Detektei Lessing

 

Band 28

 

Ein Quäntchen Hoffnung

 

-1-

 

„...aber so hören Sie doch, Herr Börner ist zurzeit in einer Besprechung“, versuchte die adrette Rechtsanwalt- und Notarfachangestellte dem Mann am anderen Ende der Leitung klarzumachen, dass sie seinem Verlangen nicht nachkommen konnte. Christoph Börner hatte just in diesem Moment das Sekretariat betreten, um seinen Mädels, wie er seine Mitarbeiterinnen nannte, einige Unterlagen zur Bearbeitung zu bringen. Natürlich hatte er Gesprächsfetzen des Telefonats mitbekommen und so griff er sich kurzerhand das Mobilteil und hörte, was der Anrufer zu sagen hatte.

„Herr Börner ist mir empfohlen worden. Wenn mir jetzt noch jemand helfen kann, dann ist es Ihr Chef“, vernahm der Rechtsanwalt die Verzweiflung in der Stimme des Anrufers. „Ich bin das Opfer eines Justizirrtums“, erklärte der Mann trivial. „Wenn ich Sie richtig verstanden habe, wurden Sie bereits rechtskräftig verurteilt“, überraschte Börner den Anrufer. Dieser brauchte einige Augenblicke, um den Wechsel des Gesprächsteilnehmers zu realisieren. „Spreche ich mit Rechtsanwalt Börner?“ „So ist es.“

Börner vernahm ein Aufatmen in der Leitung. „Die haben mich wegen Mord zu fünfzehn Jahren verdonnert!“, erklärte der Mann. „Fünfzehn Jahre für einen Mord, den ich nicht begangen habe.“ „Wie ist denn Ihr Name und wo verbüßen Sie die Haftstrafe?“ „Stellmacher, Adrian Stellmacher und ich befinde mich hier in der JVA Wolfenbüttel.“

Börner dämmerte es. Er hatte die Gerichtsverhandlung gegen den Stöckheimer Fabrikanten in der regionalen Presse verfolgt. Ein Indizienprozess, an dessen Ende Oberstaatsanwalt van der Waldt das Gericht durch eine Fülle von akribisch zusammengetragenen Indizien von der Schuld des Angeklagten überzeugen konnte. Der junge Strafverteidiger hatte sicherlich sein Möglichstes versucht, die Verurteilung seines Mandanten hatte er jedoch nicht verhindern können.

„Ich will in Berufung gehen“, hörte er den vermeintlichen Mörder sagen. „Und Sie sollen mich vertreten.“ „Ihr Vertrauen ehrt mich, Herr Stellmacher, aber wäre es nicht sinnvoller, wenn Sie die Berufung in den Händen Ihres Anwalts belassen? Er kennt den Fall und weiß, wo er ansetzen muss.“ „Daraus wird nichts“, entgegnete Stellmacher konsequent. „Ich habe diesem Dilettanten das Mandat entzogen.“

Auch wenn Christoph der Meinung war, dass dies die einzig richtige Entscheidung war, konnte und wollte er seinen Kollegen natürlich nicht verunglimpfen. „Was macht Sie so sicher, dass ich bewirken kann, was Ihr bisheriger Anwalt nicht vermochte?“ „Ich hörte, Sie seien wie ein Bluthund, der, wenn er von der Unschuld seines Mandanten überzeugt ist, nicht eher ruht, bis dessen Unschuld erwiesen ist.“ Mein Freund griff sich an den Kopf. „Und, haben Sie es getan?“ „Was?“ Na, haben Sie Ihre Frau getötet?“ „Natürlich nicht!“, entgegnete der Mann am anderen Ende der Leitung so überzeugend, wie es ihm in diesem Moment möglich war. „Also gut, ich werde sehen, ob ich mir etwas Zeit freischaufeln kann“, versprach Christoph. Sie hören von mir.“

Nachdem der Rechtsanwalt das Gespräch beendet hatte, sah er gedankenvoll in das Gesicht seiner Mitarbeiterin. „Auf was habe ich mich da nur wieder eingelassen?“ „Ich fürchte, auf mehr als nur eine Handvoll Arbeit“, lächelte die niedliche Reno gequält. „Tja Anneliese, offenbar gibt es da jemanden, der dringend unserer Hilfe bedarf.“ „Sieht ganz so aus, Chef“, entgegnete die junge Frau. „Machen Sie mir bitte eine Verbindung mit Oberstaatsanwalt van der Waldt und drucken Sie mir alles aus, was sie im Netz über den Prozess gegen Herrn Stellmacher und über den Mord an seiner Frau finden.“

Wenig später telefonierte der Rechtsanwalt mit dem, ihm aus zahlreichen Prozessen gut bekannten und geschätzten Oberstaatsanwalt. „Es geht um den Fall Stellmacher. Ich weiß, dass du diesen Fall als Vertreter der Anklage erst vor kurzem zu den Akten gelegt hast. Stellmacher rief mich heute an, um mich für seine Berufungsverhandlung zu gewinnen. Offenbar hat er seinem Anwalt das Mandat entzogen.“ „Lass bloß die Finger davon, Christoph“, riet van der Waldt seinem Kollegen. „Der Mann ist ein Exzentriker, wie er im Buche steht. Der hat seine Frau umgebracht, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.“ „Was macht dich da so verdammt sicher?“, hakte Christoph nach. „Wenn du die Prozessakten liest, wirst du schon sehen.“

Rechtsanwalt Börner war nicht der Typ, der sich schnell beeindrucken ließ und schon gar nicht von gut gemeinten Warnungen. „Wie dem auch sei, ich habe dem Mann versprochen, mir seine Geschichte anzuhören.“ „Ich wusste es, Christoph“, unterbrach ihn van der Waldt. „Falls du die Mandantschaft übernehmen solltest und in Berufung gehen willst, stelle ich dir selbstverständlich die Prozessunterlagen zur Verfügung. Übrigens, viel Zeit bleibt dir nicht. Die Frist läuft morgen Abend ab.“ Van der Waldt hörte den tiefen Seufzer nicht, den Christoph in diesem Moment ausstieß, aber er wusste auch so, dass sein Golfpartner und mein Freund nicht ruhen würde, ehe er nicht alles unternommen hat, was nötig war, um eventuell vorhandene Zweifel an der Schuld Stellmachers auszuräumen.

Auf Grund der wenigen Zeit, die Christoph verblieb, um die Frist zur Eingabe der Berufung zu wahren, studierte er bis zum späten Abend alle Unterlagen, die ihm Anneliese Rotenberger auf die Schnelle besorgt hatte. Da er bereits am Vormittag einige Gerichtstermine hatte, die sich nicht verschieben ließen, musste er darauf hoffen, dass es seine Mitarbeiterin schaffte, den Besuchstermin in der JVA in seine Mittagspause zu legen. Auch wenn dies nicht unbedingt üblich und in der Kürze der Zeit schon fast unmöglich war, hatte ihn seine Reno auch diesmal nicht enttäuscht.

Als Christoph das Besprechungszimmer im Nordflügel der JVA betrat, traf er auf einen gezeichneten Mann, der in gedungener Haltung an dem kargen Tisch kauerte. In den Augen des Mannes brannte bestenfalls nur noch ein Quäntchen Hoffnung und in seiner Stimme lag eine tiefe Schwermut. Mein Freund legte die Aktenmappe auf den Tisch und setzte sich Stellmacher gegenüber. „Nun, da bin ich und nun überzeugen Sie mich davon, dass Sie zu Unrecht hier sitzen. Erklären Sie mir, weshalb das Gericht durch eine Berufung zu einem anderen Ergebnis kommen würde.“

Doch anstatt die Chance beim Schopf zu packen und den Anwalt von seiner Unschuld zu überzeugen, blieb der Inhaftierte stumm. „Hören Sie, Herr Stellmacher. Ich habe weiß der Himmel anderes zu tun, als hier meine Zeit zu verplempern. Was hat sich seit unserem Gespräch verändert? Gestern waren Sie noch so voller Energie und Zuversicht. Also, was ist geschehen?“ Stellmacher atmete schwer. Er schien sichtlich getroffen. „Meine Tochter will nichts mehr mit mir zu tun haben. Mein verehrter Herr Schwiegervater hat sie mittlerweile genau dort, wo er sie haben will. Er hat Calotta von Anfang an ständig gegen mich aufgehetzt. Wenn sich meine Tochter nun auch gegen mich wendet, dann ist alles sinnlos.“

