Detektei Lessing

Band 38

In eigener Sache

-1-

„Es war wirklich wieder ein toller Abend, Leute“, unterbrach Nadja die angeregte Unterhaltung und erhob sich. „Was heißt hier war?“, lallte Marcus. Ihr Freund wollte die gesellige Studentenrunde noch nicht verlassen. „Der Abend hat doch gerade erst begonnen.“ „Wie du ja weißt, schreibe ich morgen eine wichtige Klausur“, erinnerte ihn Nadja. „Ich bin nur mitgekommen, weil du mir versprochen hast, dass es nicht so spät wird.“ „Kann es sein, dass ihr noch etwas ganz anderes vorhabt?“, machte sich einer der Studenten lustig. Die übrigen Freunde grölten.

Solche Sprüche warfen Nadja nicht aus der Bahn. Sie war mit drei Brüdern aufgewachsen und wohnte seit etwa einem Jahr allein in Wolfenbüttel. Als Studentin der Elektrotechnik hatte sie sich zu einem Studium entschlossen, welches überwiegend von Männern belegt wurde. Sie hatte folglich gelernt, sich zu behaupten.

„Was ist nun, gehst du mit mir oder mit den anderen nach Hause?“, stellte sie Marcus vor die Wahl. Der überlegte einen Moment, wobei ihm dies angesichts seines vom Alkohol benebelten Hirn alles andere als leichtgefallen sein dürfte und entschied sich letztlich dazu, seine Freundin zu begleiten. Während er sich ebenfalls erhob, bemerkte Nadja erst, wie viel er bereits intus hatte. Eine Gewohnheit, die sie an ihm nicht ausstehen konnte. Auch wenn sie selbst gern mal ein Gläschen trank, wusste sie stets, wann es genug war.

„Also dann bis morgen in der Uni“, riefen ihnen die anderen Studenten zu. „Aber lass noch was an ihm dran!“, machte sich seine Ex über ihn lustig. „Allzu viel war da ja nicht.“ Nadja verdrehte die Augen. „Du musst es ja wissen.“ Während sie nach ihrer Jacke griff, torkelte Marcus aus der Strandbar. „Pass lieber auf, dass er nicht in der Entengrütze baden geht“, lachte Morten, der den gleichen Studiengang absolvierte. „Ja, ja, bis morgen“, winkte Nadja ab und beeilte sich, um ihren Freund einzuholen.

„Vielleicht wartest du mal auf mich!“, rief sie ihm nach. „Wo willst du überhaupt hin?“ Marcus sah sie verklärt an. „Na, zum Auto! Wohin denn sonst?“ Nadja schüttelte lächelnd den Kopf. „Das kannst du vergessen. Ich habe zwar nicht so hemmungslos getrunken wie du, aber trotzdem zu viel, um noch mit dem Auto fahren zu können.“ „Wie jetzt?“, realisierte Marcus nur langsam, was ihm Nadja gerade klarmachte. „Ein Spaziergang wird dir sicher guttun.“ Er griff nach ihrem Rucksack.

„Gib mir den Schlüssel, dann fahre ich eben.“ Nadja wich zurück. „Du spinnst wohl!“ „Stell dich nicht so an!“, ließ Marcus nicht locker. „Das kannst du vergessen“, entgegnete Nadja konsequent. Mit zwei schnellen Schritten hatte sie Abstand zwischen sich und ihrem Freund gebracht. Achtsam beobachtete sie seine Reaktion. Ausgerechnet in diesem Moment begann es zu regnen. Nicht sehr stark, aber genug, um auf dem Weg nach Hause nass zu werden.

„Verdammt, das auch noch!“, fluchte der Student. „Es grenzt an ein Wunder, dass du den Regen überhaupt noch spürst“, machte sich Nadja über ihren Freund lustig. Der fand den Scherz seiner Freundin weniger witzig und versuchte abermals an den Autoschlüssel zu gelangen, indem er sie am Arm packte und an ihrem Rucksack herumriss. „Du tust mir weh!“, schrie sie ihn an, während sie sich seinem Griff entzog. „Spinnst du!“ „Jetzt gib mir endlich den beschissenen Schlüssel, du blöde Kuh!“

Nadja wurde die angespannte Situation schlagartig bewusst. Sie sah sich um und rief nach ihren Freunden, die nach wie vor in der etwa vierhundert Meter entfernten Strandbar feierten. Die Musik war jedoch so laut, dass ihre Rufe ungehört blieben. Während ihr Freund erneut auf sie zuging, wandte sie sich von ihm ab, ließ ihn stehen und lief den Garnisonsberg hinauf, wo sie sich schließlich hinter einem der Büsche versteckte.

Als ihr Marcus folgen wollte, rutschte er auf dem vom Regen mittlerweile glitschigen Lehmboden aus und stürzte. „Verdammter Mist!“, hörte sie ihn fluchen. „Das wirst du bereuen!“, drohte er. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. So hatte sie ihn noch nie erlebt. Und so wollte sie ihn auch nie wieder erleben. Sofern er wieder nüchtern war, würde sie sich von ihm trennen, so viel stand fest. Aus ihrem Versteck beobachtete sie schließlich, wie er in die Strandbar zurückkehrte.

Da sie Marcus in diesem Moment ihre gesamte Aufmerksamkeit widmete, bemerkte sie nicht, dass sie nicht allein war. Ebenso wenig, wie sich in ihrem Rücken eine dunkle Gestalt heranschlich, die sie schon in der Strandbar beobachtet hatte. Erst als ihr der Unbekannte eine Hand über den Mund presste und sie mit hartem Griff zu Boden riss, erkannte sie die Gefahr, in der sie schwebte. Der Mann trug ein Basecap, welches er tief ins Gesicht gezogen hatte. Nadja wehrte sich so gut sie konnte, doch der Mann warf sich über sie und drückte ihr plötzlich ein Messer an die Kehle.

„Ein Mucks und ich steche dich ab!“ , drohte er. Als sie sich auch jetzt noch nicht in ihr Schicksal ergeben wollte, erhöhte der kräftige Mann den Druck auf das Messer. Nadja spürte, wie ihr die scharfe Klinge in die Haut schnitt. Warmes Blut quoll aus der Wunde, rann über ihren Hals und tropfte auf die neue Bluse. Sie trug sie zum ersten Mal an diesem Abend. Ein paradoxer Gedanke, der sich wie ein Brenneisen in ihre Gedanken brannte. Sie spürte, wie er seine schmutzige Pfote zwischen ihre Beine drückte, ohne es jedoch bewusst wahrzunehmen.

Stattdessen fixierten sich ihre Gedanken auf die Bluse, ließen keinen Spielraum zu, riefen den Kauf in einer der Wolfenbütteler Modeboutiquen in ihr Bewusstsein zurück. Während sich das Monster an ihr verging, dachte sie an nichts anderes. Lange hatte sie auf die Bluse sparen müssen, ehe sie das Geld dafür zusammenhatte und nun tropfte das Blut darauf. Teilnahmslos ließ sie alles über sich ergehen, spürte den heftigen Schmerz, den ihr die Bestie über ihrem Körper erbarmungslos zufügte und fragte sich dabei, ob die Flecken in der Reinigung herausgehen würden.

Noch immer tropfte der Regen monoton auf ihr Gesicht. Noch immer quälte sie das Monster mit seiner nicht enden wollenden Gier, scheinbar im Rhythmus seiner krankhaften Instinkte. Auf und ab, auf und ab. Schneller und schneller, schneller und schneller. Irgendwann entlud sich seine Lust in einem lauten tierischen Stöhnen und von einer Sekunde zur anderen erlosch das Feuer in seinen gierigen Augen und er ließ von ihr ab. Er griff nach dem Messer.

