hände. Als das Prickeln eher noch zunahm, schraubte er den Becher von der Thermoskanne, löste den Verschluss und füllte das Gefäß mit Tee. Um die Wirkung zu unterstützen, nahm er aus dem Flachmann einen großen Schluck Kräuterbitter und leerte danach den Becher mit Tee. Anstatt es nun besser wurde, begannen nun auch noch seine Füße so unangenehm zu jucken und zu kribbeln, dass es ihn nicht länger auf der Bank hielt und er nervös von einem Bein auf das andere stieg.

Dabei wechselten sich Kälte und Wärmegefühle in immer schnellerer Weise miteinander ab. Er spürte ein pelziges Gefühl auf seiner Zunge und bemerkte, wie sich ein Taubheitsgefühl in seinem Körper breitmachte. Die Stiefel schienen ihm enger zu werden, weil seine Füße mehr und mehr anschwollen. Als er die linke Seite seines Gesichts nicht mehr bewegen konnte, bekam er es mit der Angst und öffnete die Klappe im Fußboden, um den Hochsitz zu verlassen.

Er schaffte es, sie mit letzter Anstrengung zur Seite zu drücken, denn auch seine Arme und Beine waren nun wie gelähmt. Ein unerträgliches Gefühl der Kälte durchströmte gleichzeitig seinen gesamten Körper. Er atmete schwer, bekam immer schlechter Luft und in seinen Ohren setzte ein lautes Brummen ein, so, als schwirrten darin Tausende von Wespen herum. Im nächsten Moment übergab er sich.

Er fürchtete, dass es sein Tod bedeuten würde, wenn er auf dem Hochsitz bliebe. Obwohl er seine Beine nicht mehr spürte, schaffte er es auf die oberste Sprosse der Leiter. Im selben Moment begann sich alles um ihn herum zu drehen und er verlor jeglichen Halt. Mit einem erstickten Schrei stürzte er in die Tiefe, wo er hart auf dem Waldboden aufschlug. Unsäglicher Schmerz schoss durch seinen Rücken, lähmte jede seiner Bewegungen. Noch war er bei Bewusstsein, noch lebte er, aber sein Ende war nahe.

Tausende Gedanken schossen ihm durch den Kopf, ließen ihn nicht zur Ruhe kommen. Er spürte, wie sich der Druck in seiner Brust mit jedem Atemzug verstärkte. So, als würde sein Körper durch eine unsichtbare Kraft zusammengedrückt. Zum ersten Mal seit langer Zeit zweifelte er daran, ein guter Mensch gewesen zu sein. Trotz unerträglicher Schmerzen dachte er an seine Frau und an die gemeinsame Tochter, die gerade jetzt eine feste Hand brauchte. Das Atmen fiel ihm immer schwerer, bis er kaum noch Luft bekam. Sein Herz setzte aus und schlug nicht mehr.

Es dämmerte bereits, als sich Schritte näherten. Sie stoppten für einen Moment vor dem Toten. Eine Person beugte sich zu ihm herab, zog einen der Handschuhe aus und fühlte seinen Puls. Schließlich richtete sie sich wieder auf, zog den Handschuh wieder an und stieg über die Leiter hinauf auf den Hochsitz. Oben angekommen griff sie nach dem Flachmann und leerte dessen Inhalt, indem er ihn aus einem der Fenster goss. Dann füllte ihn die Person mit Tee und spülte ihn aus. Abschließend goss sie die Taschenflasche abermals aus, stellte sie zurück und stieg wieder hinunter. Die Person würdigte dem Toten keinen weiteren Blick, war aber klug genug, um hinter sich alle Spuren mit einem Tannenzweig zu verwischen, bevor sie schließlich wieder im Unterholz verschwand.

-3-

„Sie wollen also Ihren Ehemann als vermisst melden?“, empfing Polizeihauptmeister Phillips die angespannt wirkende Ehefrau von Gerd Mautzen. „Dann nehmen Sie bitte Platz, damit ich die Anzeige aufnehmen kann.“ Roswitha Mautzen kam der Aufforderung des Polizisten zögerlich nach. „Aber wollen Sie denn nicht nach Gerd suchen?“ „Gute Frau, wir müssen doch erst einige Einzelheiten zur Sache wissen“, beruhigte Phillips die Frau neben seinem Schreibtisch. „Gerd ist noch nie einfach so für zwei Tage weggeblieben und auf seinem Handy meldet sich auch nur der Anrufbeantworter. Ich spüre, dass da etwas nicht stimmt.“

„Am besten sagen Sie mir zunächst den Namen Ihres Mannes und seit wann Sie ihn vermissen.“ Eine Viertelstunde und etliche Fragen später versprach Polizeihauptmeister Phillips alles zu tun, was in seiner Macht stand, um den Vermissten zu finden. „Mir fällt ein, dass Gerd zur Jagd in den Elm gefahren sein könnte“, fiel Roswitha Mautzen beim Aufstehen ein. „Ja, weshalb sagen Sie das denn nicht gleich. Das ist ein guter Ansatz für unsere Suche. Am besten gehen Sie jetzt nach Hause und warten dort, bis wir uns bei Ihnen melden.“

„Aber...“ Phillips legte das Foto des Vermissten und die ausgedruckte Vermisstenanzeige in einen Ordner und klappte ihn zu. Dann stand er auf und kam hinter seinem Schreibtisch hervor und begleitete Roswitha Mautzen hinaus. „Machen Sie sich keine Sorgen. Vielleicht hat Ihr Mann ja auch nur einen alten Freund getroffen und nur etwas zu heftig Wiedersehen gefeiert.“ „Gerd macht ja schon mal Blödsinn, aber...“ „Na sehen Sie, Frau Mautzen“, fiel er der Ehefrau des Vermissten ins Wort, während er sie hinauskomplimentierte. „Bestimmt sitzt er längst daheim und wartet auf sie.“

Als Roswitha Mautzen die Dienststelle der Polizei im ‚Gerichtsweg‘ 5 verließ, hatte sie kein gutes Gefühl. Sie wusste, dass es mit der Firma nicht zum Besten stand und sie traute Gerd allerhand zu. Was würde aus ihr und Wiebke werden, wenn er die Konten abgeräumt und sich bei Nacht und Nebel aus dem Staub gemacht hatte?

Natürlich wartete Gerd nicht auf seine Frau, als Sie nach Hause kam. Dafür wartete Wiebke in der Küche. Sie hatte sich die angebrochene Dose mit den Würstchen aus dem Kühlschrank genommen und aß den restlichen Kartoffelsalat dazu.

