Detektei Lessing

 

Himmelfahrt

 

-1-

 

„Morgen, Heiko, was willst du denn hier?“, begrüßte ihn der Pförtner hinter dem kugelsicheren Glas. „Dasselbe wie in jedem Jahr am 1. Mai“, entgegnete der Betriebsratsvorsitzende. „Ist denn der Fahnenmast wieder in Ordnung?“, erkundigte sich der Mann vom Werkschutz skeptisch. „Ihr wisst also mal wieder von nichts“; schlussfolgerte der Mechaniker, den alle nur Mücke nannten, weil er an einer Allergie gegen Insektenstiche litt.

„Na ja, das ist ja nichts Neues! Was ist, lässt du mich nun passieren?“ Horst Kreuzer drückte auf den Türöffner und informierte über Funk seinen Kollegen, der auf dem Betriebsgelände mit einem Hund auf Kontrollgang war. Dann trug er den Eingang des Mechanikers in das Dienstbuch ein und widmete sich wieder seiner Zeitung. Punkt 8 Uhr kehrte sein Kollege von der Runde zurück, um Horst Kreuzer in der Pförtnerloge abzulösen. Eine gute halbe Stunde war seit dem Erscheinen des Mechanikers vergangen. Während Klaus Schwarze inzwischen den Dienst an der Pforte übernahm, bereitete sich Horst Kreuzer auf seinen Kontrollgang über das Betriebsgelände vor.

„Muss Heiko die Flagge erst noch bügeln?“, fragte der schmächtige Mann mit dem schütteren Haar, „...oder ist der Seilzug doch noch nicht in Ordnung? „Seinem Reden nach schon, aber eventuell ist er ja vorher noch mal in die Werkstatt gegangen“, mutmaßte Horst Kreuzer. „Schon möglich.“ „Wenn er die Flagge nicht bald hisst, sehe ich nach ihm“, erklärte der stämmige Wachmann. „Mach das“, stimmte ihm der Schmächtige zu. „Ich melde mich bei dir, falls er das Betriebsgelände vorher verlässt.“ „Gut.“

Als Horst Kreuzer auch eine Viertelstunde nach Antritt seiner Runde noch nichts von dem Betriebsratsvorsitzenden gesehen oder gehört hatte, beschloss er, die Stahltreppe des Brauturmes hinaufzusteigen, um nach dem Vermissten zu suchen. Die feuchte Kühle der vergangenen Nacht waberte durch die Halle, lag auf den Stufen und dem Geländer, die ihn bis unter die Decke der Brauhalle und durch die geöffnete Luke auf den Turm hinaufführte.

Kreuzer schlussfolgerte, dass Mücke noch mit der Flagge beschäftigt sein musste. Bevor er die Stufen des Brauturmes emporstieg, warf er einen Blick nach oben, wurde aber so unglücklich von der Sonne geblendet, dass er nicht wirklich etwas sehen konnte. „Heiko!“, rief er daher hinauf. „Kommst du da oben alleine klar, oder brauchst du meine Hilfe?“ Der Werkschutzmann lauschte auf eine Antwort, doch über ihm blieb alles ruhig. Kreuzer überlegte, ob der Mechaniker möglicherweise doch noch in der Werkstatt sein konnte, fragte sich jedoch in derselben Sekunde, warum er Mücke dann nicht auf seiner Runde bemerkt hatte.

Der Uniformierte rief ein weiteres Mal, ohne eine Antwort zu erhalten, dann stieg er über die Stahlroste nach oben. Als er die Sonne im Rücken hatte, sah er ein weiters Mal empor und erschrak. Etwa drei Meter über ihm, in einer abwärts verlaufenden Stahlstrebe, klemmte der Körper des Mechanikers und rührte sich nicht mehr.

Kreuzer brauchte einen Moment, ehe er sich von dem Schock erholt hatte. „Heiko!“, stupste er ihn an, „…was ist mit dir?“ Der Mechaniker rührte sich jedoch nicht. Kreuzer tastete ihm den Hals ab, suchte nach dem Pulsschlag, ohne ihn zu fühlen. Er griff nach seinem Funkgerät, rief seinen Kollegen an und schilderte diesem, was geschehen war. Nur zehn Minuten später landete vor dem Brauhaus ein Rettungshubschrauber. Gleich darauf trafen Polizei und Krankenwagen ein.

 

„Der Mann ist tot“, stellte der Notarzt kopfschüttelnd fest. „Genickbruch.“ Kreuzer saß noch immer regungslos auf einer der Stufen, die außen an der Stahlkonstruktion Brauturmes entlang weiter nach oben führten. Er konnte nicht fassen, dass der Mann, den er schon seit so vielen Jahren kannte und mit dem er noch kurz zuvor gesprochen hatte, so abrupt aus dem Leben gerissen wurde. „Kann ich etwas für Sie tun?“, fragte der Notarzt. Horst Kreuzer schüttelte wortlos den Kopf, erhob sich und stieg schweren Schrittes den Brauturm hinab.

„Sie haben den Toten also gefunden?“, fasste Hauptkommissar Gunnar Kleinschmidt bedeutungsvoll zusammen. Kreuzer nickte seufzend. „Mein Kollege und ich haben uns gewundert, wieso Heiko so lange brauchte“, erklärte der Grauhaarige. „Wofür?“ „Na, heute ist doch der 1.Mai“, bekundete Schwarze, „…da wird oben am Turm doch immer die Flagge gehisst.“ „Ach deswegen war der arme Kerl dort oben“, begriff nun auch Kleinschmidt. Tim Sinner verdrehte die Augen. Der Assistent des Hauptkommissars hatte bereits im Wachbuch nachgesehen, wann Heiko Buchwald das Gelände betreten hatte.

„Der Mann hat also länger als üblich gebraucht, um die Flagge aufzuhängen?“, resümierte Kleinschmidt. „Ich nahm an, dass der Fahnenmast doch noch nicht wieder in Ordnung war“, erklärte Schwarze. „Wir wussten gar nicht, dass die Flagge wieder gehisst werden sollte“, ergänzte Kreuzer. „Wir werden wohl nicht umhinkommen, die Spurensicherung hinzuzuziehen“, überlegte der Hauptkommissar. „Auch wenn alles auf einen tragischen Unglücksfall hindeutet, soll man uns nicht vorwerfen können, nicht alle Eventualitäten in Erwägung gezogen zu haben.“ „Marlis wird sich freuen“, wähnte Sinner. „Soviel ich weiß, wollte sie sich zum heutigen Vatertag etwas ganz besonderes einfallen lassen. So oft fallen der 1. Mai und Himmelfahrt ja nicht auf einen Tag.“

Kleinschmidt sah seinen Assistenten verwundert an. „Sprechen wir von derselben Marlis, der Leiterin der Spurensicherung?“ „Ja, es ist kaum zu glauben, aber unsere Frau Knoop hat auch ein Privatleben.“ „Tja, wie dem auch sei. Ich befürchte, an einer Sicherung eventuell vorhandener Spuren führt kein Weg vorbei. „Verdammter Mist!“, ärgerte sich Kleinschmidt plötzlich. Was ist den das für eine Sauerei?“ Sinner musste sich ein Lachen verkneifen, als er sah, in was sein Chef gerade gegriffen hatte. „Ich würde sagen, Vogelscheiße. Na, wenn das kein Glück bringt.“ „Auf solches Glück kann ich verzichten“, brummte Kleinschmidt angefressen.

Noch während die Spurensicherung den Turm nach Hinweisen auf eine mögliche Unfallursache absuchte, wurde der Tote mit dem Leichenwagen in das Rechtsmedizinische Institut überführt. Nichts ließ auf etwas anderes als einen Unfall schließen und doch gab es da dieses unbestimmte Gefühl, welches Horst Kreuzer während der nächsten Tage nicht in den Schlaf finden ließ. Es gab im Grunde keinen Grund für sein Misstrauen und doch ließ ihn der Gedanke nicht mehr los, dass es sich doch um ein Verbrechen handeln könne.

Seit dem tragischen Tod des Mechanikers war annähernd eine Woche vergangen. Die Untersuchungen waren abgeschlossen und die Beerdigung hatte bereits stattgefunden, als Horst Kreuzer auf seinem Kontrollgang einen seltsamen Fund machte. Wie immer, wenn sich der rüstige Teilzeitrentner auf seiner ersten Runde befand, kontrollierte er auch an diesem Abend den Dachboden des Brauhauses. Im Grunde war es nichts Sensationelles, was er da zwischen den Rohren der Frischluftzufuhr fand. Allein der Ort, wo er das Kerzenwachs entdeckte, ließ ihn stutzig werden. Zunächst dachte er an die Wartungsfirma, die für die Klimaanlage zuständig war, doch im Wachbuch ließ sich kein entsprechender Eintrag finden. Er suchte weiter und fand schließlich eine leere Wasserflasche und einige Abfälle, die darauf hindeuteten, dass sich an dem besagten Ort jemand über einen längeren Zeitpunkt aufgehalten hatte.

Seine Vermutungen teilte er den Kollegen mit, die diese Mutmaßungen allerdings als Hirngespinste abtaten und sich obendrein sogar über ihn lustig machten. Horst Kreuzer ließ sich dennoch nicht entmutigen. Nach Dienstschluss fuhr er zur Polizei, um seine Beobachtungen zu melden.

„Herr Kreuzer“, empfing ihn Tim Sinner. „Wie geht es Ihnen? Haben Sie den Schock einigermaßen verdaut?“ „Danke“, entgegnete der Werkschutzmann. „Allmählich geht es wieder, wenngleich mich das Bild des Toten noch nicht so ganz loslässt.“ „Das ist ganz normal“, beruhigte ihn der Kommissar, „…für jemanden, der nicht tagtäglich mit dem Tod konfrontiert wird.“ „Sind Sie denn wirklich sicher, dass Heiko Buchwald auf Grund eines Unfalls verstarb?“ Tim Sinner sah den grauhaarigen Herrn fragend an. „Haben Sie einen Anlass daran zu zweifeln?“, hakte der Kommissar nach.

Kreuzer erzählte dem Kriminalbeamten von seinem Fund und von den Zweifeln, die ihn nicht loslassen wollten. „Wissen Sie, Herr Kommissar, der Heiko war so ein Hundertprozentiger. Der hat zweimal geschaut, wo er seinen Fuß hinsetzt. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass der einfach so stolpert oder ausrutscht. Nee, nee, da hat irgendjemand nachgeholfen.“ Tim Sinner seufzte. „Gesetzt den Fall, es gab da jemand, der Herrn Buchwald nach dem Leben trachtete, wie hätte der Unbekannte das Gelände unbemerkt verlassen sollen? Und warum hätte er den Brauturm für den Mord wählen sollen? Die Gefahr, dort oben gesehen zu werden, ist viel zu groß.“ Der Kommissar winkte ab. „Nein, nein, ich schätze, Sie verrennen sich da in eine fixe Idee.“ „Aber…“, ließ Kreuzer nicht locker. „Vielleicht können Sie noch einmal mit dem Herrn Hauptkommissar darüber sprechen?“ Tim Sinner versprach es, weil er den Wachmann loswerden wollte. Er glaubte nicht wirklich an die Möglichkeit eines Verbrechens, aber immerhin hielt er sein Wort und sprach mit Kleinschmidt über den Fund, den der alte Herr gemacht hatte.

