Jäger und Gejagter

-1-

„Das kann doch nicht wahr sein!“, schimpfte ich vor mich hin. „Wohin um alles in der Welt habe ich dieses Mistding nur gelegt?“ Den halben Vormittag hatte ich schon mit der Suche nach dem Teleobjektiv für meine Kamera verplempert. Gefunden hatte ich dagegen die lange vermisste Waffenbesitzkarte und das verloren geglaubte Nachtsichtgerät. Es war seit der Observation von Hauptkommissar Findegram spurlos verschwunden. Ob mir so etwas häufiger passiert? Eigentlich habe ich meine sieben Sinne meistens beisammen, aber wie sagt man so schön, wer sich mit den kleinen Dingen aufhält, ist nicht zu Größerem berufen.

Die soeben ausgegrabenen Schätze in der Hand haltend, tauchte ich dennoch mürrisch hinter meinem Schreibtisch auf und erschrak fast zu Tode, als ich Trude unvermittelt davor stehend erblickte. „Sind Sie wahnsinnig“, fauchte ich die Ärmste an, „…mir einen derartigen Schrecken einzujagen?“ Meine Putzsekretärin wandte sich beleidigt ab und schickte sich an, den Raum zu verlassen. Aus dem, was sie sich dabei zusammenbrummelte, verstand ich nur das Wort, Objektiv. Das reichte allerdings, um ihr in derselben Sekunde nachzusetzen.

„Was denn, Trude, Sie haben das Objektiv tatsächlich gefunden?“ „Kann ja nicht sein, Chef, wo ich doch wahnsinnig bin“, entgegnete sie pikiert. „Och Trudchen, das habe ich doch nicht so gemeint. Es war doch nur, weil ich mich so erschrocken hatte.“ Als sie sich wieder zu mir umdrehte und ich in ihre mildtätigen Augen blickte, wusste ich, dass ich gerade noch einmal davon gekommen war. „Entschuldigen Sie“, setzte ich noch einen drauf, um die Wogen endgültig zu glätten. Trude winkte ab. „Schon gut.“

„Hallo, ist jemand da?“, vernahmen wir eine Stimme aus dem Vorzimmer. „Kundschaft“, flüsterte ich meiner Putzsekretärin zu. „Ich hab’s gehört“, wisperte Trude in ihren Damenbart, während sie das Objektiv auf meinem Schreibtisch ablegte und die Tür hinter sich zuzog. Ich stopfte das Hemd eilig in die Hose zurück und schlug einige Akten auf, die ich auf dem kleinen Tisch in der Sitzecke und auf einem der Stühle verteilte. Einen Ordner behielt ich aufgeschlagen in der Hand. Wer auch immer gleich durch die Tür in mein Büro treten würde, sollte den richtigen Eindruck bekommen.

Trude klopfte, bevor sich ihre dicke Knollnase ein Stück weit durch den sich öffnenden Spalt in mein Büro schob. Was waren wir doch für ein gutes Team. „Verzeihen Sie, Chef, haben Sie einen Augenblick Zeit?  Eine Frau Scherler müsste Sie dringend sprechen.“ „Frau Belitz, Sie wissen doch, dass ich nicht gestört werden möchte.“ „Es ist wirklich sehr dringend“, beharrte Trude. „Also schön, führen Sie die Dame herein“, lenkte ich schließlich großherzig ein.

„Während ich die potentielle Auftraggeberin freundlich begrüßte, räumte Trude die Ordner zur Seite. „Einen Tee, Kaffee oder etwas anderes?“, bot ich der attraktiven Mittdreißigerin an. „Kaffee wäre nett“, entgegnete sie dankbar. „Es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, dass Sie sich trotz Ihrer vielen Arbeit Zeit für mich nehmen.“ „Es ist derzeit in der Tat etwas eng, Sie sehen ja selbst, aber besser so als anders“, lächelte ich verschmitzt. „Es spricht für Ihre Detektei. Ich habe viel Gutes über Ihre Arbeit gehört.“ „Das freut mich. Aber nun verraten Sie mir, was Sie zu mir führt?“

Die Frau, die ihrem Äußeren nach nicht unvermögend sein durfte, öffnete ihre Handtasche und förderte ein Foto zu Tage. „Dies ist der Mann, der mich betrügt.“ Ich war etwas verblüfft, um nicht zu sagen erschrocken. Vor meinem Schreibtisch saßen bereits einige Ehefrauen, die diesen Verdacht hegten, aber noch keine war sich dieser Anschuldigung derart sicher. Hinzu kam die Wut, die ich dabei in ihren Augen sah. Eine Wut, wie ich sie bei Kindern beobachtet hatte, denen man das Lieblingsspielzeug entrissen hatte.

„Was macht Sie so sicher?“, erkundigte ich mich daher neugierig. „Es ist nicht sein erster Seitensprung, aber es wird sein letzter sein! Ich lasse mir das nicht länger von ihm gefallen. Ich will, dass er vor Gericht blutet. Er soll für all die Demütigungen bezahlen!“ „Sie wollen sich also von Ihrem Ehemann trennen“, fasste ich zusammen. „Ich will mich nicht einfach von diesem Mistkerl trennen, ich will ihn fertigmachen!“ Ohne den Herrn zu kennen, hatte ich schon beinahe Mitleid mit ihm.

„Wenn ich Sie richtig verstanden habe, soll ich Ihnen Beweismaterial liefern, um die Untreue Ihres Mannes vor Gericht zu belegen.“ „So ist es, Herr Lessing. Ich möchte, dass Sie diesen notgeilen Don Juan auf Schritt und Tritt beobachten. Schießen Sie den Mistkerl bei jeder sich bietenden Gelegenheit ab.“ Wenn ich nicht genau wüsste, dass sie von meiner Kamera sprach… 

„Tja also…“, zögerte ich. „Wie ich Ihnen bereits sagte, habe ich momentan alle Hände voll zu tun.“ „Nennen Sie mir eine Summe“ ließ sich Rebecca Scherler nicht beirren „Sollte dies die Chance sein, auf die ich gehofft hatte, um mit Miriam doch noch den versprochenen Urlaub auf Sylt anzutreten? Was hatte ich zu verlieren? „Fünfhundert pro Tag plus Spesen.“ „Gut“, entgegnete sie knapp, ohne mit der Wimper zu zucken. „Vier Tage im Voraus“, setzte ich noch eins drauf. Sie griff ein weiteres Mal in ihre Handtasche und zog einen Blankoscheck hervor. „Setzen Sie die Summe ein“, forderte sie mich auf. Das hatte Klasse.

„So, hier ist der Kaffee“, drückte Trude gegen die nur angelehnte Tür. „Soll ich Ihnen das Tablett in die Sitzecke stellen?“ „Ich denke, wir bleiben hier, Frau Belitz“, entgegnete ich, während ich auf dem Schreibtisch für ausreichend Platz sorgte. „Da kommen die Akten nicht durcheinander.“ Trude schenkte ein und verließ grinsend das Büro. „Ihre Sekretärin erscheint mir offen gesagt etwas sonderbar“, flüsterte mir meine Auftraggeberin zu. „Sie ist so etwas wie die gute Seele der Detektei“, entgegnete ich. Frau Scherler nickte verblüfft.