„Hast du dir die Würstchen wenigstens warm gemacht?“, erkundigte sich Roswitha. „Nee, lass mal, ist schon gut so.“ „Wieso bist du eigentlich schon zu Hause?“, fragte Rosi, während sie zur Uhr sah. „Die Stenzel ist krank, da fielen zwei Stunden aus.“ „So ein Leben möchte ich auch mal haben“, seufzte ihre Mutter. „Apropos Leben, ist der Alte schon wiederaufgetaucht?“ Rosi sah ihre Tochter scharf an. „Ich möchte nicht, dass du so respektlos von deinem Vater sprichst, Wiebke.“ „Okay, wenn man sich Respekt schon dadurch verdient, dass man ein Arsch ist, sollte ich ihn mit Ehrfurcht behandeln.“

Wiebke dippte den Rest ihres Würstchens in den Kartoffelsalat, rutschte von dem Hocker und ließ den Teller auf dem Esstresen zurück. „Sei froh, wenn er weg ist“, sagte sie und verschwand über die Treppe nach oben in ihr Zimmer. Roswitha stand da und sah ihr seufzend nach. Wiebke hatte mehr von den ewigen Streitereien mit Gerd mitbekommen, als es für ihr Alter gut war. Mit dreizehn hatte sie mit der Pubertät mehr als genug zu tun. Das Leben ihrer Tochter veränderte sich in dieser Zeit mit jedem neuen Tag. Sie sollte behütet aufwachsen.

Sobald Gerd wieder zu Hause war, wollte sie mit ihm reden. Vielleicht war es ja noch nicht zu spät, um einige Dinge grundlegend zu ändern. Sie griff nach dem Telefon und drückte die Kurzwahltaste seines Handys. Sie hoffte, doch wieder war nur die Stimme des Anrufbeantworters zu hören.

Inzwischen war ein Streifenwagen auf dem Weg zu Mautzens Jagdrevier ‚am großen Rhode‘. Mit im Wagen befand sich der zuständige Förster. „Wir müssen da vorn rechts abbiegen“, beschrieb Olaf Reuter den Weg. Nach etwa zweihundert Metern stießen sie auf den Jeep von Gerd Mautzen. „Oh je, das ist kein gutes Zeichen“, unkte Hauptmeister Phillips. „Hoffentlich hat sich der Gerd nicht ins Knie geschossen“, flachste der Förster unüberlegt. Die Polizisten sahen ihn befremdlich an.

„War nur ein dummer Scherz“, schluckte Reuter. „Es gibt ganz in der Nähe einen Hochsitz, von dem aus der Gerd gern das Damwild beobachtet hat.“ „Dann lassen Sie uns keine Zeit verschwinden. Möglicherweise ist Herr Mautzen tatsächlich verletzt und braucht unsere Hilfe“, drängte Phillips. „Ich weiß ja nicht, wie das bei der Polizei mit den Zuständigkeiten ist“, bemerkte Reuter, während sich die Männer über einen schmalen Waldweg dem Hochsitz näherten, „...aber wir haben gerade den Landkreis Helmstedt verlassen.“ „Jetzt sehen wir erst einmal nach, ob Herr Mautzen Hilfe braucht.“

Als die Männer am Hochsitz angelangt waren, bot sich ihnen ein Bild des Grauens. Phillips begab sich sofort unter den Hochsitz, sprach Mautzen an und überprüfte dessen Puls. Als er sich aufrichtete schüttelte er den Kopf. „Der Mann ist tot.“ Er sah nach oben. „Wahrscheinlich ist er die Leiter hinuntergestürzt und hat sich beim Aufschlag das Genick gebrochen.“ „Wer weiß, wie lange der hier schon liegt“, seufzte der Förster. „Hier kommt selten jemand vorbei.“ „Rufen Sie vorsichtshalber den Notarzt“, forderte Phillips seinen Kollegen auf.

Während die Polizisten bei der Leiche warteten, machte sich Förster Reuter auf den Weg, um dem Notarzt den Weg zu weisen. „Wenn das hier tatsächlich schon zum Landkreis Wolfenbüttel gehört, sollten wir vielleicht besser die Kollegen aus der Lessingstadt informieren“, äußerte Schmidtke Bedenken. „Vielleicht denkst du mal an die Witwe. Gerd Mautzen war in Königslutter ein angesehener Bauunternehmer. Was glaubst du wohl, was für einen bürokratischen Wahnsinn das geben würde, wenn die Leiche nach Wolfenbüttel gebracht wird und die arme Frau ihren Mann von dort wieder nach Königslutter überführen lassen müsste.“

„Aber dürfen wir das denn einfach so entscheiden?“, war sich Schmidtke unsicher. „Ach was“, wischte Phillips die Skrupel seines Kollegen weg. „Ich rede mit Reuter. Wenn er uns nicht gesagt hat, dass wir hier nicht mehr auf Helmstedter Gebiet sind, wissen wir nichts davon.“ „Na ja, ist ja auch eigentlich keine große Sache!“, lenkte Schmidtke ein. „Na sag ich doch.“

Kurz darauf stellte der Notarzt den Tod des vermeintlich Verunglückten fest. „Der Mann hat sich bei dem Sturz offenbar das Rückgrat gebrochen. Gestorben ist er letztendlich durch Herzversagen. Er stellte den Totenschein aus und gab sein Okay zum Abtransport durch einen Bestatter. Ein ansässiges Unternehmen nahm sich schließlich des Toten an.

Als Schmidtke und Phillips wenig später vor der Haustür von Roswitha Mautzen standen, hatten beide einen Kloß im Hals. Sie hatten nicht mal darüber gesprochen, wer von ihnen der Witwe die traurige Nachricht überbringen sollte. Letztlich reichte Roswitha bereits der Anblick der beiden Polizisten, um den einzig logischen Schluss aus ihren gesenkten Köpfen zu ziehen. „Wo haben Sie ihn gefunden?“, fragte sie mit zitternder Stimme. „Er lag unterhalb eines Hochsitzes. Er muss die Leiter abgerutscht und unglücklich aufgeschlagen sein“, mutmaßte Hauptmeister Phillips.

„Kann ich ihn noch einmal sehen?“, erkundigte sich die Witwe. „Ihr Mann wurde von dem Bestattungs-institut Kreuzer abgeholt. Wir würden Sie jetzt gern dorthin fahren, damit Sie Ihren Mann identifizieren können.“ „Ja, natürlich. Ich muss meiner Tochter nur noch schnell Bescheid sagen.“

Einige Minuten später hielt der Streifenwagen vor dem Bestattungsinstitut. „Haben Sie Ihrer Tochter eigentlich gesagt, dass Ihr Vater tot ist?“, fragte Schmidtke, während er ihr aus dem Wagen half. „Vielleicht ist der Tote ja gar nicht mein Mann“, erwiderte sie hoffnungsvoll. Der Polizeibeamte ließ ihre Antwort unkommentiert.

Während Hauptmeister Phillips mit einer Frau sprach, die offensichtlich die Ehefrau des Bestatters war, musste sich Roswitha setzen. Das Ganze schien sie mehr mitzunehmen, als sie sich selbst eingestehen wollte. „Sie müssen sich leider noch einen Moment gedulden“, wandte sich Phillips an die Witwe. Der Tote wird zunächst noch etwas hergerichtet, um Ihnen den Anblick erträglich zu machen.“ Rosi starrte den Polizisten schockiert an.

