Detektei Lessing

 

Band 49

 

Kunstraub in Vorsfelde

1

Der Sommertag neigte sich dem Ende entgegen, die Sonne ging hinter den dunklen Wolken unter und all diejenigen, die im Schutz der Dunkelheit ihr Unwesen treiben, gingen wieder ihren kriminellen Machenschaften nach. Eine dieser Gestalten hatte ihren Wagen in der ‚Meinstraße‘, in der Nähe des Heimatmuseums abgestellt. Das wenige, was sie für ihr Vorhaben benötigte, passte in eine Tasche, die sie lässig über ihre Schulter trug.

Kurz zuvor war ein Regenschauer niedergegangen, hatte die staubtrockene Straße an einigen Stellen in eine schlierige Rutschbahn verwandelt. Hier und da standen kleine Pfützen auf dem Gehsteig, in denen das Licht der Straßenlaternen zerfloss. Die Gestalt hatte sich den Kragen ihrer Lederjacke in den Nacken geschlagen und das Cap bis tief in das Gesicht gezogen. Außer ihr war in dieser Gegend keine Menschenseele unterwegs und doch achtete sie sehr darauf, nicht erkannt zu werden.

Irgendwann bog die Gestalt nach links ab in die Straße ‚Am Ehrenfriedhof‘ und als sich diese in einer Kurve nach rechts bog, wandte sie sich nach links auf einen Parkplatz, der sich bis zu einem Firmengebäude zog, in dessen Untergeschoss mehrere Garagen untergebracht waren. Erst auf den zweiten Blick wurde deutlich, dass im oberen Bereich auch das Heimatmuseum untergebracht war.

Zielstrebig näherte sich die unbekannte Person dem Objekt und begab sich an der linken Seite einer kleinen Rampe zur westlichen Seite des Gebäudekomplexes, wo sie mit Hilfe einer dort abgestellten Mülltonne auf ein kleines Flachdach kletterte. Die Gestalt schien mit den baulichen Gegebenheiten bestens vertraut, denn von hier aus gelangte sie über eine Tür, deren Schloss kaum Widerstand bot, in ein kleines Treppenhaus, über welches sie auf eine Terrasse gelangte.

Durch eine weitere Tür, die in einen verwinkelten Anbau führte, gelangte sie schließlich auf das Dach des Museums. In den alten Fachwerkhäusern, die an der ‚Meinstarße‘ gelegen waren, sah sie eine Handvoll erleuchteter Fenster. Trotzdem brauchte sie sich keine Gedanken darüber machen, von dort aus beim Einstieg in die in Richtung ‚Meinstraße‘ gelegenen Fenster auf dem Flachdach gesehen zu werden. Die Dachkante bot ihr genug Deckung.

Der durch Wind und Wetter marode gewordene Riegel eines der Fenster hatte dem professionellen Werkzeug des Eindringlings nicht sonderlich viel entgegenzusetzen. Es dauerte weniger als dreißig Sekunden, bis sich die Glasscheibe zur Seite klappen lies und der Einbrecher die Haken der mitgebrachten Strickleiter an der Fensterkante eingehängt hatte. Ebenso schnell war er im Inneren des Gebäudes verschwunden.

Das eigentliche Ziel jener ominösen Gestalt befand sich in einem Ausstellungsraum des Museums. Es ging ihr um ein Gemälde, welches über einer Sofaecke aus den frühen fünfziger Jahren hing. Ein Merian-Stich, auf dem einige Bäume und Berge zu sehen waren. Der Eindringling wusste aus sicherer Quelle, dass es sich bei dem Bild um ein verschollenes Kunstwerk handelte, welches dem Museum nur durch einen unglücklichen Umstand gespendet worden war.

Im Lichtkegel seiner Taschenlampe wurde endlich der Raum sichtbar, der auch im Internet abgebildet war. Alles war so, wie es die Gestalt dort gesehen und ausgekundschaftet hatte. Sie rückte die beiden Sessel und den Tisch sowie das Sofa zur Seite, um den schweren Rahmen ohne Mühe abzuhängen. Danach verstaute sie das Bild in einem großen Beutel und schob das Mobiliar wieder zurück in die ursprüngliche Position. Schließlich nahm sie die Beute an sich und machte sich auf den Rückweg. Abgesehen von dem fehlenden Bild und dem kaputten Fensterriegel deutete nichts daraufhin, dass es in jener Nacht im Museum einen unangemeldeten Besucher gab, oder doch?

2

Norbert Blüm war außer sich, als er seinen Freund und Vorsitzenden des Heimatvereins anrief. „Nun geh endlich ran“, rief er ungeduldig ins Telefon. „Roland Polter“, meldete sich am anderen Ende der Leitung eine verschlafene Stimme. „Bei uns wurde eingebrochen!“, dröhnte Norbert Blüm. „Was um Himmels Willen schreist du denn so?“, brachte der Vorsitzende das Handy reflexartig auf Abstand. „Ja hörst du denn nicht, was ich sage?“ „Wie denn, wenn du so blökst?“ Norbert verdrehte die Augen. „Nochmal für dich zum Mitschreiben. Als ich vorhin auf mein Smartphone sah, bekam ich die Nachricht, dass die Kamera angeschlagen hat.“

Nun war auch der Vorsitzende hellwach. „Hast du schon die Polizei angerufen?“ „Das ist nicht so einfach“, druckste Norbert herum. „Wieso? 110!“ „Wir kennen den Einbrecher“, erklärte er sein Zögern. „Es handelt sich um Gesa Schwarz.“ „Bist du dir sicher?“, zweifelte Roland. „Ich schicke dir die Aufnahme.“ Nachdem Roland Polter sah, was nicht sein sollte, beschloss er, sich mit seinem Stellvertreter im Museum zu treffen.

„Nur gut, dass du so schnell herkommen konntest“, empfing Norbert seinen Freund. Er hatte sich inzwischen zumindest so weit beruhigt, dass sich seine Stimme nicht mehr überschlug. „Warst du schon drinnen?“, erkundigte sich Roland. „Ich hielt es für richtiger auf dich zu warten“, entgegnete er unsicher. „Dann sollten wir erst einmal nachsehen, was Gesa hier überhaupt wollte“, schlug der erste Vorsitzende vor. „Die Vereinskasse, was denn sonst“, erwiderte Norbert. „Woher hätte sie denn wissen sollen, dass wir ausgerechnet gestern die Kassette hier zurückließen?“ Roland schüttelte nachdenklich den Kopf. „Mal sehen, ob überhaupt was geklaut wurde.“

Nachdem die beiden Männer sämtliche Türen verschlossen und unversehrt vorfanden, fragten sie sich, wie die junge Frau in das Gebäude eindringen konnte. Schließlich entdeckten sie an einem der Oberlichter einen abgebrochenen Querriegel. „Da ist sie also rein, aber wie kam sie aufs Dach?“, wunderte sich Roland Polter. „Das ist doch die Arbeit eines Profis“, resümierte er. „Wenn ich mir die Aufnahme nicht immer wieder angesehen hätte und mir daher nicht sicher wäre, würde ich nicht glauben können, dass es sich tatsächlich um die kleine Gesa handelt“, räumte Norbert fassungslos ein. „Vielleicht hat sie ja eine Doppelgängerin“, suchte er nach einer Antwort.