„Wer weiß, wer sich dort oben ein paar nette Stunden gemacht hat“, grinste der Hauptkommissar zweideutig. „Soviel mir bekannt ist, arbeiten auch einige recht ansehnliche junge Damen in der Firma.“ „Und wenn wir uns trotzdem noch einmal vor Ort umsehen?“, ließ der junge Kommissar nicht locker. „Nur weil ein übereifriger Wachmann während seines Nachtdienstes zu viele Krimis liest, müssen Sie jetzt nicht die Pferde wild machen. Ich glaube nicht, dass der Betreiber der Brauerei glücklich über einen derartigen Wirbel in der Presse wäre. Ich sehe die Schlagzeilen schon vor mir: Mord im Braukessel! Sollte etwas vertuscht werden? Nein, nein, da lassen wir hübsch die Hände von. Der Tod dieses Mannes war ein bedauerlicher Unfall. So sieht es der Rechtsmediziner und so ist es nach den Untersuchungen der Spurensicherung zu werten.“

Sinner hatte verstanden. Er kannte seinen Chef lange genug, um zu wissen, wann es besser war, den Mund zu halten. Überdies stimmte er diesmal sogar mit ihm überein. „Abgesehen davon war der Mann überall beliebt“, fuhr Kleinschmidt fort. Die Familie ist angesehen, nichts, was auch nur den leisesten Verdacht auf einen gewaltsamen Tod aufkommen lässt“, fügte er kopfschüttelnd hinzu. „Lassen wir den Mann in Frieden ruhen und gönnen wir den Hinterbliebenen eine ungestörte Zeit der Trauer. Die Angehörigen haben es schwer genug.“

Auch wenn ein gewisses Unbehagen blieb, konnte sich Tim Sinner nicht den Argumenten seines Vorgesetzten verschließen. „Sie haben sicherlich Recht, Chef“, pflichtete er dem Hauptkommissar bei. „Mit Sicherheit!“, präzisierte der Mann mit dem breiten Schnauzer. „Über 30 Jahre Berufserfahrung lassen mich die Dinge realistisch sehen. Es wird sicher noch einige Zeit dauern, aber eines Tages werden auch Sie so weit sein.“

-2-

 

„Mein Name ist Buchwald, Gunda Buchwald“, stellte sich mir die schlanke Dame mit der modernen Kurzhaarfrisur vor. Ich schätzte sie auf Mitte Fünfzig. Ihr braungebrannter Teint ließ auf einen langen Urlaub unter südlicher Sonne oder auf regelmäßige Solariumbesuche schließen. Im Verlauf unseres Gespräches legte ich mich auf künstliche Bräune fest. Nach ihrer dunklen Kleidung zu urteilen, war sie in Trauer.

„Mein Mann ist vergangene Woche verstorben“, begann sie mir stockend zu erzählen. „Herzliches Beileid“, bekundete ich mein Mitgefühl. „Heiko soll einem Unfall zum Opfer gefallen sein“, fuhr sie fort. Aus ihren Worten schlussfolgerte ich, dass sie anderer Meinung war. „Warum glauben Sie nicht an einen Unfall?“, brachte ich meine Vermutung auf den Punkt.

„Heiko war in letzter Zeit so verändert. Er war sonst immer ein so ausgeglichener Mensch. Klar, hier und da hat er schon mal seine Macken gehabt, aber wer hat die nicht?“ „Worin äußerten sich diese Veränderungen?“, hakte ich nach. Die Frau im schwarzen Kostüm lehnte sich zurück, schlug ihre Beine übereinander und strich sich verlegen durch das blonde Haar. „Nun, Heiko machte seit ewigen Zeiten zweimal in der Woche mit seinen Kumpels Radtouren. Obwohl er schon über ein Vierteljahr nicht mehr dabei war, ließ er mich bis zu seinem Tode in dem Glauben, er wäre nach wie vor mit dem Rad unterwegs.“ „Wie erfuhren Sie davon?“, fragte ich interessiert. „Einer seiner Kumpel rief an und erkundigte sich nach seinem Befinden. Heiko hatte ihm etwas von einer Krankheit erzählt.“ „Sind Sie sicher, dass Ihr Mann gesund war?“ „Heiko war so munter wie ein Fisch im Wasser“, entgegnete die trauernde Witwe. Ich wäre kein Mann, wenn mir nicht sofort der Gedanke an eine andere Frau gekommen wäre.

„Zunächst dachte ich an einen Seitensprung“, nahm sie meine Gedanken auf. „Männer seines Alters suchen nicht selten nach körperlicher Bestätigung. Auch das Geld, welches nach und nach von unserem Bankkonto verschwand, ließ mich an irgendeine teure Affäre glauben.“ „Sie sprachen ihn darauf an?“, fiel ich ihr ins Wort. „Das tat ich“, entgegnete sie selbstbewusst. „Er bat, nein, er verlangte mein Vertrauen. Wenn ich mich nur noch ein wenig gedulden könnte, wäre ich begeistert, welch großartige Überraschung das Leben noch für uns zwei bereithielte.“ Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. „Genau dies waren seine Worte.“

„Und Sie haben keine Ahnung, was er damit sagen wollte?“, fragte ich verwundert. „Nicht die leiseste“, entgegnete sie verzweifelt. „Das klingt in der Tat alles sehr mysteriös.“ Ich rieb mir nachdenklich über das Kinn. „Halten Sie es für möglich, dass Ihr Mann erpresst wurde?“ „Das würde voraussetzen, dass Heiko irgendwann etwas Unrechtes getan hätte“, folgerte sie. „Sie kannten meinen Mann nicht, sonst wüssten Sie, wie absurd auch jeder Gedanke in diese Richtung wäre.“ Egal wie hoch ein Podest ist, auf das ein Andenken gehoben wird, es kann dennoch zu einem Mythos werden. Soll heißen, dass jemand noch lange nicht der sein muss, für den wir ihn halten, nur weil wir von ihm überzeugt sind. Obwohl ich mir einbilde, schon meines Berufes wegen, über eine recht gute Menschenkenntnis zu verfügen, bin auch ich schon einige Male mit einer vorgefassten Meinung hereingefallen.

„Nun, ich will das Andenken des Verstorbenen nicht schmälern“, versuchte ich meine potentielle Auftraggeberin auf mögliche bislang ungeahnte Seiten ihres Ehemannes vorzubereiten, „…aber in meiner langjährigen Berufserfahrung habe ich schon so manche Überraschung erlebt. Da gab es Menschen, die neben ihrem normalen Leben eine weitere, ganz andere Identität besaßen.“ Gunda Buchwald sah mich verstört an. „Der biedere Friseur, der nachts als Einbrecher unterwegs war, der General, der im Urlaub als Travestiekünstler durch Varietes tingelte oder die Hausfrau und Mutter, die, während ihre Kinder in der Schule sind, daheim Freier empfängt. Wir alle haben unsere dunkle Seite, nur trauen sich die Wenigsten, dieses zweite Gesicht auch auszuleben.“

Ich sah sie eindringlich an. „Sind Sie sich wirklich sicher, mehr über diese vermeidlich vorhandene Seite Ihres Mannes erfahren zu wollen?“ Gunda Buchwald zögerte keinen Augenblick mit ihrer Antwort. „Ich bin nicht so blauäugig, wie Sie vielleicht annehmen. Natürlich habe ich mir meine Gedanken gemacht und selbstverständlich habe ich dabei auch unangenehme Überraschungen einkalkuliert, doch die Qual, nicht zu wissen, was wirklich mit Heiko geschah, wiegt ungleich schwerer.“

„Die Polizei hat den Tod Ihres Mannes doch sicherlich genauestens untersucht“, vermutete ich. „Ist Ihnen der Name des ermittelnden Kommissars bekannt?“ „Ich meine, der Mann nannte sich Kleinschmidt“, entgegnete sie grüblerisch. Ich versuchte mein Bedenken zu verbergen. „Was sagte der Hauptkommissar zu Ihrer Vermutung?“ „Ich habe ihm nichts davon gesagt“, erwiderte die potentielle Auftraggeberin. „Aber das wäre doch bei einem Verdacht eigentlich das Naheliegendste gewesen“, wandte ich verwundert ein.

„Wenn die Polizei ermittelt, geschieht dies sicher nicht mit dem nötigen Feingefühl. Falls sich im Zuge dieser Nachforschungen herausstellen sollte, dass Heiko doch nicht so unschuldig war, kann ich sicher nicht mit Diskretion und Verschwiegenheit rechnen.“ „Wenn sich Ihr Mann strafbar gemacht hat, kann ich dies ebenso wenig unter den Tisch kehren“, relativierte ich. „Dessen bin ich mir bewusst“, entgegnete sie, „…aber darum geht es mir nicht. Ich möchte einfach nicht, dass Heikos Andenken in den Schmutz gezogen wird.“

Sie beugte sich unvermittelt nach vorn, fast bis an die Kante meines Schreibtisches und schlug mit der Faust auf die Tischplatte. „Finden Sie den Mörder meines Mannes, Herr Lessing!“ Neben der Trauer, die nach wie vor in ihren Augen lag, bemerkte ich auch deutlich die Entschlossenheit darin. Gerade in einer solchen Situation fällt es mir erfahrungsgemäß schwer, über Geld zu sprechen, aber letztendlich lebe ich davon. Gunda Buchwald akzeptierte die geforderte Taxe ohne Dementi und ich übernahm den Fall.

 

-3-

 

Noch am Nachmittag desselben Tages brachte mir meine Auftraggeberin die von mir erbetenen Unterlagen. Dazu gehörten neben dem Foto ihres Mannes auch eine Liste mit den Namen seiner Freunde und Kameraden. Wie ich feststellen musste, hatte sich der Verstorbene in den örtlichen Gemeinschaften stark engagiert. Der freiwilligen Feuerwehr und dem Gesangverein gehörte er schon seit vielen Jahren an. Genau wie seine Liebe zum Radsport, die ihn ebenfalls seit geraumer Zeit in seinen Bann zog.