„Also schön, dann brauche ich nun einige Angaben zu Ihrem Nochehemann.“ „Helge ist vierzig und wie Sie auf dem Foto erkennen können, leider nicht unattraktiv.“ Nach meinem Dafürhalten sah der Typ etwas kantig aus, aber so etwas ist bekanntlich Geschmacksache. „Womit verdient Ihr Mann seine Brötchen?“, beschränkte ich mich auf die Dinge, die für mich von Relevanz waren. „Helge ist Professor für Mikroelektronik an der Technischen Universität Braunschweig. Wie Sie sich denken können, hat er unter seinen Studentinnen geradezu die freie Auswahl.“ Was ein Segen, aber eben auch ein Fluch sein konnte.

„Ich benötige dann noch eine Aufstellung seines gewöhnlichen Tagesablaufs.“ Wieder kramte sie in ihrer Tasche herum und zog ein Kuvert hervor. „Ich habe hier etwas vorbereitet.“ „Sehr weitsichtig von Ihnen“, nickte ich anerkennend. „Ich wusste, dass ich nicht zum Friseur gehe“, erwiderte sie bissig. Wenn dieses Verhalten ihrer üblichen Art entsprach, verstand ich Helge zunehmend besser. Auch wenn ich solche Fälle eigentlich nicht übernehmen wollte, trat das üppige Honorar allmählich in den Hintergrund für meine Zustimmung. Vielmehr war ich nun auf den Mann mit dem kantigen Gesicht gespannt. Dass mir die attraktive Frau vor meinem Schreibtisch immer weniger sympathisch wurde, musste ich ihr ja nicht unbedingt auf ihre wohlgeformte Nase binden.

„Wann können Sie mit Ihrer Arbeit beginnen?“, hörte ich deutlich die Ungeduld aus der Stimme meiner Klientin. „Na ja, ich muss bei einem aktuellen Fall noch etwas erledigen, aber ich denke, morgen Vormittag kann es losgehen.“ „Gut, Herr Lessing, das begrüße ich wirklich sehr. Je eher ich etwas gegen diesen Hallodri in der Hand habe, umso eher kann ich ihn fertigmachen.“ Sie trank ihren Kaffee und verzog die Miene. „Hoffentlich hat Ihre Sekretärin andere Qualitäten.“

„So eine eingebildete Krähe“, schimpfte Trude, nachdem Frau Scherler die Detektei verlassen hatte. „Passen Sie bloß gut auf, Chef.“ „Sie haben doch nicht etwa gelauscht, meine Liebe.“ „Ist doch wahr“, beharrte sie immer noch aufgebracht. „Die soll ihren Kaffee nächstes Mal woanders trinken!“ „Nun beruhigen Sie sich bitte, Trude, und suchen mir alles heraus, was das Internet über die Familie und insbesondere über den Professor Scherler zu bieten hat.“ „Aye, aye Kapitän“, salutierte die Gute überschwänglich. Ich musste mir ein Grinsen verkneifen.

„Falls noch etwas sein sollte, erreichen Sie mich über das Handy. Ich lichte hier jetzt den Anker und kreuze in der Nähe des Tierheims.“ „Was ist denn jetzt eigentlich mit Bea?“ Ich tat einen tiefen Seufzer. „Wenn ich das wüsste. Eines ist mir zumindest klar geworden, auf Dauer lässt sich ein so großer Hund nicht in meiner kleinen Stadtwohnung halten.“ „Ja, aber…“ „Ich werde sie weiterhin sporadisch für einige Tage zu mir nehmen, aber das Tierheim bleibt zumindest solange ihr Zuhause, bis wir eine Lösung gefunden haben.“ Trude nickte betreten. „Sicher ist es so das Beste.“ „Okay“, beendete ich das Thema. „Schließen Sie bitte ab, wenn Sie gehen.“

Die Entscheidung war mir alles andere als leicht gefallen, immerhin hatte mir Bea sozusagen das Leben gerettet. Doch gerade weil ich wollte, dass es die smarte Hundedame gut hatte, blieb mir keine andere Wahl. 

-2-

Nachdem Bea und ich den gemeinsamen Spaziergang am Vorabend ausgiebig genossen hatten, traf ich mich mit Miriam, Jogi und seiner neuen Flamme in unserem Lieblingsrestaurant an der Salzdahlumer Straße. Da es, wie so oft, spät geworden war und ich vollgefressen wie ein Bär auch in der Nacht kaum zur Ruhe kam, fiel es mir an diesem Morgen besonders schwer, aus Miriams Bett zu kriechen.

„Was ist, wo willst du denn mitten in der Nacht hin?“, lugte meine liebreizende Staatsanwältin aus ihren nur wenig geöffneten Sehschlitzen. „Es ist leider nicht mehr Nacht, mein Schatz. Die Pflicht ruft.“ „Lass sie rufen und komm lieber zu mir“, schlug Miriam die Bettdecke zurück. Es fiel mir schwer, die dargebotenen Herrlichkeiten nicht in Augenschein zu nehmen. „Sorry, aber die Miete zahlt sich nicht von selber“, blieb ich stattdessen standhaft. „Glaube mir, du ahnst nicht einmal, was dir gerade entgeht“, posierte die zarteste Versuchung, seit es Staatsanwältinnen gibt. Einen Augenblick dachte ich nach, war drauf und dran, dem Professor noch einige schöne Stunden zu gönnen, aber dann erinnerte mich mein Pflichtgefühl an die gegebene Zusage und aus war es mit dem, was sich da in und an mir regte. „Bitte Schatz, heb es dir bis heute Abend auf“, vertröstete ich Miriam. Ihr Latschen flog knapp an meinem Kopf vorbei.

Von meiner Auftraggeberin wusste ich, dass sich ihr Ehemann dienstags in der Außenstelle der Technischen Universität Braunschweig in Wolfenbüttel am Exer aufhielt. Ich kannte die Gebäude noch aus der Zeit, als sie den britischen Soldaten als Kaserne dienten. Seit deren Abzug werden sie zum Teil von der Ostfalia[1] genutzt. Ich war der Zielperson von seinem Haus in der Nähe des Forstplanungsamtes am Forstweg gefolgt und postierte mich nun mit meinem Skoda in Sichtweite zum Eingang. Bislang gab es keinerlei Auffälligkeiten. So nutzte ich die Zeit, um all die Informationen zu studieren, die ich von Trude erhalten hatte.

Professor Helge Scherler galt seit einigen Jahren als eines der Aushängeschilder der TU Braunschweig. Neben einem Lehrauftrag beschäftigte er sich mit umfangreichen Forschungsarbeiten auf dem Gebiet der Mikroelektronik. Hierbei arbeitete der Professor eng mit dem Luftfahrtbundesamt zusammen, das ebenfalls in Braunschweig ansässig ist. Neben der Verbesserung automatischer Flugleitsysteme hatte sich der Professor bei der logischen Koordinierung von Anflugüberwachungssystemen in der Fachwelt einen Namen gemacht. Kein Wunder also, wenn die kleinen Mädchen auf den Knaben standen.