„Es wird noch einen Moment dauern“, bemühte sich die Frau. „Möchten Sie in der Zwischenzeit einen Kaffee oder etwas anderes trinken?“ „Ich glaube, ich könnte jetzt einen Schnaps gebrauchen“, entgegnete die Witwe dankbar. Die Polizisten sahen sich nachdenklich an. Es schien, als könnten sie auch einen gebrauchen. „Wollen Sie auch einen, meine Herren?“, erkundigte sich die Frau. „Danke, aber wir sind im Dienst“, blieb Phillips standhaft. „Einen Augenblick bitte.“

Eine Zigarettenlänge später wurde die Witwe in den Raum gerufen, in dem der Bestatter den Leichnam aufgebahrt hatte. Als er das weiße Laken vom Kopf des Toten zog, begannen die Beine der Witwe zu zittern. Es gab keinen Zweifel mehr. Der Tote war ihr Ehemann. Sie nickte Phillips zu und bestätigte es mit trocknen Lippen. Der Hauptmeister musste sie stützen, während er sie aus dem Raum führte. Nach einem weiteren Schnaps ging es ihr wieder besser. „Falls Sie lieber einen anderen Bestatter wollen, ist dies kein Problem“, erklärte ihr Kreuzer. „Nein, nein, bitte kümmern Sie sich um alles Notwendige.“

-4-

Der Tod des Bauunternehmers verbreitete sich in Königslutter wie ein Lauffeuer. Da weder die bei der Firma Mautzen angestellten Bauarbeiter noch die von der Firma beauftragten Subunternehmer wussten, wie es weitergehen würde, ging es nun auf den Baustellen gar nicht mehr weiter. Es war zwar bekannt, dass Mautzen einen Kompagnon hatte, doch dieser führte bislang ausschließlich die in Braunschweig ansässige Tiefbausparte der Firma. Es konnte also gut sein, dass es zudem zu langen und schwierigen Verhandlungen mit den Erben kam.

Für Leander Sommer kam Mautzens Tod einem Supergau nahe. Es würde wahrscheinlich Wochen, wenn nicht sogar Monate dauern, bis das Erbe und die Rechtsnachfolge von Mautzen geklärt waren. Als Angestellter in der Verwaltung war er sich dessen nur allzu bewusst. Nichtsdestotrotz musste er bis Ende März seine Wohnung geräumt haben. Eine weitere Verlängerung des Mietverhältnisses hatte sein Vermieter von vornherein ausgeschlossen.

Als einzigen momentanen Ausweg sah er die Möglichkeit, einige der Arbeiten selber auszuführen, um zumindest zwei Räume für den Übergang bewohnbar zu machen. Gottlob war ein Teil der Fenster bereits geliefert. Auch wenn er handwerklich nicht sonderlich begabt war, konnte ihr Einbau nicht sonderlich schwierig sein.

Als er auf die Baustelle kam, wurde er bereits von zwei Männern erwartet. „Wollen Sie zu mir?“, fragte er, während er sich den Männern näherte. „Wenn Sie Herr Sommer sind“, entgegnete einer der Männer. „Was kann ich für Sie tun?“ „Mein Name ist Moor, das ist Herr Neubauer.“ „Guten Tag. Kommen Sie doch mit ins Haus. Es sind zwar noch keine Fenster eingebaut, aber es spricht sich doch etwas privater.“ „Wie Sie vielleicht bereits gehört haben, ist Gerd Mautzen tot“, kam Neubauer zur Sache. „Wir haben auch über seine Baufirma unser Haus bauen lassen und haben nun Probleme mit der fristgerechten Fertigstellung.“ „Ach, das ist ja interessant“, begriff Leander Sommer. „Sie sind also ebenso unzufrieden mit der Baubetreuung wie ich“, schlussfolgerte er.

„Was für eine Betreuung?“, erwiderte Moor. „Der Mistkerl hat sich einen Dreck um irgendwelche Termine geschert.“ „Wir fanden inzwischen heraus, dass es weitere Geschädigte gibt und wollen eine Interessengemeinschaft gründen. Allein haben wir keine Chance, unser Recht durchzusetzen, aber in einer Gruppe organisiert werden wir uns Gehör verschaffen.“ „Okay, mich müssen Sie nicht weiter überzeugen. Ich bin dabei.“ „Gut, dann sollten wir nun die anderen Betrogenen auffordern, unserer Sache beizutreten“, zeigte sich Moor kämpferisch, während Neubauer Leander seine Visitenkarte reichte. „Moment, ich gebe Ihnen meine, damit Sie mich erreichen, falls es etwas Neues gibt.“

-5-

Nachdem der Bestatter einen weiteren Klienten beerdigt hatte, wollte er sich nun dem Leichnam des Bauunternehmers widmen. Er zog seinen Kittel über und öffnete die Klappe des Kälteschranks. Er hatte den Schrank erst vor drei Monaten einbauen lassen und war daher sehr stolz auf diese Anschaffung. Sie ermöglichte es ihm, den Toten auf einem Schlitten herauszuziehen und ihn ohne eine mühsame Umbettung für die Beerdigung herzurichten. Falls er seine Arbeit, durch welchen Grund auch immer, für mehr als einen Augenblick unterbrechen musste, war es ihm möglich, den Schlitten samt Leichnam wieder auf Eis zu legen.

Als er nun das weiße Laken zurückzog, welches er für die Identifizierung über der Leiche ausgebreitet hatte, stutzte er. Auf den Lippen des Toten hatte sich ein feiner Schaum gebildet, wie er eigentlich nur dann auftrat, wenn der Tote durch ein bestimmtes Gift gestorben war. Jahre zuvor, ganz zu Beginn seiner Kariere, war ihm ein solcher Fall schon einmal untergekommen. Einschlägige Literatur war ihm seitdem immer wieder in die Hände gefallen. Einen solchen Hinweis konnte und durfte er nicht einfach ignorieren. Er griff zum Telefon. Ein alter Freund und Weggefährte musste ihm weiterhelfen, denn blamieren wollte er sich mit seinem Verdacht schließlich auch nicht.

„Schnippler“, meldete sich der Rechtsmediziner am anderen Ende der Leitung. „Hallo Justus“, hier ist dein alter Freund Max Kreuzer. Ich habe da einen merkwürdigen Klienten auf dem Tisch. Der Mann fiel bei der Jagd von einem Hochsitz und brach sich dabei das Genick. Tod durch Herzversagen, steht auf dem Totenschein.“ „Komm auf den Punkt, Max“, drückte der Rechtsmediziner aufs Tempo. „Der Tote hat Schaum vor dem Mund.“ „Das passt ja nun gar nicht zur Vorgeschichte“, entgegnete Schnippler nachdenklich. „Eben.“ „Also gut, Max. Ich sehe mir den Toten selber an. Ich komme zum Abendessen, wenn du verstehst?“ Gerd hatte verstanden. Der gute Appetit seines ehemaligen Mitbewohners war ihm in lebendiger Erinnerung geblieben.