Noch kannte Christoph Börner die Zusammenhänge nicht, aber die Tatsache, wie sehr Stellmacher unter dem Verlust seiner Tochter litt, sprach im Grunde gegen seine Schuld. „Aber gerade dann müssen Sie sich doch gegen die Anschuldigungen Ihres Schwiegervaters wehren und um Ihre Tochter kämpfen“, versuchte Christoph seinen Kampfgeist zu wecken. „Gibt es denn eine reelle Chance?“, keimte so etwas wie Zuversicht in ihm auf. „Nun, ich habe mich noch nicht in dem erforderlichen Umfang in den Fall eingelesen, aber möglicherweise gibt es da einige Unstimmigkeiten, die zumindest Fragen und weitere Recherchen aufwerfen könnten.“

Stellmacher horchte auf. „Aber selbst wenn es Zweifel gibt, glaube ich kaum, dass die ermittelnden Beamten den Fall noch einmal von vorn aufrollen, ihn wirklich objektiv betrachten und gegen ihre bisherige Überzeugung ermitteln werden.“ „Genau aus diesem Grund würde ich Ihnen einen privaten Ermittler empfehlen. Ich arbeite seit Jahren mit einer renommierten Detektei zusammen. Wenn jemand helfen kann und die Wahrheit ans Licht bringt, dann ist es Herr Lessing.“ Stellmacher schürzte die Lippen. „Das ist vielleicht gar keine so schlechte Idee.“ „Was haben Sie zu verlieren?“, brachte es Christoph auf den Punkt. „Also gut, leiten Sie bitte alles Notwendige in die Wege“, zeigte sich der Fabrikant wieder guten Mutes.

„Moment“, bremste Christoph die neu gewonnene Euphorie seines möglichen Mandanten. „Bevor ich Ihren Fall übernehme und in die Berufung gehe, möchte ich, dass Sie mir mit ihren Worten schildern, was passiert ist.“ Adrian Stellmacher sah sein Gegenüber seufzend an. „Es gibt inzwischen so viele Varianten, dass ich selbst nicht mehr weiß, was wirklich geschehen ist.“ „Sie haben mittlerweile einen gewissen Abstand zu dem Geschehen jener Nacht“, erklärte Börner. „Es könnte Ihnen helfen, sich auf die relevanten Dinge zu konzentrieren.“

„Na schön“, nickte der Verurteilte. „Ich will versuchen, Ihnen alles so umfassend wie möglich darzustellen.“ Christoph stellte ein Diktiergerät auf den Tisch und schaltete es ein. „Lassen Sie sich nicht davon stören. Wenn ich Ihre Schilderung aufzeichne, dann nur deshalb, weil es meine Arbeit erleichtert.“ „Nur zu, bei der Polizei stand auch ständig ein Mikrophon auf dem Tisch.“ „Aus meinen Unterlagen geht hervor, dass in der Küche Blut Ihrer Frau gefunden wurde“, lenkte Christoph das Gespräch in die für ihn interessante Richtung.

„Das ist richtig“, bestätigte Stellmacher. „Ich würde allerdings gern an der Stelle beginnen, als mich das Klingeln meines Handys aus dem Schlaf riss.“ „Schildern Sie bitte alles so, wie es in der fraglichen Nacht ablief“, bat ihn der Rechtsanwalt. „Es war so gegen vier Uhr. Ich brauchte einige Zeit, bis ich die Lampe angeschaltet und das Handy auf meinem Nachtschrank ertastet hatte. Sicherlich brach Manuela den Anruf deswegen ab. Als ich das Gerät endlich ans Ohr hielt, war niemand mehr dran. Als ich zurückrief, meldete sich niemand. Hätte ich schneller reagiert, könnte meine Frau möglicherweise heute noch am Leben sein.“

„Sie dürfen sich deshalb keine Vorwürfe machen. Woher sollten Sie wissen, dass es sich bei dem Anrufer um Ihre Frau handelte?“, gab Christoph zu bedenken. „Sie lag nicht neben mir im Bett“, erklärte Stellmacher. „Als ich ihre Abwesenheit bemerkte, kam mir sofort der Gedanke, dass sie es gewesen sein konnte.“ „Weshalb?“, unterbrach ihn Börner. „Ich weiß nicht. Es war zunächst nur so ein Gefühl. Dann habe ich die Nummer ihres Handys im Display erkannt. Ich bin dann aufgestanden und habe das Haus nach ihr abgesucht. Nachdem sie nicht im Obergeschoss war, habe ich unten nach ihr gesucht. Gerade als ich in der Küche ein mit Blut verschmiertes Messer entdeckte, läutete das Telefon erneut. Diesmal meldete sich meine Frau. Sie sagte, sie hätte sich unglücklich geschnitten und wäre deshalb ins Krankenhaus gefahren. Sie bat mich, sie dort abzuholen. Erst daraufhin entdeckte ich die nicht unerhebliche Blutlache auf dem Fußboden. Ich zog mich an, schrieb unserer Tochter einen Zettel, den ich ihr auf den Küchentisch legte und fuhr los.“

Bis zu diesem Punkt klang alles sehr schlüssig. Christoph achtete auf jede Geste seines potentiellen Mandanten, doch bislang gab er ihm keinen Grund an seiner Darstellung zu zweifeln. „Nachdem ich in Wolfenbüttel im Krankenhaus angelangt war, begab ich mich in die Notaufnahme, wo ich mich nach Manuela erkundigte“, fuhr Stellmacher fort. „Zu meiner Verwunderung hatte sie dort niemand gesehen. Auf der Rückfahrt kam mir schließlich die Möglichkeit in den Sinn, dass Manuela möglicherweise in eine andere Klinik gefahren war. Da sie ihr Handy offenbar abgeschaltet hatte, konnte ich sie nicht danach fragen. Letztendlich fuhr ich also kurzentschlossen nach Braunschweig, wo ich sie im Krankenhaus an der ‚Salzdahlumer Straße‘ suchte. Aber auch dort wusste man nichts über ihren Verbleib. Die haben sogar in den anderen Kliniken nachgefragt“, erklärte Stellmacher ratlos. „Seitdem ist Manuela wie vom Erdboden verschluckt.“

„Das ist allerdings mehr als mysteriös“, rieb sich Börner nachdenklich das Kinn. „Ich überlegte mir, dass sie doch nicht so ernsthaft verletzt sei und sich um entschieden hatte. In ähnlichen Situationen hatte sie schon öfter ihrem Vater aufgesucht. Aus diesem Grund fuhr ich auch bei meinem Schwiegervater in Cremlingen vorbei. Aber als ich den Wagen meiner Frau auch dort nicht vor dem Haus stehen sah und auch das Carport leer stand, habe ich meine Suche abgebrochen“ Mein Freund stutzte. „Wieso haben Sie nicht bei Ihrem Schwiegervater geklingelt? Das liegt doch eigentlich sehr nahe.“ „Ja schon, aber Rüdiger und ich verstehen uns nicht sonderlich gut“, räumte Stellmacher ein. „Ich wollte nicht, dass er mir Vorwürfe macht.“ „Verstehe.“

„In der Hoffnung, dass sie in der Zwischenzeit wieder nach Hause gefahren sei, habe ich meine Suche daraufhin abgebrochen. Wieder daheim habe ich als erstes die Blutlache entfernt. Ich war kaum fertig damit, als mir auch schon unsere Tochter auf der Treppe entgegen kam. Sie fragte natürlich nach Ihrer Mutter. Da ich Calotta nicht beunruhigen wollte, erzählte ich ihr, dass Manuela schon früh das Haus verlassen hatte, um eine entfernt wohnende Freundin zu besuchen. Mit dieser Erklärung gab sie sich zunächst zufrieden.“

Christoph Börner hatte aufmerksam zugehört. Es gab einige Punkte, die er sich notiert hatte und zu denen er seinen potentiellen Mandanten später befragen wollte. Kleine Ungereimtheiten, die einer Erklärung bedurften. Für den Moment ging es meinem Freund eher um die Glaubwürdigkeit und den Eindruck, den Stellmacher bei ihm hinterließ. Was das Bauchgefühl anging, waren uns Christoph und ich ziemlich ähnlich. Ohne einen positiven Gesamteindruck würde keiner von uns einen neuen Fall übernehmen.