Während er seine Hose hochzog, versuchte er sein Gesicht unter dem Basecap zu verbergen. Viel zu spät, wie ihm in diesem Moment bewusstwurde. „Wirst du ein braves Mädchen sein?“, erkundigte er sich zynisch. „Oder wirst du der Polizei von mir erzählen?“ Seine Worte drangen wie durch einen dichten Nebel in Nadjas Gedanken. Sie war nicht in der Lage, diese logisch umzusetzen, geschweige denn zu einer Antwort fähig. Nadja lag noch immer auf dem Boden, hatte sich zusammengekrümmt und auf die Seite gedreht. Die Angst ließ sie am ganzen Körper zittern.

Sie registrierte nicht, wie sich der Mann nach einem großen Stein bückte und ihn aufnahm. Sie schien gefangen in einer Art Zwischenwelt. „Du wirst mich verraten, ich weiß es. Tut mir leid Kleine, aber du lässt mir keine andere Wahl.“

„He, was machen Sie da?“, erkundigte sich ein Mann, der wie aus dem Nichts unvermittelt hinter einem Baum auftauchte. Er hielt einen aufgeregt kläffenden Hund an der Leine. „Mach dich vom Acker, Alter!“, ließ sich der Mann mit dem Basecap nicht beeindrucken. Im selben Moment riss sich der Hund los und rannte auf das Monster zu. Mit dem nächsten Atemzug traf ihn der Stein. Lautes Jaulen verriet, dass der Hund getroffen wurde. Quasi zeitgleich verschwand der Vergewaltiger in der Dunkelheit.

-2-

Von weitem schon sah Oberkommissar Sinner das blaue Rundumlicht der Einsatzfahrzeuge durch die übermannsgroßen Grabsteine blitzen. Sie ragten bizarr anmutend wie stumme Zeugen einer längst vergangenen Zeit in den nächtlichen Himmel hinter der Doppelturnhalle am Landeshuter Platz. Stumm und apathisch, wie bleierne Soldaten und doch standen sie an diesem Ort, um die Vergangenheit wach zu halten.

Kommissar Schubert erwartete seinen Kollegen bereits am Tatort. „Ich muss unbedingt an meiner Kondition arbeiten“, schnaufte der Oberkommissar, als er den Garnisonsberg erklommen hatte. Schubert sah seinen Vorgesetzten mit einiger Verwunderung an. „Wenn dieser Hügel bereits ausreicht, um Sie aus der Puste zu bringen, kann ich Ihrem Vorsatz nur zustimmen.“ Mit solcher Offenheit hatte Sinner nicht gerechnet. Er rümpfte seine Nase daher etwas pikiert und verschaffte sich mit einem Rundumblick einen ersten Eindruck vom Tatort.

Das kleine Plateau, auf dem die Tat geschah, war gleichzeitig der höchste Punkt des Berges. Von einer Parkbank aus konnte man von dem mit Buschwerk ansonsten zugewachsenen Aussichtspunkt den nordöstlichen Teil des Stadtgrabens einigermaßen überblicken. Links neben der Bank hatte die Spurensicherung mehrere Beweissicherungsmarken verteilt. „Dort wurde das Opfer missbraucht“, erklärte Schubert. „Ich habe Augen im Kopf“, reagierte der Oberkommissar unausgeschlafen. Der lockere Spruch seines Kollegen steckte ihm offenbar noch im Hals.

„Wo befindet sich das Opfer?“, erkundigte sich Sinner. „Tja, das wüsste ich auch gern“, erklärte Schubert. „Was soll das heißen?“, wollte Sinner seinen Ohren nicht trauen. „Bislang gibt es nur einen Zeugen, der dem Opfer zu Hilfe kam“, erklärte Schubert. „Eine Fußstreife ist der Obdachlose durch Zufall aufgefallen, als er mit seinem Hund auf dem Arm an der Doppelturnhalle entlanglief.“ Sinner sah sich fragend um. „Wo ist der Mann?“ „Eine Streife hat ihn und seinen Hund in die Tierklinik am ‚Neuer Weg‘ gefahren.“ Die Stirn des Oberkommissars krauste sich. „Wollen Sie mich veräppeln?“ „Äh, nein. Der Hund wurde durch einen Stein verletzt, als er dem Täter an den Kragen ging.“

Sinner sah seinen Kollegen durchdringend an. Dann verzog er das Gesicht, als hätte er gerade in eine besonders saure Pampelmuse gebissen. „Sie wollen mich doch verarschen.“ „Als der Zeuge und dessen Hund das Plateau erreichten, hob der Täter gerade einen großen Stein auf, um das Opfer damit zu erschlagen“, erklärte Schubert seinem immer noch skeptisch dreinschauenden Vorgesetzten. „Der Hund riss sich los und griff den Täter an. Der drehte sich um und warf den Stein kurzerhand nach dem Hund. So hat es der Zeuge auf dem Weg in die Klinik zumindest den Beamten erzählt.“

Sinner schüttelte ungläubig den Kopf. „Die Kollegen haben ihn dann zusammen mit dem Hund abgesetzt und haben die Angaben überprüft“, fuhr Schubert fort. „Als sie auf dem Plateau ankamen trafen sie allerdings niemanden mehr an. Dafür entdeckten sie zwischen den Büschen den Rucksack des Opfers.“ „Dann hat der Hund dem Opfer wahrscheinlich das Leben gerettet“, stellte Sinner anerkennend fest. „So könnte man sagen.“ „Wahrscheinlich läuft die arme Frau völlig unter Schock stehend durch die Stadt“, sorgte sich der Oberkommissar.

„Ich gehe davon aus, dass sich im Rucksack zumindest ein Hinweis auf den Namen des Opfers befindet“, mutmaßte Sinner. Der Kommissar verzog das Gesicht. „Leider nicht. „Die Beschreibung der Frau wurde an alle Streifenwagen weitergegeben.“ „Gut.“ Der Oberkommissar nickte und wandte sich den Kollegen der Spusi zu. „Haben Sie eventuell etwas für uns?“ Die Kriminaltechniker waren nach wie vor im Licht der Scheinwerfer auf Spurensuche. „DNA fähiges Material können Sie vergessen“, entgegnete Ramsauer. „Der Regen hat den Tatort nahezu blankgewaschen. Außer Schuhabdrucken, die zum Teil auch noch überlagert sind, gibt es herzlich wenig.“

Sinner stieß einen tiefen Seufzer aus. „Dann bleiben uns wohl nur die Aussage des Zeugen“, seufzte der Oberkommissar ein weiteres Mal. „Der Zeitpunkt der Vergewaltigung muss übrigens zwischen 23 Uhr und Mitternacht liegen“, fuhr Schubert mit dem Briefing seines Vorgesetzten fort. „Wieso ist diese Angabe derart vage?“ „Der Zeuge war derart aufgeregt, dass ihn die Kollegen von der Streife nicht weiter befragten.“ Sinner rümpfte die Nase. „Na schön, dann wollen wir.“

„Was ist mit dem Tatort?“, hakte Schubert nach. „Was soll sein? Hier geht auch ohne uns alles seinen Gang. Ich schlage vor, wir erkundigen uns zunächst nach dem Hund und befragen bei der Gelegenheit den Zeugen.“ Sinner rieb sich nachdenklich den Hinterkopf. „Hatten Sie eigentlich schon den Namen des Zeugen genannt?“ Schubert sah in sein Notizheft. „Mike Knabe.“ „Gut, dann lassen Sie uns am besten gleich losfahren.“

Als die Kommissare kurz darauf die Tierarztpraxis erreichten, war das Gebäude hell erleuchtet. „Ich wusste gar nicht, dass Sie auch Notfallsprechstunde haben“, zeigte sich Sinner angetan. „Mitten in der Nacht kommt dies auch eher selten vor, erklärte die Tierarzthelferin, nachdem sie die Kommissare in das Wartezimmer gebeten hatte. „Andererseits ist es nicht anders als beim Menschen, der in Not ist. Wir helfen, wann immer es notwendig ist.“