„Ich habe uns einen Tisch in der Herrenmühle reserviert“, empfing Gerd seinen alten Freund. „Das hört sich doch gut an“, schmunzelte Justus. „Aber zuerst die Arbeit.“ „Ich hatte nichts anderes erwartet“, lächelte Max. „Die Neugier ist also immer noch dein zweitgrößtes Hobby.“ „Sonst hätte ich wohl den falschen Beruf“, pflichtete ihm der Rechtsmediziner bei. „Ich bin schon sehr gespannt, ob du mir zu viel versprochen hast.“

Wenige Minuten später war klar, dass der Bestatter den richtigen Riecher hatte. „Ich werde unseren Verdacht, mehr ist es offiziell bislang nicht, sofort an das zuständige Kommissariat melden. Da der Tote hier in Königslutter gefunden wurde, fällt der Fall in den Zuständigkeitsbereich des Helmstedter Kommissariats und somit der Rechtsmedizin in Wolfsburg zu.“ „Das ist so nicht ganz richtig“, verzog Max das Gesicht. „Der Tote ist hier gemeldet und wurde deshalb der Einfachheit halber nach Königslutter gebracht, aber gefunden wurde er streng genommen im Landkreis Wolfenbüttel.“

Doktor Schnippler sah seinen Freund durchdringend an. „Laufen die Geschäfte so schlecht, dass du auf solche Ideen kommen musst?“ „Quatsch! Der Polizeibeamte wollte der Witwe unnötige Wege ersparen.“ „Na, dann sieh mal zu, wie du diesen freundlichen Polizisten von der Notwendigkeit überzeugst, dass er das zuständige Kommissariat in Wolfenbüttel informieren muss.“

Auch wenn sich Polizeihauptmeister Phillips etwas schwer mit seinem Eingeständnis tat, sah er auf Grund der veränderten Sachlage ein, dass der gerade Weg nicht immer der beste war.

„Es tut mir wirklich leid Herr Oberkommissar, aber das Waldstück, in dem der Tote gefunden wurde, ist sehr unübersichtlich. Es war mir nicht sofort klar, dass es schon zu Wolfenbüttel gehört“, redete er sich gekonnt heraus. Kreuzer verbarg sein Schmunzeln. „Weshalb riefen Sie eigentlich Doktor Schnippler an, um ihn von Ihrem Verdacht zu erzählen?“, wandte sich Oberkommissar Sinner dem Bestatter zu. „Wir sind befreundet“, hielt sich Kreuzer knapp. „Außerdem wollte ich auf einen bloßen Verdacht keine Pferde scheu machen.“

„Nun gut, da nun klar ist, dass der Tod des Mannes in den Zuständigkeitsbereich des Kommissariats Wolfenbüttel fällt und ein hinreichender Verdacht auf ein Tötungsdelikt vorliegt, muss der Leichnam in die Rechtsmedizin nach Braunschweig überführt werden, wo Herr Doktor Schnippler die Obduktion durchführen wird“, erklärte Sinner. „Wann können Sie den Toten überführen?“ „Morgen früh als Erstes“, versprach Max Kreuzer. „Dann kann ich gegen Mittag mit einem ersten Ergebnis rechnen?“, versuchte Oberkommissar Sinner Druck zu machen. „Falls Gift im Spiel ist, brauche ich allein für die Analyse durch das Elektronenspektrometer schon einen ganzen Tag“, bremste Doktor Schnippler die Erwartung des Ermittlers. „Na dann ist es so. Gut Ding brauch bekanntlich eine Weile.“

Nachdem die Dinge ihren bürokratischen Lauf genommen hatte und die deutsche Ordnung wiederhergestellt war, begaben sich Gerd Kreuzer und sein Freund Justus Schnippler in die Lutterstraße, wo sie es sich im Restaurant Herrenmühle bei einem drei Gänge Menü gut schmecken ließen und über alte Zeiten plauderten. Natürlich versprach der Rechtsmediziner seinen Freund auf dem Laufenden zu halten.

-6-

„Ihr Verdacht hat sich also bestätigt“, resümierte der Oberkommissar aufgrund der Erkenntnisse, die ihm Doktor Schnippler am Telefon mitteilte. „Das Opfer wurde demnach mit Aconitin vergiftet“, wiederholte er die Worte des Mediziners. „Sie werden mir den Obduktionsbericht ja ohnehin zusenden, aber wie kommt man an diese Substanz?“, erkundigte er sich. Umso erstaunter war er, als ihm Schnippler erklärte, dass es sich um das Gift des blauen Eisenhuts handelte. Eine Pflanze, die auch in Deutschland recht verbreitet war.

„Ich fürchte, da kommt eine Menge Arbeit auf uns zu, Schubert“, bekundete er, nachdem er das Gespräch mit dem Rechtsmediziner beendet hatte. „Der Mann im Elm starb keines natürlichen Todes.“ „Fragt sich nur, ob er sich selbst das Leben nahm oder ob jemand nachhalf“, sinnierte Kommissar Schubert nachdenklich. „Bevor wir uns auf den Weg nach Königslutter machen, sollten wir so viel wie möglich über den Toten in Erfahrung bringen. Der Mann war Bauunternehmer, da wird im Internet sicherlich einiges zu finden sein.“

Bereits am Nachmittag hatten sich die Kommissare eingehend mit dem Leben des Toten beschäftigt. Ganz oben auf ihrer Liste stand natürlich der Fundort der Leiche. Zusammen mit den Leuten der Spurensicherung trafen sie auf der Landstraße 290 auf Hauptmeister Phillips und dessen Kollegen. Sie folgten dessen Streifenwagen über einen Waldweg, bis dieser zu schmal wurde und sie zu Fuß weitergehen mussten.

„Gibt es keine andere Zufahrt zum Fundort?“, fragte Schubert, während er wie ein Storch durch das Gelände stakste. „Wenn ich gewusst hätte, was uns hier erwartet, hätte ich Gummistiefel angezogen“, schimpfte der Kommissar, weil er Angst um seine italienischen Designerschuhe hatte. „Es wird mir wohl immer ein Rätsel bleiben, wie man mitten in stockdunkler Nacht im Wald herumrennt, um ein paar Tiere zu beobachten.“ „Die Jagd ist schon ein besonderes Hobby, Herr Schubert“, feixte Ruprecht Ramsauer. „So etwas geht dem Kollegen Schubert völlig ab“, schlug Sinner in dieselbe Kerbe.

Nach etwa zweihundert Metern hatten sie den Hochsitz erreicht. Die Leute der Spusi setzten schnaufend ihr teilweise schweres Equipment ab und begannen unverzüglich mit der Absperrung des Fundorts. Phillips gab ihnen erste Hinweise zur Auffindesituation.