„Wann haben Sie ihre Frau vermisst gemeldet?“, fragte mein Freund schließlich nach. „Ich muss gestehen, dass Manuela und ich am Vorabend einen heftigen Streit hatten“. räumte Stellmacher ein. „Da ich sie in keinem Krankenhaus angetroffen hatte, dachte ich auch an einen Denkzettel, den sie mir aufgrund unseres Streits erteilen wollte. Ich wartete also bis zum späten Abend, ehe ich bei der Polizei anrief.“ Christoph verzog skeptisch das Gesicht. „Was war mit der Blutlache? Sie konnten doch nicht ernsthaft glauben, dass sie sich absichtlich etwas angetan hatte, um bei Ihnen ein schlechtes Gewissen hervorzurufen.“

Der Verurteilte tat einen tiefen Seufzer. Dann zuckte er ratlos mit den Achseln. „Ich weiß doch auch nicht mehr, was ich in all dem Durcheinander dachte. Da waren dieser Streit und die Blutlache, die nun auch wieder nicht so groß war. Das Verschwinden meiner Frau war als Reaktion auf unsere Auseinandersetzung keineswegs außergewöhnlich. In Konfliktsituationen verschwand sie gern mal einfach so, doch nach ein paar Stunden tauchte sie stets wieder auf.“ „Wurde Ihre Tochter vor Gericht dazu befragt?“, hakte Rechtsanwalt Börner nach. Der Mann auf der anderen Seite des Tisches nickte. „Ich war beim Gang durch den Garten gefallen“, fuhr er fort. „Meine Hose war dadurch schmutzig geworden war. Es war ihr bei unserer Begegnung aufgefallen und genau dies sagte sie vor Gericht aus. Im Zusammenhang mit der Schaufel, die fünf Tage später bei der Hausdurchsuchung in der Garage gefunden wurde, warf dies natürlich ein ganz schlechtes Bild auf mich.“

Christoph horchte auf. „Was für eine Schaufel?“ „Das ist ja das verrückte“, rang Stellmacher um Fassung. „Es war unsere Schaufel, an der sie Bodenanhaftungen fanden, die einige Tage später auf den Fundort ihrer Leiche wiesen.“ „Was war mit Ihrer Hose?“ „Die habe ich am nächsten Tag gewaschen.“ Mein Freund stutzte. Er fragte sich, ob er ebenso gehandelt hätte, wenn sein Lebensgefährte spurlos verschwunden wäre. „Schade, ein Vergleich der Proben hätte Sie entlasten können.“ „Das ist mir klar“, nickte Stellmacher betreten.

„Nun, dies ist ein Indiz“, überlegte der Rechtsanwalt. „Welche Beweise konnte die Staatsanwaltschaft sonst noch vorlegen?“ „Manuelas Wagen wurde auf einem Parkplatz am Hannover Flughafen gefunden. Bei der Hausdurchsuchung fand man auf ihrem Laptop Hinweise, die auf den Kauf eines Flugtickets nach Rom deuteten.“ „Aber das würde Sie doch eher entlasten“, mutmaßte Christoph. „Es fanden sich auch meine Fingerabdrücke auf dem Rechner“, musste Stellmacher einräumen. „Wir nutzten beide das Gerät.“

Mein Freund erhob sich, ging einige Male nachdenklich durch den Raum und rieb sich immer wieder das Kinn. „Zumindest kann man Ihnen diesen Umstand nicht zum Nachteil anrechnen.“ Stellmacher lächelte gequält. „Ist Ihnen bekannt, ob die Polizei herausfand, dass Ihre Frau das Ticket genutzt hatte?“ „Der Platz im Flieger wurde zumindest nicht vergeben. Wenige Tage später wurde allerdings eine Bargeldauszahlung von unserem Konto vorgenommen. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie erleichtert ich war. Ich bin mit den Unterlagen natürlich sofort zur Polizei gefahren. Endlich gab es ein Lebenszeichen von meiner Frau.“

Nach und nach entwickelte sich dieser Fall zu einem Mysterium. Mein Freund setzte seinen Gang durch den Besucherraum fort. „Die italienische Polizei übermittelte kurz darauf Aufnahmen einer Überwachungskamera. Auf dem ersten Blick sah die Frau darauf Manuela ähnlich, doch in Größe und Statur unterschieden sie sich von ihr. Leider waren die Fotos zu undeutlich, um ihr Gesicht darauf deutlich genug zu erkennen.“ „Wenn es sich bei dem gefundenen Leichnam um Ihre Lebensgefährtin handelt, muss diese Unbekannte etwas mit dem Mord an Ihrer Frau zu tun haben“, kombinierte Christoph Börner. „Das denke ich auch. Für die Polizei ist sie jedoch meine Komplizin. Bitte Herr Börner, helfen Sie mir.“

-2-

„Habt ihr denn nun schon einen Termin?“, erkundigte sich Jogi, während er seine Waffe nachlud. „Wenn du das Aufgebot meinst, dann muss ich dich enttäuschen. Wir haben zwar den Mai ins Auge gefasst, aber bislang ist alles noch sehr vage.“ Mein Freund legte seine Waffe an und drückte sechs Mal in schneller Folge ab. Die Zielfigur am Ende der Schussbahn zappelte wie ein Aal. Ich folgte seinem Beispiel. Kurz darauf surrten die Zielscheiben über das Zugseil zum Schießstand. Beim Vergleich der Schussbilder rümpfte ich die Nase.

„Ein bissel aus der Übung wie?“, amüsierte sich Jogi über meine Schießkünste. Ich zerbiss einen Fluch zwischen den Lippen. „Ich gebe ja zu, in letzter Zeit ein wenig geschlampt zu haben“, gestand ich schweren Herzens ein. „Aber du weißt ja, wie das so ist mit der Arbeit. Sie wird immer mehr und am Ende bleiben diese Dinge auf der Strecke.“ „Ja, ich weiß, aber da solltest du schon Prioritäten setzen. Schließlich gibt es Richtlinien und Verordnungen, über die du dich nicht hinwegsetzen darfst“, mahnte der Kriminalhauptkommissar.

„Abgesehen davon hast du nicht zuletzt wegen der wenigen Freizeit, die dir als Polizeibeamter blieb, das Handtuch geschmissen“, erinnerte mich mein Freund. Jogi und ich waren ehemals Kollegen bei der Braunschweiger Kripo. Nachdem mein damaliger Partner bei einer Schießerei ums Leben kam und ich mir lange Zeit die Schuld daran gegeben hatte, quittierte ich den Dienst und machte mich mit einer Detektei selbstständig.

„Mir fällt gerade auf, dass du meine Dienste schon seit längerem nicht mehr in Anspruch genommen hast“, feixte Jogi. „Erst beschwerst du dich, weil ich dich zu häufig belästige und dann vermisst du es, wenn ich mich nicht bei dir melde“, entgegnete ich verdutzt. „Na, was denn nun?“ „Und ich dachte schon, du hättest keine Aufträge mehr“, ließ der Hauptkommissar die nächste Spitze folgen. „Da mach dir mal keine Sorgen, noch kann ich alle hungrigen Mäuler stopfen.“ „Apropos Mäuler, hast du Bea und die alte Frau Stahl eigentlich mal wieder besucht?“

Nachdem mich Bea aus einem langen Koma erweckt hatte und mir in der Folgezeit die Phobie gegen Hunde nahm, hatte ich die deutsche Dogge aus dem Tierheim geholt. Als ich jedoch sehr bald feststellen musste, dass ich dem Tier leider nicht die erforderliche Zeit entgegenbringen konnte, ergab sich kurze Zeit später durch eine glückliche Fügung die Möglichkeit, den Hund auf dem Land bei einer älteren, fast blinden Dame unterzubringen. Seitdem besuchte ich Bea und Frau Stahl regelmäßig.