Während sich die Freunde über die junge Frau unterhielten, suchten sie das Museum systematisch ab. Im Wohnzimmer der frühen Fünfziger wurden sie letztlich fündig. „Das große Gemälde ist weg“, bemerkte Roland. „Weshalb sollte sie ausgerechnet den alten Schinken stehlen?“, überlegte Norbert verblüfft. „Das Bild hat doch keinen Wert, oder?“, fragte Roland seinen Freund. „Ich verstehe jetzt gar nichts mehr“, blies der Mann, den alle nur Blümchen nannten, geräuschvoll die Luft aus seinen Wangentaschen.

„Übrigens verstehe ich nicht, weshalb du erst heute Morgen die Alarmmeldung von der Kamera auf dein Handy bekommen hast.“ Norbert verzog das Gesicht. „Na ja, weil ich das Ding auf lautlos gestellt habe.“ „Macht Sinn, wenn man bei einem Einbruch alarmiert werden will.“ „Meine Güte, ich habe halt nicht dran gedacht. So etwas kann dir ja nicht passieren, wie?“ „Nö.“ „Was machen wir denn nun?“, wechselte Blümchen das Thema. „Wir können die Gesa doch jetzt nicht bei der Polizei anschwärzen.“ „Also wenn sie nicht auch noch die Kasse mitgehen ließ, schlage ich vor, sie erst einmal zur Rede zu stellen“, schlug Roland vor.

„Die Kassette ist unangetastet“, stellte Norbert kurz darauf erleichtert fest. „Die Beichte bei Karin bleibt uns somit erspart“, atmeten die Männer im Gleichklang auf. „Die hätte uns mit Sicherheit die Hammelbeine langgezogen, weil wir die Kasse hier vergessen haben.“ „Weil du die Kasse hier vergessen hast“, verbesserte ihn Roland. „Ich schätze, das wäre ihr egal gewesen“, grinste der VWler.

„Dann lassen wir die Polizei zunächst außen vor?“ „Du bist der Vorsitzende, deine Entscheidung“, entzog sich Blümchen der Verantwortung. „Man könnte meinen, du seist Waldorf“, bemerkte Roland. „Aber nur, wenn du Statler bist. Die Figur passt sowieso.“ „Lass den Quatsch, wir haben eine schwierige Mission vor uns.“

Wenig später presste Norbert seinen Daumen auf den Klingeldrücker der Familie Schwarz. „Hallo Toni, ist deine Mama da?“, erkundigte sich Roland, als ihnen Gesas vierjährigen Sohn die Haustür öffnete. Das Kind legte den Zeigefinger über seine Lippen. „Pst, der Papi schläft noch.“ „Da hat er wohl die Nacht gearbeitet“, schlussfolgerte Norbert. „Nein!“, kam Gesa dazu. „Der hat sich gestern Abend mal wieder abgeschossen.“

Die Männer sahen sich peinlich berührt an. „Wir wollten zu dir“, fing sich Roland als Erster. „Zu mir?“ „Können wir irgendwo ungestört reden?“ „Ja klar, am besten gehen wir in die Küche.“ „Pst“, erinnerte Toni die Männer, während sie Gesa durch den Flur folgten.

„Was gibt es denn so Wichtiges, dass ihr euch extra herbemüht?“, erkundigte sich die junge Frau nun doch ungeduldig. „Ich weiß gar nicht, wie ich es sagen soll“, druckste Roland herum. Norbert verdrehte die Augen und rief das Video auf seinem Handy auf. Während Gesa interessiert schaute, ließ er die Katze aus dem Sack. „Wenn du das Bild zurückgibst, verzichten wir auf eine Anzeige.“ „Natürlich musst du auch für den Schaden am Fenster aufkommen“, fügte Norbert hinzu.

Gesa reagierte völlig anders als von den Männern erwartet. „Das auf dem Video bin ich nicht!“ Das Entsetzen in ihren Augen war derart echt, dass sie die beiden Vorsitzenden auf Anhieb überzeugte. „Aber wenn du das nicht bist, wer denn dann?“, brachte es Roland auf den Punkt. „Also das würde ich auch gern wissen“, zuckte die junge Frau mit den Achseln. „Ihr könnt gerne das ganze Haus nach dem Bild auf den Kopf stellen.“

„Das wüsste ich aber!“, mischte sich Frank Jobst, der Lebensgefährte von Gesa unvermittelt ein. „Hier stöbert niemand herum!“ „Das wollen wir auch gar nicht, aber immerhin geht es um einen Diebstahl“, rechtfertigte Roland ihren Besuch. „Sehen Sie selbst“, hielt Norbert dem noch immer angetrunkenen Hausherrn sein Handy entgegen. „Alles Fake! Wenn Gesa sagt, dass sie das nicht ist, dann ist es so! Und nun macht euch fort!“

„Tja, wir hatten gehofft, die Angelegenheit ohne die Polizei klären zu können, aber offensichtlich ist Ihnen ja nicht daran gelegen“, unternahm Roland einen letzten Versuch, die Sache zu einem guten Ende zu bringen.“ „Unbescholtene Bürger über den Tisch ziehen, aber nicht mit mir!“, wetterte Franjo auch noch, als sie bereits im Freien waren. „Weißt du denn, ob Gesa die Nacht über zuhause war?“, ließ sich Norbert nicht so leicht abwimmeln. „Das geht euch zwar eigentlich einen Scheißdreck an, aber wenn ihr dann endlich zufrieden seid… Ja, wir haben die ganze Nacht über gefeiert.“

„Himmel, was war das denn?“, atmete Roland erst einmal durch, als sie im Auto saßen. „Ich wusste ja, dass der Typ nicht so ganz rund läuft“, resümierte Norbert, „…aber bei dem ist sicher nicht nur eine Zündkerze locker.“ „Ich fand ihn total aggressiv“, schüttelte Roland bestürzt den Kopf. „Die arme Gesa hat bestimmt nicht viel zu lachen.“ „Kann schon sein“, pflichtete ihm Norbert bei. „Aber was machen wir denn jetzt?“ „Na was schon? Jetzt geht alles seinen normalen Gang. Schließlich handelt es sich um einen Einbruch. Die Versicherung tritt nur dann für den Schaden ein, wenn die Sache durch die Polizei aufgenommen wurde.“ Norbert stieß einen tiefen Seufzer aus. „Zumindest haben wir uns für das, was nun mit Gesa passieren wird, nichts vorzuwerfen.“ „Stimmt“, nahm der Vorsitzende die Worte seines Stellvertreters dankbar auf.