„Fanden sich persönliche Gegenstände des Toten?“, erkundigte sich Schubert. „Nur einen Rucksack mit dem Jagdgewehr und einem Nachtsichtfernglas. Sein Ausweis fanden wir in der Brieftasche, die er in der Innentasche seiner Jacke einstecken hatte.“ „Haben Sie sich auch auf dem Hochsitz umgesehen?“, mischte sich Schubert ein, der mit Ramsauer etwas abseitsgestanden hatte. „Ja, natürlich, da oben fand ich dann eine Thermosflasche und einen Flachmann. Er muss sie dort oben vergessen haben. Ich habe die Sachen in den Rucksack gepackt. Er müsste eigentlich zusammen mit dem Leichnam in die Rechtsmedizin gebracht worden sein.“ „Ist er auch“, bestätigte Sinner. „Ich wundere mich nur gerade über den Umstand, dass der Mann die beiden Sachen auf dem Hochsitz zurückließ. Warum sollte er überhaupt versuchen, vom Hochsitz zu steigen, wenn er sich umbringen will?“ „Vielleicht hat er es sich ja im letzten Moment anders überlegt“, gab Phillips zu bedenken. „Ja, vielleicht.“

„Sie haben ja sicherlich noch eine ganze Weile hier zu tun, Herr Ramsauer“, mutmaßte Oberkommissar Sinner. Der wog abschätzend den Kopf. „Ich denke drei Stunden.“ „Hier können wir im Augenblick ohnehin nicht helfen, oder?“ „Je weniger Füße hier herumtrampeln, desto besser.“ „Gut, dann fahren wir in der Zwischenzeit nach Königslutter und statten der Witwe einen Besuch ab. Ich rufe nur kurz durch und melde uns an.“

Etwa eine halbe Stunde später trafen die Kommissare an der Wohnadresse des Opfers ein. Sie hofften darauf, dass die Witwe noch davon ausging, dass ihr Mann einen Unfall hatte und noch nichts von den Umständen wusste, unter denen er tatsächlich verstarb. Da sich das Wohnhaus direkt neben dem Betriebshof des Unternehmens befand, bestand die Möglichkeit, gleichzeitig die Leute zu befragen, deren Chef er gewesen war. Da sich die Kommissare bei der Witwe angekündigt hatten, wurden Sie bereits erwartet.

„Guten Tag, Frau Mautzen“, begrüßte Sinner die Witwe. Da er ihr Foto auf der Internetpräsenz der Baufirma gesehen hatte, gab es keinen Zweifel daran, dass ihnen die Witwe selbst die Tür geöffnet hatte. „Unser herzlichstes Beileid.“ „Danke, aber kommen Sie doch erst einmal herein.“ Sinner und Schubert folgten ihr ins Haus.

„Sie sprachen vorhin am Telefon davon, dass der Tod meines Mannes in die Zuständigkeit Ihres Kommissariats fällt. Ein Umstand, den ich nicht so recht verstanden habe. Wir sind doch hier in Königslutter gemeldet.“ „Nun, ausschlaggebend ist nicht der Wohnort des Verstorbenen, sondern der Ort an dem der Leichnam gefunden wurde“, erklärte Schubert. „Polizeihauptmeister Phillips war nicht sofort klar, dass sich dieser Ort bereits auf dem Gebiet des Landkreises Wolfenbüttel befindet“, ergänzte der Oberkommissar.

„Wann kann ich meinen Mann denn beerdigen lassen?“, erkundigte sich die Witwe. „Das wird leider noch etwas dauern“, seufzte Sinner. „Da ein Anfangsverdacht auf einen unnatürlichen Tod vorlag, mussten wir Ihren Mann in die Rechtsmedizin überstellen. Eine Obduktion wurde angeordnet und bereits durchgeführt.“ „Aber es war doch von vornherein unstrittig, dass mein Mann durch einen Unfall ums Leben kam“, verstand Frau Mautzen die Sachlage nicht. „Es steht inzwischen fest, dass Ihr Mann an einer Vergiftung starb.“

Roswitha Mautzen sah die Polizisten ungläubig an. „Das ist doch Blödsinn! Was für ein Gift?“ Dazu können wir Ihnen momentan keine Auskunft geben“, erklärte Schubert. „Es stellt sich vielmehr die Frage, ob Ihr Mann das Gift selber zu sich nahm, oder ob er das Opfer eines Mordanschlags wurde“, setzte Sinner noch eins drauf, während er die Reaktion der Witwe genau beobachtete.

Roswitha Mautzen schüttelte fassungslos den Kopf. „Gerd hat sich niemals selber umgebracht. Wenn er eines liebte, dann sich selbst.“ Ihre unbedachten Worte ließen die Kommissare aufhorchen. „Wie meinen Sie das?“, hakte Schubert nach. „Mein Mann war der geborene Egoist. Verstehen Sie mich jetzt bitte nicht falsch. Ich habe meinen Mann geliebt. Unsere Ehe war nicht perfekt, aber sie war okay. Bei all der Arbeit war unsere Liebe einfach zu kurz gekommen und hatte sich nach 23 Jahren Ehe etwas abgenutzt. Trotz allem gingen wir immer respektvoll miteinander um.“ „Sie sind sehr offen“, sagte Sinner verblüfft. „Sie wollten doch die Wahrheit hören.“

„Sie glauben also nicht an einen Selbstmord“, nahm Sinner den Faden wieder auf. „Niemals!“ „Das ließe letztendlich nur den Schluss zu, dass Ihr Mann umgebracht wurde“, resümierte der Oberkommissar. „Wissen Sie, ob Ihr Mann Feinde hatte?“, stellte Sinner die Frage, die jeder Fernsehkommissar stellt. „Hätten Sie mir diese Frage vor einem Jahr gestellt, hätte ich sie mit einem uneingeschränkten Nein beantworten können, doch seitdem die Firma in Schwierigkeiten steckt, häuft sich die Anzahl der unzufriedenen Kunden.“ „Wie ist das zu verstehen?“ „Wir konnten die Aufträge nicht mehr fristgerecht ausführen, weil wir die Rechnungen für Material nur noch mit Verzögerung begleichen konnten.“

„Haben Sie Einblick in die Bücher?“, hakte Sinner nach. „Ich bin für genau diesen Teil der Buchhaltung zuständig“, seufzte sie. „Ich habe meinen Mann immer wieder vor dem Tag gewarnt, an dem diese Blase platzen würde. Vor etwa fünf Jahren wäre es schon einmal fast so weit gewesen. Damals holte er einen Kompagnon ins Boot, um die Insolvenz abzuwenden. Vielleicht wollte er unsere momentane Situation auch deshalb verschleiern, weil er sonst noch wesentlich größere Probleme mit Jürgen Seifert bekommen hätte.“

Sinner spitzte die Ohren. „Was für Probleme?“ „Er hätte die Firma an Seifert verloren“, erklärte sie. „So gesehen hätte Ihr Mann durchaus einen Grund für seinen Suizid gehabt“, gab der Oberkommissar zu bedenken. „Eben nicht!“, widersprach Roswitha Mautzen. „Im Falle seines Todes fällt die Firma automatisch an Seifert und unsere Tochter und ich gehen leer aus.“ „Ich nehme an, es gibt einen Vertrag, der dies in dieser Weise regelt?“ „So ist es, Herr Kommissar.“

Demnach profitierte der Kompagnon am meisten vom Tod seines Geschäftspartners, überlegte Sinner. „Sie haben sicherlich die Adresse von diesem Seifert“, mutmaßte der Oberkommissar. „Ja sicher. Der Mann ist Eigentümer der Köster Tiefbau GmbH in Braunschweig“, verriet Rosi. „Der Name kommt mir bekannt vor“, erinnerte sich Schubert. „Kein Wunder“, bestätigte die Witwe, „...die Firma ist eine der größten Baufirmen in der gesamten Region.“ „Da frage ich mich natürlich, was dieser Seifert dann mit einer maroden Firma wie Ihre will. Noch dazu, wo sich die Firma Ihres Mannes auf den Bau von Einfamilienhäusern spezialisiert hat“, überlegte Sinner. „Das kann ich Ihnen auch nicht sagen. Da müssen Sie Herrn Seifert schon selber fragen.“ „Das werden wir auch tun“, entgegnete der Ermittler, „...aber zunächst würden wir uns gern unter den Arbeitern in Ihrem Betrieb umhören.“ „Nur zu, Herr Oberkommissar. Tun Sie sich keinen Zwang an. Sie werden sehen, dass mein Mann ein guter Chef war, der bei seinen Leuten hoch im Kurs stand.“