„Wo denkst du hin?“, ereiferte ich mich. „Ich besuche die beiden natürlich so oft es geht.“ Jogi kniff skeptisch ein Auge zusammen. Er wusste, dass ich dieser selbst auferlegten Verpflichtung in der Vergangenheit nicht immer mit der nötigen Regelmäßigkeit nachgekommen war. „Ich war erst vor drei Tagen in der Twelkenmühle“, log ich, um mir keine weitere Blöße zu geben. Gleichzeitig nahm ich mir vor, sie noch am Abend zu besuchen. „Es geht ihnen prächtig.“

Nachdem mein Freund und ich unser Schießtraining absolviert hatten, trennten sich unsere Wege. Auch wenn ich, was das Schießergebnis anging, nicht mit Jogi mithalten konnte, reichten die Resultate aus, um den Vorschriften zur Erhaltung meines Waffenscheins Genüge zu tun. Ein notwendiges Übel, um das ich mich zwar nicht riss, was aber im Hinblick auf den Umgang mit meiner Schusswaffe unumgängliches Training war.

Kurze Zeit später fuhr ich aus Richtung Braunschweig kommend über Sickte und Evessen nach Schöppenstedt. Etwa einen Kilometer vor der Eulenspiegelstadt bog ich nach links in einen Feldweg ab. Es war mal wieder spät geworden. Die Dämmerung des Abends hatte die warme Frühlingssonne verdrängt und überzog nun Wiesen und Felder mit einem milchigen Nebelschleier. Ich fuhr bis vor das Tor und stellte meinen Skoda am Wegrand ab. Die dürftige Beleuchtung über dem Eingang zum alten Verwaltungsgebäude warf einen schwachen Lichtschein, der sich auf dem weitläufigen Grundstück zwischen Bäumen und Sträuchern im Nebel verlor.

Als ich an der Haustür läutete, vernahm ich lediglich Beas Bellen. Da sich sonst nichts tat, prüfte ich, ob die Haustür verschlossen war. Sie war es nicht, folglich lag es nahe, dass Elisabeth Stahl daheim war. Ich ging dem Bellen nach und öffnete schließlich die Tür zur Küche. Ich fand Bea alleine vor. „Ja sag mal meine, Kleine, wo ist denn die Betti?“, versuchte ich den aufgeregten Hund durch mein Streicheln und die guten Worte zu beruhigen. Der strenge Geruch und die zahlreichen Kothaufen deuteten darauf hin, dass der Hund bereits seit einiger Zeit in der Küche gefangen gewesen war. Bea ließ sich nicht lange bitten. Sie rammte mich quasi zur Seite und lief quer durch den langen Flur, bis sie schließlich an der Kellertür kratzte. Ich befürchtete das Schlimmste.

Nachdem ich die Tür geöffnet hatte, bot sich mir ein Bild des Schreckens. Bevor ich zu ihr hinunterstieg alarmierte ich den Rettungswagen und einen Notarzt. Es bedurfte keiner vorherigen Kontrolle, um den lebensgefährlichen Zustand der alten Dame zu erkennen. Es deutete alles daraufhin, dass Elisabeth die Treppe hinuntergestürzt war. „Hören Sie mich, Betti?“, sprach ich sie immer wieder an, während ich ihre Atmung überprüfte. Die Ärmste hatte nur noch einen schwachen Puls und sie blieb ohne Bewusstsein. Gott sei Dank hörte ich kurz darauf die Sirene des Rettungswagens. Ich brachte Bea zurück in die Küche und führte die Sanitäter an den Ort des Unfalls.

Das Leben von Elisabeth Stahl hing am seidenen Faden. Wer weiß, wie lange die alte Frau dort unten bereits lag. Nach einer gefühlten Ewigkeit gelang es Notarzt und Sanitätern schließlich, ihren Kreislauf für den Transport ins Krankenhaus zu stabilisieren. Da nicht klar war, ob sie sich bei dem Sturz das Rückgrat gebrochen hatte, wurde ihr ein Stifneck angelegt. Unterdessen sorgte ich für Bea. Das Tier wirkte entkräftet und dehydriert und dennoch spürte ich, wie schwer sie sich damit tat, die alte Dame den Bemühungen der Rettungskräfte zu überlassen. Ich dachte zurück an die Zeit, in der sie im Tierheim untergebracht war und ich war froh, sie an Elisabeth in Pflege gegeben zu haben.

Halskrause

Nachdem sich Bea im Garten erleichtert hatte, gab ich ihr erst einmal Futter und Wasser. Anschließend lud ich sie in meinen Wagen und folgte dem Rettungswagen ins Krankenhaus. Nach Stunden bangen Wartens war klar, dass Elisabeth einen Beckenbruch und einige Prellungen bei dem Sturz davongetragen hatte. „Es ist uns gelungen, ihre Bekannte zu stabilisieren. Um eine Operation ihres Beckens werden wir allerdings nicht herumkommen.“ Ich sah den behandelnden Oberarzt erschrocken an. „Aber sie hat doch erst eine neue Hüfte bekommen.“

„Selbstverständlich birgt eine Operation für eine Frau im Alter Ihrer Bekannten stets eine hohe Belastung, aber ich sehe gute Heilungschancen. Es wird sicherlich einige Zeit dauern, bis Frau Stahl wieder vollständig genesen ist, aber nach der Reha wird sie sicherlich wieder ganz die Alte sein. Sie sollten sich allerdings überlegen, ob ein Pflegeheim nicht das Beste für sie wäre.“ Ich war geschockt. Diese Möglichkeit hatte ich bislang überhaupt nicht in Erwägung gezogen. Ich war mir sicher, dass man ihr damit keinen Gefallen tun würde. „Kann ich zu ihr?“, erkundigte ich mich bei dem Mann im weißen Kittel. „Ja sicher, aber bitte nur einen Moment.

Kurz darauf stand ich neben Elisabeths Bett und sah ihr mitleidsvoll in das lädierte Gesicht. Sie schlief und so setzte ich mich neben sie und schlief ebenfalls ein. Keine Ahnung, weshalb man mich gewähren ließ. Als ich aufwachte dämmerte es bereits. Erschrocken darüber, Bea so lange allein gelassen zu haben, wollte ich gerade das Zimmer verlassen, als auch Elisabeth zu sich kam. „Hallo Leopold“, vernahm ich ihre dünne Stimme. „Da hast du mir einen ziemlichen Schrecken eingejagt, meine Liebe“, wandte ich mich ihr wieder zu. „Tut mir leid“, flüsterte sie. „Wo ist Bea?“ „Im Auto. Bis du wieder fit bist, nehme ich sie mit zu mir.“ „Das ist gut. Aber danach kommt sie doch wieder zu mir zurück?“, fragte sie ängstlich.

In Anbetracht dessen, was die alte Dame in den nächsten Wochen überstehen musste, hielt ich es für ratsam, vorerst nichts von einer möglichen Unterbringung in einem Seniorenheim zu erwähnen. Elisabeth war es gewohnt, für sich selbst zu sorgen. Wenn man ihr diese Unabhängigkeit nahm, wäre es um ihren Lebensmut, ihre Fröhlichkeit und ihre Selbständigkeit geschehen. „Aber klar, warum denn nicht“, entgegnete ich. „Du musst dich allerdings erst vollständig erholen.“ „Keine Angst, das wird schon wieder. Du weißt doch, Unkraut vergeht nicht.“ Genau so wollte ich Elisabeth haben. Nur so konnte es mit ihr noch etwas werden.

Das nächste Problem lag bei meiner Rückkehr auf der Rücksitzbank meines Skodas, wog fast zwei Zentner und hatte einen Kopf wie ein Esel. Nicht so groß, aber ebenso eigensinnig. Nachdem ich Bea vor der Fahrt ins Krankenhaus mit einem Eimer voller Wasser versorgt hatte, drückte diese nicht unbeträchtliche Menge nun offenbar mächtig auf die Blase. Infolgedessen stürmte sie ungestüm an mir vorbei aus der engen Autotür auf den Parkplatz und setzte keine fünf Meter von mir entfernt eine Blumenrabatte unter Wasser. Die verächtlichen Blicke einiger gerade vorbeischlendernder Damen trafen mich bis ins Mark. Ich tat so, als hätte ich nicht das Geringste mit dem Hund zu tun.

Nachdem ich meiner Kleinen die Leine angelegt hatte, gingen wir ein Stück in der nahen Parkanlage spazieren. Ich fragte mich, wie es mit Bea nun weitergehen sollte. Für ein paar Tage konnte ich sie zu mir nehmen, soweit stellte dies kein Problem dar, aber über einen Zeitraum von zwei bis drei Monate war es eben keine Option. So intensiv ich mir jedoch das Hirn in dieser Frage zermarterte, so wenig kam unterm Strich dabei heraus. Immerhin konnte ich Miriam, so schwanger wie sie war, nicht damit belasten.