3

„Ich bitte Sie, Frau Schwarz, es steht doch wohl außer Frage, dass Sie die Person im Video sind“, ließ der Kommissar keinen Zweifel an seiner Einschätzung. „Es mag ja sein, dass die Frau eine gewisse Ähnlichkeit mit mir hat“, blieb Gesa bei ihrer Aussage. „Ich bin es ganz sicher nicht, denn ich war zuhause, was mein Verlobter ja auch noch bestätigen wird.“ „Wie auch immer“, ignorierte der Beamte ihre Behauptung. „Bei uns werden Sie zunächst als Tatverdächtige geführt. Ihre Aussage habe ich protokolliert.“ Er druckte ein Formular aus und legte es ihr vor. „Wenn Sie Ihre Aussage bitte noch einmal durchlesen und abschließend unterschreiben würden…“

Damit erhob er sich und wechselte das Büro. „So Herr Jobst, nun zu Ihnen. Wie Sie wissen, geht es um einen Einbruch in das Museum des Vorsfelder Heimatverein am Morgen des 17.07.23 in der Zeit zwischen 02:15 Uhr und 04:30 Uhr, der Ihrer Verlobten Frau Gesa Schwarz zur Last gelegt wird. Können Sie die Aussage von Frau Schwarz dahin gehend bestätigen, dass sie sich zur fraglichen Zeit in Ihrer gemeinsamen Wohnung im ‚Engelhop‘ 22c aufgehalten hat?“ „Nein, das kann ich leider nicht, weil ich betrunken war und schlief.“ „Nun sagt Frau Schwarz allerdings aus, mit Ihnen gefeiert zu haben.“ „Davon weiß ich nichts.“

Kommissar Duplo rieb sich nachdenklich den Nacken. „Ihnen ist schon klar, dass Ihre Verlobte damit ihr Alibi verliert?“ „Aber Herr Kommissar, ich muss hier doch die Wahrheit aussagen, oder?“ „Selbstverständlich, ich wollte nur, dass Sie noch einmal in sich gehen und genau nachdenken, ob sie Frau Schwarz nicht doch zur fraglichen Zeit in der gemeinsamen Wohnung sahen.“ „Sorry, aber wenn ich betrunken bin, schlafe ich wie ein Stein.“

„Ja wenn das so ist, werden wir gegen Ihre Verlobte ein Ermittlungsverfahren einleiten müssen“, klärte ihn der Beamte auf. „Ist Ihre finanzielle Situation denn derzeit so angespannt?“ „Gesa konnte noch nie mit Geld umgehen. So schnell wie sie es zum Fenster rauswirft, kann ich es gar nicht verdienen“, behauptete Frank Jobst, den alle Franjo nannten. „Darf ich fragen, wo Sie zurzeit beschäftigt sind?“ „Bei der Arge“, lachte er. „Ich bin doch nicht blöd. Wenn der Staat die ganzen Asylanten durchfüttert, kann er doch auch was für mich tun, oder?“

„Ich glaube, wir sind hier fertig. Unterschreiben Sie bitte noch ihre Aussage und dann können Sie auch schon gehen.“ Der Lebenskünstler verzichtete darauf, seine Aussage durchzulesen, unterschrieb und verließ das Büro und das Kommissariat in der ‚Petristraße‘, ohne auf seine Verlobte zu warten. Selbst Kommissar Duplo schüttelte verständnislos den Kopf, als er ihm nachsah.

„Tja, Herr Jobst konnte Ihr Alibi leider nicht bestätigen.“ „Wie jetzt?“, starrte Gesa den Beamten ungläubig an. „Ihrem Verlobten zu Folge, hat er fest geschlafen, weil er betrunken war und kann sich deshalb in der fraglichen Zeit nicht an Ihre Anwesenheit erinnern.“ „Spinnt der jetzt völlig?“, konnte die Beschuldigte nicht glauben, was ihr der Kommissar gerade erzählte. „Ja aber was passiert denn jetzt?“ „Es sieht leider nicht besonders gut für Sie aus. Ich empfehle Ihnen einen Rechtsanwalt zu konsultieren.“

„Verfluchter Mist, ich war das nicht und so dicke habe ich es auch nicht, um von den paar Kröten auch noch einen Anwalt zu bezahlen.“ „Wenn Sie den Einbruch tatsächlich nicht begangen haben, wird Ihnen nichts anderes übrigbleiben“, riet ihr Kommissar Duplo. „Ansonsten geben Sie die Tat jetzt zu und legen ein umfängliches Geständnis ab, dann kommen Sie sicherlich mit einem blauen Auge davon.“ „Aber ich kann doch nichts zugeben, was ich nicht getan habe“, konterte Gesa von ihrer Unschuld überzeugt. „Tja dann…“

„Kann ich denn jetzt einfach gehen?“ „Aber ja“, lächelte der Kommissar. „Es sei denn, Sie wollen lieber hierbleiben.“ Wobei er auf ihren Verlobten anspielte. „Ehrlich gesagt, wäre es mir fast lieber, aber ich muss mich um meinen Sohn kümmern.“ „Sie bekommen Post von der Staatsanwaltschaft.“

4

„Hast du deinen letzten Verstand nun auch noch versoffen?“, schrie Gesa ihren Lebensgefährten an, kaum dass sie ihre gemeinsame Wohnung betreten hatte. In ihrer Wut waren ihr zwei wichtige Begebenheiten entgangen. Zum einen befand sich Toni im Zimmer und zum anderen hatte Frank seinen Alkoholpegel nachgefüllt. Die Reaktion ihres Lebensgefährten ließ nicht lange auf sich warten. Er holte aus und schlug ihr mitten ins Gesicht. Gesa taumelte nach hinten und ging zu Boden, wo sie benommen liegen blieb.

„Mama, Mama, was ist mit dir?“, lief Toni zu seiner Mutter um ihr aufzuhelfen. Die kräftige Hand des Stiefvaters packte ihn jedoch am Kragen seines Poloshirts und riss ihn zurück. Das Kind schleuderte durch den Raum und fiel mit einem Aufschrei gegen das Sofa. Wie elektrisiert riss die junge Mutter die Augen auf, griff nach einer der leeren Schnapsflaschen, die überall herumlagen, und schlug sie dem Betrunkenen über den Kopf. Der ließ umgehend von ihr ab und taumelte rücklings, bis er letztlich in den Glastisch vor der Couch stürzte.

Er verfehlte Toni um Haaresbreite und doch bekam der Junge einige der Splitter an Arm und Beine. Als Gesa sah, dass ihr Sohn aus mehreren Wunden blutete, nahm sie ihn hoch, ohne sich dabei um Frank zu kümmern. Sie presste ihn an sich und eilte mit ihm in die Küche, wo sie unter Schock stehend einige der Splitter entfernte und das Blut abwusch. Nachdem sie die Wunden eilig mit Handtüchern abgedeckt hatte, verließ sie mit dem Vierjährigen das Haus, um mit dem Wagen ins Krankenhaus zu fahren. In diesem Moment war ihr egal, ob Franjo noch lebte oder nicht. Erst im Krankenhaus erzählte sie einer Ärztin, was geschehen war.

Während sich die Ärztin um den Jungen und um Gesa kümmerte, trafen Notarzt und Polizei am Haus im ‚Engelhop‘ 22c ein. Sie fanden die Haustür offenstehend vor und gingen rufend hinein. Das bizarre Bild, welches sich ihnen im Wohnzimmer bot, dürfte keiner der Einsatzkräfte so schnell vergessen. Frank Jobst lag inmitten von Scherben rücklings in einem Tischgestell. Zu beiden Seiten seines Körpers sickerte Blut in einen unter ihm befindlichen Wollteppich, der sich mehr und mehr verfärbte.

„Er hat noch Puls“, stellte der Notarzt überrascht fest. „Wir müssen den Bewusstlosen zunächst aus dieser Lage befreien“, machte er den übrigen Rettungskräften klar. „Vier Mann vier Ecken!“, kommandierte er, ohne dabei auf eine mögliche Diskriminierung der anwesenden Polizeibeamtin Rücksicht zu nehmen. Die Betroffene fühlte sich allerdings auch nicht angegriffen.