Die anschließende Befragung der Belegschaft brachte nur wenig neue Erkenntnisse. Allerdings war Gerd Mautzen weit weniger bei seinen Angestellten beliebt, als es seine Frau angenommen hatte. Die Kommissare erfuhren von Bauherren, die allen Grund gehabt hätten, sauer auf Mautzen zu sein. Einer hatte den Bauunternehmer sogar wenige Tage vor dessen Tod mit dem Leben bedroht. Eine solche Äußerung ist während eines Streitgesprächs schnell mal ausgesprochen, ohne dass sie in die Tat umgesetzt wird, aber da Mautzen nun einmal tot war, erhielt eine solche Drohung natürlich eine andere Brisanz.

-7-

„Haben Sie denn schon ein Weihnachtsgeschenk für Ihre Frau?“, versuchte mich Trude auszuhorchen. „Na klar“, entgegnete ich von der Qualität meines Geschenks überzeugt. „Dann hoffe ich für Sie, dass es diesmal das Richtige ist“, erinnerte mich Trude an das Desaster, welches ich bei Miriams Geburtstag erlebte. „Sie müssen zugeben, ein Schnellkochtopf ist nicht gerade etwas Persönliches.“ „Ja, ja, ich weiß. Sie müssen mir die Nummer nicht bei jeder Gelegenheit unter die Nase reiben. Ich habe meine Lektion gelernt.“ Trude sah mich skeptisch an. „Na, da bin ich ja mal gespannt“, zweifelte sie an meiner Lernfähigkeit. „Der Akkuschrauber für Axel war im Prinzip nichts anderes“, konterte ich.

„Hallo ihr Lieben“, unterbrach Miriam abrupt unser Gespräch. Mein Schatz sah uns abwechselnd mit durchdringendem Blick an. „Was habt ihr zwei denn für Geheimnisse?“ „Äh nichts“, stotterte ich wie ein Primaner, der beim Schummeln erwischt wurde. „Wir sprachen gerade übers Wetter“, ließ Trude eine Erklärung folgen, die auch nicht dazu taugte, Miriam die Neugier zu nehmen. „Ich bringe euch hier von dem Kuchen, den ich fürs Gericht gebacken habe.“ „Und nun möchtest du, dass wir ihn vorher kosten, um kein Risiko einzugehen?“, konnte ich mal wieder nicht meinen vorlauten Mund unter Kontrolle halten. Der Blick der Staatsanwältin allein hätte mich schon in Beugehaft gebracht.

„Vielen Dank, Frau Lessing. Das ist sehr lieb von Ihnen“, schleimte meine Putzsekretärin und griff zu. „Oh, da komme ich ja genau richtig“, platzte nun auch Leonie herein. Meine ehemalige Praktikantin und nun neue Auszubildende zur Privatermittlerin war mal wieder zu spät. Nicht, dass es eine solche Berufsausbildung gab, aber ohne diesen Status hätte ich mir Leonie nicht leisten können. Ein Umstand, der ihr und ihrem Onkel Detlev nichts ausmachte, weil sie von ihm finanziell unterstützt wurde, ihr der Job Spaß machte und Detlef froh war, dass seine Nichte endlich nicht mehr herumgammelte und alles auf den Kopf stellte was nicht niet und nagelfest war.

„Der sieht aber lecker aus.“ „Bediene dich, Leonie“, forderte Miriam sie auf. „Du kannst gern beide Stücke nehmen. Mein Mann mag heute nicht.“ Da ging es dahin, mein Betriebsmittel für den Rest des Vormittags. Das hatte ich wohl selbst verbockt. Ich werde heute den ganzen Tag im Gericht zu tun haben“, erklärte mein Schatz. „Tanja ist schon da, sie kümmert sich um Ramona. Du hast also freie Bahn.“ Ich stutzte. „Wofür?“ Miriam legte ihre Stirn in Falten. „Zum Geldverdienen! Wozu sonst?“ Sie verschwand so schnell, wie sie gekommen war. Ich hatte nicht einmal mehr die Zeit, um nach meinem Mittagessen zu fragen.

Im nächsten Moment erschrak ich vor mir selbst. Wie sehr hatte mich unsere Ehe bereits verändert? War ich schon ein Pantoffelheld? Aufmunternd klatschte ich in die Hände. Eigentlich war es ein Weckruf für mich selbst. „Ihr habt gehört, was die Staatsanwältin gesagt hat. Auf zum Geldverdienen!“

Trude sah mich fragend an. „Die Recherchen für die Versicherungen sind erledigt. Die Rechnungen haben Leonie und ich bereits geschrieben und sonst steht nichts an.“ „Aber da war doch noch diese Scheidungsangelegenheit. Wie hieß die Frau doch gleich, die da vor ein paar Tagen in der Detektei war?“ „Sie meinen die Dame, der Sie zu verstehen gaben, dass wir solche Fälle nicht bearbeiten?“ „Das habe ich getan?“ Trude nickte. „Das war dumm.“

Wie so oft, wenn die Not am größten war, klingelte das Telefon im richtigen Moment. „Detektei Lessing“, meldete sich unsere Azubine. „Sie sprechen mit Leonie. Bei uns werden Sie geholfen.“ Ich verdrehte seufzend die Augen. „Quatsch, Onkel Christoph. Ich habe doch schon an der Nummer auf dem Display gesehen, dass es deine Kanzlei war.“ Ich übernahm das Telefon.

„Hallo Christoph, was kannst du für mich tun?“, ließ ich mich von Leonie anstecken. „Kein Problem, ich mache mich gleich auf den Weg.“ Mein Freund und Retter in der Not hatte offenbar einen fetten Auftrag für mich. „Ich muss gleich mal in die Kanzlei Börner“, erklärte ich. „Sie sind bitte so nett und nehmen sich in der Zwischenzeit unser Equipment vor. Es gab da beim letzten Einsatz Probleme bei der Datenübertragung.“ „Ich hatte gehofft, Sie begleiten zu können“, versuchte sich Leonie vor der Arbeit zu drücken. „Bevor ich nicht weiß, um was es bei dem Fall geht, werde ich Sie nicht in die Sache einbeziehen.“ Leonie verzog übertrieben traurig das Gesicht. „Abgesehen davon sind hier Ihre technischen Fähigkeiten gefragt.“

Wenig später betrat ich schnaufend die Kanzlei. Da Christoph und sein Mandant bereits auf mich warteten, hatte ich mich beeilt. Die Zeit, wo sich die Detektei unter den ‚Krambuden‘ befand und ich mal eben in die Kanzlei springen konnte, war vorbei. Der Weg vom kalten Tal war schon wegen der Parkplatzsuche am ‚Rosenwall‘ langwierig. Ich fand letztlich im Parkhaus ein Plätzchen, direkt neben einer Wand. Da ich rückwärts einparkte, konnte ich bis auf wenige Zentimeter heranfahren, was mir etwas das Aussteigen erleichterte.