Nach einer kurzen Zeit des Wartens erschien Mike Knabe im Warteraum. „Wie geht es Ihrem Hund?“, erkundigte sich Kommissar Sinner. „Hat er es gut überstanden?“ „Benny ist wie ich. So schnell lassen wir uns nicht unterkriegen“, zeigte sich der Zeuge kämpferisch. „Übrigens vielen Dank für die Hilfe Ihrer Kollegen. Ohne die hätte ich nicht gewusst, an wen ich mich mit Benny wenden soll.“ Schubert winkte ab „Dafür ist die Polizei auch da. Ohne das mutige Eingreifen Ihres Hundes wäre die junge Frau wahrscheinlich nicht mehr Leben.“

„Wie geht es ihr eigentlich?“, erkundigte sich der Obdachlose. „Leider konnten wir sie noch nicht befragen. Sie ist verschwunden“, erklärte Schubert. „Umso wichtiger wäre es, wenn Sie uns schildern könnten, was geschah“, nahm Sinner den Faden auf. „Ich habe den beiden Polizisten doch schon alles gesagt“, erinnerte sich Mike Knabe. „Seien Sie so gut und erzählen Sie es uns noch einmal.“ „Ich störe nur ungern, meine Herren, aber ich möchte Sie bitten, dies an einem anderen Ort zu tun“, unterbrach die Ärztin die Befragung. „Hier können Sie jetzt ohnehin nichts mehr für Benny tun. Viel ist von der Nacht nicht mehr übrig und ein wenig Schlaf hätte ich dann trotzdem noch gern.“ „Oh ja, natürlich“, zeigte Sinner Verständnis. „Toll, dass Sie sich sofort um den Hund gekümmert haben. Die Rechnung schicken Sie bitte an die Dienststelle an der Lindener Straße.“

Schubert war mehr als überrascht. Von dieser Seite kannte er seinen Chef bislang nicht. „Wenn das geht“, entgegnete die attraktive Ärztin nicht weniger verwundert, während sie gemeinsam das Gebäude verließen. „Wir haben da so einen Sonderfond“, erklärte Sinner. „Na wunderbar“, freute sich die Ärztin. „Sie können Benny morgen Nachmittag hier besuchen“, wandte sie sich Mike Knabe zu. „Dann wünsche ich den Herren noch eine gute Nacht.“

„Tja, dann fahren wir jetzt am besten in die Dienststelle“, seufzte Schubert und entriegelte den Wagen. „Wenn es nicht zu viel verlangt ist, wäre es nett, wenn Sie vorher am Stadtgraben vorbeifahren würden, damit ich meine Sachen zusammenpacken kann“, bat Mike Knabe. „Das heißt, falls noch etwas davon da sein sollte.“ „Ich kann Sie beruhigen“, entgegnete Sinner. „Die Kollegen haben Ihre Habseligkeiten mit in die Dienststelle genommen.“ Erleichterung zeichnete sich im Gesicht des Obdachlosen ab.

Als der Zeuge den Kommissaren in der Dienststelle an der Lindener Straße das Protokoll unterschrieb, in dem er den Tathergang noch einmal so ausführlich wie möglich geschildert hatte, blinzelten bereits die ersten Sonnenstrahlen des noch jungen Tages durch die trüben Fenster des Büros. Mehrere Kannen Kaffee waren nötig gewesen, um die Männer wach zu halten.

„War es das jetzt?“, schnaufte Mike Knabe. „Leider noch nicht ganz“, raubte Oberkommissar Sinner dem Zeugen jegliche Hoffnung. „Sie haben den Täter gesehen. Leider war Ihre Beschreibung wegen der Dunkelheit nicht so gut“, erklärte der Ermittler. „Möglicherweise erkennen Sie ihn aber auf einem der Fotos in unserer Verbrecherdatei.“ „Ich möchte Ihnen ja wirklich gern weiterhelfen, aber ich fürchte, mit leerem Magen kann ich mich nicht so richtig konzentrieren.“ „Ach du liebes Lottchen, wie konnte ich das nur vergessen“, griff sich Sinner an den Kopf. „Der Kollege wird uns sofort ein vernünftiges Frühstück besorgen.“ „Dann soll er aber nicht die Medizin vergessen“, lächelte Knabe verschmitzt.

Wenig später hatte Schubert beim Bäcker im nahe gelegenen Discounter Markt alles besorgt, um dem Zeugen und auch den Kommissaren den Start in den Tag zu verschönern. Als er das Dienstgebäude wieder betrat, traf er auf den Kollegen Ramsauer.

„Morgen Kollege“, begrüßte ihn der Leiter der Spusi mit einem Klaps auf die Schulter. „Na, auch schon wieder auf den Beinen?“ „Sie sind gut, Sinner und ich waren noch gar nicht im Bett“, stellte Schubert klar. „Na, dann haben Sie meine Mail ja bereits gelesen.“ „Mail?“, hakte der Kommissar nach. „Wofür mache ich mir eigentlich die ganze Mühe, wenn ihr das Ergebnis der Spurensuche nicht zur Kenntnis nehmt?“, ärgerte sich Ramsauer.

„Wir fanden am Tatort einen Autoschlüssel, den wir schließlich einem Fahrzeug zuordnen konnten, welches vor der AOK abgestellt war. Der Wagen ist auf einen Robert Ringel zugelassen“, brachte er Schubert auf den neuesten Stand. „Das ausführliche Untersuchungsergebnis sende ich euch im Laufe der nächsten Stunde zu“, versprach Ramsauer. „Sie haben was gut bei uns.“ Der Leiter der Spusi sah auf die Brötchentüte. „Ihr könnt die Truppe ja auch mal zum Frühstück einladen.“ „Geht klar, wir melden uns bei euch.“

„Es gibt interessante Neuigkeiten“, verkündete Schubert, während er die Lebensmittel auf seinem Schreibtisch ablegte. „Die Spurensicherung fand am Tatort einen Autoschlüssel, der zu einem Fahrzeug passt, das auf den Namen Ringel zugelassen ist“, klärte er seinen Chef auf. „Sie fanden den Wagen vor dem AOK Gebäude am ‚Landeshuter Platz‘. Der Bericht kommt zwar erst noch, aber ich habe hier eine Mail, in der uns der Kollege Ramsauer das Wichtigste zusammengefasst hat.“ Sinners Stirn krauste sich. „Weshalb fuhr sie nicht mit dem Wagen?“ „Vielleicht war sie ja nicht mehr ganz nüchtern“, vermutete der Obdachlose.

Die Kommissare sahen sich zustimmend an. „Das wäre eine Möglichkeit“, räumte Sinner ein. „Bevor wir dem Hinweis weiter nachgehen, werden wir erst einmal in Ruhe frühstücken“, unterbrach er das geschäftige Treiben. „Kommen Sie zu uns, Herr Knabe.“ „Hört sich gut an“, freute sich der Zeuge. „Hat schon lange keiner mehr zu mir gesagt.“ „Was meinen Sie?“, hakte Schubert nach, während er die Papiertüte mit den Brötchen aufriss. „Herr Knabe“, wiederholte der Obdachlose.

Die Männer begannen gerade ihren Hunger zu stillen, als es an der Tür klopfte. „Herein.“ „Guten Morgen, die Herren. Na, so ließe ich mir auch die Arbeit schmecken.“ Mike Knabe fiel das Messer scheppernd aus der Hand. Sein Blick war zur Tür gerichtet. Die Kommissare sahen blankes Entsetzen darin. „Das ist er!“, stotterte der Zeuge und deutete mit ausgestrecktem Arm auf mich.“ „Was bin ich?“, entgegnete ich verwundert. „Sie sind der Mistkerl, der meinen Benny halbtot geschlagen hat!“, rief mir der Mann entgegen.