Bei der sogenannten Crashrettung kam der Verletzte wieder zu sich. Dank seines erstaunlich stabilen Blutdrucks konnte er auf die Seite gelegt werden, um mit der Wundversorgung des Rückens zu beginnen. Die Alkoholfahne, die den Rettern dabei entgegenschlug, konnte eine wichtige Rolle bei der späteren Aufklärung und Rekonstruktion eines vermeintlichen Tathergangs spielen.

Da Kommissar Duplo vom Polizeikommissariat Vorsfelde bereits wegen des Einbruchs in das Heimatmuseum gegen die Tatverdächtige Gesa Schwarz ermittelte, lag es nahe, dass er auch diese S ache übertragen bekam. „Glauben Sie an einen Unfall?“, fragte sein Kollege beim Anblick des zerborstenen Glastisches. „Das mit dem Glauben überlasse ich lieber anderen“, erwiderte Duplo grüblerisch. „Halten Sie es für denkbar, dass sich Gesa Schwarz für die Aussage ihres Verlobten gerächt hat?“, ließ der Kommissar Anwärter nicht locker. Duplo stöhnte genervt und verdrehte die Augen. Ausgerechnet jetzt hatte man ihm auch noch diesen Grünling aufs Auge gedrückt.

„Denkbar ist grundsätzlich alles“, entgegnete er gedehnt. „Zu Beginn unserer Ermittlungen sollten wir keine Möglichkeit außer Acht lassen.“ „Die Kollegin Petersen sagte, der Mann sei betrunken gewesen“, brachte Giovanni Sarotti eine weitere Variante ins Spiel. „Da könnte es natürlich auch ein Unfall gewesen sein.“ „Vorsicht mit solchen Schlussfolgerungen, bevor es dazu einen ärztlichen Befund gibt“, warnte Duplo. „Zunächst werden wir den vermeintlichen Tatort versiegeln, damit die Spurensicherung den Hergang rekonstruieren kann. Danach sprechen wir mit Gesa Schwarz und zuletzt mit dem Verletzten.“ „Der Mann hatte offenbar großes Glück“, lächelte Sarotti. „Man sagt, das Glück ist mit Kindern und Betrunkenen.“ Duplo schüttelte den Kopf. „Was lernt ihr da heutzutage nur auf der Polizeischule?“

Wenig später betraten Kommissar Duplo und sein Kollege Giovanni Sarotti die Kinderstation des Klinikum Wolfsburg. Dort trafen sie auf die Ärztin Ponderenko, der sich die Ermittler zunächst vorstellten. „Ist es richtig, dass Sie den Notarzt zum Haus von Frau Schwarz schickten?“, forschte Duplo nach. Die Ärztin nickte. „Hat Sie Ihnen gegenüber Aussagen zum Tathergang gemacht?“, hakte der Kommissar nach. „Hören Sie meine Herren, die Frau stand völlig unter Schock und sie hat sich auch bis jetzt noch nicht von den Vorkommnissen erholt. Sie wurde von ihrem Verlobten offensichtlich geschlagen und sah, wie der Kerl dann auch noch betrunken auf ihren Sohn zustürzte. Ich weiß nicht, was dort tatsächlich vorfiel, aber ich weiß, dass diese Frau Schlimmes durchgemacht hat.“

„Wir würden gern mit Frau Schwarz sprechen.“ „Wie gesagt, Frau Schwarz steht auch jetzt noch unter Schock. Ich kann eine Befragung zum derzeitigen Zeitpunkt nicht befürworten.“ Duplos Stirn legte sich in Falten. „Sind Sie auch die behandelnde Ärztin von Frau Schwarz?“, machte sich Sarotti zur Überraschung des Kommissars kundig. „Nein, das bin ich nicht, aber...“ „Dann bedarf es nicht Ihrer Befürwortung.“

„Ihr lernt ja doch was da in Hannover“, feixte Duplo auf dem Weg zu Frank Jobst. „Weshalb sprechen wir denn dann doch nicht mit der Frau?“ „Weil es nichts bringen würde und das, was sie uns jetzt sagen würde, ohnehin nicht vor Gericht verwendet werden könnte. Abgesehen davon hat uns die Ärztin ja bereits einen ersten Abriss des Tathergangs gegeben. Etwas anderes würde uns Gesa Schwarz zu diesem Zeitpunkt auch nicht sagen.“ „Na wenn Sie meinen.“

„Wie ich höre, geht es Ihnen schon wieder besser“, bemerkte Kommissar Duplo, nachdem er ihm seinen Kollegen vorgestellt hatte. „Was können Sie uns denn zu Ihrem Unfall sagen?“ „Unfall? Das Miststück wollte mich umbringen!“ „Wollen Sie damit sagen, Sie seien von Ihrer Verlobten mit Absicht in den Glastisch geschubst worden?“, schlussfolgerte Duplo. „Die hat mir eine Flasche über die Rübe gezogen.“ „Weshalb sollte sie das getan haben?“, hakte der Kommissar nach. „Na weil ich bei den Bullen...äh ich meine bei der Polizei nicht für sie gelogen habe.“ Sarotti machte sich eifrig Notizen. „Mir ist noch nicht so ganz klar, weshalb das Kind dabei verletzt wurde“, fragte Duplo nach. „Na weil die Alte komplett ausgetickt ist. Die wusste doch gar nicht mehr, was sie tat!“ „Dann wurde das Kind durch Ihre Verlobte verletzt?“, wollte es der Kommissar ganz genau wissen. „Na sag ich doch!“

„Der Kerl lügt wie gedruckt“, resümierte Duplo, nachdem die Ermittler das Krankenhaus verlassen und sich nun auf dem Weg in die ‚Petristraße‘ gemacht hatten. „Wie kommen Sie darauf?“ „Eine Mutter würde niemals ihr eigenes Kind in Gefahr bringen. Ich gehe davon aus, dass sie sich gegen den Kerl gewehrt hat.“ „Notwehr also?“ „Wir müssen abwarten, was die Spusi sagt.“

Einige Tage später war die Rekonstruktion des Tathergangs abgeschlossen. Sie deckte sich mit den Aussagen und dem Verletzungsbild von Gesa Schwarz. Sie und ihr Sohn hatten das Klinikum verlassen und hielten sich seither bei ihrer Mutter in Wolfenbüttel auf. Um nichts in der Welt wollte sie in das Haus zu Frank Jobst zurückkehren. Letztlich hatte sie auf den Rat ihrer Mutter gehört und sich in die Hände eines dortigen Rechtsanwalts begeben.

5

„Nach allem, was Sie mir da geschildert haben, werden wir einige Zeit brauchen, um all diese Baustellen abzuarbeiten“, seufzte Rechtsanwalt Börner. „Das alles ist zu viel für mich“, schluckte Gesa den Tränen nahe. „Wenn Sie sich tatsächlich keiner Schuld bewusst sind und nichts mit dem Einbruch zu tun haben, dann müssen Sie sich auch keine Sorgen machen. Es sei denn, Sie müssen mir doch noch etwas beichten, aber auch dann werde ich sie mit all meinem Wissen verteidigen.“ „Ich habe wirklich nichts getan, ich schwöre es.“ „Es reicht, wenn Sie es mir sagen“, entgegnete der Verteidiger lächelnd.