„Hallo Sie!“, vernahm ich die aufgeregte Stimme eines schnell näher kommenden Mannes. „Sie können hier doch nicht einfach...“ Weiter kam er nicht. Zumindest verstand ich von diesem Zeitpunkt kein einziges Wort mehr. Es wurde nämlich plötzlich äußerst laut, weil keine zwanzig Meter von Bea und mir entfernt Christoph 30 landete. Der Rettungshubschrauber wirbelte reichlich Staub auf. Bea bekam es gehörig mit der Angst zu tun und ging mit mir durch. Nachdem ich die Gleitfähigkeit des englischen Rasens ausgiebig überprüft hatte, blieb sie schließlich ebenso entkräftet stehen, wie ich liegen.

„Meine Güte, haben Sie sich etwas getan?“, erkundigte sich der Mann, während ich mich wieder aufrappelte. In der Hand trug er meinen Stetson, den ich offenbar während meiner unfreiwilligen Showeinlage verloren hatte. Ich klopfte mir Hemd und Hose ab, griff nach meinem Hut und zog Beas Leine wieder enger an. Dann sah ich ihn mit hochgezogener Braue verdattert an. „Und jetzt gehe ich erst einmal ordentlich frühstücken.“ Der verdutzte Blick des Mannes ließ alle Fragen offen.

-3-

„Wo um alles in der Welt waren Sie denn?“, überfiel mich meine Putzsekretärin, kaum dass ich die Detektei betreten hatte. „Und wie sehen Sie denn eigentlich aus?“ Ich sah Trude pikiert an. „Wie soll man aussehen, wenn man die Nacht durchgemacht hat?“ Die gute Seele drückte ein Auge zusammen, sah mich mit dem anderen lauernd an und rümpfte die Nase. „Brauchen Sie wieder einen Katerkiller?“ „Ich habe die Nacht im Krankenhaus zugebracht“, erzählte ich mitgenommen. „Ist irgendetwas mit Frau Herz? Sie hat doch nicht etwa das Kind...“ „Nein, nein, es ging um Frau Stahl. Elisabeth ist die Kellertreppe hinuntergestürzt. Ich fand sie.“

Trude hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund. „Das ist ja furchtbar. Wie geht es der Ärmsten?“ „Nun ja, sie wird operiert werden müssen. Zumindest ist sie erst einmal außer Gefahr. Mit der Reha wird ihre Genesung allerdings einige Monate in Anspruch nehmen.“ „Oh Gott, oh Gott, oh Gott“, konnte es die gute Seele kaum fassen. „Wer kümmert sich denn nun so lange um den Hund?“ Ich sah meine Assistentin flehentlich an. Trude begriff, auch ohne dass ich auch nur ein einziges Wort sagen musste. „Nee, das können Sie vergessen, Chef. Ich gehe mit Bea gern mal vor die Tür, aber zu mir nach Hause nehme ich Sie ganz sicher nicht.“ „Sollen Sie auch gar nicht“, beschwichtigte ich sie. „Zumindest nicht ständig“, fügte ich kleinlaut an. „Höchstens, wenn mal Not am Mann ist.“ Trude knirschte mit den Zähnen. „Aber wirklich nur, wenn sich keine andere Möglichkeit ergibt.“ „Ja, aber natürlich“, lächelte ich zufrieden.

„Was gab es vorhin eigentlich so dringendes?“ „Ach ja, ich vergaß, Herr Börner hat dringend um Ihren Rückruf gebeten.“ „Okay, dann erledige ich das als erstes. Suchen Sie mir doch bitte inzwischen die Telefonnummer von der Hundepension Ritter in Halchter heraus.“ „Sie wollen doch nicht etwa...“ „Beruhigen Sie sich Trude. Noch ist dies lediglich eine Option für den Notfall.“

„Christoph“, begrüßte ich den Rechtsanwalt in vertrauter Weise. „Du hast um meinen Rückruf gebeten?“ „So ist es, Leopold. Ich habe da möglicherweise eine verzwickte Sache für dich auf meinem Schreibtisch liegen.“ „Um was geht es denn?“ Nachdem mir mein Freund von Adrian Stellmacher, der in der JVA wegen des Mordes an seiner Ehefrau einsitzt, erzählt hatte, konnte ich mein Interesse an dessen Geschichte nicht verbergen und sagte daher zu, Christoph im Laufe des Nachmittags in seiner Kanzlei aufzusuchen.

Eigentlich wollte ich für die Dauer einiger Wochen mit banalen Fällen zu innerer Ruhe zurückfinden. Der letzte Auftrag, für den ich recherchierte, lag noch nicht lange zurück und er hatte es in sich. Im Zuge der Ermittlungen hatten sich immer tiefere Abgründe menschlicher Verwerflichkeit aufgetan. Seit diesem Fall weiß ich, dass es Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, die sich mit dem normalen Verstand und aller Wissenschaft nicht erklären lassen; und dennoch waren diese Begebenheiten so real, dass mir mitunter die Nackenhaare zu Berge standen .

schicksalhafte Visionen

Durch die Vermittlung von Aufträgen hatte mir Christoph oft genug aus finanziellen Engpässen geholfen, da war es nicht mehr als recht und billig, dass ich auch für ihn da war, wenn er mich brauchte. Vielleicht würde mir ein verzwickter Fall sogar eher über die Sorgen hinweg helfen, die ich mir um Elisabeth machte? Wie auch immer, bevor ich mich mit etwas Neuem befassen konnte, musste ich mich erst einmal um die kleineren Fälle kümmern, die im Großen und Ganzen das Brot eines Detektivs sind. Einen Teil konnte ich in Axels Hände legen, der Rest ließ sich verschieben. Trudes Lebensgefährte hatte sich wirklich gut in die Arbeit eines Privatermittlers eingearbeitet. Nach seinen anfänglichen Bedenken hatte er mittlerweile nicht mehr das Gefühl, die Leute zu bespitzeln. Nach meinem Dafürhalten machte es ihm sogar zusehends mehr Spaß.

„Ich gehe jetzt mit Frau Herz zu Tisch“, verkündete ich. „Danach bin ich in der Kanzlei Börner. Ich habe Ihnen einige Vorgänge und diesbezügliche Anweisungen auf dem Stick gespeichert. Einige Angelegenheiten müssen für ein paar Tage auf Eis gelegt werden, andere können von Axel erledigt werden. Bitte kümmern Sie sich darum. Bei Rückfragen wissen Sie, wie Sie mich erreichen.“

Wie wichtig eine zuverlässige Assistentin ist, zeigt sich immer wieder in Situationen, in denen Trude den Laden eigenverantwortlich schmeißen muss. Mit dem Wissen, mich hundertprozentig auf die gute Seele verlassen zu können, verließ ich beruhigt die Detektei, um gleich darauf wieder aus allen Wolken zu fallen. Bea hatte sich eines der Sofakissen schmecken lassen. Auf den ersten Blick hätte man annehmen können, mitten in einer Winterlandschaft zu stehen. Unzählige Daunen und Federn flogen durch den Flur, die Küche und das Wohnzimmer. Mittendrin stand Bea und grinste mich freudig mit dem Stummelschwanz wedelnd an.

Während ich das vierbeinige Monster anleinte, musste ich gefühlte einhundert Mal nießen. Das Desaster mal eben wieder zu entfernen, war mir also schon deshalb nicht möglich. Ich beschloss also beim Hinausgehen noch mal die Tür zur Detektei zu öffnen. „Ach Trude“, warf ich ihr meinen Wohnungsschlüssel auf den Schreibtisch, „…seien Sie doch so lieb und machen drüben noch ein wenig sauber. Bea hat ein wenig gespielt und dabei etwas Unordnung gemacht.“ „Geht klar, Chef“, versprach sie. Ich sah zu, dass ich mit Bea davon kam.

Vorbei am Bankhaus Seeliger, wo sich gerade zwei Straßenmusiker um die Gunst und das Kleingeld der Passanten bemühten, bog ich einige Schritte später an der Herzog Apotheke in die Straße ‚Am Alten Tore‘. Um Miriam nicht zu verpassen, tat ich vorsichtshalber einen Blick in die Buchhandlung Steuber. Meine Liebste bestellte sich hier oftmals ihre neuesten Gesetzestexte, die sie dann ebenso ungeduldig verschlang wie andere einen Kriminalroman.