Gegen Mittag verließen einige Studenten das Gebäude. Unter ihnen einige attraktive Mädels. Ich dachte an die Jahre meiner Sturm- und Drangzeit zurück. So schön wie es war, so anstrengend war es allerdings auch. Im Grunde war ich froh, nun in ruhigerem Fahrwasser zu kreuzen. Mit Miriam hatte ich schon so etwas wie das große Los gezogen. Mittlerweile waren wir immerhin sechs Jahre liiert.

Ich war in meinen Gedanken noch bei unserer kleinen Neckerei am Morgen, als ich den Professor an mir vorbei zu seinem Wagen eilen sah. Er trug eine dieser modernen Herrenmützen wie mir Miriam eine besorgt hatte. Klar, dass ich bei meinen Stetson bevorzugte. Nun musste ich mich beeilen, um die Bäckertüte mit dem Rest vom Mohnstreusel wegzuräumen und den zur Hälfte geleerten Kaffeebecher auszutrinken. Einige Minuten später folgte ich meiner Zielperson auf der ‚Salzdahlumer Straße‘ stadtauswärts. Keine hundert Meter weiter fuhr er unvermittelt an den Straßenrand, um eine langhaarige Schönheit einsteigen zu lassen. Wenn mich nicht alles täuschte, war sie eine der Studentinnen, die ich aus dem Gebäude der Ostfalia kommen sah.

Der dunkelblaue Audi fuhr weiter stadtauswärts durch Atzum, bog rechts ab, fuhr bis Ahlum, bog dann links ab auf die Wolfenbütteler Straße und fuhr weiter in Richtung Dettum. Kurz bevor der Wagen den Feldweg zum Vilgensee erreichte, wo sich vor einigen Jahren ein Drama um ein junges Mädchen abspielte[2], bog der Professor ein weiteres Mal nach links ab. Die Landstraße 629 führt über Volzum, Lucklum und weiter über Erkerode durch das idyllisch gelegene Reitlingstal.

Diese Strecke ist bei Motorradfahrern sehr beliebt, weil sie recht kurvenreich und interessant ist. Wo das Auge auch hinschaut, überall sieht man Weiden auf denen majestätisch anmutende Pferde friedlich grasen. Ich erinnerte mich an einen Ausflug mit Isabelle. Damals, als ich noch bei der Braunschweiger Kripo war, fuhren wir durch den Elm nach Königslutter, um den Dom zu besichtigen.

Offensichtlich war der Herr Professor ein Romantiker, denn sein Ziel war die Waldgaststätte Reitling im Elm. Das auf einer Anhöhe idyllisch gelegene Ausflugslokal wird hauptsächlich von Busunternehmen angefahren. Ich dachte spontan an die zwielichtigen Kaffeefahrten, bei denen Rentner horrende Summen für irgendeinen Plunder bezahlen sollen. Die reinste Abzocke!

Der Professor steuerte einen der freien Parkplätze an, welche durch Büsche und Bäume von der Gaststätte abgegrenzt waren. Ich fuhr an ihnen vorbei und folgte dem Verlauf der Straße nach links, wo ich weitere Parkplätze ausmachte. Durch die Baumreihe, die uns trennte, war ich einigermaßen abgedeckt, konnte aber noch immer genug sehen, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. Die Szenen, die ich durch mein Fernglas beobachten konnte, waren schemenhaft und daher leider nichts für den Fotoapparat, aber dennoch aufschlussreich genug, um mir ein Urteil bilden zu können. Also, wenn die zwei nichts am Laufen hatten, würde ich meinen Stetson verspeisen. Ehe ich eine solche Wette mit mir einging, musste ich schon sehr sicher sein.

Nach einiger Zeit hatten sich die Turteltäubchen wohl genug miteinander beschäftigt. Jedenfalls stiegen sie aus und schlenderten Hand in Hand auf die Gaststätte zu, wo sie sich an einem der Tische niederließen, die auf der Terrasse verteilt waren. Glück für mich. So brauchte ich dem Paar nicht in das Gebäude folgen und riskieren, dass sie mich bemerkten und bei einer späteren Observation wiedererkannten. Die Beweisfotos, die ich in den folgenden Minuten in den Kasten bekam, zeigten einige Intimitäten, die unterhalb der Tischplatte vor sich gingen. Scheinbar verborgen und doch so eindeutig.

Wie aus dem Nichts kommend, setzten sich plötzlich zwei Männer zu ihnen an den Tisch. Der ältere trug einen Bart, der weite Teile seines Gesichts verdeckte. Der jüngere war ein südländischer Typ mit Sonnenbrille. Groß, braungebrannt und von athletischer Statur. Eigentlich nicht die Sorte Bekanntschaft, die ich hinsichtlich des Professors vermutet hatte. Da ich dem verliebten Paar lediglich mit der Kamera gefolgt war, hatte ich das Richtmikrophon im Wagen zurückgelassen. Ein Fehler, wie sich jetzt erwies. Andererseits wäre ich mit dem Gerät mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einem der Spaziergänger aufgefallen.

So, wie sich mir die Situation darstellte, trafen sich der Professor und die Männer nicht zufällig an diesem Ort. Es hatte den Anschein, als solle ein Geschäft abgewickelt werden, denn irgendwann schien man sich einig, was durch einen Handschlag dokumentiert wurde. Als sich der Professor und der Herr mit der Sonnenbrille erhoben und zum Parkplatz gingen, folgte ich ihnen. Die Zielperson öffnete den Kofferraum seines Audis, entnahm einen Aktenkoffer und übergab ihn.

„Was fotografieren Sie denn da?“, wurde ich durch vorbeigehende Spaziergänger abgelenkt. „Psst“, legte ich den Zeigefinger über meine Lippen. „Ich bin Ornithologe und beobachte gerade den seltenen Blauschwanzfähnrich. Eine fast ausgestorbene Spezies der Gattung Meise.“ „Von so einer Meise habe ich noch nie etwas gehört“, zeigte sich die Dame beeindruckt. „Das glaube ich gern, gute Frau. Manche Leute haben eine, ohne es zu wissen.“ „Unverschämtheit!“, wetterte die Gute nach einer kurzen Gedankenpause. „Komm Liesel. So eine Frechheit!“ 

Als ich mich wieder meiner Zielperson zuwandte, war diese verschwunden. Einzig der Mann mit der Sonnenbrille stand noch auf dem Parkplatz. Ich fotografierte, wie ein silberner Geländewagen der Marke Toyota kurz stoppte und der Mann zustieg. Wenige Minuten später war die Verwirrung perfekt. Die kleine Studentin kehrte ebenfalls zum Parkplatz zurück. Sie sah sich suchend um. Neben ihr der athletische Typ, den ich am Tisch des Professors gesehen hatte. Dann geschah alles blitzschnell. Der Kerl riss die Fahrertür des Audis auf und schubste die Studentin unsanft hinein.