„Zunächst werde ich mir umgehend eine Kopie der Videoaufnahme und der Ermittlungsakten kommen lassen. Zu dem Tatvorwurf der gefährlichen Körperverletzung zum Nachteil Ihres bisherigen Lebensgefährten kann ich nach Ihrer Schilderung von einer Notwehrsituation ausgehen. Der zweite Vorwurf bezüglich der unterlassenen Hilfeleistung wird sich nicht aufrechterhalten lassen, weil sie beim Anblick Ihres verletzten Kindes unter Schock standen.“

Gesa und ihre Mutter atmeten erleichtert auf. „Die Frau in dem Video sieht mir tatsächlich mehr als ähnlich“, warnte sie Christoph Börner vor. „Als mir der Kommissar das Video vorspielte, hätte ich selbst fast geglaubt, ich sei es, aber ich weiß ja, dass ich es nicht war.“ „Sie machen mich neugierig“, gestand der Advokat. „Ich denke bis morgen Nachmittag werde ich die digitale Ermittlungsakte gesichtet haben. Um nicht unnötig Zeit zu verlieren, wäre es gut, wenn wir unser Gespräch morgen Abend fortsetzen könnten.“ „Notfalls passt morgen meine Mutter auf Toni auf.“, reagierte Gesa erleichtert. „Na klar“, bestätigte Ronja Schwarz. „Gut, dann lassen Sie sich bitte von meiner Angestellten einen Termin geben.“

„Du hattest Recht, es war richtig, einen Anwalt zu nehmen. Vielleicht kann er sogar dafür sorgen, dass Toni und ich weiter im Haus wohnen können“, sagte Gesa, während sie durch die Fußgängerzone in Richtung Seeliger Bank gingen. „Weißt du was, wir sollten uns einen Moment Zeit nehmen und uns hierhersetzen, um in aller Ruhe einen Cappuccino zu genießen.“ „Du machst Witze“, stutzte Gesa. „Wo willst du denn hier, inmitten der Baustelle in Ruhe sitzen?“ „Na ja, das mit der Ruhe war mehr im übertragenen Sinne gemeint. Dafür ist der Cappuccino bei Anne der beste in der Stadt und hier um die Ecke lässt es sich auch ganz gut sitzen.“

Als Gesa die lauschigen Plätze unter den Bäumen sah, willigte sie schließlich ein. Die Frauen hatten sich kaum niedergelassen, als die Bauarbeiten in der Fußgängerzone beendet wurden und tatsächlich Ruhe einkehrte. „Ist doch gut, dass die Stadt Geld in die Hand nimmt, um hier alles auf Vordermann zu bringen. Wir Wolfenbütteler lieben unsere ‚Lange‘ musst du wissen.“ „Na ja. Die alten Häuser sind ja auch ganz hübsch anzuschauen“, bestätigte Gesa.

„Nachdem dein Vater und ich aus Vorsfelde hierher umzogen, hat sich in unserem Leben einiges zum Guten verändert.“ „Seid froh, dass ihr den ganzen Stress hinter euch habt. Nachdem Frank arbeitslos wurde, ging es bei uns nur noch bergab. Ohne eure Hilfe wäre das Haus längst unter dem Hammer.“ Ronja sah ihre Tochter durchdringend an. „Du weißt, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, wo du einen Schlussstrich ziehen musst, oder?“ „Was glaubst du wohl, weswegen Toni und ich zu euch gekommen sind.“ „Dein Vater und ich sind für euch da.“

„Hallo, was darf ich Ihnen bringen?“, erkundigte sich die Bedienung. „Ist Anne heute gar nicht da?“ „Doch, drinnen. Heute serviere ich hier draußen“, entgegnete die junge Frau. „Dann hätten wir gern zwei italienische Cappuccino.“ „Kommt sofort“, trällerte sie und verschwand. „Sind die hier immer so nett?“, stutzte Gesa. „Die Herzlichkeit ist ein Grund dafür, dass wir uns in dieser Stadt so wohlfühlen.“ „In Vorsfelde ist es auch schön“, erwiderte ihre Tochter. „Natürlich.“

„Du darfst der Mama aber nicht verraten, dass wir schon wieder ein Eis essen waren“, bearbeitete ich Ramona. „Sonst schimpft sie wieder mit mir.“ Mein kleiner Schatz nickte mir eifrig zu. Ich saß einmal mehr zwischen allen Stühlen, so konnte ich ihr einfach keinen Wusch abschlagen, obwohl ich dafür Sorge tragen sollte, ihr jeden übermäßigen Zuckergenuss zu verbieten. Da half es auch nichts, wenn ich mich hinter der Tageszeitung versteckte und so tat, als hätte ich gar nichts mit dem Eis zu tun.

Während ich die nächste Seite der Wolfenbütteler aufschlug, fiel mein Blick auf eine junge Frau am Nebentisch. Sie hatte zwei Verletzungen im Gesicht, die professionell versorgt worden waren. Mit geschulten Augen schlussfolgerte ich, dass sie geschlagen worden war. Die Folgen häuslicher Gewalt waren mir nicht nur aus meiner Zeit bei der Polizei, sondern auch als Privatermittler allzu bekannt. Es geschieht beinahe monatlich, dass sich eine dieser geschundenen Frauen hilfesuchend an meine Detektei wendet.

Am schlimmsten ist es immer dann, wenn Kinder beteiligt sind. Scham und die Angst davor, plötzlich allein dazustehen, halten sie oftmals über Jahre davon ab, diese Schläger zu verlassen. Dabei sind es nicht nur Ehemänner, sondern auch Stalker, die diesen Frauen übel mitspielen.

„Habe ich es mir doch gedacht!“, vernahm ich unvermittelt eine vertraute Stimme. Am liebsten wäre ich in die Zeitung gekrochen. „Hat dich der Papa wieder zum Eis essen verführt?“ „Das war eigentlich gar nicht nötig“, entgegnete ich in der Gewissheit meiner Verfehlung. „Wir hatten noch gar nicht mit dir gerechnet“, schob ich kleinlaut nach. „Das sehe ich.“ „Setz dich doch auch noch auf ein Eis“, schlug ich vor. Miriam rang mit sich. „Also gut, auf einen Latte Macchiato.“

„Und, konnte die Frau Staatsanwältin heute wieder einen ihre speziellen Freunde verknacken?“, feixte ich es besserwissend. „Wir nehmen noch einen Latte und einen Cappu!“, rief ich Claudia zu, die gerade am Nachbartisch servierte. „Es läuft gerade eine größere Aktion gegen einen international agierenden Menschenhändlerring, der schon seit vielen Jahren in unserer Region agieren soll“, flüsterte mir Miriam zu. „Aber pst, das ist topsecret.“ „Na dann wirst du ja in der nächsten Zeit ziemlich viel zu tun haben“, schlussfolgerte ich. Mein Schatz winkte ab. „Nee, da kümmert sich van der Waldt persönlich drum.“ Hinter meiner Stirn legten sich einige Schalter um und meine Synapsen entwickelten einen alten Stromlaufplan zu neuem Leben. „Wenn das so ist, hast du ja genug Zeit, um mit uns in die Therme nach Bad Harzburg zu fahren.“ „Hast du denn derzeit keine akuten Fälle?“ Miriam suchte nach einem Ausweg. „Nö.“

„Dann gibt es wohl diesmal keine Ausrede für mich“, stellte die Frau Staatsanwältin fest. „Nö.“ „Au fein, wir fahren alle zusammen Baden“, freute sich Ramona. Miriam zauberte ein Lächeln in ihr Gesicht. „Was hältst du von Sonnabend?“, sah sie auf den Terminplaner in ihrem Handy. „Das passt prima“, stimmte ich zu. Unserer Tochter war der Wochentag ohnehin egal, Hauptsache die Familie unternahm endlich mal wieder etwas gemeinsam.