„Nun aber langsam mit den Pferden“, entgegnete ich völlig irritiert. „Sie haben das Mädchen vergewaltigt und wollten sie töten!“, warf er mir nun auch noch vor. „Also nun ist es aber genug“, versuchte ich gelassen zu bleiben. „Wo habt ihr denn den ausgegraben?“, wandte ich mich Tim Sinner zu. Der schluckte nur trocken und sah Schubert an. „Der Herr ist Zeuge in einer Vergewaltigungssache“, erklärte mir Schubert. Ich schüttelte den Kopf. „Na, dann herzlichen Glückwunsch.“ „Herr Knabe hat sich offenbar geirrt.“

„Wieso geirrt? Ich weiß doch, was ich sehe“, blieb der Obdachlose bei seiner Behauptung. „Das ist Herr Lessing“, erklärte Schubert. „Ein Detektiv, mit dem die Polizei häufig zusammenarbeitet.“ Knabe zuckte mit den Achseln. „Ja und, ist er deswegen ein Heiliger?“, entgegnete der Zeuge. „Also bitte“, ließ sich Sinner der Ruhe Willen hinreißen, um die Situation aufzulösen. „Wo waren Sie gestern Abend in der Zeit von 23 Uhr und Mitternacht, Herr Lessing?“ „Das ist jetzt nicht dein Ernst“, vermochte ich die Frage kaum zu glauben. „Also?“

Ich konnte es nicht fassen, aber Oberkommissar Sinner hatte es tatsächlich ernst gemeint. „Ich war wegen eines Falles unterwegs, in dem ich gestern bis in die Nacht eine Person observierte“, erklärte ich vage. „Ein bisschen genauer darf es schon sein“, gab sich Sinner nicht zufrieden. „Hast du schon mal was von Mandantenschutz gehört?“, erwiderte ich angefressen. „Ich werde euch ganz sicher keinerlei konkrete Angaben machen, solange der Spaßvogel zuhört.“

Sinner wandte sich seinem Kollegen zu. „Herr Lessing und ich gehen in den Besprechungsraum. Wenn du hier so weit bist, kommst du bitte nach.“ Schubert nickte und der Oberkommissar und ich verließen den Raum. Während ich ihm folgte, versuchte ich ruhig zu bleiben und mich daran zu erinnern, ob mich zu der Zeit jemand gesehen hatte.

„Was ist denn überhaupt passiert?“, fragte ich Tim Sinner, kaum dass er die Tür hinter sich geschlossen hatte. „Setz dich erst einmal hin und atme tief durch“, entgegnete der Ermittler beschwichtigend. „Und nun erzählst du mir bitte, was du in der fraglichen Zeit gemacht hast.“ Ich war stocksauer und trotzdem blieb mir nichts anderes übrig, als Rede und Antwort zu stehen. „Du musst schon entschuldigen, aber es kommt ja nun wirklich nicht jeden Tag vor, dass man mich einer Vergewaltigung bezichtigt.“ „Tut mir leid, Leo, aber du musst mich auch verstehen. Ich muss ohne Ansehen der Person vorbehaltlos und objektiv ermitteln.“

„Na schön“, lenkte ich schließlich ein. „Meine Auftraggeberin ist eine bekannte Politikerin, dessen Sohn ich derzeit observiere. Meine Klientin hat Angst, dass er in das Drogenmilieu abrutscht.“ Der Oberkommissar lehnte sich in den Stuhl zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. „Ach du heiliger Firlefanz, das auch noch.“ „Ich habe gerade schon darüber nachgedacht, ob ich in der fraglichen Zeit ein Foto von meiner Zielperson gemacht habe oder ob mich irgendjemand bei der Observation gesehen hat, aber ich muss leider beides verneinen.“

Sinner sah mich nachdenklich an. „Nun mach dir keine Sorgen, Leopold. Es steht außer Frage, dass ich davon ausgehe, dass du nichts mit der Sache zu tun hast, aber wenn ich die Aussage des Zeugen ignorieren würde, hätten wir früher oder später beide ein Problem.“ „Wenigstens unterstellst du mir nicht den lüsternen Triebtäter“, versuchte ich es mit Ironie zu nehmen.

„Aber jetzt mal Spaß beiseite. Du hast mir immer noch nicht gesagt, um was es eigentlich geht“, hoffte ich auf Informationen. Sinner sah mich nachdenklich an. „Also gut, aber geh bitte nicht damit hausieren“, legte er mir Verschwiegenheit nahe. „Gestern Abend wurde auf dem Garnisonsberg eine junge Frau überfallen und vergewaltigt. Als der Zeuge und dessen Hund dem Opfer zu Hilfe kamen, warf der Täter einen schweren Stein nach dem Tier und verletzte es schwer. Der Täter flüchtete daraufhin.“

„Was sagt denn das Opfer?“, hakte ich nach. „Die junge Frau hat sich, wahrscheinlich noch unter Schock stehend, vom Tatort entfernt. Bis jetzt wissen wir noch nicht, um wen es sich handelt, aber Schubert ist dran.“ „Dann seht mal zu, dass ihr die Frau so bald wie möglich ausfindig macht, damit ihr sie befragen könnt“, mahnte ich zur Eile. „Am besten machst du gleich ein Foto von mir, um es ihr vorzulegen“, schlug ich vor. „Gute Idee“, lobte der Oberkommissar. „Auf diese Weise hat der Spuk ein schnelles Ende.“ „Das hoffe ich doch“, lachte ich, während ich mich erhob. „Ich gehe mal davon aus, dass du mich nicht vorläufig festgenommen hast, oder?“

„Was wolltest du eigentlich von uns?“, besann sich Sinner auf einen möglichen Grund für meinen Besuch. „Das hätte ich jetzt in dem ganzen Wirrwarr völlig vergessen“, griff ich mich an die Stirn. „Wie du ja weißt, haben Miriam und ich das Haus von Anton Böttcher gekauft und sind gerade mitten im Umzug.“ „Stimmt, da war ja was“, erinnerte sich der Ermittler. „Wir wollen am Samstag in einer Woche eine kleine Einweihungsparty veranstalten. Wir wollten Schubert und dich dazu einladen.“ Sinner war gleichermaßen überrascht und erfreut. „Na klar, ich komme gern, aber wird man nicht eigentlich nur dann eingeladen, wenn man etwas für das neue Heim beigetragen hat?“ Ich winkte ab. „Jetzt, wo du gerade davon sprichst, fällt mir ein, dass wir noch zwei kräftige Umzugshelfer bräuchten.“ „Irgendwas in der Richtung hatte ich vermutet“, lachte Sinner und klopfte mir auf die Schulter. „Wann soll es denn losgehen?“ „Samstag früh.“ „Schubert und ich sind dabei, sag ich jetzt einfach mal so.“ „Super, Miriam wird sich freuen.“

Ich war schon ein Stück weit den Flur in Richtung Ausgang gegangen, als ich mich noch einmal umdrehte. „Halt mich wegen der Sache bitte auf dem Laufenden, Tim.“ „Ja, ja, Leo, mach dir keinen Kopf. Ich bin mir sicher, dass sich alles aufklären wird.“ „Dein Wort in Gottes Ohr.“ Das schlechte Gefühl in meinem Magen sollte nicht von ungefähr kommen.

-3-

„Guten Morgen, Chef“, begrüßte mich Trude fahrig. „Ich hatte Sie noch gar nicht so früh erwartet“, fügte sie hinzu, während sie auf die Notfalltaste ihrer Computertastatur drückte. „Sie können ruhig weiter Karten hin und her schieben“, brüskierte ich sie. „Hier macht ja ohnehin jeder was er will.“ Im Grunde war ich mir meiner üblen Laune gar nicht bewusst, aber immerhin hatte mein unübliches Verhalten gewisse Auswirkungen auf das Gebaren meiner Putzsekretärin. Da sich die Stimmung in der Detektei mit meinem Erscheinen grundlegend veränderte, brachte dies auch Trudes Gefühlsleben aus dem Gleichgewicht.