Hier schien etwas gewaltig aus dem Ruder zu laufen. Da half alles nichts, ich musste eingreifen, auch wenn ich damit für meine Zielperson verbrannte, wie man es in meinen Kreisen ausdrückt. Vorsichtshalber ließ ich meine Kamera an dem Baum zurück, von dem aus ich die Szene beobachtet hatte… und bekam wie aus dem Nichts eins übergezogen. Quasi zeitgleich gingen bei mir die Lichter aus. Als ich wieder zu mir kam, fummelte mir jemand im Gesicht herum. „Sehen Sie, kleine Sünden bestraft das Schicksal sofort.“ „Was ist passiert?“, erkundigte ich mich noch etwas benommen. „Sie müssen wohl gestürzt sein und sich den Kopf an dieser Rasenkante gestoßen haben“, erklärte die Spaziergängerin.

Ich rappelte mich mühsam auf und bemerkte, dass meine Waffe und die Brieftasche nicht mehr an ihrem Platz waren. „Haben Sie jemanden in meiner Nähe gesehen?“, hakte ich nach. Die Frau schüttelte den Kopf. „Nur ein paar Meisen“, feixte sie, während sie mit ihrer Bekannten weiterging. Das hatte ich wohl verdient. In der nächsten Sekunde erinnerte ich mich an meine Kamera. Ich hatte sie an einem Ast hängend zurückgelassen. Wer auch immer mich niedergeschlagen hatte, wollte nicht, dass ich dokumentieren konnte, was ich gesehen hatte. Warum sonst hätte er die Kamera mitnehmen sollen? Zumindest befand sich mein Autoschlüssel noch in der Hosentasche.

-3-

„Entschuldige Leo, aber deine Geschichte klingt mehr als merkwürdig“, schüttelte mein Freund, Hauptkommissar Jürgen Wurzer den Kopf. „Du bist ganz sicher, nicht doch gestürzt zu sein?“ „Ja sicher. Und meine Kamera, die Brieftasche und meine Waffe machen gerade einen Spaziergang durch den Elm“, entgegnete ich angefressen. „Ich kann von Glück sagen, dass mir nicht auch noch der Autoschlüssel abgenommen wurde, sonst hätte ich per Anhalter nach Hause fahren können.“

„Also schön“, lenkte Jogi ein. „Gehen wir mal davon aus, es könnte so gewesen sein.“ „Es könnte nicht, es war so!“, unterbrach ich meinen Freund gereizt. „Ja, ja…“, verdrehte er die Augen. „Im Grunde hast du doch gar nichts gesehen. Du gehst davon aus, dass Professor Scherler nach der Übergabe einer Aktentasche in den Kofferraum seines Wagens geschubst wurde.“ „Es kann nur so gewesen sein!“, unterstrich ich meine Auffassung. „Wohin hätte er denn sonst verschwinden sollen?“ „Du sagst, du warst abgelenkt“, gab Hauptkommissar Wurzer zu bedenken. „Aber doch nur für einen Augenblick.“

Jogi sah mich mitleidig an. „Kann es nicht sein, dass du einfach nur das Opfer eines Raubüberfalls wurdest?“ Mir platzte jeden Moment der Kragen. „Kann es nicht eher sein, dass du mir nicht richtig zuhörst? Meine Walther ist weg!“ Jogi schielte auf meinen Stetson. „Hast du deinen Deckel vorher abgenommen?“ Freund hin oder her, in diesem Augenblick lief das Fass über. „Kümmerst du dich nun um die Sache oder nicht?“ „Also schön, ich spreche mit den Kollegen vom Raub und ich gebe die Verlustanzeige für deine Waffe weiter, aber mehr geht nicht.“

Ich griff wütend nach meiner Jacke, stülpte mir meinen Stetson über und verließ Jogis Büro. Noch auf dem Weg zum Parkplatz telefonierte ich mit meiner Auftraggeberin und erfuhr, dass der Professor überraschend verreisen musste. Sie hatte völlig vergessen mir davon zu erzählen. Angeblich würde er gerade in dieser Sekunde im Flughafen Hannover – Langenhagen einchecken. Irgendetwas stank hier gehörig zum Himmel. Ich machte auf dem Absatz kehrt und suchte meinen Freund noch einmal in seinem Büro auf.

Jogi verdrehte die Augen, als ich ohne anzuklopfen in sein Allerheiligstes eintrat. „Du kannst dir nicht vorstellen, was ich gerade eben erfahren habe“, ließ ich den Mann hinter dem Schreibtisch nicht zu Wort kommen. „Dein Professor ist von den Toten auferstanden.“ „Kann es sein, dass dir nicht sonderlich viel an unserer Freundschaft liegt?“, ärgerte ich mich dort weiter, wo ich einige Minuten zuvor aufgehört hatte. „Leo…, komm auf den Punkt.“ „Ich habe gerade mit der Frau des Professors gesprochen. Angeblich sitzt ihr Mann im Flugzeug. Eine überraschende Reise nach Windhuk.“ „Na also, dann ist doch alles okay“, kommentierte mein Freund mit großer Geste. Es war zum aus der Haut fahren. Konnte oder wollte Jogi mich nicht verstehen?

„Ich weiß nicht! Gestern war die Frau des Professors noch bei mir und bat mich, so schnell wie möglich mit der Observation ihres Mannes zu beginnen und heute wusste sie nichts von einer Reise nach Afrika?“ Jogi juckte sich hinter dem Ohr. „Na ja, kann doch sein. Aber etwas merkwürdig ist das schon…“ Ich riss den Telefonhörer von der Gabel und hielt ihn meinem Freund vor die Nase. „Am besten, du rufst sofort an.“ „Wo?“ „Na, beim Flughafen!“ „Jetzt gehen die Pferde mit dir durch“, fühlte sich der Hauptkommissar von mir überrumpelt. „Wieso denn? Wenn der Professor tatsächlich eingecheckt hat, gebe ich Ruhe und ziehe meiner Wege.“ Angesichts dieser verlockenden Aussicht konnte mein Freund nicht widerstehen. „Ist das ein Versprechen?“ Ich nickte.