Offenbar fand Miriam mal wieder kein Ende im Gericht. Nachdem ich Bea an einen der dafür vorgesehenen Eisenbeschläge vor dem Haupteingang angeleint hatte, klopfte ich wenig später an die Tür zu ihrem Büro. „Hallo mein Schatz“, begrüßte ich sie gut gelaunt. Bist du dann so weit?“ Die Staatsanwältin klappte den Aktenordner demonstrativ zu und griff nach ihrer Handtasche. „Eigentlich nicht, aber wenn du mich schon mal zum Essen ausführst, werde ich mir die Chance, dich zu schädigen, natürlich nicht entgehen lassen.“ Ich lächelte gequält. Der Begrüßungskuss offerierte die Aussicht auf einen stimmungsvollen Abend.

„Du hast Bea heute?“, wunderte sich Miriam, als wir das Gerichtsgebäude verließen. „Nicht nur heute“, entgegnete ich. Miriam sah mich fragend an. „Ich kam noch nicht dazu, dir die Hintergründe mitzuteilen. Elisabeth hat sich bei einem Sturz die Hüfte gebrochen. Ich fand sie gestern Abend und sorgte dafür, dass sie ins Krankenhaus kam. Sie muss operiert werden und danach zur Reha.“ Die Gesichtsfarbe meiner Verlobten wechselte von zartrosa in karminrot. „Und da hältst du es nicht für angebracht, mich anzurufen?“ „Ich wollte nicht, dass du dich unnötig aufregst“, erwiderte ich kleinlaut. „Oh prima, das hast du ja mal wieder gut hinbekommen!“, schnaufte sie. „Ich bin schwanger und nicht nervenkrank!“

Ich schob ihren Ausraster auf die Hormonausschüttung, die während der Schwangerschaft extrem schwanken kann. Eine der Begleiterscheinungen, von der ich im Wartezimmer des Frauenarztes gelesen hatte. „Denk an unser Kind“, mahnte ich, während ich Bea befreite. „Wir müssen sie heute unbedingt besuchen“, ergriff Miriam die Initiative. „Hab ich mir auch so gedacht. Wir wäre es mit heute Abend?“ „Auf jeden Fall“, stimmte meine Liebste zu.

„Wohin wolltest du mich eigentlich zum Essen ausführen?“ „Na ja, mit dem Hund im Schlepptau dürfte das nicht so ganz einfach werden“, erklärte ich, während wir das Parkhaus am Rosenwall umrundeten. „In Anbetracht der Umstände würde ich sagen, dass wir uns ausnahmsweise mit einer Bratwurst begnügen.“ Aus dem karminrot wurde ein aschgrau. Am liebsten hätte ich mich in die rote Bücherzelle geflüchtet, die hinter dem Parkhaus, direkt an der Hofeinfahrt zum Gericht für eine unbürokratische Buchausleihe aufgestellt ist.

„Hättest du den Hund nicht wenigstens für zwei Stunden bei Trude in Pflege geben können?“ Ich dachte an die Winterlandschaft in meiner Wohnung und schüttelte energisch den Kopf. „Bratwurst“, murmelte Miriam verächtlich. „Die haben da auch lecker Kassler mit Sauerkraut“, schlug ich vor. „Toll!“

Während wir uns schweigend die 'Lange' hinunter quälten, drängte sich die etwas skurril anmutende Musik der beiden Straßenmusiker in meine Ohren. Offenbar nicht nur in meine, denn Bea schien wie ausgewechselt. Sie zog plötzlich wie ein wilder Stier. Ohne den Hauch einer Chance sie zu bändigen, rannte ich immer schneller hinter ihr her, bis sie direkt vor den Musikern stoppte und in ein ohrenbetäubendes Jaulen verfiel. Während die beiden Notenakrobaten ihr bizarres Spiel abbrachen, kriegte sich Bea gar nicht mehr ein. Meine verzweifelten Blicke suchten nach meiner Liebsten und entdeckten sie schließlich in Höhe Stadtkeller. Sie würdigte mich keines Blickes. Ob sie sich meiner schämte?

Während ich Bea zur Räson brachte, verschwand Miriam. Trotz intensiver Suche auf dem Wochenmarkt blieb sie wie vom Erdboden verschluckt. „Na Bea, da hast du uns ja mal wieder was eingebrockt.“ Offenbar war sie sich ihres Benehmens bewusst, denn sie senkte den Kopf in eine unterwürfige Haltung. „Na gut, ich habe trotzdem Hunger“, zuckte ich mit den Achseln und blieb mit Bea an einer der Bratwurstbuden stehen. „Zwei Thüringer bitte. Eine davon nicht gegrillt.“ Nachdem wir jeder noch eine zweite Wurst verdrückt hatten, zahlte ich. Die Mädels im Wagen bedankten sich für das Trinkgeld in der üblichen Weise: „Bedankt euch!“ „Danke schön!“

Gerade als Bea und ich uns auf den Rückweg machten, sah ich Miriam, die aus der Eingangstür des chinesischen Restaurants kam. „Na, das hätte ich mir ja denken können“, empfing ich sie missmutig. „Du hast doch nicht allen Ernstes geglaubt, dass ich mich mit Bea an der Bratwurstbude anstelle.“ Miriam entwickelte sich seit ihrer Schwangerschaft in eine Richtung, die nicht zu ihr passte. Ich hoffte, dass sich diese Veränderungen nach der Geburt unseres Kindes wieder gaben. „Okay, dann bis heute Abend“, entgegnete ich knapp und ging.

-4-

„Nach alledem, was du mir von diesem Stellmacher erzählt hast, klingt es so, als würdest du ihm seine Geschichte glauben“, resümierte ich. „Es ist nicht gerade an der Tagesordnung, dass ein Gericht in einem Mordprozess zu einem Schuldspruch kommt, obwohl die Leiche nicht gefunden wurde“, brachte Christoph seine Zweifel zum Ausdruck. „Ich habe die Prozessakten bisher nur überfliegen können, aber aufgrund einiger Widersprüche bei den Ermittlungen und der vielen unbeantwortet gebliebenen Fragen, habe ich Zweifel an seiner rechtmäßigen Verurteilung.“

„Du sagtest, Stellmacher wachte mitten in der Nacht durch das Klingeln seines Handys auf und vermisste seine Frau. Daraufhin habe er zunächst im Obergeschoss und dann im Parterre nach ihr gesucht.“ Der Rechtsanwalt stimmte mir zu. „Laut des von der Polizei angeforderten Bewegungsprofils des Handyproviders kam der Anruf vom Handy der Ehefrau. Dieses war in einer Funkzelle eingeloggt, die sich wiederum auf dem Weg zum Krankenhaus befand.“ Christoph nickte mir zu. „Stellmacher entdeckte kurze Zeit später in der Küche einen Blutfleck. Quasi zeitgleich erreichte ihn ein weiterer Anruf seiner Frau. Diesmal kam die Verbindung zustande. Das Handy seiner Frau war nun in der Funkzelle des Krankenhauses eingeloggt. Sein Handy befand sich nach wie vor zu Hause. Sie sprachen miteinander und Stellmacher fuhr ins Krankenhaus, um seine Frau dort abzuholen. Wenn er seine Ehefrau zu diesem Zeitpunkt bereits getötet haben soll, muss er folglich einen Komplizen gehabt haben, oder aber er muss wie ein Alien durch die Zeit reisen können, denn er kann wohl kaum an zwei Orten gleichzeitig gewesen sein.“ Siehst du, Leo, genau das meine ich, wenn ich von Widersprüchen spreche.“

Ich strich mir nachdenklich durch das Haar. Bea sah kurz auf. Sie schien meine Anspannung zu spüren. „Sorry, aber eine derartige Diskrepanz kann man doch nicht einfach unter den Tisch fallen lassen.“ „Hat man auch nicht. Oberstaatsanwalt van der Waldt...“ „...ach“, unterbrach ich meinen Freund überrascht. „Van der Waldt selbst war der Vertreter der Anklage?“ „Hatte ich das nicht erwähnt?“ „Nee.“ „Jedenfalls schrieb er die Telefonate Stellmachers Komplizin zu“, fuhr Christoph fort. „Wie praktisch“, stutzte ich. „Wie kommt van der Waldt darauf, dass es da noch jemanden gibt?“ Mein Freund blätterte in den Prozessakten. „Ah ja, hier ist es. Eine Überprüfung von Stellmachers Bankkonten erbrachte Abbuchungen durch ein 4 Sterne Hotel in der Braunschweiger City. Recherchen durch die ermittelnden Beamten ergaben, dass ein Ehepaar Stellmacher in dem betreffenden Hotel einige Male eingecheckt war.“