Kurz nachdem ich mich in meinem Büro verzogen hatte, stand die gute Seele mit einem Pott Kaffee und einigen Keksen, die herzlich in einem Schälchen angerichtet waren, auf der Matte. „So Chef, und nun mal Butter bei die Fische. Ich ertrage es nicht, wenn Sie sich wie ein Vulkan benehmen, der kurz vor dem Ausbruch steht.“ „Wie würden Sie sich denn fühlen, wenn man Sie als Vergewaltiger identifizieren würde?“ Trude war sprachlos, was nun völlig gegen ihre Natur sprach.

„Wie jetzt?“, fing sie sich nur allmählich wieder. „Ich war heute Vormittag in der Polizeidienststelle, um Oberkommissar Sinner und seinen Kollegen Schubert als Umzugshelfer anzuheuern. Dabei meinte mich ein Zeuge als denjenigen zu erkennen, der gestern Abend am Stadtgraben eine junge Frau vergewaltigt hat.“ „Das ist ja lächerlich“, winkte Trude ab. „Das Opfer hat dieser Behauptung doch sicherlich sofort widersprochen“, vermutete Trude. „Nach allem, was ich mitbekam, hat sich die junge Frau vom Tatort entfernt. Schubert überprüft wohl derzeit einen Fahrzeughalter, auf den ein Wagen zugelassen ist, dessen Autoschlüssel am Tatort gefunden wurden.“

„Aber Sie waren doch ohnehin in der Sache Droste unterwegs“, überlegte Trude. „Stimmt“, pflichtete ich ihr bei, „…aber in der Zeit zwischen 23 Uhr und Mitternacht, als die Tat geschah, war Nico Droste im Entertainmentcenter. Da hat mich sicherlich niemand im Wagen sitzen sehen.“ „Aber Sie haben doch andere Leute vorbeigehen sehn“, überlegte Trude. „Ja natürlich“, griff ich mir an den Kopf. „Warum bin ich da nicht selber draufgekommen?“ „Weil Sie mich für so etwas banales haben“, lächelte die gute Seele.

„Abgesehen davon könnte der Autoschlüssel ja auch vom Wagen des Täters stammen“, bekundete Trude. „Ich gehe davon aus, dass sich die Starermittler der Wolfenbütteler Kripo dessen bewusst sind“, setzte ich die logische Überlegung meiner Putzsekretärin in Zuversicht um. „Ach, Sie werden sehen Chef, bevor der Tag rum ist, hat sich alles geklärt.“

-4-

„Wie sieht es aus, Schubert, konnten Sie inzwischen den Halter des Fahrzeugs erreichen?“, erkundigte sich Oberkommissar Sinner bei seinem Kollegen. „Ich habe gerade aufgelegt. Wie die Kollegen der Spurensicherung ja bereits ermittelten, ist der Wagen auf einen gewissen Robert Ringel zugelassen. Der Mann wohnt in Warenholz. Er hat den Mitsubishi als Zweitwagen für seine derzeit in Wolfenbüttel studierende Tochter angemeldet. Es handelt sich um eine gewisse Nadja Ringel, die in der ‚Fritz-Fischer-Straße‘ 6 wohnt.“ „Wäre ja auch zu schön gewesen, wenn der Täter seinen Autoschlüssel am Tatort verloren hätte“, seufzte Sinner.

„Na los, Schubert, worauf warten Sie?“, ließ Sinner seinen Kollegen nicht zur Ruhe kommen. Der sah seinen Vorgesetzten ungläubig an. „Ich dachte, mich zwischendurch wenigstens daheim etwas frisch machen zu können.“ „Sie als durchtrainierter und erfolgshungriger Polizist wollen doch sicherlich keine Gelegenheit verstreichen lassen, um einen schnellen Ermittlungserfolg einzustreichen, oder?“ „Natürlich nicht“, gab Schubert klein bei, während die Kommissare in den Dienstwagen stiegen.

Kaum dass der Wagen auf die Lindener Straße rollte, schnüffelte Sinner provokativ. „Davon abgesehen duften Sie wie eine Frühlingswiese. Glauben Sie mir, Schubert, weniger ist manchmal mehr.“ Der verzog beleidigt das Gesicht und schluckte die späte Retourkutsche seines Chefs wortlos hinunter. Oh ja, Oberkommissar Sinner konnte sehr nachtragend sein.

„Da ist die Nummer 6“, deutete Schubert auf ein dunkelgrau verputztes Fachwerkhaus. „Ich bin gespannt, was uns die junge Frau erzählen wird“, sagte Sinner mit belegter Stimme. „Auf dem Klingelschild stehen zwei Namen“, deutete Schubert auf das teilweise defekte Tableau. „Vielleicht lebt sie mit ihrem Freund zusammen?“, mutmaßte Sinner. Davon hat ihr Vater nichts gesagt. Schubert drückte auf den Klingeldrücker.

Kurz darauf öffnete sich über ihnen ein Fenster. „Ja bitte!“, rief jemand herunter. Schubert trat einige Schritte zurück. „Frau Ringel?“ „Wer will das wissen?“, entgegnete die junge Frau zurückhaltend. Der Kommissar klappte seinen Dienstausweis auf. „Kriminalpolizei“, entgegnete Schubert. „Moment, ich komme runter!“ Das Fenster wurde geschlossen. Ein paar Minuten später klapperte ein Schlüssel im Türschloss.

„Sorry, aber der Türöffner ist schon seit Ewigkeiten kaputt.“ „Das macht doch nichts“, zeigte Sinner Verständnis. „Wenn ich da an meine erste Bude zurückdenke…“ „Sind Sie Frau Ringel?“, fragte Schubert nach ihrer Identität. „Nein, Nadja und ich teilen uns die Wohnung. „Eine Studenten WG also“, schlussfolgerte Sinner mit einem gedankenvollen Lächeln auf den Lippen. „Wir müssen mit Frau Ringel sprechen“, blieb Schubert sachlich. „Ist sie oben?“

Marion Ütrecht, wie der Kommissar auf Grund des Klingelschildes schlussfolgerte, zeigte sich sehr betroffen. „Nadja hat mir alles erzählt. Sie stand total unter Schock, nachdem sie mich mitten in der Nacht aus dem Bett geklingelt hatte“, schilderte sie den Kommissaren, während sie über die knarrenden Treppenstufen in die zweite Etage hinaufstiegen. „Ich habe sie beschworen, zur Polizei zu gehen, um eine Anzeige zu machen, aber sie wollte nicht. Ich habe sie leider auch nicht davon abhalten können, unter die Dusche zu gehen.“

„Tja, in solchen Situationen reagieren wir Menschen leider meistens unlogisch“, seufzte Schubert. „Es ist nur allzu verständlich, wenn man sich den ganzen Schmutz einfach nur abwaschen möchte“, zeigte Sinner auch jetzt Gefühle, die Schubert so noch nicht an seinem Chef erlebt hatte. „Leider ist es damit nicht getan.“

Als die Kommissare von der Mitbewohnerin in das Gemeinschaftszimmer geführt wurden, bot sich ihnen ein Bild des Jammers. Das Opfer saß zu einem Häufchen Elend zusammengekrümmt in einem der Sessel und starrte ziellos in den Raum. „Guten Tag, Frau Ringel. Der junge Mann an meiner Seite ist Kommissar Schubert, mein Name ist Sinner. Wir sind wegen des Überfalls hier. Fühlen Sie sich in der Lage, uns einige Fragen zu beantworten?“ Nadja Ringel antwortete nicht. Ihr Blick richtete sich weiterhin stoisch in das Nichts.