„Kriminalkommissariat Braunschweig, Hauptkommissar Wurzer am Apparat“, stellte sich Jogi vor. „Ich benötige eine Auskunft bezüglich eines gewissen Professor Helge Scherler.“ Jogi stellte den Lautsprecher des Telefons an. So konnte ich mithören. „Woher soll ich wissen, ob Sie tatsächlich von der Kripo sind?“, hinterfragte die Mitarbeiterin der Flughafengesellschaft. Ich kann schließlich nicht jedem so sensible Daten herausgeben.“ „Ich gebe Ihnen die Telefonnummer des Präsidiums. Verlangen Sie in der Vermittlung bitte nach Hauptkommissar Wurzer. Sie werden dann wieder zu mir durchgestellt“, schlug mein ehemaliger Kollege vor. „Das wird nicht nötig sein“, lenkte die Dame ein. „Ich habe die Nummer Ihres Anschlusses gerade online überprüft. Was kann ich für Sie tun, Herr Wurzer?“

Jogi schien beeindruckt. „Es macht immer wieder Spaß mit Profis zusammenzuarbeiten“, schleimte er geradezu. „Ich weiß nur, dass Professor Scherler nach Windhuk wollte“, gab er die einzige Information, die wir hatten. „Ah ja, da ist er ja. Stimmt, Herr Scherler ist vor zwanzig Minuten mit der LH 059 nach Frankfurt gestartet. Er muss dort in die Air Namibia umsteigen, mit der er in einem Direktflug um 05:30 Uhr afrikanischer Zeit in Windhuk landen wird.“ „Sie sind sicher, dass der Professor eingecheckt hat?“ „Absolut.“ „Dann bedanke ich mich ganz herzlich für Ihre Mühe.“ „Kein Problem, immer wieder gern zu Diensten, Herr Wurzer.“

Mein Freund grinste den Telefonhörer an, als hielte er ein Model in der Hand. „Wie machst du alter Schürzenjäger das nur?“, erkundigte ich mich beeindruckt. „Es sind die kleinen versteckten Botschaften, die meine Stimme zwischen den Zeilen sendet“, erklärte mein Freund. „Was für Botschaften?“, stutzte ich. „Tja mein Lieber, um die zu empfangen, bedarf es sensibler Antennen, die du freilich nicht hast.“ „Kann es sein, dass du gerade in anderen Sphären schwebst?“ „Ich schätze, da schwebt bereits dein Professor“, freute er sich diebisch. „Geradezu widerlich, wenn jemand seinen Erfolg derart auskostet“, ärgerte ich mich über mich selbst.

„Nimm es nicht so schwer, mein Alter, es hätte ja immerhin sein können. So ein Schlag auf den Hinterkopf kann gewaltig Schaden anrichten“, setzte Jogi noch eins drauf. „Wenn du jetzt nicht aufhörst, richte ich bei dir gewaltigen Schaden an.“ Mein Freund klopfte mir auf die Schulter. „Ich kümmere mich um deinen Fotoapparat und die Walther, aber jetzt lass uns Feierabend machen. War ein langer Tag für uns beide.“

Nach langer Zeit waren Jogi und ich an diesem Abend wieder mal in Pattis Corner, um Billard zu spielen. Es erinnerte uns beide an die Zeit, in der wir hier zusammen mit Rudi so manchen Abend verbrachten. Eine schöne Zeit, welche mit der Ermordung unseres Freundes und meines Partners ein jähes Ende fand. Sein Tod war es letztendlich, der mich dazu trieb, den Job bei der Polizei an den Nagel zu hängen. Damals nahm ich an, die Schuld an diesem Drama zu tragen, heute weiß ich, dass sein Tod nur die Spitze eines Eisbergs war, der bei seinem Auftauchen ein weit größeres Schiff als die Titanic untergehen lassen wird.

Auch wenn Jogi und ich derzeit nichts zur Klärung dieses Mordes unternehmen konnten, lief im Hintergrund alles, was nötig war, um die skrupellosen Machenschaften einer Clique aufzudecken, der Hauptkommissar Findegram zuzurechnen war. Immerhin hatten wir der Dienstaufsicht Beweise zukommen lassen, die zumindest weitere Ermittlungen gegen den Kerl nach sich ziehen mussten. Dass dieser Mann ausgerechnet an diesem Abend die in Polizeikreisen beliebte Kneipe aufsuchen musste, kann im Nachhinein nur als Wink des Schicksals gewertet werden.

„Ach, sieh an“, begrüßte uns dieser Schmierlappen mit seinem gewohnt feisten Grinsen. „Glauben Sie wirklich, dieser Ort ist noch der richtige für Sie, Lessing?“ „Da Sie nun auch hier sind, wage ich dies zu bezweifeln“, konterte ich. „Im Gegensatz zu Ihnen habe ich den Schwanz nicht eingezogen“, stichelte er weiter, „…aber stimmt, Sie haben ja gar keinen.“ Das Interesse der übrigen Gäste hatte sich längst auf unseren Billardtisch fokussiert. Demzufolge war das einsetzende Gelächter meiner ehemaligen Kollegen nur eine Folge Findegrams Schmierentheaters.

„Sie sind doch das Allerletzte!“, sprang ich zornig auf, bereit, mich mit dem Kerl zu prügeln. Allein die Hand meines Freundes, der mich an der Schulter zurückhielt, hinderte mich seiner Provokation nachzugeben. „Lass ihn quatschen“, blieb Jogi die Ruhe selbst. „Er ist es nicht wert, dass du deine Hände an ihm schmutzig machst.“ „Du hast Recht, wandte ich mich von ihm ab, um den nächsten Stoß mit meinem Queue auszuführen.

„Du Idiot drehst mir nicht den Rücken zu, während ich mit dir spreche!“, riss mich Findegram an der Schulter zurück. Ehe ich reagieren konnte, tat dies Jogi, indem er den Hauptkommissar von mir wegrempelte. Mein Freund stand jetzt zwischen Findegram und mir, um eine direkte Eskalation zu verhindern. Inzwischen war auch der Wirt hinzugekommen. „Irgendwann treffe ich dich ohne dein Kindermädchen“, drohte der Hauptkommissar in meine Richtung, „…und dann zerquetsche ich dir deine Eier.“

„Es ist besser, Sie gehen jetzt, Findegram. Ich will Ruhe in meinem Lokal.“ „Solange solche Penner in deinem Laden verkehren, kannst du sowieso nicht mehr mit mir rechnen.“ „Ihre Entscheidung“, blieb Patti locker. „Na los, Rittersporn, rücken wir ab“, wandte sich Findegram seinem Begleiter zu. „Tja Kollege, da wirst du wohl   allein gehen müssen“, entgegnete der Oberkommissar, „..ich bin hier, weil ich Billard spielen möchte.“ „Leck mich doch!“, schnaufte Findegram vor Wut. Er wusste, dass er diese Runde verloren hatte.

-4-

Es war wider Erwarten spät geworden in Pattis Corner. Rittersporn, Jogi und ich hatten doch noch einen schönen Abend, an dessen Ende ich von einem Taxi nach Hause gebracht wurde. Miriam schlief bereits, als ich ziemlich betrunken nach Hause kam. Um sie nicht zu stören, ließ ich mich auf dem Sofa im Wohnzimmer nieder. Als ich gegen Mittag aufwachte, fand ich nur noch einen Zettel von Ihr vor. Es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Hatte ich sie doch am Morgen so schmählich verlassen und auf einen schönen Abend vertröstet. Den hatte die Ärmste nun allein an einem romantisch gedeckten Tisch und einem aufwendig gekochten Essen verbracht. Kein Wunder, wenn sie nun sauer auf mich war.