6

„Guten Abend, Frau Schwarz. Schön, dass es so zeitnah geklappt hat“, begrüßte sie Rechtsanwalt Börner. „Bitte nehmen Sie Platz. Wie ich sehe, haben Sie sich heute männliche Unterstützung mitgebracht.“ „Kasper Schwarz“, stellte sich der Mann an Gesas Seite vor. „Börner“, erwiderte der Advokat.

„Ich konnte inzwischen einen ersten Blick in die Ermittlungsakte werfen und natürlich auch das Video vom Einbruch in das Heimatmuseum sichten. Sie haben Recht, Ihre Ähnlichkeit mit der Täterin ist frappierend. Kein Wunder, dass Sie sofort in den Focus der Ermittlungen gerieten.“ „Wenn meine Tochter sagt, dass sie nichts mit dem Einbruch zu tun hat, dann glaube ich ihr.“ „Nun, das steht auch für mich außer Frage, dennoch wird es schwer, die Polizei in Vorsfelde vom Gegenteil zu überzeugen.“

„Aber die müssen doch auch in andere Richtungen ermitteln“, wandte Gesa ein. „Was die müssen und was die am Ende tun sind zwei Paar Schuhe, mein Schatz“, brachte es Herr Schwarz auf den Punkt. „Ich muss Ihrem Vater da leider Recht geben“, pflichtete Christoph Börner dem Mann vor seinem Schreibtisch bei. „Selbstverständlich werde ich mit Argusaugen darüber wachen, dass jeder Spur nachgegangen wird, aber wenn sich der Kommissar erst einmal festgelegt hat, bedarf es schon triftiger Gründe, um ihn auf einen anderen Weg zu bringen.“

„Ja aber das geht doch nicht! Es gilt doch die Unschuldsvermutung.“ Börner stieß einen tiefen Seufzer aus. „Ich fürchte, allein darauf sollten wir uns lieber nicht verlassen. Aufgrund des Videos und Ihres fehlenden Alibis wird das Gericht dem Antrag der Staatsanwaltschaft folgen.“ „Was schlagen Sie also vor, Herr Doktor Börner?“, ließ der Pensionär nicht den geringsten Zweifel an seiner Entschlossenheit. „Sie sollten einen guten Detektiv engagieren, der parallel ermittelt.“ Gesa sah ihren Vater fragend an.

„Ich war nie ein Freund davon, die Dinge auf mich zukommen zu lassen“, entgegnete Herr Schwarz. „Ich habe mein Leben stets in die eigenen Hände genommen und deswegen werden wir es auch jetzt so halten.“ „Ich arbeite in solchen Fällen immer gern mit der Detektei Lessing zusammen“, eruierte der Rechtsanwalt. „Nicht ganz billig und zuweilen etwas eigensinnig, aber der Beste“, pries mich mein Freund wie warme Semmeln an. „Holen Sie den Mann an Bord, ich komme für die Kosten auf.“

„Hinsichtlich des Vorwurfs der Körperverletzung sollten Sie ebenfalls eine Anzeige gegen Ihren Ex…, Sie sind doch von Herrn Jobst inzwischen getrennt?“ Vater und Tochter sahen sich einen Moment lang an, ehe seine Mandantin antwortete. „Bisher habe ich ihm nur eine SMS geschickt, in der ich mit ihm Schluss machte.“ „Das reicht. Wie gesagt, es wäre hilfreich, wenn Sie ihn ebenfalls wegen Körperverletzung anzeigen würden“, riet Börner. „Gut, dann mache ich das“, stimmte Gesa zu.

Börner legte ihr ein Schriftstück vor, welches sie nur noch unterschreiben brauchte. „Die Anzeige erfolgt schriftlich“, erklärte mein Freund. „Sie müssen sich um nichts mehr kümmern. „Wie ich sehe, sind Sie bestens vorbereitet“, lobte Herr Schwarz. „Ich gehe davon aus, dass Ihre Tochter momentan bei Ihnen wohnt?“ „Das ist richtig.“ „Herr Lessing wird sich möglicherweise bereits morgen Vormittag mit Ihnen in Verbindung setzen“, kündigte er mich an. „Haben Sie vollstes Vertrauen zu ihm und sein Sie offen. Je mehr Herr Lessing weiß, um so besser kann er Ihnen helfen.“

Ich las Ramona gerade eine Gutenachtgeschichte vor, als uns Miriam störte. „Christoph ist am Telefon. Ich glaube, es ist wichtig.“ Ich übergab das Buch und wechselte die Location. „Hallo mein bester Freund, wo brennts?“ „Das sagst du doch zu jedem“, entgegnete Christoph feixend. „Nur zum Onkel meiner Azubine. Ehrlich.“ „Na wenn das so ist, habe ich einen lukrativen Auftrag für dich.“ „Ich bin ganz Ohr.“

Bereits am Vormittag des nächsten Tages saß ich im Wohnzimmer der Familie Schwarz und ließ mir in allen Einzelheiten den Tatvorwurf aus der Sicht der Klientin schildern. Es lag auf der Hand, dass sich diese ganz wesentlich von den Anschuldigungen unterschied, die gegen sie erhoben wurden.

„Herr Doktor Börner hat Ihnen im Grunde zu der einzig praktikablen Möglichkeit geraten, die Ihnen aus meiner Sicht bleibt. Ich muss die wahre Täterin ermitteln, um Sie vollständig zu entlasten“, machte ich der Familie klar. „Dazu muss ich alles wissen, was mir bei meinen Recherchen von Nutzen sein könnte. Dabei kann es sich um Kleinigkeiten handeln, die Ihnen unwichtig erscheinen mögen. Zentral dabei ist Ihre Ähnlichkeit mit der Täterin. Wurde Ihnen in diesem Zusammenhang jemals von einer Doppelgängerin berichtet? Bekannte, die Sie zu einer bestimmten Zeit an einem Ort gesehen haben wollen, an dem Sie jedoch nie waren?“

Gesa lehnte sich nachdenklich zurück. „Jetzt, so aus dem Stegreif fällt mir da nichts ein.“ „Kasper, wir müssen es ihr endlich sagen“, ließ mich die Andeutung ihrer Mutter aufhorchen. „Jetzt, hier?“, starrte Herr Schwarz seine Frau irritiert an. „Sie wird es verstehen“, machte sie ihrem Mann Mut. Es war nur allzu deutlich, wie schwer sich die Eheleute mit der folgenden Offenbarung taten.