Ich musste einen Weg finden, um möglichst diskret und ohne Verdacht zu erwecken, an Informationen zu gelangen. Dazu war es nötig, das Vertrauen seiner Freunde zu gewinnen. Anders als bei einer lebenden Zielperson, die ich lediglich observieren musste, um dessen Tagesablauf zu ermitteln, war ich hier auf Aussagen aus seinem Bekanntenkreis angewiesen.

Ich hatte bereits das Licht der Schreibtischlampe eingeschaltet, als Trude in mein Büro trat. „Brauchen Sie mich noch, Chef?“ Ich sah irritiert zur Uhr und konnte kaum glauben, dass es bereits kurz vor acht war. „Meine Güte Trude, es ist ja schon spät, ich dachte, Sie wären längst zu Hause. Natürlich können Sie Feierabend machen.“ „Na ja, Sie wissen ja, dass mich daheim niemand erwartet.“ „Wissen Sie was, Trude, ich mache hier Schluss und dann gehen wir beiden Hübschen jetzt schön Essen.“ „Wie, Sie und ich?“ „Aber klar, warum denn nicht?“ „Aber… aber, ich habe doch gar nicht das Richtige an.“ „Unsinn, Sie sind wie immer genau richtig gekleidet.“

Keine zehn Minuten später saßen wir im ehemaligen Straßenbahndepot ‚Neuer Weg' Ecke ‚Salzdahlumer Straße' und blätterten in der Speisekarte. Syrisch- Griechische Spezialitäten gab es hier. Nachdem das Restaurant vor einigen Jahren durch einen Brandsatz in Schutt und Asche gelegt worden war, hatte es den Besitzer gewechselt. Heute gehört das Rhodos zu meinen Lieblingsgaststätten.

Während sich Trude einen Grillteller bestellte, hätte ich mir den Blick in die Speisekarte sparen können. Letztlich entscheide ich mich doch immer wieder für Gyros überbacken. Es ist wie mit meinem Stetson. Andere Hüte sind auch schick, doch aufsetzen würde ich nur den einen. Und noch etwas ist hier so gut wie nirgendwo anders. Es ist die Suppe, die es vor jedem Essen gibt. Die allein ist schon eine Sünde wert.

Wenn sich Trude zuvor auch noch etwas zierte, so kehrte sich dieser Gemütszustand spätestens nach dem dritten Ouzo ins Gegenteil um. So ausgelassen und lustig hatte ich die Gute selten zuvor erlebt. „Jetzt, wo der Laden so gut läuft, könnten wir zwei Hübschen doch eigentlich über eine Gehaltserhöhung sprechen“, erklärte sie zwischen Suflaki Spieß und einem Stück Leber, welches sie sich abwechselnd mit einem ordentlichen Klecks Zaziki schmatzend in den Mund stopfte. Ich war mir nicht sicher, ob ich mich angesichts ihrer bei dieser Gelegenheit zu Tage gelegten Theatralik amüsieren oder im Hinblick des Hintergrundes ablehnend verhalten sollte.

„Ich weiß ganz genau, was ich wert bin“, erklärte sie selbstbewusst. Dass sich ihre Stimme dabei überschlug, merkte sie nicht. „Wenn es danach geht, Trude, sind Sie unbezahlbar.“ „Indem Sie mir Honig ums Maul schmieren, kochen Sie mich auch nicht weich.“ Ich überlegte noch, ob es günstiger für mich wäre, wenn ich noch einige Ouzos für sie bestellte, oder ihr mit ein paar Euro entgegenkam, als sich Trude quer über den Tisch beugte, um mir etwas ins Ohr zu flüstern.

„Da war doch diese Frau, deren Mann vor ein paar Tagen von irgend so einem Turm dieser Brauerei in Schöppenstedt gefallen war.“ Ich nickte bestätigend. „Sie wissen doch, dass ich in meinem ersten Leben als Putze gearbeitet habe.“ Ich nickte ein weiteres Mal. „Eine von meinen ehemaligen Kolleginnen arbeitet dort.“ Ich wurde hellhörig, schaute sie schief an. „Haben Sie etwa darüber gesprochen?“ „I wo! Ich weiß doch, dass ich darüber nicht quatschen darf.“ Sie legte den Finger über die Lippen. „Man sieht's mir nicht an, aber ich kann schweigen wie ein Grab.“ Für den Moment war ich erleichtert.

„Ihre Auftraggeberin arbeitet übrigens auch dort“, fügte sie an, während sie das letzte Fleischstück mit ihren Zähnen vom Spieß zog. „Trude verstand es vortrefflich, mich immer wieder neugierig zu machen. „Aber das wissen Sie ja sicher schon alles.“ Ich hasste es, wenn sie es so auf die Spitze trieb. „Was hat Ihnen Ihre Bekannte noch erzählt?“, hakte ich nach. „Och, nichts Besonderes. Wie war das doch gleich mit der Gehaltserhöhung?“ Ich schnippte mit dem Finger und bestellte ihr einen doppelten Ouzo. „Gunda arbeitet dort als Reinigungskraft. Seit ein paar Jahren allerdings nur noch halbtags.“ Das hatte Gunda Buchwald allerdings nicht erwähnt.

„Können Sie mir auch etwas erzählen, was ich noch nicht weiß?“ bluffte ich herausfordernd. „Ich durfte ja nichts über die Sache erzählen, aber ich könnte ein Treffen zwischen Ihnen und meiner Bekannten vereinbaren. Kerstin arbeitet zwar nicht direkt für die Niebels Brauerei, sondern für eine Fremdfirma, deren Angestellte für einen Subunternehmer arbeiten, aber die Gute hat ihre Ohren überall.“ Ich konnte mich eines spöttischen Grinsens nicht erwähren. „Davon bin ich überzeugt.“

Der Rest des Abends verlief äußerst harmonisch. Zunächst musste ich anschreiben lassen, weil ich nicht genügend Geld mithatte, um die Wahnsinnszeche zu zahlen. Dann hatte ich zu tun, um Trude ins Auto zu bekommen und schließlich hinterließ meine Putzsekretärin einen Teil ihres Abendessens auf der Rücksitzbank meines Wagens. Wenigstens hatte ich Trude von ihrer fixen Idee einer Gehaltserhöhung abgebracht.

 

„Hallo Chef“, trällerte Trude am nächsten Morgen, als hätte sie die Nacht in einer Wellnessoase geschlafen. „Sind Sie gut nach Hause gekommen?“, erkundigte sie sich fürsorglich. „ Ich hatte mich ja beim Ouzo zurückgehalten“, entgegnete ich zugegeben etwas unfair. „Och, wenn schon – denn schon“, grinste sie breit. „Na, wenn Sie so gut drauf sind, wird es Ihnen sicherlich nichts ausmachen, wenn Sie mir gleich mal einen Termin mit Ihrer Bekannten machen.“ „Hab ich schon von zuhause aus erledigt.“ Trude reichte mir einen Zettel mit einer Uhrzeit. „Übrigens habe ich mir das mit der Gehaltserhöhung noch mal überlegt.“ Ich stieß einen innerlichen Seufzer aus. Sie hatte es also doch nicht vergessen. „Fünfzig Cent pro Stunde würden fürs Erste reichen.“ Womit hatte ich das nur verdient. „Aber Sie wissen doch, Trude, die momentane wirtschaftliche Lage...“ „...würde sicherlich auch mehr hergeben“, fiel sie mir ins Wort, „...aber ich will Sie ja schließlich nicht in den Ruin treiben.“

„Die Reinigung meiner Rücksitzbank sollte unter diesen Umständen aber schon in Ihren Aufgabenbereich fallen“, konnte ich mir den kleinen Seitenhieb nicht verkneifen. Trude sah mich irritiert an. „Bevor ich zu der Verabredung mit – wie heißt die Dame?“ Ich sah auf den Zettel. „Kerstin Nagel, aha und wo findet das Treffen statt?“ „Ich dachte, bei ihr zu Hause wäre es Ihnen am liebsten. Sie weiß, dass ich für Sie arbeite und dass Sie wegen des Todes von Heiko Buchwald ermitteln.“ Ich sah Trude mürrisch an. Sie wusste sofort, was mir in dem Zusammenhang sauer aufstieß. „Keine Angst, Kerstin quatscht nicht.“ „Also schön, in Gottes Namen, ich werde diese Dame aufsuchen. Aber, wie gesagt, bevor ich dort hinfahre, sollten Sie die Überreste Ihres Grilltellers aus meinem Wagen entfernen.“

Trude schluckte peinlich berührt und ich hasste mich im nächsten Moment für meine zuweilen gefühllose Art. Gesagt war gesagt, auch wenn es mir im Grunde sofort Leid tat. Wortlos gingen wir auseinander. Trude verschwand in der Küche, wo sie einen Eimer mit Wasser füllte und ich setzte mich hinter meinen Schreibtisch, um mir nochmals die Unterlagen des Verstorbenen anzuschauen. Wie sollte ich etwas über ihn herausfinden, wenn ich keine Fragen stellen durfte? Ich musste verdeckt arbeiten, was bedeutete, dass ich mich nicht als Detektiv zu erkennen geben konnte. Doch wer spricht schon mit einem Wildfremden über einen verstorbenen Freund? Ich musste das Vertrauen der Leute gewinnen, aber wie?

Es war kurz vor zwei, als ich meinen Wagen auf der Suche nach der Schulenburger Straße 11 durch Remlingen lenkte. Kerstin Nagel sollte Trudes Beschreibung nach in einem Mehrfamilienhaus wohnen. Viel hatte sie mir nicht von ihrer Bekannten verraten. Ich wusste nur, dass sie verheiratet war und zwei bereits erwachsene Töchter hatte. Leider hatte ich mich ein wenig verspätet, als ich meinen Daumen auf den Klingeldrücker presste. Die Stimme, die kurz darauf über die Sprechanlage zu hören war, klang dennoch freundlich. „Kommen Sie herauf, Herr Lessing, zweiter Stock rechts.“

Kerstin Nagel war eine Frau von eher kleiner Statur, wobei sie jedoch nicht zierlich wirkte. Eine Frau aus dem Leben, die anpacken konnte und dennoch nicht unattraktiv war. Sie wartete bereits in der Wohnungstür, während ich noch über die letzten Stufen nach oben stakste. „Schön, dass Sie sich ein wenig Zeit für mich nehmen“, begrüßte ich sie. „Wann immer es einer guten Sache dient“, entgegnete sie mondän. „Das will ich meinen.“ Kerstin Nagel peilte argwöhnisch ins Treppenhaus. „Kommen Sie herein, hier haben die Wände Ohren.“

„Kann ich Ihnen etwas anbieten? Vielleicht einen Kaffee oder ein Bier?“ „Dann lieber einen Kaffee.“ „Ich mag Männer, die einen Kaffee bevorzugen“, lächelte sie verheißungsvoll. „Jetzt verstehe ich, weshalb sich Trude für einen Job in Ihrer Kanzlei entschieden hat.“ „Ich bin Detektiv“, erklärte ich beflissentlich. „Ja, ja, das weiß ich doch.“

„Äh, na ja, schön. Sie putzen also für eine Firma, die wiederum für die Niebels Brauerei arbeitet“, lenkte ich das Gespräch auf den Grund meines Besuchs. „Für Glatzer EDV“, präzisierte sie. „Da bekommen Sie sicher eine ganze Menge mit.“ „Darauf können Sie wetten. Den Heiko kannte ich besonders gut. Das war so ein ganz Lieber. Der hat mir mal was am Auto gemacht.“ „Ich wusste gar nicht, dass der Verstorbene auch Autos reparierte.“ „Heiko war überhaupt sehr hilfsbereit. Ein Jammer um ihn. Irgendwie trifft es eben immer die Verkehrten. Und Sie glauben wirklich, dass der Heiko nicht durch einen Unfall starb?“ „Könnte es denn jemanden geben, der nicht so gut auf den Herrn Buchwald zu sprechen war?“, knüpfte ich an.