Wieder so ein Punkt, der sich mir von der Logik nicht erschloss. „Wenn er tatsächlich mit einer Geliebten dort war, muss er doch damit rechnen, dass ihm die Polizei auf die Schliche kommt. Zumal er auch noch so dumm war, das Stelldichein mittels Kreditkarte zu bezahlen.“ „Leider ist dies nicht das einzige Indiz für eine Komplizin“, räumte mein Freund ein. „An den folgenden Tagen nach dem Verschwinden von Manuela Stellmacher wurde vom gemeinsamen Konto der Eheleute in Rom, Venedig und Turin Geld abgehoben. Die Auswertungen der Überwachungskameras zeigen eine Frau, die es geschickt vermied, ihr Gesicht komplett zu zeigen. Sie sah der Vermissten zwar ähnlich, unterschied sich aber laut Gutachten in Größe sowie Statur.“ „So gesehen wäre aus einer möglichen Entlastung für Stellmacher, indem die Vermisste in Italien Gelder vom gemeinsamen Konto abhebt, eine Belastung geworden, weil man die vermeintliche Komplizin überführte.“ Ich stieß einen tiefen Seufzer aus. „Der Fall ist wirklich verzwickt, aber er reizt mich.“

Christophs Blick zeigte Entschlossenheit. „Nehmen wir uns also der Sache an!“ „Wie läuft es mit meiner Bezahlung? Ich habe keine Lust am Ende für lau zu arbeiten.“ „Du bekommst dein Honorar von mir und ich hole mir das Geld von Stellmacher zurück.“ „Okay“, stimmte ich zufrieden zu. Auf diese Weise hatte ich kein Risiko. „Dann werde ich mich zuallererst um die Zeugen in diesem Hotel kümmern. Ach ja, eine Kopie der Prozessakte benötige ich natürlich auch.“ „Ich werde sie dir sofort von Anneliese kopieren lassen.“ Christoph instruierte seine Reno über die Sprechanlage.

Der Kopf meiner vierbeinigen Begleitung hob sich. Bea hatte ein unglaubliches Gespür für die Situation. „Ich werde mich natürlich auch um die Ermittlungsakte der Polizei kümmern“, versprach Christoph. „Vielleicht ist darin noch das eine oder andere ersichtlich, was uns weiterhelfen könnte. Sobald ich sie in den Händen halte, werde ich sie dir ebenfalls zukommen lassen.“ Während ich mich erhob und mich per Handschlag von meinem Freund verabschiedete, raffte sich auch Bea auf. „Ich würde übrigens gern dabei sein, wenn du Stellmacher das nächste Mal besuchst. Es ist mir schon wichtig, mir einen eigenen Eindruck von meinen Klienten zu verschaffen.“ Der Rechtsanwalt stimmte mir kopfnickend zu. „Ich melde mich.“

Nachdem ich einen kurzen Blick in die Prozessakte geworfen hatte, war schnell klar, womit ich meine Arbeit beginnen würde. Die Offzareks waren am Abend vor dem Verschwinden bei den Stellmachers zu Besuch. Laut Akte wurden sie Zeuge eines Streits ihrer Gastgeber. Von ihnen konnte ich vielleicht mehr erfahren.

Die Offzareks bewohnten ein Fachwerkhaus in Groß Stöckheim. Die Aufzeichnungen des Gerichtsschreibers waren diesbezüglich sehr hilfreich. Die Zufahrt zum Grundstück erfolgte über eine schmale Brücke, welche direkt von der Hauptstraße auf den gepflasterten Hof des Anwesend führte. Ich liebe diese Vorstadtidylle. Wenn es sich dann auch noch um einen ehemaligen Bauernhof handelt, der in liebevoller Weise restauriert wurde, war ich hin und weg. Ich stellte mir einem Stall voller Kinder vor, ein paar Kleintiere und vielleicht eine Kuh, die täglich frische Milch gab und eine integrierte Detektei, in der ich potentielle Kundschaft empfing. Mit der schrillen Stimme einer älteren Frau, die mich nicht sonderlich freundlich nach meinem Ansinnen befragte, platzten meine Fantasien wie eine Seifenblase.

„Ich möchte zu den Offzareks“, entgegnete ich gelernt höflich. „Mein Sohn und die Schwiegertochter sind nicht da“, erklärte sie gereizt. Ohne weitere Notiz von mir zu nehmen, wandte sie sich schon wieder von mir ab, um die Haustür wieder zu schließen. „Wann erwarten Sie Ihren Sohn denn zurück?“, ließ ich nicht locker. „Sehe ich so aus, als müsste sich mein Sohn bei mir an oder abmelden?“ Ich zog die Brauen gerade. „Wenn Sie mich so direkt fragen, eigentlich schon.“ „Unverschämtheit!“, wetterte sie und knallte mir die Tür vor der Nase zu. Im Grunde war ich froh, im Wagen warten zu können. Allerdings hätte ich gern gewusst, wie lange es dauern würde.

Die Arbeit eines Privatermittlers erschöpft sich zu einem großen Teil aus Warten. Nur dass man diese Tätigkeit dann Observieren nennt. Es klingt einfach besser. Etwas überspitzt gesagt, observierte ich folglich eine öffentliche Brücke, die zu einem Rest Hof führte. Nach etwa einer Stunde nickte ich kurz ein und träumte vom Burgfräulein, welches mehr nach einem Drachen aussah. Lautes Hupen kündigte an, dass die Zugbrücke, auf der ich mich befand, hochgezogen werden sollte. Im nächsten Moment wurde mir klar, dass es sich um ein Auto handelte, das die Brücke überqueren und auf den Hof fahren wollte. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass ich es war, der hier im Wege stand. Ich stieg aus und entschuldigte mich.

„Sorry, mein Name ist Lessing. Wenn Sie Herr und Frau Offzarek sind, warte ich auf Sie“ Die Eheleute sahen sich fragend an. „Aber Sie hätten doch drinnen auf uns warten können.“ „Leider nicht“, widersprach ich mit einem gequälten Lächeln. „Nun ja, meine Mutter hat es nicht so mit Fremden“, begriff Herr Offzarek peinlich berührt. „Was heutzutage ja nicht unbedingt ein Fehler ist“, gestand ich ein. „Was wollen Sie denn eigentlich von uns?“, erkundigte sich Frau Offzarek, die inzwischen ihre Einkäufe aus dem Wagen gekramt hatte und nun mit den vollen Einkaufstaschen an mir vorbei dem Haus zustrebte. „Wie gesagt, min Name ist Lessing, Ich bin Privatermittler und recherchiere im Fall Stellmacher.“

„Was gibt es da noch zu ermitteln?“, hörte ich sie sagen. „Das Urteil wurde doch bereits gesprochen“, fügte Herr Offzarek hinzu. „Es wird eine neue Verhandlung geben, in der das bestehende Urteil auf seine Rechtmäßigkeit überprüft wird.“ „Der Fall wird noch mal aufgerollt? Hast du gehört, Schatz?“ „Was denn, das ganze Theater noch einmal von vorn?“, quälte sich Frau Offzarek mit den Taschen. „Ich habe dir doch gleich gesagt, dass Adrian unschuldig ist“, fühlte sich ihr Ehemann bestätigt. „Das muss sich erst noch erweisen. Vielleicht hilfst du mir mal mit den Tüten!“ „Oh ja, Verzeihung“, entschuldigte sich der Angesprochene für seine Gedankenlosigkeit. „Also schön, dann kommen Sie mit rein, Herr Lessing.“

„Haben Sie eigentlich einen Dienstausweis oder so was?“, erkundigte sich Frau Offzarek, kaum dass wir das Gebäude betreten hatten. „Da sind Sie ja schon wieder!“, brachte sich die keifende Stimme des Burgfräuleins wieder in Erinnerung. „Herr Lessing ist Privatdetektiv“, stellte mich Herr Offzarek seiner Mutter vor. „Es bestehen wohl Zweifel an Adrians Schuld“, erklärte er. „Unsinn!“, entgegnete die resolute Frau. „Ihr habt doch erzählt, wie sehr sich die Stellmachers während eures Besuchs stritten. Außerdem hat sie der Mistkerl betrogen. Eifersucht war schon immer ein starkes Motiv, jemanden zu ermorden.“ „Da haben Sie sicher Recht, aber bislang gibt es nicht mal eine Leiche“, erwiderte ich gelassen. „Es kann also ebenso gut sein, dass es gar keinen Mord gibt“ „Unsinn!“, blieb sie beharrlich bei ihrer Meinung, während sie sich etwas in den Damenbart brabbelte und verschwand.