„Es tut mir unendlich leid, Gesa, aber du bist nicht unser leibliches Kind.“ Die Bombe schlug mit voller Wucht ein und doch hatte ich das Gefühl, dass den vermeintlichen Eltern eine tonnenschwere Last von den Schultern fiel. Wir wünschten uns so sehr ein Kind, doch nachdem wir uns untersuchen lassen hatten, war klar, dass Ronja nie ein eigenes zur Welt bringen konnte. Wir versuchten alles, um ein Baby zu adoptieren, doch die Wartelisten waren lang und wir nicht mehr die Jüngsten.“

„Irgendwann hörten wir von der Möglichkeit, ein armes Kind aus dem damaligen Rumänien zu bekommen“, fuhr Ronja Schwarz fort. „Wir beruhigten unsere Gewissen, indem wir uns sagten, dem Kind eine bessere Zukunft zu geben.“ „Aber ihr konntet doch nicht einfach…“, reagierte Gesa entsetzt. „Glaub mir, Schatz, wir lieben dich so, wie Eltern ihr Kind lieben.“ „Aber wer bin ich denn nun wirklich?“, stellte die junge Frau die Frage, die auch ich gestellt hätte.

Gesa brauchte einige Atemzüge, ehe sie sich etwas gefangen hatte. „Aber wer sind denn jetzt meine biologischen Eltern?“ „Wir wissen es nicht“, gab Kasper Schwarz zu. „Man sagte uns damals, es sei besser, wenn wir nichts wüssten. Sie haben dich uns auf einem Autobahnparkplatz übergeben. Das Ganze lief nicht gerade feierlich ab. Sämtliche Papiere, die erforderlich waren wie deine Geburtsurkunde und sogar der Mutterpass wurden uns mit übergeben. Man versicherte uns damals ihre Echtheit und sie wurde niemals in Zweifel gezogen.“

Mir fiel spontan der Menschenhändlerring ein, von dem mir Miriam erzählt hatte und der dieser Tage in unserer Region zerschlagen werden sollte. „Sie müssen unbedingt mit Rechtsanwalt Börner über die Sache sprechen. Wahrscheinlich ist das Ganze längst verjährt, aber wenn die Polizei davon erfährt, könnte dies Ihre Tochter entlasten.“ „Sie hören doch, ich bin nicht die Tochter meiner Eltern“, reagierte Gesa zerstörerisch. Ronja Schwarz vergrub ihr Gesicht in den Handflächen und begann zu weinen. Kasper nahm sie in den Arm und tröstete sie. „Wie kannst du so etwas sagen, Gesa? Waren wir nicht immer für dich da?“

„Dann können Sie auch nicht mit Bestimmtheit ausschließen, dass es einen Zwilling gibt“, versuchte ich die Situation auf das Wesentliche zu konzentrieren. „Nein und das ist auch der Grund, weshalb wir nun reinen Tisch gemacht haben“, räumte Kasper Schwarz ein. „Wenn das alles nicht geschehen wäre, hättet ihr mir wahrscheinlich niemals die Wahrheit gesagt“, schlussfolgerte Gesa schockiert. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll“, versuchte sich Ronja zu erklären. In ihrem von Kummer und Tränen entstellten Gesicht stand pure Angst. Es war die Furcht davor, ihre Tochter für immer zu verlieren.

„Können Sie sich daran erinnern, wie Sie von der Möglichkeit erfuhren, auf diese Weise an ein Kind zu kommen? Wie nahmen Sie damals Kontakt auf? Gibt es einen Beleg über die geleistete Zahlung?“, drängte ich auf Antworten. „Es existiert nichts Schriftliches darüber, aber ich kann mich an den Namen des Vereins erinnern“, bekundete Kasper Schwarz. „Die nannten sich ‚Humanité‘ . Kurz darauf kam das Internet und natürlich suchte ich danach“, berichtete er von seinem Interesse, mehr über den sogenannten Verein zu erfahren. „Ich fand damals nichts und auch Jahre später, als ich es wieder versuchte.“

„Trotzdem“, sinnierte ich. „Es ist ein Ansatzpunkt für meine Ermittlungen. Meine Mitarbeiterinnen sind diesbezüglich sehr einfallsreich.“ „Glauben Sie, es gibt eine reelle Chance herauszufinden, ob ich einen Zwilling habe?“, zeigte Gesa so etwas wie Zuversicht. „Ich will Ihnen nicht zu große Hoffnung machen, aber ich glaube schon, dass es eine Aussicht auf Erfolg gibt. Abgesehen davon muss es sich bei der Einbrecherin nicht zwingend um Ihre Zwillingsschwester handeln. Ebenso gut könnte es jemand sein, der Ihnen einfach nur sehr ähnlichsieht und gar nichts mit Ihrer Vergangenheit zu tun hat.“

„Ich möchte, dass Sie alles tun, was in Ihren Kräften steht, um die wahre Täterin zu finden“, beschwor mich Kasper Schwarz. „Dabei ist es völlig egal, ob meine Frau und ich uns am Ende wegen einer Straftat verantworten müssen oder nicht. Wenn sie letztlich herausfinden, ob Gesa eine Schwester hat und wer ihre leiblichen Eltern sind, umso besser.“ „Mein Honorar beträgt fünfhundert Euro pro Tag zuzüglich Mitarbeiter und Spesen“, erklärte ich. „Es ist uns egal, was es kostet. Im Erfolgsfall lege ich noch eine Prämie obendrauf. Hauptsache Gesa muss nicht Gefängnis.“

„Gut, dann werde ich mein ganzes Team mit voller Kraft auf den Fall ansetzen“, versprach ich. „Bitte vergessen Sie nicht mit Rechtsanwalt Börner über die Herkunft Ihrer Tochter zu sprechen. Die Polizei sollte schon wegen ihrer Ermittlungen davon Kenntnis erlangen. „Vielleicht können im Museum noch DNA-Spuren von der Täterin sichergestellt werden. Bisher bestand keine Notwendigkeit.“

7

„Hallo Mädels, lasst alles stehen und liegen, wir haben einen dringenden Fall.“ „Wie jetzt?“, sah mich Trude ungläubig an. „Ich bin gerade dabei, der Firma Räuber eine Rechnung für unsere Dienste zu schreiben.“ „Das machen Sie natürlich erst noch fertig“, korrigierte ich mich. „Um was geht es denn, Chef?“, hielt es Leonie dagegen vor Neugier nicht hinter ihrem Schreibtisch.

Nachdem ich meinen Ladys alles erklärt hatte, was sie für die Internetrecherche brauchten, sah ich mir noch einmal in aller Ruhe das Einbruchsvideo an. Das Foto, welches ich mir von meiner Klientin hatte geben lassen und die Frau auf dem Video schienen tatsächlich ein und dieselbe Person zu sein. Kein Wunder also, dass sich der ermittelnde Kommissar Duplo aus Vorsfelde ziemlich schnell auf Gesa Schwarz festgelegt hatte.

Genau wie meine Mädels verbrachte ich den Rest des Tages damit, in den sozialen Medien nach Fotos und allem, was mit Gesa Schwarz zu tun hatte, zu fahnden. Das Problem lag nicht darin, Bilder von ihr und Personen die ihr ähnlich sahen zu finden, sondern herauszubekommen, ob es sich dabei immer um unsere Klientin handelte. Bis zum Feierabend hatten wir eine ganze Reihe von Fotos, die sich absolut nicht zuordnen ließen. Hier konnte uns nur unsere Klientin helfen.