Kerstin Nagel trank einen Schluck Kaffee und steckte sich eine Zigarette an. „Ach, entschuldigen Sie, auch eine?“ „Danke, ich will es mir abgewöhnen.“ „Das versuche ich schon seit ewigen Zeiten, aber da ist etwas in mir, das mich immer wieder daran hindert.“ „Kenn ich.“ „Ach, Sie sind so verständnisvoll. Mein Manfred hat leider so gar nichts mit Ihnen gemein. Ein typischer Bauarbeiter halt, ein grober Klotz und so ungemein eifersüchtig, ja, er kann sogar richtig jähzornig werden.“ Ich sah mich bereits auf der Flucht vor einem tobenden Ehemann. Flucht? Ich befand mich in der zweiten Etage! „Sie sind da so ganz anders“, trällerte sie und rückte mir ein Stückchen näher auf die Pelle.

„Gab es jemanden, der dem Verstorbenen weniger gut gesonnen war?“, versuchte ich das Gespräch fortzusetzen. „Ach so, na ja, ich will natürlich auch nichts Verkehrtes sagen...“ „Sie brauchen keine Angst zu haben. Es wird niemand erfahren, dass ich mit Ihnen gesprochen habe.“ „Also schön, es gibt da jemanden, mit dem sich der Heiko auf dem letzten Betriebsfest beinahe geprügelt hätte. Da ging's ganz schön zur Sache, das kann ich Ihnen sagen.“ Ich horchte auf. „Haben Sie zufällig mitbekommen, um was es bei dem Streit ging?“ „Es wird gemunkelt, dass die Gunda da was am Laufen hätte“, schmunzelte sie anstößig. „Wird auch getuschelt, wer der vermeintliche Liebhaber sein soll?“, hakte ich nach. „Einen Namen weiß ich nicht, aber es soll einer von ‚BSV' sein.“ „Was soll das sein, ein Betriebsportverein?“ Kerstin Nagel lachte herzlich auf. „I wo, das ist eine Firma aus dem Osten, die ebenfalls für die Niebels Brauerei arbeitet.“

„Können Sie in Ihrer Kanzlei nicht noch jemanden wie mich gebrauchen?“, unternahm Kerstin Nagel einen weiteren Versuch, mich für ihre Qualitäten zu begeistern. „Trude und ich waren mal ein unschlagbares Team.“ Wovon ich zweifelsohne überzeugt war. „Meine Detektei befindet sich noch im Aufbau, aber wenn irgendwann Bedarf bestehen sollte, werde ich gern auf Sie zurückkommen“, versprach ich, trank den Rest meines Kaffees aus und schnappte mir meinen Stetson. „Ich muss jetzt leider weiter. Es war nett, mit Ihnen zu plaudern, aber ich habe leider noch einen wichtigen Termin.“ „Och, das ist aber schade“, entgegnete sie enttäuscht. „Sagen Sie, kennen Sie eigentlich den Mann, der den Verstorbenen fand?“ „Na klar, das war doch der Horst“, Ist ihnen auch der Nachname des Herrn geläufig?“ „Nee, leider nicht.“ „Macht nichts, das lässt sich schon in Erfahrung bringen.“ Ich reichte ihr meine Visitenkarte. „Falls Sie noch etwas hören oder Ihnen noch etwas einfallen sollte, können Sie mich jederzeit...“

Ein schrilles Läuten ließ mich verstummen. Meine Gedanken jagten in die Richtung des jähzornigen Bauarbeiters. Konnte der eifersüchtige Ehemann nicht fünf Minuten später aufschlagen? „Moment“, schoss meine Gastgeberin in die Höhe, „...ich muss mal eben zur Tür.“ Auch ich erhob mich. Es ist von Vorteil, einer möglichen Eskalation aufrechten Hauptes entgegenzutreten. „Warum hast du denn den Schlüssel von innen stecken lassen?“, vernahm ich eine aufgebrachte Stimme. „Meine Güte, haste wohl noch nie vergessen, hä?“ Keine zehn Sekunden später stand mir eine proper junge Dame mit erstauntem Gesichtsausdruck gegenüber.

„Was ist'n das für'n Clown?“ Womit sie offensichtlich auf den Stetson anspielte, den ich mir zwischenzeitlich aufgesetzt hatte. „Du wirst dich jetzt auf der Stelle bei Herrn Lessing entschuldigen“, erregte sich Kerstin Nagel. „Pö! Was will der Typ überhaupt hier? Betrügst du den Papa mit so einem?“ „Jetzt reicht es aber, Claudia!“ Das fand ich auch. „Lassen Sie nur, die jungen Leute denken heutzutage eben nur an das eine. Es war nett, Sie kennen zu lernen. Wegen der Stelle werde ich mich rechtzeitig bei Ihnen melden.“

-4-

 

Froh darüber, in einem Stück davon gekommen zu sein, ließ ich es mir nicht nehmen, direkt nach Schöppenstedt zu fahren. Ich wollte mir ein Bild von den Gegebenheiten machen. Sonderlich viel hatte das Gespräch mit Kerstin Nagel schließlich nicht ergeben. Überdies war die Brauerei höchstens 15 Autominuten von Remlingen entfernt. Schon auf der Zufahrt zum Betrieb wunderte ich mich über die vielen Fahrzeuge, die links und rechts der Straße abgestellt waren. Ein Stück weiter erkannte ich den Grund dafür. Die beiden Parkplätze platzten buchstäblich aus allen Nähten. Ich war überrascht, wie viele Menschen hier in Lohn und Brot standen.

Das Glück war mir hold, direkt vor der Einfahrt wurde ein Plätzchen frei. Das merkwürdige Schild mit der Aufschrift ‚Frauenparkplatz' sah ich erst, als ich ausstieg. Egal, ich hatte ohnehin nicht vor, lange zu bleiben. Meinen Blick ganz auf den Ort des vermeintlichen Verbrechens fixiert, entging mir der Tanklastzug, der sich mit rasanter Geschwindigkeit der Betriebseinfahrt näherte. Ein ohrenbetäubendes Hupen riss mich abrupt aus meinen Gedanken. Er stoppte vor einem weiteren Tor, welches ich zuvor nicht bemerkt hatte und verließ mit einigen Papieren in der Hand seinen Truck. Im selben Moment öffnete sich das andere Tor und spuckte einen weiteren Tanklastzug aus. Meine Güte, hier war wirklich eine Menge Betrieb.

Mein Blick folgte dem Fahrer, der das Wachhäuschen ansteuerte und die Papiere abgab. Von meiner Auftraggeberin wusste ich, dass ihr Mann von einem der Wachleute gefunden wurde. Keine Frage, dass ich mich nur allzu gern mit ihm unterhalten hätte. Hinter einer der Sicherheitsglasscheibe entdeckte ich einen Mann in blauer Uniform. Ein zweiter stand in Höhe der Pforte und hielt seine Augen auf mich gerichtet. Schon mal derart ins Visier genommen, begab ich mich ebenfalls zur Anmeldung.

Nachdem der Brummifahrer abgefertigt war, stellte ich mich als Rittersporn vor und fragte nach Horst. Der Mann hinter der Scheibe sah mich mürrisch an. „Der Kollege Kreuzer ist heute nicht da.“ „Das ist aber schade. Wir kennen uns nämlich von früher. Ich hätte ihn gern mal besucht, aber ich weiß seine jetzige Adresse nicht. Vielleicht könnten Sie mir ja behilflich sein?“ „Ach so“, gab sich der ältere Herr mit dem lichten Haar versöhnlich.

Noch gab sich der Uniformierte zögerlich, sah sich um. Der zweite Mann hatte inzwischen das Wachlokal verlassen, was die Entscheidung des älteren Herrn zu begünstigen schien. Er blätterte schließlich in einem Buch und notierte eine Telefonnummer. „Ich weiß nicht, ob es dem Kollegen recht ist, wenn ich seine Adresse weitergebe. Vielleicht rufen sie ihn erst einmal an.“ „Das ist sehr weitsichtig von Ihnen“, lobte ich. „Ist etwas dagegen einzuwenden, wenn ich ein paar Fotos von dem Gelände schieße?“ „Wenn Sie dabei draußen bleiben, können Sie so viel fotografieren, wie Sie wollen“, entgegnete der Uniformierte. Ich bedankte mich und holte die Kamera aus meinem Wagen.

Mit dem aufgesetzten Teleobjektiv konnte ich jede einzelne Strebe des Eisenturms abfotografieren. Anhand der Aufnahmen wollte ich mir von dem Wachmann zeigen lassen, wo genau er den Toten gefunden hatte. Es wäre ohne Frage einfacher gewesen, bei Hauptkommissar Kleinschmidt aufzulaufen und ihn nach dem Fall zu fragen, doch dies verbot sich durch meine Zusage, in dem Fall ohne jegliches Aufsehen zu ermitteln. Natürlich hätte ich auch meine Freundin um Auskünfte bitten können, aber dann wäre ich meiner eigenen Maxime untreu geworden, Privates und Berufliches niemals miteinander zu verquicken.

Es kostete mich einiges an Überzeugungsarbeit, um Horst Kreuzer von der Notwendigkeit eines Gespräches zu überzeugen. Immerhin hatte ich mich als Mitarbeiter der Berufsgenossenschaft ausgegeben. Wie sollte ich ahnen, dass der Wachmann ebenso wenig an einen Unfall glaubte wie meine Auftraggeberin?