„Wir wollen Sie zu nichts drängen“, erklärte Sinner, „…aber es ist besser, wenn Sie sich im Krankenhaus untersuchen lassen. Dort gibt es fachkundige Ärzte, die Ihnen helfen können.“ „Sie wollen doch nicht, dass der Mann, der Ihnen das angetan hat, ohne Strafe davonkommt und anderen Frauen womöglich das Gleiche antut“, fand auch Schubert einfühlsame Worte. „Du musst dieses Schwein anzeigen!“, bekräftigte ihre Mitbewohnerin die Worte des Kommissars. „Der Kerl darf einfach nicht ungestraft davonkommen!“

„Ihr habt ja Recht, aber was werden die anderen sagen? Ich möchte nicht, dass sie mit dem Finger auf mich zeigen und hinter meinem Rücken tuscheln.“ „Es braucht doch niemand etwas davon erfahren“, versuchte Sinner die Bedenken des Opfers zu zerstreuen. „Es liegt allein bei Ihnen, ob Sie den Mut aufbringen oder nicht, aber wie auch immer Sie sich entscheiden, es bleibt allein Ihre Sache. Niemand wird Sie bedrängen. Im Augenblick ist nur wichtig, dass Sie sich untersuchen lassen.“ Nadjas Blick richtete sich auf den Oberkommissar. „Also gut, ich fahre ins Krankenhaus, aber nur mit Ihnen.“

Offenbar hatte Oberkommissar Sinner Vertrauen zum Opfer aufgebaut. Auch wenn es nicht der Vorschrift entsprach, da er im Normalfall einen Krankenwagen anfordern musste, entsprach er dem Wunsch von Nadja Ringel. Letztendlich wollte er den Täter fassen und dazu bedurfte es zumindest der Sicherstellung einer DNA Probe. Selbst wenn ihm die Chance nach der Dusche sehr gering erschien, musste er es zumindest versuchen. „Kündigen Sie uns bitte im Krankenhaus an, Schubert.“

Zwanzig Minuten später erreichten sie das Klinikum am ‚Alter Weg‘. „Guten Tag. Oberkommissar Sinner. Frau Ringel ist angemeldet“, erklärte der Ermittler der Dame an der Information. „Ich weiß Bescheid. Begeben Sie sich bitte zur Notaufnahme. Der Gang links vom Eingang. Frau Doktor Jakob erwartet Sie bereits.“ „Danke.“

Bevor das Opfer von der Gynäkologin untersucht wurde, sprach Sinner mit ihr. „Frau Ringel wurde Opfer eines Gewaltverbrechens. Soweit ich das beurteilen kann, steht sie immer noch unter einem leichten Schock. Sie hat zwar nach der Tat geduscht, aber ich hoffe sehr, dass Sie noch Spuren finden.“ „Verstehe“, entgegnete die Ärztin. „Ich werde sehen, was sich ergibt.“ „Die Chance, den Täter zu ermitteln und später zu überführen, ist ohne Sperma oder DNA-Material nahezu aussichtslos“, machte Sinner ihr die Bedeutung der Untersuchung klar.

„Glauben Sie mir, Herr Kommissar, es ist nicht die erste Untersuchung, die ich in Anbetracht eines derartigen Hintergrunds durchführe.“ Frau Doktor Jakob lächelte Sinner beruhigend zu, während sie die Tür zum Wartebereich öffnete. „Ich nehme an, Sie wollen warten?“ „Ja, natürlich.“ „Gut, es kann allerdings einen Moment dauern.“ „Kein Problem.“

Sinner nahm neben seinem Kollegen Platz. „Ich muss erstmal aufs Klo und dann hole ich uns einen starken Kaffee, sonst schlafe ich hier noch ein“, erhob sich Schubert. „Gute Idee.“ Während sich der Kommissar auf Rettungsmission begab, überlegte Sinner fieberhaft, ob der Täter unter den üblichen Verdächtigen gesucht werden musste. Seines Wissens wurde jedoch keiner der einschlägig vorbestraften Triebtäter in jüngerer Zeit aus der Haft entlassen. Aufgrund der von seinem Kollegen geschilderten Vorgehensweise fiel ihm in diesem Moment kein Vergewaltiger ein, der in der Vergangenheit derart brutal vorgegangen war.

„Hallo, Herr Kommissar“, vernahm er plötzlich eine Stimme und ein dezentes Ruckeln an seiner Schulter. „Wie, äh, verzeihen Sie, ich muss wohl kurz eingenickt sein“, entschuldigte sich Sinner. „Wir sind alle nur Menschen“, zeigte Frau Doktor Jakob Verständnis. „Die Untersuchung ist jetzt abgeschlossen.“ „Schon?“, reagierte Sinner. „Wo ist denn mein Kollege?“ „Wenn Sie das nicht wissen.“ Während Sinner der Ärztin folgte, sah er sich nach allen Seiten suchend um. Es gab keine Spur von seinem Kollegen und Kaffee gab es auch keinen.

„Ich kann mit Sicherheit sagen, dass Frau Nadja Ringel das Opfer einer Vergewaltigung wurde“, bestätigte Frau Doktor Jakob die Beobachtung des Zeugen. Sinner nickte betroffen. „Spermareste konnten nicht gesichert werden. Ob sich in dem erfolgten Abstrich Fremd DNA befindet kann derzeit noch nicht gesagt werden. Da müssen wir auf das abschließende Laborergebnis warten“, führte Frau Doktor Jakob aus. „Die junge Frau hat eine ganze Reihe von Hämatomen an ihren Oberarmen, auf dem Rücken und im Genitalbereich erlitten. Der Täter muss das Opfer an den Armen festgehalten haben und auch sonst mit einem hohen Maß an Brutalität vorgegangen sein“, erklärte die Ärztin. „Die Verletzungen im Schambereich sind erheblich. Kein Wunder, dass die junge Frau unter Schock steht. Ich habe sie vorsorglich zu Doktor Bertram gebracht, einem Psychologen in unserem Haus. Er spricht gerade mit ihr.“ „Das ist gut“, befand Sinner.

„Den abschließenden Laborbefund und das Ergebnis meiner Untersuchung maile ich Ihnen am besten zu.“ Der Oberkommissar reichte der Ärztin seine Visitenkarte. „Wann kann ich damit rechnen?“ „Das kommt ganz darauf an, wie lange das Labor braucht. Ich sende Ihnen die Mail sowie der Befund da ist“, lächelte Frau Doktor. „Aber jetzt müssen Sie mich entschuldigen. Es warten weitere Patienten auf mich.“ „Moment noch, wo finde ich denn jetzt Frau Ringel?“ „Warten Sie am besten im Café. Sobald sie fertig ist, wird sie dort hinkommen.“ „Gut und vielen Dank.“

Den Hinweis auf das Café nahm der Oberkommissar wie ein gutes Stichwort auf. Da von Schubert nach wie vor jede Spur fehlte, nahm er an, dass er ihn falsch verstanden hatte und er bereits im Café auf ihn warten würde. Also machte er sich ebenfalls auf den Weg. Dort angekommen, musste er jedoch feststellen, dass nichts von seinem Kollegen zu sehen war. In dem Moment, als sich seine Blase meldete, fiel ihm ein, dass Schubert ebenfalls auf die Toilette wollte.

Sein Blick fiel auf die sanitären Einrichtungen, die sich links vom Café befanden. Ein merkwürdiger Gedanke beschlich ihn, als er die Tür zum WC öffnete. Bereits im Vorraum vernahm er ein lautes Schnarchen. Er schürzte die Lippen. Er war also nicht der einzige, dem der fehlende Schlaf in die Knie gezwungen hatte. Aber das wusste Schubert ja nicht.

„Hallo Kollege Schubert!“, rief er, während er mit der flachen Hand heftig an die Toilettentür klatschte. Woraufhin es in der Kabine polterte und platschte. „Verdammt…!“, vernahm Sinner die Stimme seines Kollegen, „…mein Handy. Einige Augenblicke später öffnete sich die Tür und Schubert stand mit einem triefenden Smartphone vor seinem Chef. Es bedurfte nur eines einzigen Blickes und der sprach Bände. „Nicht unbedingt der beste Ort, um seine Telefonate zu erledigen, nicht wahr?“, konnte sich Sinner seinen Kommentar nicht verkneifen. Womit sich der Oberkommissar umdrehte, um seinerseits ein unaufschiebbares Geschäft zu erledigen. Sein Kollege kochte innerlich.