„Hallo Anneliese!“, begrüßte ich die niedliche Reno in der Anmeldung. „Wo waren Sie denn nur so lange? Gehen Sie nur gleich zum Chef hinein. Herr Börner erwartet Sie bereits.“ Ich stülpte meinen Stetson über den Garderobenhaken und verlor keine weitere Zeit.

„Gut, dass du da bist, Leopold“, empfing mich mein Freund erleichtert. „Wenn ich dir Herrn Sommer vorstellen darf.“ „Lessing“, verriet ich dem Mann meinen Namen. „Herr Börner spricht in den höchsten Tönen von Ihnen.“ „Na ja, Anwälte übertreiben gern“, entgegnete ich verlegen. „Ich hoffe nicht. Ich bin leider in einer Situation, in der ich wohl einen guten Detektiv brauche.“ „Einen guten Anwalt haben Sie auf jeden Fall schon“, gab ich Christophs Kompliment zurück. „Eigentlich kann ich Sie mir gar nicht leisten“, war Sommer ehrlich. „Wäre es möglich, Ihre Rechnung in Raten zu zahlen?“ „Ich werde über die Kanzlei Börner bezahlt, aber Herr Börner ist da eigentlich sehr kulant“, erklärte ich Christoph zuzwinkernd.

„Machen Sie sich keine Sorgen, das bekommen wir schon irgendwie geregelt,“ ergriff mein Freund das Wort. „Nun geht es erst einmal darum, Sie von dem Mordvorwurf reinzuwaschen. Am besten schildern Sie Herrn Lessing Ihre Situation selber.“ Der Mandant holte tief Luft, ehe er von seinem Neubau und dem des Bauunternehmers erzählte, der mit dem Bau seines Hauses beauftragt war.

„Seit Monaten pfuschen die Arbeiter der Firma. Zunächst waren es Kleinigkeiten, die sich relativ einfach beheben ließen, dann wurden die Mängel gravierender. Anstatt die Schäden zu beseitigen, wurde ich immer wieder vertröstet. Als ich mich vor fünf Tagen mit dem Bauunternehmer traf, stellte ich ihm ein Ultimatum. Die Situation eskalierte, es kam zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung, bei der ich ihm drohte.“ „Was heißt, Sie drohten ihm?“, hakte ich nach. „Na ja, ich sagte, ich würde ihn umbringen, wenn er die Arbeiten nicht endlich so ausführen ließe, wie ich sie bezahlt habe.“

Ich sah Christoph nachdenklich an. „Und nun war die Kripo bei Ihnen und hält Ihnen diese Äußerung vor?“, schwante mir sein Problem. „Wenn es nur das wäre, bräuchten wir dich nicht, Leopold“, beruhigte mich mein Freund. „Erzählen Sie bitte weiter, Herr Sommer.“ „In der Rechtsmedizin wurde offenbar meine DNS unter einem seiner Fingernägel gefunden.“ „Von der Auseinandersetzung auf der Baustelle, nehme ich an.“ „Davon gehe ich aus, denn danach habe ich Mautzen nicht mehr gesehen.“

„Gab es Zeugen für Ihre Drohung?“, fragte ich grüblerisch. „Ja, leider. Einige Bauarbeiter bekamen den Streit mit“, entgegnete Sommer. „Dann müssten die ja auch die Handgreiflichkeiten bezeugen können“, schlussfolgerte ich. „Eigentlich schon... „...aber?“ „Die hörten den Streit nur, sahen aber angeblich nichts.“ „Das ist schlecht“, räumte ich ein. „Leider war es das noch nicht“, gestand der Mandant zähneknirschend. „Die Polizei fand in meiner Garage Reste des Giftes, mit dem Mautzen getötet wurde.“

„Ich fürchte, Sie haben wirklich ein Problem, Herr Sommer“, resümierte ich. „Es wundert mich im Grunde, dass Sie noch auf freiem Fuß sind.“ „Ich konnte den Haftrichter davon überzeugen, dass jeder das Gift dort platzieren konnte, weil sich die Garage von Herrn Sommer nicht verschließen lässt“, erklärte Christoph. Ich verzog das Gesicht. „Etwas dürftig, nicht wahr?“ „Genau deshalb müssen wir Beweise finden, die Herrn Sommer entlasten, oder den wirklichen Täter überführen.“ „Was ist mit der Kripo? Wer ermittelt in der Sache?“, erkundigte ich mich mit einer gewissen Vorahnung. „Kommissar Schubert und Oberkommissar Sinner“, bestätigte Christoph meine Befürchtung.

Auch wenn ich mittlerweile keine grundlegenden Probleme mehr mit den beiden Kommissaren hatte, kannte ich sie gut genug, um zu wissen, dass sie, sobald sie sich auf einen Verdächtigen festgelegt hatten, alles daransetzten, um genau diesen einen Verdächtigen zu überführen. Da war kein Platz mehr für eine Alternative. Ich muss zugeben, dass einiges auf Leander Sommer hindeutete, aber war er tatsächlich so dämlich, das Gift in seiner eigenen Garage zu lagern?

„Kennst du schon die genaue Tatzeit?“, erkundigte ich mich bei meinem Freund. Christoph schlug eine dünne Aktenmappe auf. „Laut Obduktionsbericht starb das Opfer am Morgen des 18.12. gegen sieben Uhr. Plus minus zwei Stunden“, zitierte er aus der Akte. Ich legte mich in den Drehstuhl zurück und verschränkte nachdenklich die Hände hinter dem Kopf. „Um welches Gift handelt es sich eigentlich?“ „Blauer Eisenhut“, las Christoph vor. „Wie lange ist die Inkubationszeit?“ „Je nach verabreichter Menge zwischen einer halben und drei Stunden.“

Ich wandte mich wieder dem Mandanten zu. „Wo waren Sie in der Zeit von zwei bis neun Uhr?“, befragte ich den Tatverdächtigen. „Das habe ich Herrn Börner doch schon alles gesagt“, bekundete der Mandant. „Dann sagen Sie es mir bitte noch einmal“, ließ ich nicht locker. Es mag sein, dass ich aus meiner aktiven Zeit als Hauptkommissar der Braunschweiger Kriminalpolizei noch einen Teil der Befragungstechnik innehatte, aber in einer solchen Situation war Rücksicht fehl am Platz.