Horst Kreuzer wohnte in einer dieser Trabantensiedlungen am Rande von Salzgitter Lebenstedt. Kein kurzer Weg zur Arbeit, den der Mann da zurücklegen musste. Wie ich erst während unseres Gesprächs erfuhr, war er kürzlich in den wohlverdienten Ruhestand getreten und half nur noch gelegentlich aus, wenn einer der Kollegen krank oder im Urlaub war. „Und nun sagen Sie mir, weshalb Sie tatsächlich zu mir gekommen sind“, schlug mir der Wachmann das Bild des biederen Versicherungsermittlers unbarmherzig um die Ohren. „Für wen arbeiten Sie wirklich und was erhoffen Sie sich von diesem Gespräch?“ So viel Offenheit verschlug mir glatt die Sprache. „Also schön“, lenkte ich ein. „Da ich Ihnen allen Anschein nach nichts vormachen kann, will ich ehrlich sein. Mein Auftraggeber hegt ernste Zweifel, dass Heiko Buchwald an den Folgen eines Unfalls verstarb.“

„Arbeiten Sie für Gunda?“ Ich ließ seine Frage unbeantwortet. Er wusste auch so, dass er mit seiner Annahme ins Schwarze getroffen hatte. „Nun, dann gibt es etwas, was Ihre Auftraggeberin und ich gemeinsam haben.“ „Sie haben Herrn Buchwald gefunden. Hat er zu diesem Zeitpunkt noch gelebt?“ „Nein“, entgegnete Horst Kreuzer knapp. „Was lässt Sie zu der Annahme kommen, dass es kein Unfall war? Haben Sie jemanden gesehen oder gehört?“ „Weder noch und trotzdem bin ich mir sicher, dass irgendetwas nicht stimmt. Die Leute von der Spurensicherung müssen ein wichtiges Detail übersehen haben. Ich zermartere mir seit Tagen das Hirn, ohne darauf zu kommen. Der Heiko kannte den Brauturm wie kein Zweiter. Es gab keine Stufe, keine Strebe und keine Niete, die ihm fremd war. Der ist im Leben nicht einfach so ausgerutscht oder gestolpert. Ich weiß nicht, wie es der Mörder angestellt hat, aber ein Unfall war das sicher nicht.“

„Auf einer Betriebsfeier soll es einen Vorfall gegeben haben, bei dem zwischen Heiko Buchwald und einem Mitarbeiter einer Fremdfirma zu einem Streit gekommen sei. Angeblich soll der Grund für diese Auseinandersetzung in einer Affäre begründet liegen, die Frau Buchwald zu dem besagten Herrn unterhielt.“ Horst Kreuzer winkte ab. „Von dem Streit habe ich gehört, aber dass es dabei um Gunda ging, glaube ich nicht. Das ist eine ganz nette und stets freundliche Frau.“ Wenn ich auch seiner Meinung war, so schloss dies eine Affäre nicht aus.

„Ich würde gern nochmals an Ihre Worte von vorhin anknüpfen“, griff ich eine Äußerung auf, die mich stutzig gemacht hatte. „Was meinten Sie damit, als Sie sagten, dass die Spurensicherung ein wichtiges Detail übersehen haben muss?“ Der kräftige Mann holte tief Luft. „Ich weiß es ja selber nicht. Es war nichts Bestimmtes, mehr so ein beunruhigendes Gefühl. Es lässt sich nicht beschreiben, es war einfach da, als ich Heiko gefunden hatte - da oben. Ich hatte mich auf eine der Stufen gesetzt und wartete auf den Rettungswagen. Ich saß da, versuchte zu begreifen, was gerade geschehen war und hatte das Gefühl, von jemandem beobachtet zu werden.“

Horst Kreuzer starrte mich an, suchte nach den richtigen Worten, ohne sie jedoch zu finden. „Ich kann es nicht beschreiben, weil ich nichts und niemanden gesehen habe und doch weiß ich, dass da irgendetwas war.“ Ich hatte meinem Gegenüber aufmerksam zugehört. Der Mann war alles andere als senil und gewiss nicht weltfremd. Wenn er der Auffassung war, dass Heiko Buchwald getötet oder zumindest in den Tod getrieben worden war, dann musste etwas dran sein.

Ich kramte das Kuvert mit den Fotos heraus, die ich an der Brauerei gemacht hatte und bei einem Zwischenstopp in der Detektei von Trude ausdrucken ließ. „Können Sie mir anhand der Aufnahmen die Position zeigen, an der Sie den Toten vorfanden?“ Mein Gegenüber setzte seine Lesebrille auf und begutachtete ein Bild nach dem anderen. Schließlich deutete er mit dem Finger auf eines der Fotos. „Genau hier war es.“ Er tippte auf eine Stelle, an der sich zwei der Stahlstreben in einem 90 Grad Winkel trafen. „Regelrecht eingekeilt hing er da und rührte sich nicht mehr“, erklärte er, noch ganz unter dem Eindruck des Erlebten.

Ich fügte die Bilder wie ein Puzzle zusammen, sodass das fertige Bild den kompletten Turm ergab. Ganz oben befand sich der Fahnenmast, an dem der Tote die Flagge hissen wollte. „Ich frage mich, wie der Mann von der Außenseite des Turmes zur Innenseite hin abstürzen konnte. Angenommen, ihm wurde schwindelig, er verlor das Gleichgewicht, weil er stolperte, dann liegt es doch nahe, dass er dort fällt, wo er sich in diesem Moment aufhält. Also unterhalb des Fahnenmastes.“ Kreuzer pflichtete mir kopfnickend bei. „Der Mann hat Sport getrieben und war den Aussagen seiner Frau zufolge kerngesund“, fügte ich an. „Ich kann es mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass der Heiko aus heiterem Himmel Kreislaufprobleme bekam und rückwärts taumelnd über einen 1,2 Meter hohen Handlauf in die Tiefe stürzte“, resümierte Kreuzer.

Ich betrachtete die Fotos noch einmal intensiv. „Gibt es dort oben eine Möglichkeit, wo sich jemand verstecken kann? Zumindest so lange, bis Sie an dieser Person vorbeigegangen waren?“ Die Stirn des Wachmannes legte sich in tiefe Falten. „Im Kranhäuschen vielleicht“, erklärte er zögerlich, „…aber das befindet sich noch unterhalb der Hallendecke der Fabrikation und überdies ist es stets verschlossen.“ Er verzog das Gesicht. „Es wäre mir sicherlich aufgefallen, wenn jemand das Schloss geknackt hätte.“ Möglicherweise brauchte der Unbekannte das Schloss gar nicht zu knacken? Ja, vielleicht hatte sich der Mörder dort schon seit dem Vortag verborgen gehalten und wie eine Spinne in ihrem Netz nur auf das Opfer gelauert?

„Wer besitzt denn alles einen Schlüssel oder weiß zumindest, wie er an ihn herankommt?“ Kreuzer machte dicke Backen. „Da bin ich überfragt, aber ich würde vermuten, dass sich einer im Büro des Chefs befindet, ein zweiter sicherlich im Büro des stellvertretenden Betriebsleiters und ein weiterer im Büro des Werkstattmeisters. Aber diese Räume sind stets verschlossen.“ Es half nichts, ich musste mit jemandem sprechen, der mir genaue Auskunft über diese Dinge geben konnte. Bloße Mutmaßungen würden mich nicht weiterbringen.

„Bitte überlegen Sie noch einmal in aller Ruhe, ob Ihnen in der Zeit vor dem Auffinden des Toten irgendetwas ungewöhnlich vorkam. Das kann eine Kleinigkeit sein, etwas, dem Sie sonst keinerlei Bedeutung zumessen würden, welches aber im Hinblick auf das vermeintliche Verbrechen in einem ganz anderen Licht gesehen werden müsste.“

Ich reichte ihm meine Visitenkarte. „Sollte Ihnen irgendetwas einfallen, rufen Sie mich an. Und bitte, betrachten Sie unser Gespräch als vertraulich. Es sollte niemand wissen, dass ich in der Angelegenheit ermittle. Wir wollen doch keine schlafenden Hunde wecken.“ Horst Kreuzer versprach es und ich machte mich wieder auf den Weg.

 

-5-

 

Ich fuhr kurz zu meiner Detektei, um das Hemd zu wechseln und einige Kleinigkeiten zusammenzupacken, die ich für den Besuch bei meiner Auftraggeberin benötigte.

„Gut, dass Sie kommen, Chef. Bei der Überprüfung der Unterlagen, die uns durch Frau Buchwald hereingereicht wurden, habe ich festgestellt, dass etwa fünfzehntausend Euro verschwunden sind. Leider fehlen genau die Zahlungsbelege, die über den Verbleib des Betrages Auskunft geben könnten.“ „Das ist eine Menge Geld“, stellte ich fest. „Aber nicht genug, um deswegen einen Menschen zu töten“, verkündete Trude überzeugt. „Ach, wissen Sie, meine Liebe, es gab Menschen, die für weitaus weniger umgebracht wurden.“

Die fehlenden Belege hatten mich nicht sonderlich überrascht. Meine Auftraggeberin hatte genau dies bei ihrem letzten Besuch bereits angekündigt. Aus diesem Grund hatten wir uns für den späten Nachmittag in ihrem Haus verabredet. Ich vermutete, dass der Verstorbene die Papiere daheim versteckt hatte. Immerhin tat er in letzter Zeit vor seinem Tode sehr geheimnisvoll.

Ich begab mich also nach Wittmar in den Asseblick 17, wo die Familie ein repräsentatives Einfamilienhaus bewohnte. Es war die beschauliche Idylle einer typischen Neubausiedlung, die mich mit ihrem verträumten Charme in ihren Bann zog. Ein herrlicher Blick, zur Linken auf den Asse Höhenzug, zur Rechten in weiter Ferne die Harzberge. Wie konnte es irgendetwas geben, dass diese Beschaulichkeit trüben könnte?

Wie mit Gunda Buchwald abgesprochen, klingelte ich in der Rolle eines entfernten Verwandten an der Haustür. Meine Auftraggeberin wollte nicht, dass ihre erwachsene Tochter etwas von meinen Ermittlungen erfuhr. Die im schönen Baesweiler, nahe der niederländischen Grenze, lebende Anja Buchwald hatte sich Urlaub genommen, um in dieser schweren Zeit bei ihrer Mutter sein zu können.

Sie war es auch, die mir die Tür öffnete und mich aus ihren rehbraunen Augen musterte. „Sind Sie Leopold?“, fragte sie mich mit dem Ausdruck des Erstaunens. „Kannst Leo sagen“, entgegnete ich mit einem breiten Grinsen, während ich gleichzeitig mein Haupt entblößte und die junge Frau wie eine gute alte Bekannte in die Arme schloss. Die derart Überrumpelte stolperte dabei fast über ihre eigenen Füße.