Nachdem ich mein Äußeres mühsam wieder auf Hochglanz poliert hatte, die pochenden Schmerzen in meinem Kopf durch eine Ladung Aspirin minimiert hatte und der Brauereidunst aus dem weit geöffneten Schlafzimmerfenster abgezogen war, schickte ich mich an, auch mal in meiner Detektei vorbeizuschauen.

„Oje“, winkte Trude ab. „Sie sehen ja schrecklich aus.“ Die Hoffnung, man könne mir den Abend nicht mehr ansehen, war somit passé. „Machen Sie mir bitte einen starken Kaffee“, entgegnete ich knapp, da jedes Wort wie ein Trommelschlag in mir dröhnte. „Ich bin in meinem Büro und bis auf Weiteres nicht zu sprechen.“ „Hab ich mir gedacht, Chef.“

Ich lag noch nicht ganz im Ledersessel meiner Sitzecke als ich Trudes aufgeregte Stimme vernahm.

„He, Sie können doch nicht einfach so hier hereinplatzen und so tun, als seien Sie der Schah von Persien!“ „Herr Lessing ist in seinem Büro?“ „Nein, er ist nicht da!“ Im nächsten Moment flog die Tür auf und Hauptkommissar Findegram stand vor mir. In seiner Hand hielt er ein Schriftstück, welches er mir genüsslich unter die Nase hielt. „Ich habe einen Haftbefehl gegen Sie, Lessing. Es heißt nicht umsonst, man sieht sich zweimal im Leben.“ „Was soll der Blödsinn?“, realisierte ich den Ernst der Lage nur zögerlich. Findegram und sein Partner rissen mich aus dem Sessel, um mir Handschellen anzulegen. „Sie stehen unter dringendem Tatverdacht, Frau Natascha Blinska ermordet zu haben“, eröffnete mir Findegram voller Genugtuung. „Ich kenne die Frau nicht mal!“ „Das können Sie alles auf dem Präsidium zu Protokoll geben“, erklärte sein Partner, Oberkommissar Stock. 

„Rufen Sie Rechtsanwalt Börner an“, rief ich Trude zu, während mich Findegram und sein Partner abführten. „Was um alles in der Welt ist denn los, Chef?“, starrte uns die gute Seele fassungslos nach. „Er soll so schnell wie möglich nach Braunschweig aufs Polizeipräsidium kommen. Die wollen mir einen Mord anhängen.“ „Einen Mord? Um Himmels Willen. Machen Sie sich keine Sorgen, Chef, ich rufe ihn sofort an“, rief mir Trude nach. Wie peinlich eine solche Verhaftung ist, wenn man dabei auch noch durch die halbe Fußgängerzone getrieben wird, muss ich wohl kaum erläutern.

„Das ist ja wohl nichts als eine Retourkutsche für die Abfuhr, die Sie gestern in Pattis Corner erhalten haben“, verblüffte ich zumindest Oberkommissar Stock. „Wovon spricht der Mann?“ „Der Kerl hat eine rege Fantasie. Wir haben uns gestern Abend zufällig bei Patti getroffen. Da war nichts“, tat Findegram seinen Auftritt ab. Stock sah uns abwechselnd an. „Vielleicht ist es besser, wenn ich die Vernehmung allein weiterführe.“ „Das wäre ja noch schöner!“, pumpte sich Findegram auf.

Hören Sie zu, Lessing! Wir sind im Besitz hieb und stichfester Beweise. Geben Sie zu, dass Sie gestern Nacht Natascha Blinska ermordet haben.“ Ich griff fassungslos an meine Stirn. „Ich kenne diese Frau nicht einmal.“ „So?“ Der Hauptkommissar schob mir mehrere Fotos der Ermordeten über den Tisch. Obwohl die junge Frau übel zugerichtet war, erkannte ich in ihr sofort die Studentin wieder, die zu dem Professor ins Auto gestiegen war. „Ja, betrachten Sie sich Ihr Werk nur gut!“, schrie mich der Hauptkommissar an. „Weshalb haben Sie die junge Frau auch noch so quälen müssen?“ Das Opfer war teilweise böse entstellt. Wer auch immer diese Frau getötet hatte, musste ein Sadist sein. „Bevor mein Anwalt hier ist, sage ich kein Wort mehr. „Dachte ich es mir doch. Ihr Schweigen ist mir Antwort genug.“

Mit dem nächsten Wimpernschlag klopfte es an der Tür und Christoph Börner trat ein. „Mein Name ist Doktor Börner, ich bin der Anwalt von Herrn Lessing“, stellte sich Christoph vor. „Darf ich Sie fragen, was meinem Mandanten zur Last gelegt wird?“ „Aber sicher dürfen Sie“, trat ihm Findegram gönnerhaft entgegen. „Herrn Lessing wird der Mord an Natascha Blinska, einer jungen Studentin aus Estland, zur Last gelegt.“ „Wie kommen Sie nur auf eine solch absurde Idee?“ Stock schlug einen Ordner auf und reichte Börner einen Zettel. „Nun, wie Sie nachlesen können, wurde das Opfer eindeutig mit der Waffe Ihres Mandanten erschossen.“ „Die ich gestern Nachmittag als gestohlen gemeldet habe“, wandte ich ein. „Davon ist mir nichts bekannt“, krauste sich Stocks Stirn. „Wo bitteschön haben Sie denn den Verlust Ihrer Waffe angezeigt?“, hakte der Oberkommissar nach. „Na ja“, druckste ich herum, weil ich meinen Freund nicht in Schwierigkeiten bringen wollte. „Ich habe Hauptkommissar Wurzer darüber in Kenntnis gesetzt.“ „Dachte ich es mir doch gleich“, frohlockte Findegram geradezu. „Diesmal wird Ihnen ihr Kindermädchen nicht aus der Patsche helfen!“

Stock und Börner sahen sich ungläubig an. Eine solche Entgleisung sagte einiges über den Groll aus, den der leitende Ermittler gegen Jogi und mich hegte. „In diesem Augenblick wird die Detektei und das Auto Ihres Mandanten auf Spuren untersucht“, fuhr Findegram fort. „Wir haben einen Augenzeugen, der Lessings Wagen gegen drei Uhr vor der Wohnung der Ermordeten sah. Da der Leichnam von Frau Blinska heute Morgen um exakt 6:22 Uhr auf dem Parkplatz der Waldgaststätte Reitling von einer Putzfrau gefunden wurde und das Opfer zu diesem Zeitpunkt bereits zwei Stunden tot war, wie der Rechtsmediziner feststellte, dürfte Frau Blinska gegen 4 Uhr ermordet worden sein. Ich hoffe für Sie - nicht wirklich, dass Sie für diese Zeit ein Alibi vorweisen können.“ „Ja sicher kann ich. Ich war zu Hause im Bett…“ Ich stockte.