Um nicht jedes dieser Fotos ausdrucken zu müssen, übermittelten wir sie via Mailanhang an unsere Auftraggeberin. „So Mädels, Schluss für heute. Ich wünsche euch ein erholsames Wochenende und hoffe, dass ihr Montag früh ausgeruht und vor allem ausgeschlafen wieder auf der Matte steht. Ihr wisst ja, euer einziges Streben sollte stets das Wohl der Detektei sein.“ Die Ladys sahen sich verkniffen an und konnten sich doch nicht mehr vor Lachen halten. „Von was träumen Sie nachts, Chef?“, feixte Leonie in ihrer kessen Art. „Dass ihr Gewehr bei Fuß steht, falls ich euch doch schon morgen brauchen sollte.“ „Na, dann träumen Sie mal weiter“, pflichtete Trude meiner Azubine bei.

Natürlich dachte ich noch an mein Versprechen, am Samstag mit meiner Familie in die Therme nach Bad Harzburg zu fahren. Miriam konnte kaum glauben, dass ich zu ihrem Leidwesen dran dachte. Große Lust hatte sie nämlich nicht. Was ich ihr als einfühlsamer Ehemann selbstverständlich ansah. „Wir können ja nach der Therme noch in die City und etwas essen gehen“, schlug ich vor, um ihr den Ausflug schmackhafter zu machen. „Oh ja, prima. Da ist doch auch dieser bekannte Juwelier“, nutzte sie die Gelegenheit. „So hatte ich mir das eigentlich nicht gedacht“, schwante mir Ungemach. „Keine Angst, gucken kostet nichts.“ „Das sagen die in der Türkei auch immer und dann wirds teuer.“

Weshalb es ausgerechnet ein Samstag sein musste, war mir beim Anblick des überfüllten Parkplatzes neben der Burgbergseilbahn auch nicht mehr klar. Fakt ist, dass wir mit Ach und Krach einen Parkplatz bekamen. Dafür wurden wir in der Therme auf das Beste entschädigt. Es war weniger voll als erwartet und die Anlage modern und sauber. Selbst Miriam genoss den Whirlpool und die Treibflussanlage im Freigelände. Am schönsten aber war es zu sehen, wieviel Spaß Ramona dabeihatte.

„Das müssen wir unbedingt bald wieder machen“, überraschte mich Miriam, als wir zum Abschluss im Thermalcafé noch einen Cappuccino tranken. „Übrigens gibt es dort oben auch ein Restaurant“, deutete ich auf die Seilbahn. „Da bekommen mich keine zehn Pferde rein“, erwiderte Miriam deutlich. „Außerdem wollten wir ja ohnehin noch in die Fußgängerzone. Ich muss unbedingt wegen eines neuen Armbandes gucken. Mein altes hat schon arg gelitten.“ Als sie mir das Schmuckstück samt Arm entgegenhielt, war klar, dass ich aus der Nummer nicht mehr rauskam. Von wegen, gucken kostet nichts…

Kurz darauf fuhr ich in die Herzog Wilhelm Straße und hielt nach dem Juweliergeschäft Ausschau. „Da ist es!“, machte mich mein Schatz auf ein Ladenlokal an der Ecke aufmerksam. Leider waren bereits alle Parkplätze besetzt, so dass ich ein Stück weiter bis zu einem Lebensmittelgeschäft fahren musste. Während wir ausstiegen und sich Miriam um die Kleine kümmerte, besorgte ich einen Parkschein.

Quasi im selben Moment wurden wir auf einen Mann aufmerksam, der laut rufend aus eben jenem Juweliergeschäft auf den Gehweg eilte. Sein Interesse galt einer Frau, die mit gezogener Waffe direkt auf Ramona und Miriam zulief. Mir stockte der Atem. Da ich mich in entgegengesetzter Richtung in etwa fünfzig Meter Entfernung befand, blieb mir nur dafür zu beten, dass mein Schatz das Richtige tat.

Instinktiv wandte sie sich von der Frau ab, um unsere Kleine mit ihrem Körper zu schützen. Bis auf vielleicht zwanzig Meter kam sie mir nah, befand sich nun zwischen mir und meiner Familie. Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf. Im Bruchteil einer Sekunde musste ich die Gefahr abwiegen, der ich sie und die Passanten im Fall eines Eingreifens ausgesetzt hätte.

Als die mit einer Schusswaffe bewaffnete Frau den ‚Jungbrunnen‘ erreichte, rannte sie nach links über die Straße und verschwand schließlich zwischen zwei Häusern. Dabei verlor sie ihre Sonnenbrille und für einen Moment lang glaubte ich, es seien die Augen meiner Auftraggeberin.

Mit dem nächsten Gedanken verwarf ich diese Idee jedoch wieder. Immerhin waren wir in dieser Sekunde sicherlich kaum zehn Meter voneinander entfernt. Überdies hätte sie mich ebenso erkannt und auf Grund dessen völlig anders reagiert. Da für Miriam und Ramona keine Gefahr mehr bestand, setzte ich der Frau nach. Als ich in den hinter dem Haus gelegenen Garten kam, sah ich gerade noch, wie die Flüchtige auf der anderen Uferseite der Radau aus dem Wasser stieg. Da ich im selben Moment Polizeisirenen hörte, verzichtete ich auf ein Bad im Fluss und kehrte zu meiner Familie zurück.

Inzwischen hatten sich der Juwelier sowie einige Passanten in Höhe des Lebensmittelgeschäftes um die Frau Staatsanwältin versammelt. Bevor ich die Menschentraube erreichte, stoppte neben mir ein Streifenwagen. Ich schilderte den Beamten mit wenigen Worten, wohin die Flüchtige gelaufen war. Offensichtlich hatten die Polizisten sofort eine Idee, wo sie die Frau abpassen konnten und jagten davon.

Wenig später erfuhren wir im Kommissariat, welches sich ebenfalls in der ‚Herzog Wilhelm Straße‘ befindet, von dem Fluchtwagen, der auf der anderen Seite des Flusses auf einem Parkplatz abgestellt war. Somit war klar, dass dies ganz sicher nicht die erste Tat der jungen Frau war. Bei der Frage, ob ich die Tatverdächtige gut genug gesehen hatte, um sie beschreiben zu können, behielt ich meine Vision besser für mich.

Nach all der Aufregung war zumindest Miriams Wunsch nach einem neuen Armband vom Tisch. Sie war froh, als wir heile im Auto auf dem Weg nach Hause waren. „Das hätte auch ganz anders ausgehen können“, unkte sie. „Gottlob bist du ruhig geblieben und hast dich von ihr weggedreht“, lobte ich ihre Reaktion. „Kann es möglich sein, dass dir irgendetwas an der Frau auffiel?“, erkundigte sie sich mit einem lauernden Gesichtsausdruck. „Wie kommst du denn jetzt darauf?“, entgegnete ich unbedarft. „Weil ich einen Moment lang, als ihr euch ziemlich nah wart, das Gefühl hatte.“ „Du hast Recht, sie kam mir irgendwie bekannt vor.“

Es ist schon erschreckend, wie gut mich Miriam mittlerweile kennt. „Na ja, du hast ja schon morgen die Gelegenheit, genauer hinzusehen.“ „Du meinst sicherlich die Aufnahmen der Kameras aus dem Juweliergeschäft“, sinnierte ich. „Welche denn sonst?“, erkundigte sie sich gedehnt. Mit einer Staatsanwältin verheiratet zu sein bedeutet, kaum ein Geheimnis für sich behalten zu können, weil man wie ein Schießhund auf jedes seiner Worte achten muss. Miriam ist nicht von ungefähr so erfolgreich. Manchmal ist sie mir direkt ein wenig unheimlich.