„Leopold!“, rief Gunda Buchwald, als sie mich vor der Haustür erblickte. „Willst du unseren Gast nicht hereinbitten, Anja?“, fragte sie vorwurfsvoll. „Bislang kam ich noch nicht dazu“, rechtfertigte sich die Tochter meiner Auftraggeberin noch etwas außer Atem. „Schön, dass du endlich da bist“, empfing sie mich nicht weniger herzlich, als ich zuvor ihre Tochter begrüßte. „Komm herein. Wie war die Fahrt?“ Gunda Buchwald überraschte mich. Diese Frau hatte absolut nichts mehr mit der trauernden Witwe gemein, die mir in meinem Büro gegenüber saß. Sie wirkte geradezu erleichtert.

Wir hatten in der Küche Platz genommen. Während meine Auftraggeberin den Kaffee aufsetzte, sah ich mich den durchdringenden Blicken ihrer Tochter ausgesetzt. „Du kannst noch so genau hinschauen“, begegnete ich ihr gerade heraus, „…auf diese Weise wirst du sicher keine Antworten auf deine Fragen erhalten.“ „Anja!“, ermahnte Gunda Buchwald ihre Tochter. „Nee, nee, schon okay, aber wo ich herkomme, stellt man Fragen und bekommt Antworten.“

Anja zog ein beschämtes Gesicht. „Also frag.“ „Wieso hat mein Vater nie von dir gesprochen?“ Auf diese Frage war ich gefasst. „Ich bin das schwarze Schaf der Familie. Dein Vater und ich waren während unserer Jugend unzertrennlich. Leider habe ich damals etwas Dummes getan und ihn sehr enttäuscht. Er hat es mir nie verziehen. Abgesehen davon war ich viel im Ausland.“ Hinter ihrem hübschen Gesicht rumorte es angestrengt. Ich spürte, wie sehr sie mit ihrer Neugier kämpfte. „Weshalb bist du jetzt gekommen?“, erkundigte sie sich, die eigentliche Frage verkneifend und doch sehr direkt. „Ich will meinen Erbanteil einklagen“, schockierte ich sie.

Das Gesicht, mit dem sie daraufhin ihre Mutter anstarrte, sprach Bände. „Nein“, beruhigte ich sie, „…keine Angst. Es geht mir nicht um Geld. Ich bin hier, weil ich mit meinem Besuch bei euch vielleicht etwas von dem wieder gut machen kann, was ich damals verbockt habe.“ „So, jetzt ist es aber gut“, ermahnte Gunda ihre Tochter. „Genug mit der Fragerei. Ich bin froh, dass Leo für ein paar Tage bei uns ist.“ Ich war mir nicht sicher, ob ich meine Auftraggeberin gerade richtig verstanden hatte. „Es ist dir doch hoffentlich recht, wenn du im Gästezimmer schläfst.“ Ich fühlte mich überrumpelt. Das war nun wirklich nicht abgesprochen.

„Ich habe mich im Kronprinz einquartiert“, hielt ich entgegen. „Das kommt ja gar nicht in Frage“, wehrte Gunda Buchwald energisch ab. „Mutti“, fuhr Anja eindringlich dazwischen, „…was glaubst du wohl, wie sich die Nachbarn die Mäuler zerreißen würden, wenn so kurz nach Papas Tod ein für sie fremder Mann bei uns übernachtet.“

Dankbar für diese Vorlage, griff ich ihr Argument auf. „Anja hat Recht, es ist sicher besser, wenn ich im Hotel übernachte. Ich habe ohnehin schon dort eingecheckt.“ Der Blick, den meine Auftraggeberin ihrer Tochter zuwarf, war eindeutig. Noch war ich mir nicht im Klaren darüber, ob sie mir mit ihrem Angebot einen gewissen Spielraum bei der Suche nach den Unterlagen verschaffen wollte, aber eines wusste ich genau, diese Sache würde ich ganz sicher nicht auf sich beruhen lassen. Die Gelegenheit zur Suche ergab sich auch so schon kurze Zeit später. Anja hatte sich mit einer alten Freundin verabredet. „Ist es schlimm, wenn es etwas später wird?“, fragte sie ihre Mutter. „Unsinn, mach dir bitte keine Sorgen, Leopold ist doch bei mir. Wir haben uns so viel zu erzählen, dass ich gar nicht merken werde, dass du nicht da bist.“

Derart beruhigt machte sich Anja auf den Weg. „Sie ist eine ganz Liebe“, erklärte meine Auftraggeberin mit feuchten Augen. „Sie will mich nicht allein lassen, weil sie Angst um mich hat.“ „Und, ist ihre Angst berechtigt?“ „Mein Mann fehlt mir, keine Frage, aber das Leben muss weitergehen. Wichtig ist für mich nur, wie er ums Leben kam“ „Das kann ich gut verstehen“, entgegnete ich. „Wir sollten die Zeit allerdings nutzen. Hatte Ihr Mann ein Arbeitszimmer?“ Gunda Buchwald nickte. „Da habe ich schon alles ergebnislos abgesucht. Ich kenne die Orte, wo er seine Papiere aufbewahrte.“ „Sie werden überrascht sein, was es für ausgefallene Verstecke gibt. Ein wenig Fantasie reicht. Oftmals stoßen die Hinterbliebenen erst nach Jahren per Zufall auf die Hinterlassenschaft der Erblasser. Nicht selten landen solche Schatzkästchen aus Unwissenheit auf dem Sperrmüll.“ Meine Auftraggeberin sah mich entsetzt an. „Womöglich hat Heiko das Geld gar nicht ausgegeben, sondern zu Hause versteckt.“

Ich sah zunächst hinter den Bildern nach, die an den Wänden hingen. „Einen Tresor werden Sie bei uns nicht finden“, erklärte Gunda Buchwald. „Wir hatten ein gutes Auskommen und etwas auf der hohen Kante, aber das war's auch schon.“ Einen Safe fand ich tatsächlich nicht, weshalb ich mir als nächstes die typischen Orte vornahm, an denen ich schon so manches Mal fündig geworden war. Ganz oben in der Hitliste waren rückwärtige Bespannungen von Polstermöbel. Meistens war ein Reisverschluss eingearbeitet und sorgte so obendrein noch für einen gewissen Komfort.

Leider ergab auch dies nicht das erwünschte Ergebnis. Das nächste Versteck in der Beliebtheitshitliste waren Unterseiten von Schubladen. Ein Kuvert lässt sich dort ohne viel Aufheben ankleben. Doch auch diese Suche war nicht von Erfolg gekrönt. Wie immer in solchen Fällen, trat ich in die Mitte des Raumes und ließ meinen Blick über jedes Möbelstück und jedes Detail gleiten. Viele Möglichkeiten gab es nicht mehr. Den kleinen Sekretär neben dem Fenster hatte meine Auftraggeberin bereits durchsucht. Für ein Geheimfach war das Möbel nicht groß genug und im Grunde viel zu auffällig. Jeder, der nach etwas suchte, würde zunächst darin nachschauen. Ich biss mir nachdenklich auf die Lippen. Vielleicht lag gerade darin mein Denkfehler? Warum sollte sich der Verstorbene bei seiner Suche nach einem Versteck nicht genau diese Überlegung zu Nutze gemacht haben?

„Diese alten Sekretäre verfügen nicht selten über Geheimfächer“, ließ ich meinen Gedanken Worte folgen. „Der nicht“, wiegelte meine Auftraggeberin ab. „Das olle Ding ist noch von meiner Oma. „Ich wollte es schon lange in den Sperrmüll geben, aber Heiko war immer…“ Sie geriet ins Stocken. „…dagegen“, vollendete ich den Satz, während ich mir das zugegeben schon etwas zerschlissene Möbel genauer ansah.

Zunächst nahm ich die kleinen Schubfächer und Ablagen des Sekretärs genauer unter die Lupe. Da war nichts, was auf einen doppelten Boden oder ein verborgenes Fach hindeutete. Fast eine Viertelstunde war ich nun schon dabei, das Holz abzutasten und daran herum zu klopfen, als mir der Kollege Zufall wieder einmal zu Hilfe eilte.

Ich kniete gerade halbwegs unter dem Möbel und besah mir das gute Stück von unterwärts, als ich das Gleichgewicht verlor und zur Seite zu kippen drohte. Nur ein reflexartiger Griff an eines der gedrechselten Holzbeine bewahrte mich vor einer unglücklichen Figur. Zunächst bemerkte ich gar nicht, dass sich das Bein gedreht hatte, erst als ich mit dem Hinterkopf gegen eine Klappe stieß und nach oben schaute, war mir klar, dass meine Suche letztendlich erfolgreich war. Ich entnahm den Inhalt des darunter zum Vorschein gekommenen Faches und drehte das Bein des Sekretärs wieder in die Ausgangsposition. Woraufhin sich die Klappe wie von Geisterhand schloss. Ein erneutes Drehen öffnete sie wieder.

Gunda Buchwald staunte nicht schlecht, als ich mit einem kleinen Lederbeutel unter dem Sekretär hervorkam. „Das gibt es ja gar nicht!“ „Oh doch“, lächelte ich. Es gibt einen Schreibtisch im Museum des Wolfenbütteler Schlosses, dessen Geheimfach trotz intensiver Suche über Jahrzehnte unentdeckt blieb. Erst die neugierigen Hände eines Kindes entlockten ihm das Geheimnis.“

Während ich erzählte, öffnete ich den Knoten des Beutels und entleerte den Inhalt auf der Tischplatte. Es war nicht viel, was da zum Vorschein kam, doch es versetzte meine Auftraggeberin in ein noch größeres Erstaunen. „Was um Himmels Willen ist das für ein Ring?“, brachte sie ihre Verwunderung zum Ausdruck. Mich interessierte eher die kleine Papierrolle, die mittels eines Bandes zusammengehalten wurde.