„Na schön, wenn es Ihnen hilft“, lenkte Sommer ein. „Bis um fünf lag ich neben meiner Frau im Bett. Um sechs stand ich auf, machte mich für den Dienst fertig und verließ eine dreiviertel Stunde später die Wohnung. Auf dem Weg ins Rathaus bin ich noch kurz am Bau vorbeigefahren, um nachzusehen, ob alles in Ordnung ist. Um halb acht trat ich dann meinen Dienst an.“

Meine Stirn legte sich in Falten. Sorgenfalten, denn die eigene Frau ist ein schlechtes Alibi. „Wurden Sie möglicherweise in der Nacht von einem Nachbarn gesehen?“ Sommer sah mich irritiert an. „Glauben Sie etwa, ich wandele im Schlaf durch die Nachbarschaft?“ „Das nicht, aber vielleicht konnten Sie nicht schlafen und haben deswegen auf dem Balkon eine Zigarette geraucht oder frische Luft geschnappt.“ „Ich rauche nicht und einen Balkon hat meine Wohnung auch nicht.“ „Schade.“

„Was ist mit der Baustelle?“, mischte sich Christoph wieder in die Befragung ein. „Wurden Sie dort gesehen?“ „Ich glaube schon, auf den anderen Baustellen wird ja um diese Zeit schon gearbeitet“, mutmaßte der Mandant. „Das ist eventuell nicht so gut“, überlegte ich. „Die Kommissare könnten argumentieren, Sie hätten das Gift direkt nach der Tat in Ihrer Garage versteckt“, gab ich zu bedenken. „Mal ehrlich, glauben Sie wirklich, ich wäre so dämlich und würde nach einem Mord das Gift bei mir daheim verstecken? Das hätte ich doch irgendwo entsorgt, wo es niemals gefunden worden wäre.“ „Manchmal kann man gar nicht so dumm denken, wie ein Täter unter Druck handelt“, erklärte mein Freund. „Es gibt etliche Beispiele in der Geschichte der Kriminalität, in der es scheinbar unlösbare Fälle gab, die letztlich nur durch einen banalen Fehler des Täters gelöst werden konnten“, machte ich dem Mandanten die Wichtigkeit seiner Aussage klar.

„Fassen wir zusammen“, zog Christoph Resümee. „Durch die schlechte Ausführung der Bauarbeiten an Ihrem Haus hatten Sie ein Motiv. Sie hatten zwei Tage vor Mautzens Tod eine Auseinandersetzung, in der Sie ihn mit dem Tode bedrohten. In Ihrer Garage wurde das Gift gefunden, mit dem das Opfer getötet wurde. Unter einem Fingernagel des Opfers wurde Ihre DNS sichergestellt und Sie haben ein Alibi, welches als eine Gefälligkeitsaussage Ihrer Frau bewertet werden könnte.“ „Wie Sie sehen, sind Ihre Karten nicht sonderlich gut“, umschrieb ich die Situation des Mandanten eher glimpflich.

„Aber ich habe Mautzen wirklich nicht vergiftet!“, behauptete Leander Sommer verzweifelt. „Ich habe diesen Kerl tatsächlich nicht gemocht, aber wenn man mich wegen Mordes verurteilt und ich für lange Zeit hinter Gittern müsste, würde ich meine Familie im Stich lassen. Glauben Sie wirklich, dass ich das riskieren würde?“ „Nun, was Herr Lessing und ich glauben, ist zweitrangig. Wir müssen Ihre Unschuld beweisen, auch wenn die Beweislast eigentlich von der Staatsanwaltschaft erbracht werden muss.“

„Wenn dieser Bauunternehmer nicht nur an Ihrem Bau pfuschen ließ, dann gibt es sicherlich noch weitere Geschädigte, die allesamt ein Motiv hätten“, suchte ich nach Anhaltspunkten. „Kennen Sie andere Bauherren, die mit der Firma gebaut haben?“ Der Mandant griff sich euphorisch an den Kopf. „Na klar, da waren erst vorgestern diese beiden Typen von der Interessengemeinschaft.“ „Können Sie sich noch an die Namen der Männer erinnern?“, hakte ich nach. „Moment, es fällt mir bestimmt noch ein“, grübelte Sommer. Ich hab's, Der eine hieß Moor und der andere Neubauer. Er gab mir sogar seine Karte. Ich glaube, ich habe sie sogar dabei.“

Während der Beschuldigte in seiner Brieftasche nachsah, machte ich mir eifrig Notizen. „Hier ist sie ja. Ich wusste es doch.“ „Henning Neubauer, Optiker am Markt, Königslutter“, las ich von der Visitenkarte ab. „Das könnte ein Anfang sein“, nickte ich Christoph zu. Ich bin gespannt, bei wem Mautzen sonst noch in Ungnade fiel.“ „Kommen wir zu dem Gift in Ihrer Garage“, brachte der Anwalt das nächste Indiz auf den Tisch.

„Sie haben wirklich keine Ahnung, woher das Gift kommen könnte?“ Sommer schüttelte den Kopf. „Ich habe keinen blassen Schimmer, geschweige denn wüsste ich, wo ich das Zeug herbekommen sollte.“ „Sie glauben gar nicht, was man heutzutage alles im Internet kaufen kann“, eröffnet ich eine von mehreren Möglichkeiten.

„Der blaue Eisenhut enthält Aconitin und ist eine der giftigsten Pflanzen weltweit“, erklärte ich, während sich auf meiner Stirn tiefe Falten der Sorge eingruben. „Bereits zwei Gramm der Wurzel, der im Spätsommer blühenden Zierpflanze, können für einen normal gesunden Menschen tödlich sein“, fuhr ich fort. Christoph sah mich verblüfft an. „Bist du jetzt auch unter die Botaniker gegangen?“ „Zu irgendetwas muss die Polizeischule ja nützlich gewesen sein“, entgegnete ich achselzuckend. „Das erschreckendste dabei ist, dass diese Pflanze auch bei uns in den Gärten sehr verbreitet ist.“ Womit ich eine weitere Möglichkeit der sehr einfachen Beschaffung offenlegte.

„In welcher Form fand die Polizei das Gift?“, fragte ich meinen Freund. Christoph warf einen weiteren Blick in den Ordner. „ Ein Rest von etwa fünf Gramm des Giftes in Pulverform befand sich in einem Metalldöschen mit der Aufschrift ' Altoids Smalls Peppermint“, las Christoph. „Ist dem Text ein Foto von der Dose beigefügt?“, erkundigte ich mich. „Nein.“ „Waren Fingerabdrücke auf der Dose?“ „Nein, sie war sauber abgewischt“, stutzte der Anwalt. „Das ist allerdings mehr als merkwürdig“, sinnierte ich. „Der Täter wischt seine Prints fein säuberlich ab, um sie dann in seiner Garage zu platzieren, wo sie sofort von der Polizei gefunden wird?“ „Du hast Recht, Leopold. Das passt nicht zusammen“, pflichtete mir Christoph bei. „Na sag ich doch!“, sah sich nun auch der Mandant bestätigt.

„Wenn Ihnen ein Unbekannter den Mord in die Schuhe schieben will, kann dies im Grunde nur jemand sein, der von Ihrem Streit mit Mautzen weiß“, schlussfolgerte Christoph. „Wir brauchen eine Liste aller Personen, die Zeugen dieses Streits wurden und denen Sie davon erzählten.“ „Wie stellen Sie sich das vor? Ich kenne die Bauarbeiter bestenfalls vom Sehen, aber doch nicht mit Namen“, wandte der Beschuldigte ein. „Das bekomme ich auch so heraus“, beruhigte ich die Gemüter. „Es reicht, wenn Sie in sich gehen und aufschreiben, mit wem sie über den Streit sprachen.“ „Okay.“