Börner sah mir direkt an, dass irgendetwas nicht stimmte. „Bevor mein Mandant eine Aussage macht, möchte ich ihn zunächst unter vier Augen sprechen.“ „Aber klar doch“, triumphierte Findegram. „Es wird ihm nur nichts mehr nutzen.“

„Das kann doch alles nur ein böser Traum sein“, suchte ich nach einer Erklärung. „In was für einer Beziehung stehst du zu dieser Frau Blinska?“ „In gar keiner!“, fuhr ich Börner entnervt an. „Sie war höchstwahrscheinlich die Geliebte von Professor Scherler“, erklärte ich meinem Freund und Rechtsanwalt. „Ich sollte ihn im Auftrag seiner Ehefrau observieren und eindeutige Fotos für seine Untreue sammeln. Zunächst lief alles normal, bis mir jemand eins überzog und ich das Bewusstsein verlor.“ „Das muss doch von irgendjemandem beobachtet worden sein“, schüttelte Börner nachdenklich den Kopf. „Als ich wieder zu mir kam, waren der Fotoapparat und meine Brieftasche mit allen Papieren und die Walther verschwunden.“

„Wo fand dieser Überfall eigentlich statt?“, machte sich Börner Notizen. „Auf genau dem Parkplatz, auf dem die Tote gefunden wurde.“ „Ach du Scheiße!“, vergriff sich Börner in der Wahl seiner Worte. „Sie werden also Reifenspuren von deinem Wagen am Fundort der Leiche finden“, schlussfolgerte er. Ich zuckte mit den Schultern. „Gut möglich.“

„Gibt es denn nichts, was dich entlasten könnte?“, suchte mein Rechtsbeistand nach einem Strohhalm. Ich überlegte fieberhaft, bis mir der silberfarbene Toyota Land Cruiser wieder einfiel. Der Mann, dem der Professor die Aktentasche übergab, stieg dort ein.“ „Kannst du dich an das Kennzeichen erinnern?“, hakte Börner nach. „Leider nicht.“ „Dann bringt uns dies auch nicht wirklich weiter“, seufzte Christoph. „Da waren noch zwei Spaziergängerinnen, die mich während der Observation des Professors ansprachen“, erklärte ich Börner. „Die eine beugte sich über mich, als ich nach dem Überfall wieder zu mir kam.“ „Na, das ist doch schon etwas. Zumindest können die Damen bezeugen, dass du bewusstlos warst.“ „Viel ist das nicht und dazu müsste ich sie erst einmal ausfindig machen.“ „Du? Ich schätze, man wird dich erst einmal hierbehalten. Es sei denn, du kannst für die Tatzeit ein Alibi vorweisen.“ Ich tat einen tiefen Seufzer. „Es war sehr spät geworden, als ich nach Hause kam. Miriam schlief bereits. Um sie nicht zu stören, habe ich im Wohnzimmer geschlafen. Sie kann mich eigentlich nicht gehört haben.“ „Okay, ich kläre das und versuche dich dann so schnell wie möglich hier rauszuholen.“ 

„Haben sich die Herrschaften nun genug besprochen?“, platzte Findegram in unser Gespräch. „Also hören Sie, Herr Hauptkommissar, die feine englische Art ist dies aber nicht“, ärgerte sich Christoph. „Sehe ich aus, wie einer von der Insel?“ „Nein, wahrlich nicht“, seufzte der Anwalt. „Was ist nun mit Ihrem Alibi?“, brachte es der Hauptkommissar recht schnell auf den Punkt. „Mein Mandant war zur Tatzeit daheim und hat wie jeder brave Bürger geschlafen.“ „Dann kann dies sicherlich jemand bezeugen“, schürzte Findegram die Lippen. „Das kann ich zu diesem Zeitpunkt leider nicht sagen.“ „Ah ja, es war ja auch noch keine Zeit etwas zu konstruieren“, biss der Hauptkommissar um sich. Börner sah zunächst den Oberkommissar kopfschüttelnd an, dann Findegram. „Nur das,was ich selber tu, trau ich auch einem anderen zu.“

Das Läuten des Telefons zerriss die gespannte Stimmung zur rechten Zeit. „Es sieht so aus, als müssten wir Herrn Lessing hierbehalten“, erklärte Stock, nachdem er von dem Gespräch zurückkehrte, welches er im Nebenraum entgegengenommen hatte. „Im Wagen Ihres Mandanten fanden sich das Handy der Ermordeten und einige Faserspuren, die nach einem ersten Abgleich zu der Kleidung passen, die Frau Blinska bei ihrem Auffinden trug.“

„Da will mir doch jemand ganz offensichtlich einen Mord anhängen“, schlussfolgerte ich, während ich dem Hauptkommissar einen bitterbösen Blick zuwarf. Am liebsten wäre ich dem Misthund in diesem Moment an die Gurgel gegangen, doch genau den Gefallen tat ich ihm nicht. „Denken Sie da an eine bestimmte Person, Herr Lessing?“, griff Stock meine Äußerung auf. „Ja, so ist es, aber bevor ich dazu etwas sage, bedarf es Beweise. Sobald ich diese in den Händen halte, werde ich die betreffende Person fertigmachen“, wobei ich Hauptkommissar Findegram voller Abscheu in die Augen sah. „Das verspreche ich Ihnen!“

-5-

„Wann haben Sie sich von Herrn Lessing getrennt?“, wollte Christoph Börner von Hauptkommissar Wurzer wissen. „So gegen 2 Uhr. Leo hat seinen Wagen in der Nähe von Pattis Corner stehen lassen und sich von einem Taxi nach Hause bringen lassen. Der Kollege Rittersporn und ich haben noch ein Bier getrunken und sind dann ebenfalls mit Taxis nach Hause gefahren. Übrigens habe ich Leos Wagen bei dieser Gelegenheit noch genau dort stehen sehen, wo wir ihn abgestellt hatten.“ Börner rieb sich nachdenklich das Kinn.

„Können Sie sich erinnern, wann Sie den Wagen stehen sahen?“, hakte er nach. „Vielleicht eine halbe Stunde nachdem Leo aufgebrochen war.“ „Meinen Unterlagen zufolge wurde der Wagen im ‚Kleiner Zimmerhof’ in Wolfenbüttel sicher gestellt, also ganz in der Nähe der Detektei. Leo selbst gibt allerdings an, den Wagen nicht dort abgestellt zu haben.“ Der Hauptkommissar hob verblüfft die Brauen. „Kann es sein, dass er so betrunken war, dass er sich nicht an eine solche Autofahrt erinnern kann?“, suchte Börner nach einer Erklärung. „Möglich ist alles“, fuhr sich Jogi mit der Hand über den Nacken. „Wurde der Wagen nach Aufbruchspuren abgesucht?“ Der Anwalt suchte den Bericht der Spurensicherung nach einem entsprechenden Eintrag ab. „…konnten keinerlei Spuren einer unberechtigten Inbetriebnahme gefunden werden“, zitierte er nach kurzer Suche.