 

 

 

 

-6-

 

„Das ist doch absoluter Blödsinn!“, wetterte Hauptkommissar Kleinschmidt. „Wir haben ja auch nichts anderes zu tun, als irgend so einem anonymen Hinweis nachzugehen!“ „Zum einen handelt es sich hier nicht um irgendeinen Hinweis, sondern um einen Anruf, den ich um 8:40 Uhr von einem Betriebstelefon der Brauerei erhielt“, erläuterte Staatsanwältin Miriam Herz. „Zum anderen verfügte die Anruferin ganz offensichtlich über detaillierte Kenntnisse.“

Kleinschmidt zuckte lapidar mit den Schultern. „Sie wissen genauso gut wie ich, dass Marlies Knoop auf dem Turm nicht die geringste Spur eines Kampfes gefunden hat. Nichts, was auf ein Gewaltverbrechen hindeutet. Auch der Obduktionsbericht vom Rechtsmedizinischen Institut weist mit keiner Silbe auf eine Fremdeinwirkung hin. Wenn dieser Mann einem Verbrechen zum Opfer fiel, werde ich mir den Bart abnehmen lassen.“ „Ich werde Sie beim Wort nehmen, Herr Kleinschmidt“, nagelte ihn die Staatsanwältin fest. „Ich bitte darum, aber wenn ich Recht behalte, werden Sie auf dem nächsten Polizeifest in Sträflingskleidung erscheinen. Miriam schürzte die Lippen. „Okay, die Wette gilt!“

Der Hauptkommissar sah seufzend auf den Zettel mit der Rufnummer. „Woher wissen Sie, dass es sich um einen Telefonanschluss in der Brauerei handelt?“ „Ich habe natürlich sofort zurückgerufen. Leider dauerte es eine Weile, bis sich jemand meldete.“ „Und?“ „Es handelt sich um einen im Allgemeinen nicht frei zugänglichen Anschluss, der sich in einem der noch unbesetzten Büroräume befindet. Ein gewisser Sasseburg nahm meinen Rückruf entgegen. Er konnte mir leider nicht sagen, wer zuvor von dem betreffenden Apparat aus telefoniert hatte.“ „Aber da können doch nicht allzu viele Leute in Frage kommen. Die Tatsache, dass es sich bei der Anruferin um eine Frau handelt, schränkt den Kreis der in Frage kommenden Personen immerhin schon einmal ein.“

„Der Umstand, dass sich die Anruferin nicht zu erkennen geben wollte, beunruhigt mich“, seufzte die Staatsanwältin. „Die Frau muss vor irgendetwas Angst haben.“ „Was genau hat sie am Telefon gesagt?“, fasste Kleinschmidt noch einmal nach. „Buchwald musste angeblich sterben, weil er einer großen Schweinerei auf die Spur gekommen war.“ Kleinschmidt strich sich durch den Bart. „Das ist allerdings mehr als vage. Eine solche Aussage kann alles bedeuten - oder nichts.“ „Genau deshalb sollten wir herausfinden, wer die Anruferin war. Ich habe mich bereits mit dem Betriebsleiter in Verbindung gesetzt. Ein Herr Rettich. Er erwartet uns in einer guten halben Stunde.“

 

„Dieser tragische Unfall hat uns alle sehr getroffen“, bekundete der Mann im weißen Kittel. „Ich leite den Betrieb erst seit einigen Monaten, kann also leider nicht sonderlich viel über Herrn Buchwald sagen, aber er war bei allen angesehen und als Kollege sehr geschätzt.“ „Nun, wie ich Ihnen bereits am Telefon sagte, habe ich heute Vormittag einen anonymen Hinweis erhalten, dass es sich eben nicht, wie bislang angenommen, um einen Unfall, sondern um Mord handelt.“ Der Betriebsleiter war entsetzt. „Das wäre ja furchtbar.“ „Ich brauche eine Liste aller Mitarbeiterinnen, die sich heute Vormittag auf dem Betriebsgelände aufgehalten haben“, erklärte der Hauptkommissar. „Um eine Abnahme der Fingerabdrücke an dem betreffenden Telefon kommen wir ebenso wenig herum.“ „Tja, tun Sie, was getan werden muss, damit diese furchtbare Angelegenheit so schnell wie möglich geklärt wird.“

Ein zurückhaltendes Klopfen unterbrach das Gespräch. „Kommen Sie herein, Frau Gratewohl.“ Der Betriebsleiter bot der jungen Frau einen Platz neben dem Hauptkommissar an. „Frau Gratewohl wird Ihnen während der Dauer Ihrer innerbetrieblichen Untersuchungen zur Verfügung stehen. Egal, was es ist, wenden Sie sich vertrauensvoll an Sie. Mich müssen Sie nun leider entschuldigen. Es gibt leider unaufschiebbare Arbeiten, denen ich mich nun nicht länger entziehen kann.“

Annie Gratewohl führte die Beamten in den hinteren Teil des Betriebsgeländes. „Ich habe gehört, dass die Absatzzahlen im vergangenen Geschäftsjahr nicht so berauschend waren“, führte Miriam an. Annie Gratewohl blieb ihr eine Antwort schuldig. Ein riesiger Kranwagen wurde durch die enge Straße zwischen Brauhaus und Lagerhalle 1 gelotst. Die Männer riefen sich pausenlos Kommandos zu. „Tut mir Leid, aber ich habe Sie nicht verstanden“, ließ die Staatsanwältin nicht locker. „Kein Grund zur Sorge“, beruhigte sie Frau Gratewohl. „Wir haben uns neue Absatzmärkte erschlossen. Es ist das große Plus der Niebels Brauerei, dass wir noch nach guter alter Art brauen. Qualität setzt sich letztendlich durch.“

Da der gesamte Bereich vor dem Brauturm wegen des Transports eines Braukessels gesperrt war, mussten Marlis Knoop von der Spurensicherung und Hauptkommissar Kleinschmidt mit ihren Dienstwagen um die Brauhalle herumgeleitet werden. Vor dem mehrgeschossigen Gebäude mit der Nummer 7 trafen sie schließlich wieder mit der Staatsanwältin und Annie Gratewohl vom Marketing aufeinander. Die smarte junge Frau mit dem freundlichen Lächeln schien bester Stimmung. „Obwohl die Zahl der Beschäftigten ständig wächst, haben wir hier ein tolles Betriebsklima“, erklärte sie rhetorisch. „Sie können es sich sicherlich nur schwer vorstellen, aber es ist, als wären Sie Teil einer riesigen Familie.“ „So etwas hört man in der heutigen Zeit allerdings nur noch äußerst selten“, bekundete Miriam Herz anerkennend.

„Von welchem Apparat wurde das Gespräch denn nun geführt?“, setzte Kleinschmidt dem Gespräch der beiden Frauen ein abruptes Ende. Annie Gratewohl ließ sich auch durch das brummige Auftreten des Hauptkommissars ihre ausgezeichnete Laune nicht verderben. „Folgen Sie mir bitte“, entgegnete sie umso freundlicher. „Das Gebäude ist erst vor kurzem fertig gestellt worden“, erklärte sie, während die kleine Gruppe mit dem Fahrstuhl in das oberste Stockwerk fuhr.

„Was für eine Aussicht von hier oben“, befand Marlis Knoop enthusiastisch. „Ich glaube, der Höhenzug da hinten ist der Fallstein.“ „So ist es“, pflichtete ihr Annie bei. Deswegen nennen wir das Gebäude auch ‚Fallsteinblick' „Wenn wir jetzt bitte den Apparat sehen könnten“, drängte Kleinschmidt aufs Tempo. Für ihn war das Ganze nicht mehr als eine lästige Pflichtübung, der er sich nur allzu gern entzogen hätte. „Anschließend brauche ich so schnell wie möglich die Liste mit den Frauen, die heute Morgen hier waren.“ „Entschuldigen Sie die Frage, Herr Hauptkommissar. Warum ist es so wichtig, wer heute Vormittag von diesem Apparat aus telefoniert hat?“ „Der Stand unserer Ermittlungen lässt derzeit leider keine Antwort zu.“ „Aber es geht doch immer noch um den schrecklichen Unfall, oder?“ „So ist es“, entgegnete Kleinschmidt.

„In diesem Büro müsste sich das Telefon befinden“, erklärte Annie Gratewohl, die Tür zum letzten Büro im Gang aufschlagend. Es war unverschlossen, wie der Hauptkommissar feststellte. Marlis Knoop öffnete ihren Instrumentenkoffer und machte sich sogleich an die Arbeit. „Ist es üblich, dass die leer stehenden Büros unverschlossen sind“, erkundigte sich Miriam Herz. „Ich denke schon“, entgegnete Annie Gratewohl unsicher. „Eigentlich gibt es hier ja noch nichts, was für irgendjemanden von Interesse sein könnte.“ Die Staatsanwältin nickte zustimmend.

„Und, gibt es verwertbare Abdrücke?“, erkundigte sich Kleinschmidt unterdessen bei der Leiterin der Spurensicherung. „Zumindest habe ich eine ganze Menge Prints. Über ihre Qualität kann ich allerdings noch nichts sagen.“ „Na schön, ich werde mich schon mal unter den Beschäftigten umhören. Wer sich hier und jetzt bei Ihnen seine Fingerabdrücke abnehmen lässt, braucht morgen nicht in der Dienststelle zu erscheinen.“ Mit diesen Worten wandte er sich an Annie Gratewohl. „Sie denken an die Liste?“ „Natürlich.“

Bis zum Nachmittag hatten sich ein rundes Dutzend Frauen in dem leer stehenden Büro eingefunden. Keine von ihnen zeigte sonderlich viel Verständnis für die Ermittlungsarbeit. Nicht eine konnte sich im Hinblick auf den Tod von Heiko Buchwald ein Verbrechen vorstellen. Ebenso wenig erkannte die Staatsanwältin unter keiner der Befragten die Stimme der anonymen Anruferin wieder.

-7-

 

„Sie kennen diesen Ring also nicht?“, fragte ich verdutzt nach. Gunda Buchwald besah sich das Schmuckstück von allen Seiten. „Nein, ein solcher Ring wäre mir sicher aufgefallen. Aber schauen Sie, Herr Lessing, da ist etwas eingraviert. Die Schrift ist leider so klein, dass ich sie nicht entziffern kann.“ Mir ging es nicht anders. Während meine Auftraggeberin eine Lupe besorgte, zog ich das Band ab, welches die Papierrolle zusammenhielt. Zu meiner Überraschung kamen die drei bislang fehlenden Abbuchungsbelege von jeweils 5.000 Euro zum Vorschein. Als Zahlungsempfänger war jedes Mal dieselbe Ziffernfolge eingetragen. Ich vermutete dahinter ein Bankschließfach. Über die angegebene Bankleitzahl war es leicht herauszufinden, um welches Institut es sich handelte.