-5-

„Gab es während meiner Abwesenheit etwas Besonderes, Trude?“. Erkundigte ich mich, als ich am Nachmittag in die Detektei zurückkehrte. „Ich konnte einige der Personen zuordnen, die Sie gestern Abend fotografierten“, berichtete Trude stolz. „Leider waren nicht alle über das Internet identifizierbar, aber von denen, die ich fand, bekam ich auch die Adressen heraus.“ „Zeigen Sie mal“, riss ich Trude, so angespannt wie ich war, die Aufzeichnungen fast aus der Hand.

Nachdem ich die besagten Fotos mit meinem Observationsprotokoll abgeglichen hatte, war klar, dass ich die Fotos vor und nach aber nicht während der Tatzeit geschossen hatte. Abgesehen davon, zeigten sie jeweils mögliche Drogenübergaben. Wer würde sich schon selbst mit einer Straftat belasten, um mich zu entlasten?

„Gute Arbeit“, lobte ich Trude. „Leider ändert sich nichts an der Tatsache, dass ich kein Alibi habe.“ „Dann suche ich eben weiter, bis ich was gefunden habe. Am besten geben Sie mir das Protokoll, dann kann ich gleich die in Frage kommenden Fotos herausfiltern.“ „Sie haben Recht.“ Ich reichte ihr meine Aufzeichnungen und verzog mich ernüchtert in mein Büro.

Wie sollte ich Miriam beibringen, dass man mich einer Vergewaltigung verdächtigt? Ich legte mir gerade die passenden Worte zurecht, als ich hörte, wie mehrere Personen die Detektei betraten. Bereits mit dem nächsten Wimpernschlag standen Sinner und Schubert vor mir. „Seid ihr fündig geworden? Hat sich die Sache geklärt?“, stellte ich Sinner die Fragen, die mich am meisten beschäftigt hatten.

„Du musst uns leider zur Dienststelle begleiten, Leo“, erklärte der Oberkommissar. „Ja, wir haben das Opfer ausfindig machen können und nein, du bist leider nicht aus der Nummer raus.“ Meine Kinnlade klappte ein gutes Stück weit herunter. „Die Frau hat dich auf dem Foto eindeutig als den Täter identifiziert.“ „Aber das kann nicht sein!“, beschwor ich den Ermittler. „Tut mir leid, aber mit dem Zeugen sind es nun zwei Personen, die dich als Täter erkannt haben.“ „Machen Sie bitte keinen Ärger, Herr Lessing“, mahnte mich Schubert vorsorglich zur Einsicht.

„Bislang bist du nicht festgenommen“, versuchte mich Sinner zu beruhigen. „Im Augenblick wollen wir dich lediglich zur Sache vernehmen.“ „Bitte folgen Sie uns, Herr Lessing“, bat Schubert höflich. Trude verfolgte das Geschehen mit Entsetzen. „Soll ich Ihre Frau anrufen, Chef?“ „Bloß nicht, aber bitte informieren Sie Christoph Börner.“ Auch wenn ich wusste, dass ich nichts Ungesetzliches getan hatte, sah es aufgrund der Zeugenaussagen alles andere als gut für mich aus. Selbst wenn am Tatort kein Beweis für meine Anwesenheit und am Opfer keine DNA von mir gefunden worden war, wogen die Aussagen schwer. Ein Anwalt konnte also nicht schaden.

Bevor ich in einen Vernehmungsraum gebracht wurde, ging es zur Gegenüberstellung. Sinner verlor keine Zeit, das muss man sagen. Die Kommissare mussten folglich alles organisiert haben, bevor sie mich in der Detektei abholten. Das Prozedere kannte ich aus meiner Zeit als Hauptkommissar bei der Braunschweiger Kriminalpolizei zur Genüge. Nun stand ich allerdings zum ersten Mal neben vier weiteren Männern mit einer Nummer vor der Brust auf der falschen Seite der einseitig durchsehbaren Glaswand. Für einen Unschuldigen ein wirklich beklemmendes Gefühl, wie ich feststellen musste.

„Treten Sie bitte vor die Scheibe, Herr Knabe, und sehen Sie sich die Männer der Reihe nach an. Lassen Sie sich ruhig Zeit. Sie müssen sich absolut sicher sein, bevor Sie antworten“, erklärte Oberkommissar Sinner. Neben ihm befanden sich Staatsanwalt Kulm und Kommissar Schubert im Raum. „Moment Herr Sinner“, unterbrach Rechtsanwalt Christoph Börner die Gegenüberstellung. „Sie wollten ja wohl nicht ohne Rechtsbeistand des Beschuldigten anfangen!“ „Bislang ist Herr Lessing lediglich Verdächtiger“, stellte Sinner klar. „Nun werden Sie mal nicht spitzfindig, dafür hat Ihnen mein Mandant schon oft genug den Hintern gerettet.“ „Können wir jetzt?“, mischte sich der Staatsanwalt in das Gespräch. „Ich habe in einer halben Stunde eine Verhandlung am Amtsgericht.“

„Kann ich jetzt?“, meldete sich nun auch noch der Zeuge zu Wort. „Es ist die Nummer 4.“ „Sind Sie sich absolut sicher, Herr Knabe?“ „Ja klar, aber das sagte ich Ihnen ja auch schon heute Morgen beim Frühstück. Kulm und Börner sahen sich lauernd an. „Wie meinen Sie das, Herr Knabe“, hakte Christoph nach, dem die Worte des Obdachlosen nicht entgangen waren. Sinner schluckte trocken. Er ahnte, dass mein Rechtsanwalt dies zum Anlass nehmen würde, um die Unvoreingenommenheit des Zeugen in Zweifel zu ziehen. „Ich sah den Mann, als ich mit den Herren zusammen frühstückte“, erklärte Knabe.

Staatsanwalt Kulm und Börner sahen sich abermals irritiert an. Es bedurfte keiner Worte um die absurde Situation festzuhalten. „Wo fand denn dieses Frühstück statt?“, erkundigte sich der Staatsanwalt. „Na hier.“ „Ich fürchte, da müssen wir noch mal drüber reden, Herr Sinner“, befand der Ankläger. „Da wäre dann noch die Geschädigte“, erinnerte Kommissar Schubert. „Sie wartet im Nebenraum auf die Gegenüberstellung.“ „Sie haben Recht, Herr Schubert, holen Sie die Frau herein.“ „Brauchen Sie mich noch?“, fragte der Obdachlose verwundert nach. „Im Moment nicht. Vielen Dank. Wir wissen ja, wo wir Sie erreichen“, entgegnete Sinner. „Und vielen Dank nochmals für die Kostenübernahme.“

Die Stirn des Staatsanwalts krauste sich. „Von was für einer Kostenübernahme spricht der Mann?“, erkundigte sich Kulm, noch bevor Nadja Ringel den Raum betrat. Der Oberkommissar bekam einen hochroten Kopf. „Es geht um die Tierarztkosten. Ich habe mich angeboten, diese für seinen Hund zu übernehmen.“ „Das mag als nette Geste gemeint sein, Herr Sinner“, freute sich Christoph Börner über so viel Edelmut, „…aber damit dürfte die Aussage dieses Zeugen so gut wie wertlos sein.“ Womit er sich dem Staatsanwalt zuwandte. „Oder sehen Sie das anders, Herr Kulm?“ Der verdrehte die Augen. „Nein.“

„Kommen Sie bitte herein“, bat Schubert das Opfer zur Gegenüberstellung. Als Nadja Ringel die Männer sah, wich sie erschrocken zurück. „Keine Angst, die Glasscheibe ist nur von dieser Seite aus durchsichtig. Die Männer können Sie nicht sehen.“ Nur zögerlich betrat die Geschädigte den Raum. „Bitte sehen Sie sich die Männer der Reihe nach an. Lassen Sie sich ruhig Zeit“, erklärte Sinner. „Sie müssen sich absolut sicher sein, bevor Sie sich für einen der Männer entscheiden.“ „Falls Sie keinen der Männer erkennen, ist das auch in Ordnung“, fügte der Staatsanwalt hinzu.