„Sie müssen entschuldigen, Herr Lessing, aber meine Mutter hat da ihre ganz eigene Meinung.“ „Sie sei ihr vergönnt. Zu welcher Überzeugung sind Sie eigentlich gelangt?“ Herr Offzarek überlegte auffallend lange, ehe er antwortete. „Manuela und Adrian haben sich zwar ab und zu gestritten, aber wenn Sie mich fragen, ob ich Adrian einen Mord zutraue, muss ich dies ganz klar verneinen.“ „Also, das sehe ich völlig anders“, vertrat Frau Offzarek offenbar eine komplett andere Meinung.“ „Du weißt doch selbst, wie aufbrausend er Manuela gegenüber oftmals war. Du selbst hast ihn schon zur Ordnung rufen müssen. Ich traue ihm durchaus zu, dass er sich im Streit in Rage redete und sich dann vergaß.“

„Erzählen Sie mir bitte von dem letzten Abend, den Sie mit den Stellmachers verbrachten“, lenkte ich den Fokus auf den Vorabend des vermeintlichen Verbrechens. „Was war der Auslöser für den Streit Ihrer Gastgeber?“ „Wenn sich Manu und Adrian stritten, ging es größtenteils um die gemeinsame Tochter. Manu war der Meinung, dass ihr Adrian zu viel durchgehen ließ.“ „An diesem Abend ging es aber um Manus Vater“, widersprach Herr Offzarek. Frau Offzarek sah ihren Mann vorwurfsvoll an. Offenbar vertrat sie die Meinung, dass dies niemanden etwas anging. „Du irrst dich, Norbert!“ Und Norbert hielt die Füße still.

Kurz darauf verschwand Frau Offzarek in der Küche, um uns einen Kaffee zuzubereiten. „Das Verhältnis von Herrn Stellmacher zu seinem Schwiegervater ist wohl nicht das Beste?“, hakte ich nach, kaum dass wir allein waren. „Ich habe nicht die leiseste Ahnung, um was es da konkret ging, aber ich weiß, dass Adrian dem Alten nicht aufs Fell gucken konnte.“ „Es musste folglich einen gravierenden Vorfall gegeben haben, der möglicherweise bereits längere Zeit zurücklag“, überlegte ich. „Sorry, aber wenn sich Ihre Bekannten in Ihrem Beisein streiten, dann haben Sie doch bestimmt etwas mitbekommen.“

Herr Offzarek druckste herum. „Sie warf ihm mal wieder vor, dass er sie betrog.“ „Gab es einen konkreten Anlass für diese Behauptung?“ „Wenn Sie mich fragen, Herr Lessing, dann brauchte Manu keinen bestimmten Grund. Sie war übertrieben eifersüchtig. Ich glaube, sie sah in jeder Frau, die sich auch nur in Adrians Nähe aufhielt, eine potentielle Konkurrentin.“

Das aufschlussreiche Gespräch endete leider an dieser Stelle, weil Frau Offzarek mit dem Kaffee aus der Küche zurückkehrte. „Ich bewunderte gerade ihr Haus. Sie leben wirklich sehr idyllisch. So nah an der Stadt und doch so beschaulich.“ „Ja, wir fühlen uns auch sehr wohl hier“, behauptete sie. Meine Nackenhaare kräuselten sich. In Anbetracht des herrischen Burgfräuleins konnte ich mir dies allerdings nur sehr bedingt vorstellen.

„Könnten Sie sich vorstellen, dass Manuela Stellmacher die häusliche Gemeinschaft nur zu dem Zweck verließ, um ihrem Mann einen ordentlichen Denkzettel zu verpassen?“ Frau Offzarek brauchte keine Sekunde um über meine Frage nachzudenken. Ihre Antwort kam derart schnell und unmissverständlich, dass ich annehmen musste, sie habe meine Frage bereits erwartet. „Ein derartiges Verhalten würde nicht zu Manu passen. Sie würde ihre Tochter niemals allein zurücklassen.“ „Und doch hatte sie es in der Vergangenheit mehrfach getan“, belehrte ich sie. „Aber doch höchstens für einige Stunden“, relativierte die hagere Frau ihre eigene, gerade gemachte Aussage. Somit hatte sie die Behauptung des vermeintlichen Mörders bestätigt.

„Ich behaupte ja auch nicht, dass sich Frau Stellmacher aus eigenem Antrieb wochenlang verbirgt. Es könnte gut sein, dass ihr in der Zwischenzeit tatsächlich etwas Schreckliches widerfuhr. Vielleicht wird sie irgendwo gefangen gehalten und braucht dringend Hilfe“, malte ich ein düsteres Szenario. „Wenn Sie etwas wissen, müssen Sie mir das jetzt sagen!“ Norbert sah seine Frau verblüfft an. „Kann es sein, dass du mir etwas verschweigst?“ „Sag mal, spinnst du?“ Mein Schuss ins Blaue musste durchaus überzeugend gewesen sein. „Ich würde sagen, es ist besser, wenn Sie jetzt gehen, Herr Lessing“, forderte mich Frau Offzarek auf. Ich spürte, dass hier irgendetwas im Argen lag.

„Ich begleite Sie hinaus, Herr Lessing“, bemühte sich Herr Offzarek um eine gewisse Höflichkeit. „Meine Frau und Manu waren beste Freundinnen. Sie müssen verstehen, dass sie ihr Andenken bewahren möchte.“ „In der JVA Wolfenbüttel sitzt ein eventuell zu Unrecht verurteilter Vater, der sich nach seinem Kind sehnt. Das Andenken Frau Stellmachers mag für Ihre Frau sehr wichtig sein, für mich hat das Schicksal dieses Mannes oberste Priorität“, stellte ich klar. „Wenn Herr Stellmacher unschuldig ist, werde ich dies herausfinden und glauben Sie mir, Herr Offzarek, dabei ist es mir völlig schnuppe, wenn ich irgendwelche Befindlichkeiten ignorieren muss.“

Zu meiner Freude hatte sich Bea während des Wartens vorbildlich verhalten. Die Polster in meinem Wagen waren weder angefressen noch vollgesabbert. Wir machten also Fortschritte. Klar, dass auch ich mich daraufhin von meiner besten Seite zeigte. Bevor ich einstieg und die nächste Station auf meiner Liste abarbeitete, ging ich mit Bea ausgiebig Gassi. Als wir in Höhe des Gutshofs waren, fasste ich noch einmal für mich zusammen. Die Eheleute Stellmacher hatten also am Vorabend des vermeintlichen Mordes einen Streit. Offenbar litt Manuela Stellmacher unter übersteigerter Eifersucht. Sie hatte ihrem Ehemann vorgeworfen, sie zu betrügen. Mein Verdacht, die Vermisste könnte sich lediglich verstecken, um ihren Mann einen Denkzettel zu verpassen, löste bei Frau Offzarek Unmut aus.

Doch der eigentliche Grund für ihren Streit hatte nach Meinung von Herrn Offzarek mit dem Schwiegervater zu tun. Um was es dabei im Einzelnen ging, konnte oder wollte er mir nicht sagen. Nachdem, was ich von Christoph wusste, war der besagte Schwiegervater in der Wahl der Mittel, die er während der Ermittlungen gegen meinen Klienten einsetzte, nicht gerade zimperlich. Als besonders perfide empfand ich dabei, dass der alte Mann nicht einmal davor zurückschreckte, seine Enkelin gegen den eigenen Vater aufzuhetzen und für seine Zwecke zu instrumentalisieren. Ich musste unbedingt herausfinden, was hinter diesem Verhalten steckte. Dazu war ein Gespräch mit Rademeier unabdingbar.