„Tja, dann sieht es wohl alles andere als gut für unseren Freund aus“, fasste Jogi resigniert zusammen. „Entweder es ist tatsächlich so, wie er selbst vermutet“, fasste Börner zusammen, „…und jemand setzt alles daran, Leo diesen Mord unterzuschieben.“ „…oder aber er stach bei seinen Beobachtungen in ein Wespennest“, sinnierte Jogi. „Bei aller Liebe, wir sollten auch die letzte Möglichkeit nicht außer Acht lassen“, gab Börner zu bedenken. „Vergessen Sie es! Leo kann keiner Fliege etwas zu Leide tun.“ „Ich gehe ja auch nicht von einem Vorsatz aus.“ „Totschlag im Affekt?“, griff der Hauptkommissar den Gedanken auf. „Niemals!“

„Frau Hertz müsste jeden Augenblick hier sein“, stellte der Rechtsanwalt bei einem Blick auf die Uhr über seinem Schreibtisch. „Da sie den ganzen Vormittag in einer Verhandlung war, habe ich ihr durch eine Sekretärin ausrichten lassen, dass sie so schnell wie möglich in meine Kanzlei kommen soll.“ Jogi zeigte sich überrascht. „Miriam weiß noch gar nichts von Leos Verhaftung?“ Börner schüttelte den Kopf. Meine Freunde sahen sich ratlos an. „Wie wollen Sie es ihr beibringen?“, ächzte Jogi. „Ich? Eigentlich dachte ich, Sie würden…“ „Frau Hertz ist jetzt da“, plärrte es aus der Sprechanlage auf Börners Schreibtisch. Mit der nächsten Sekunde flog die Tür zu seinem Büro auf.

„Ich bin so schnell hergekommen, wie es mir möglich war“, platzte die Staatsanwältin herein. „Es liegt doch wohl eindeutig auf der Hand, dass ihn dieser Findegram fertigmachen will!“, ereiferte sich Miriam. „Du weißt schon davon?“, wunderte sich Jogi. „Die Spatzen pfeifen es schon von den Dächern.“ Den Männern fiel ein Stein vom Herzen.

Nachdem Rechtsanwalt Börner meiner Lebensgefährtin seinen Kenntnisstand näher gebracht hatte, befragte er sie nach meinem Alibi. „Ich hatte mich gestern Abend derart über Leo geärgert, dass ich eine Schlaftablette nehmen musste, um überhaupt einschlafen zu können.“ „Darf ich fragen, was der Auslöser für diesen Ärger war?“, wollte es Börner genau wissen. „Wir waren verabredet und ich hatte gekocht. Als er um 1 Uhr immer noch nicht da war, bin ich ins Bett gegangen.“ „Dann haben Sie wohl auch nicht gehört, wann er nach Hause kam?“, schlussfolgerte der Anwalt. „Miriam schüttelte den Kopf. „Ich bemerkte ihn erst als ich aufstand. Er hatte sich im Wohnzimmer auf das Sofa gelegt, um mich nicht zu stören.“

Börner rieb sich ein weiteres Mal nachdenklich das Kinn. „Dann hat unser Freund kein Alibi für die Tatzeit. Hinzu kommt, dass er leugnet, das Opfer überhaupt zu kennen. Die Spurensicherung fand jedoch Fasern ihrer Kleidung und ihr Handy in seinem Wagen. Bezeichnenderweise wurde dieser dann auch noch gegen 3 Uhr heute Morgen vor der Wohnung dieser Frau Blinska gesehen. Aufgrund dessen ist die Tatsache, dass es sich bei der Tatwaffe um Leos Walther handelt, nur noch der Punkt auf dem i.“ Jeder der Anwesenden wusste, was diese Zusammenfassung bedeutete, doch niemand zweifelte an meiner Unschuld. Auf einen kurzen Nenner gebracht, war ich mal wieder so was von am A…llerwertesten, dass ich selber keinen Cent mehr auf mich gesetzt hätte.

„Ja, aber wir können Leo doch nicht im Gefängnis sitzen lassen, während der wahre Täter weiterhin frei herumläuft“, erregte sich Miriam über alle Maßen. „Natürlich nicht“, gab ihr Jogi Recht. „Aber bislang fehlt uns der kleinste Ansatzpunkt. Ich selbst habe gestern Abend mit einer Mitarbeiterin des Flughafens gesprochen. Professor Scherler, Leos angeblich verschwundene Zielperson, hat sein Flugticket wie geplant am Schalter abgeholt und ist laut Passagierliste nach Windhuk abgeflogen. Angeblich hatte Leos Auftraggeberin nur vergessen, die Reise zu erwähnen.“ „Ich weiß nicht so recht“, zeigte sich Miriam skeptisch. „Kann man die Afrikareise seines Ehemannes einfach so vergessen?“ Die Männer sahen sich einträchtig an. „Du sicher nicht!“, entfuhr es beiden wie auf Kommando.

„Wir sollten der Dame einen Besuch abstatten“, befand Jogi. „Das halte ich für keine sonderlich gute Idee. Du und ich dürfen bei den Recherchen auf keinen Fall in Erscheinung treten“, gab Miriam zu bedenken. „Findegram wurde der Fall zugewiesen.“ „Er hatte zufällig Bereitschaft“, unterbrach Jogi. „Wie auch immer, er bearbeitet den Fall“, brachte es die Staatsanwältin auf den Punkt. „Du glaubst doch nicht allen Ernstes, dass der Kerl eventuell vorhandene Videoaufzeichnungen vom Flughafenterminal danach überprüft, ob es tatsächlich der Professor war, der für den Flug eincheckte.“ Miriam blieb konsequent. „Jede Beweismittelsicherung durch uns könnte als von uns manipuliert in Frage gestellt werden. So gesehen könnten wir Leo durch unser Eingreifen sogar schaden.“

„Findegram wird niemals objektiv ermitteln“, mutmaßte Jogi. „Ganz sicher nicht“, gab sich Miriam kritisch. „Umso mehr müssen wir wie sein mahnender Schatten fungieren. Er darf nicht einmal auf die Idee kommen, entlastende Beweismittel verschwinden zu lassen oder Hinweisen, die für Leos Unschuld sprechen könnten, nicht nachzugehen.“ „Miriam hat vollkommen Recht“, pflichtete ihr Börner bei. „Ich bin der Einzige, der mit Leos Auftraggeberin reden kann, ohne dabei gegen die Regeln zu verstoßen.“

„Theoretisch kann Christoph zu diesem Zweck sogar eine Detektei beauftragen“, sinnierte Miriam. „Wenn nötig, werde ich dies sogar veranlassen.“ „Ein Wahnsinn ist das Ganze“, schüttelte Jogi aufgewühlt den Kopf. „Eines kann mir allerdings keiner verbieten“, schlug er mit der Faust auf Börners Schreibtisch. „Ich werde der Internen mal ein wenig Dampf unter dem Hintern machen. Die sollen ein Auge auf Findegram werfen, damit er seine Position nicht missbraucht, um sich mit Leo einen unliebsamen Gegner vom Hals zu schaffen.“



[1]             Hochschule für angewandte Wissenschaften

[2]             Die Tote vom Vilgensee  Lessing 7