Nadja Ringel sah sich einen nach dem anderen an. Nach einer Weile wandte sie sich Oberkommissar Sinner zu. „Ich bin mir nicht sicher. Könnten die Männer etwas sagen?“ „Ja, natürlich. Denken Sie da an etwas Bestimmtes?“, hakte Sinner nach. „Einen Satz werde ich wohl mein Leben lang nicht mehr vergessen“, entgegnete das Opfer. „Der Mann sagte: Ein Mucks und ich steche dich ab!“

Ein Mann nach dem anderen trat einen Schritt nach vorn und wiederholte den Satz, der ihm zuvor auf einem Zettel aufgeschrieben wurde. Dann war auch ich an der Reihe. Obwohl ich den Satz bereits zweimal gehört hatte, musste ich ihn ablesen. Zu unwirklich, zu skurril war die Szene. Es war eine mehr als beklemmende Situation, in der ich nur noch funktionierte. Meine Gedanken waren bei Miriam und Ramona. Was war, wenn der Zeuge bei seiner Aussage blieb? Was war, wenn das Opfer mich ebenfalls fälschlich bezichtigte?

Ich vertraute darauf, dass sich Christoph freimachen konnte und bereits hinter der Glasscheibe stand, um alles zu überwachen. Auch wenn ich Tim Sinner und dem Staatsanwalt im Hinblick auf ihre Objektivität vertraute, war es doch immerhin möglich, dass ihnen bei der Beurteilung der Zeugenaussagen ein Fehler unterlief. Einige Augenblicke bangen Wartens wurden die übrigen Männer von Schubert entlassen. Ich musste dagegen im Raum verbleiben.

„Nehmen Sie bitte Platz, Herr Lessing“, forderte mich der Kommissar auf. Während er den Raum verließ, kam mein Anwalt herein. „Hallo Leo“, sagte er mit bedrückter Stimme. „Hallo Christoph, schön, dass du da bist.“ „Ja glaubst du, ich lasse dich hängen?“ Er legte seine Mappe auf den Tisch und schaltete ein Diktiergerät ein. „So, dann erzähl mal.“ „Das ganze hier muss ein einziger Albtraum sein. Ich komme hier heute Morgen her, um Sinner und Schubert zu meiner Einweihungsparty einzuladen, als ein Zeuge glaubt, ich sei der Vergewaltiger, den er einige Stunden zuvor im Park gesehen hätte. Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Letztendlich tat ich es als die Fantasie eines Alkoholikers ab und glaubte, dass sich alles aufklären würde, sobald das Opfer befragt werden konnte. Als mich Schubert und Sinner dann in der Detektei abholten, war mir klar, dass sie weitere Erkenntnisse gewonnen hatten, die mich weiter belasten würden.“

„Dann will ich dich erst einmal auf den aktuellen Stand bringen“, verkündete Christoph. „Zunächst kann ich bestätigen, dass deine Schlussfolgerung zutreffend war. Das Opfer hat dich auf einem Foto als ihren Peiniger wiedererkannt.“ Ich schüttelte den Kopf. „Ich verstehe es nicht.“ „Daraufhin wurde die Gegenüberstellung angesetzt. Dabei hat dich Frau Ringel sowohl optisch als auch akustisch als Täter identifiziert. Wobei ich sagen muss, dass sie zunächst noch unsicher wirkte.“

Ich war fassungslos und entsetzt zugleich. Wie konnte es sein, dass mich zwei Menschen als Täter identifizierten? „Meine erste Frage brauche ich dir eigentlich gar nicht stellen, weil ich deine Antwort ohnehin schon weiß“, bekundete Christoph. „Nein, ich war das nicht“, entgegnete ich dennoch. „Ich habe nichts anderes erwartet. Meine zweite Frage ist die nach einem möglichen Alibi.“ „Sinner meinte, die Tat sei zwischen 23 Uhr und Mitternacht geschehen“, wiederholte ich nachdenklich die Worte des Oberkommissars. „So ist es“, bestätigte mein Freund und Anwalt.

„Ich arbeite gerade für Vanessa Droste…“ „Die Vanessa Droste?“, unterbrach mich Christoph. Ich nickte. „Wie kommst du nur immer an derart bekannte Klientel?“ „Qualität spricht sich eben herum“, entgegnete ich selbstbewusst. „Aber wenn dieser Mist erst die Runde macht, kann ich ohnehin Insolvenz anmelden.“ „Na nun mal langsam“, versuchte mich Christoph zu beruhigen. „Ja was denn? Selbst wenn sich irgendwann herausstellt, dass ich unschuldig bin, bleibt doch immer ein gewisser Makel zurück.“ Mein Freund schwieg, da er wusste, dass ich mit meiner Befürchtung richtiglag.

„Na jedenfalls habe ich zur fraglichen Zeit den Sohn meiner Auftraggeberin observiert.“ „Das ist ja wunderbar“, freute sich Christoph. „Leider hat mich niemand dabei gesehen“, pulverisierte ich sein Glücksgefühl. „Das ist weniger gut. Wo fand denn diese Observierung statt?“ „Vor der Diskothek am Entertainmentcenter.“ „Auch nicht gut, weil leider nicht weit vom Tatort entfernt“, stellte Christoph ernüchtert fest. „Ich weiß.“ „Hast du eventuell einen Bekannten gesehen, der dann bestätigen könnte, zur fraglichen Zeit dort gewesen zu sein.“ „Außer einigen Kleinkriminellen, von denen ich beim möglichen Dealen vorsorglich einige Fotos gemacht habe, kann ich auch damit nicht dienen.“

Christoph seufzte. „Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass die Herren bestätigen würden, in der fraglichen Zeit dort gewesen zu sein.“ „Aus diesem Grund versucht Trude seit dem Vormittag Leute, die zufällig auf den Fotos zu sehen sind, mit Hilfe des Internets zu identifizieren.“ Mein Freund steckte das Diktiergerät wieder ein. „Ich fürchte, dies könnte im Augenblick tatsächlich deine einzige Chance sein.“

„Glaubst du, die werden mich hierbehalten?“, fragte ich besorgt nach. „Zumindest werden sie dich zum Sachverhalt befragen.“ „Ich könnte nichts anderes sagen, als das, was ich bereits dazu gesagt habe“, erklärte ich. „Du weißt doch, wie es läuft. Unter normalen Umständen würden sie dich jetzt durch die Mangel drehen. In deinem Fall ist man sich natürlich durchaus bewusst, wie sehr du in der Vergangenheit für das Gesetz eingetreten bist. So eine Art Bonus für geleistete Dienste“, lächelte Christoph gequält.

„Ich habe Sinner zwar schon von der Observation erzählt, aber bislang habe ich den Namen meiner Auftraggeberin nicht genannt“, klärte ich meinen Freund auf. „Da wirst du nicht drum herumkommen. Es sei denn, du möchtest hierbleiben.“ Irgendwie war ich nicht in der Stimmung für die Scherze meines Freunds. „Was ist mit den Fotos?“, fragte ich weiter. „Du solltest Sinner zumindest Kopien zur Verfügung stellen“, riet mir Christoph. „Vielleicht finden die ja darauf eine Person, die dich entlasten könnte. Abgesehen davon zeigst du guten Willen.“ Mein Freund erhob sich, um die Kommissare hereinzuholen. „Übrigens Christoph, Detlef und du seid natürlich auch zu unserer Einweihungsparty eingeladen.“ Der Rechtsanwalt schüttelte den Kopf. „Wenn du sonst keine Sorgen hast…“