„So, hiermit wird es gehen“, kehrte meine Auftraggeberin zuversichtlich zurück. „Meine Güte“, schimpfte sie, „...selbst mit der Lupe lässt sich die Schrift nur mühsam entziffern.“ Sie drehte den Ring hin und her, hielt ihn immer wieder ins Licht und reichte ihn schließlich entnervt an mich weiter. „Tut mir Leid, versuchen Sie Ihr Glück.“ „Das erste Wort könnte Horus heißen“, deutete ich die Buchstaben. „Bei dem zweiten bin ich mir nicht sicher.“ Ich schob ihr die Belege rüber. „Werfen Sie doch bitte mal einen Blick hierauf.“ Die Stirn meiner Auftraggeberin legte sich in Falten. „War das in der Papierrolle?“ „Richtig.“ „Da also sind die 15.000 Euro abgeblieben.“ „Kommt Ihnen die Zahlenkombination irgendwie bekannt vor?“ Gunda Buchwald dachte angestrengt nach. „Nein, tut mir Leid, vielleicht handelt es sich um ein Schließfach bei der Volksbank.“ „Volksbank?“, horchte ich auf. „Ja, wenn mich nicht alles täuscht, müsste dies die entsprechende Bankleitzahl sein.“ „Sehr schön, das würde die Sache vereinfachen.“

Nach einigen Fehlversuchen hatte ich schließlich das zweite im Ring eingravierte Wort entziffert. „Das müsste ‚Sokol' heißen“, entschied ich noch immer nicht so ganz überzeugt. „Schön und gut, aber was bedeuten diese Worte?“ „Sokol und Horus“, wiederholte ich, in der Hoffnung auf eine Eingebung. „Nie gehört“, gab ich schließlich klein bei. „Vielleicht sind es Namen?“, überlegte meine Auftraggeberin. Ich zuckte mit den Achseln. „Da hat uns Ihr Mann ein kniffliges Rätsel hinterlassen. Entsprach dies seiner Art?“ Die Frau neben mir schüttelte den Kopf. „Ganz und gar nicht. Heiko war eigentlich immer der bodenständige Typ.“ „Also gut, ich werde herausfinden, was es mit dem Ring und den Zahlungen auf sich hat. Bis dahin bitte zu niemandem ein Wort.“

 

Am Vormittag des folgenden Tages stattete ich der Wolfenbütteler Volksbank am Herzogtor einen Besuch ab. Veronika Paulus stand auf dem Namensschildchen, welches an der Brust der attraktiven Bankangestellten steckte.

„Können Sie mir sagen, ob dies eines Ihrer Bankschließfächer ist?“, fragte ich die freundlich lächelnde Dame in der Information. „Natürlich könnte ich es Ihnen sagen, aber ich darf es nicht. Das Bankgeheimnis, Sie verstehen?“ „Das können Sie in diesem Fall getrost vergessen.“ Ich legitimierte mich als Privatermittler und erklärte, dass der verstorbene Mann meiner Auftraggeberin zu Lebzeiten die Zahlungsanweisung vorgenommen hatte. „Leider ändert auch dies nichts an der Tatsache, dass ich nicht berechtigt bin, den Namen des Schließfachinhabers an Sie weiterzugeben.“ „Hören Sie, diese Information könnte möglicherweise eine wichtiges Indiz bei der Aufklärung eines Verbrechens sein“, ließ ich nicht locker. „Es tut mir ausgesprochen Leid, aber auch in diesem Fall ist ein richterlicher Beschluss unabdingbar.“

Ich konnte meine Begeisterung nur schwerlich verbergen. Was soll's, letztendlich blieb mir nichts, als mich zu fügen. Ich setzte meinen Stetson auf und riskierte einen letzten verzweifelten Blick. Als mir die Frau hinter dem Tresen zuzwinkerte, glaubte ich zunächst an ein nervöses Zucken, doch nach dem zweiten Zwinkern wusste ich Bescheid. Ich blinzelte zurück, bedankte mich für die Auskunft und verließ das Kreditinstitut.

Fast eine Stunde musste ich warten, ehe sie die Bank durch einen Nebeneingang verließ. War der Knast, den ich während der Wartezeit ständig in meinem Rückspiegel wähnte, als schlechtes Omen zu werten? Die Antwort auf diese Frage sollte noch eine Weile auf sich warten lassen. In diesem Augenblick interessierte mich eher die junge Frau, die sich ohne Hemmungen durch die geöffnete Wagentür meines Skodas auf den Beifahrersitz schwang.

„Kennen Sie das Eiscafe Martini, gegenüber dem Filmpalast?“ „Natürlich“, entgegnete ich geflissentlich. „Da schmeckt mir das Eis am besten.“ „Schön, dann fahren wir doch dorthin.“ Die Erwartung in mir brannte wie eine Wunderkerze. Der Ring an ihrer linken Hand deutete zumindest auf ein Eheversprechen hin. Diese Frau war sicher nicht auf ein Abenteuer aus. Noch ehe ich den Wagen in eine der engen Parkbuchten vor dem Kino rangierte, ließ sie durchblicken, dass sie mir etwas mitteilen wollte.

Der Stracciatellabecher , der so gigantisch war, dass ich daran vorbeisehen musste, um ihr in die Augen sehen zu können, war offensichtlich als eine Art Nervennahrung gedacht. „Was ich Ihnen jetzt anvertraue, muss unter uns bleiben. Ich würde meinen Job verlieren, wenn es herauskäme, dass ich...“ „Beruhigen Sie sich, unser Gespräch bleibt vertraulich. Was wollen Sie mir sagen?“ Bevor sie begann, verschwanden weitere drei gehäufte Löffel Eis zwischen ihren dezent geschminkten Lippen. Ich hatte schon oft erlebt, wie sich jemand Mut antrinken musste, aber dass man sich die nötige Courage auch anessen konnte, war mir neu. Nun denn, dachte ich, der Zweck heiligt die Mittel.

„Das Schließfach befindet sich in unserem Hause“, flüsterte sie schließlich. „Erst kürzlich musste ich den Kunden mit hinunter begleiten. Es ist mir heiß und kalt über den Rücken gelaufen“, erzählte sie angespannt. Ich verstand noch nicht so recht, was sie mir damit sagen wollte. „Ein ganz unheimlicher Typ. Ich sage Ihnen, mit dem stimmt etwas nicht.“ „Wie kommen Sie zu dieser Annahme?“, hakte ich nach. „Er stellte lauter merkwürdige Fragen. Ob ich mit meinem Leben glücklich sei und ob ich gläubige Christin sei. Das ist doch nicht normal.“

Die Bankangestellte sah mich bedrückt an. „Ich habe mit meinen Kolleginnen darüber gesprochen. Denen hatte er ähnliche Fragen gestellt.“ „Nein, das ist sicher nicht normal“, pflichtete ich ihr bei. „Das haben die anderen auch gesagt. Nur Manuela fand die Fragerei ganz okay. Ich habe mir natürlich so meine Gedanken gemacht und was soll ich sagen, mir ist aufgefallen, dass es meistens Manuela ist, die diesen Kunden zu den Schließfächern begleitet. Sie hat sich überhaupt sehr verändert. Vor einem halben Jahr war sie noch so lebhaft und immer gut drauf. Jetzt ist sie eher ruhig und introvertiert.“

Die Schilderung der Bankangestellten hatte mich aufhorchen lassen. Hatte sich der Verstorbene, den Angaben meiner Auftraggeberin zufolge, im letzten Jahr nicht auch sehr verändert? Mir klangen ihre Worte von einer großartigen Überraschung, die er ihr in Aussicht gestellt hatte, noch im Ohr. Was immer er auch damit gemeint hatte, er war dabei, sein Leben und das seiner Frau in irgendeiner Form zu verändern. Standen die Veränderungen von Heiko Buchwald und dieser Manuela im Zusammenhang oder war alles nur Zufall? Nun, in meinem Beruf glaubt man eher an Schicksal, weniger an Zufälle und schon gar nicht an den Messias.

Der Löffel der Bankangestellten kratzte mittlerweile über den Boden des Glasbechers. „Wie ist der Nachname Ihrer Kollegin?“ „Biedermann“, entgegnete sie wie aus der Pistole geschossen, „...aber Sie müssen mir versprechen, mich aus der Sache rauszulassen.“ „Natürlich“, seufzte ich, „...in einer Zeit der Tauben und Blinden bin ich froh, dass nicht auch noch alle stumm geworden sind.“

„Manuela wohnt übrigens in Klein Vahlberg. Die Straße weiß ich leider nicht.“ „Das macht nichts, die bekomme ich heraus“, entgegnete ich dankbar. „Kann ich Sie noch irgendwohin fahren?“ „Danke, das ist lieb von Ihnen, aber ich habe es nicht weit. Das Stück gehe ich lieber zu Fuß.“ „Ganz wie Sie wollen, Frau Paulus.“ Ich reichte ihr meine Visitenkarte. „Sollte Ihnen noch irgendetwas einfallen, können Sie mich jederzeit erreichen.“ „Jederzeit?“ Ich nickte und winkte dem Kellner, um zu bezahlen.

 

-8-

 

Seit der Sache mit dem Schlachter trafen Jogi und ich uns wieder häufiger. Bis zu einem folgenschweren Einsatz, bei dem ich meinen Partner verlor, arbeiteten mein Freund und Exkollege Jürgen Wurzer und ich als Hauptkommissare bei der Braunschweiger Mordkommission. Nachdem ich dieses Kapitel meines Lebens hinter mir gelassen hatte und mir als Detektiv die Brötchen verdiente, hatten wir uns etwas aus den Augen verloren.

„So allmählich glaube ich doch, dass es mit dir und Miriam noch etwas Ernsteres wird“, bekundete mein Freund. „Wie lange seid ihr jetzt schon zusammen?“ Ich musste meine kleinen grauen Zellen schon mächtig anstrengen, um zu einem halbwegs befriedigenden Ergebnis zu kommen. „Oje, das dauert schon viel zu lange. Sei froh, dass ich dich danach gefragt habe. Du bist im Stande und verpennst euren ersten Jahrestag. Glaub mir, so etwas ist tödlich. Ich arbeite bei der Mordkommission, da erlebt man so manches“, grinste Jogi. „Miriam ist nicht so, die sieht das locker“, entgegnete ich überzeugt. „Genau wie ich“, schob ich nach. „Na, wenn du meinst. Meine Erfahrung sagt etwas anderes.“ Ich winkte ab. „Du wirst schon sehen. Wenn mich nicht alles täuscht, sind wir im nächsten Monat ein Jahr zusammen.“ „Genauer hast du's nicht?“ „Also hör mal, ich bin doch kein wandelnder Kalender.“ „Na, da bin ich ja mal gespannt, wie die Sache ausgeht.“

Ich war mir sicher, dass Miriam keinen Wert auf ein solches Jubiläum legte. „Ich wette um ein Fünfgängemenü beim Italiener, dass sie es vergisst!“, brachte ich meine Überzeugung zum Ausdruck. Jogi hob seine Hand, um einzuschlagen. „Ich halte dagegen!“ Womit die Wette besiegelt war. Übrigens hat sich Isabelle neulich nach dir erkundigt“, fuhr mein Freund grinsend fort. „Ich hoffe, du hast ihr erzählt, ich sei nach Peru ausgewandert.“ „Was willst du? Es ist doch ganz nett von ihr, wenn Sie sich mal nach dir erkundigt.“ „Das kann sie gerne tun, wenn sie mir dabei mindestens einen Kilometer vom Leibe bleibt.“ „Nun hab dich mal nicht so, Leo. Immerhin wart ihr mal ein glückliches Paar.“ „Erinnere mich bloß nicht daran, das muss in einem anderen Leben gewesen sein.“

Isabelle hatte unsere Trennung lange Zeit nicht wahrhaben wollen und keine Gelegenheit ausgelassen, die alte Liebe wieder aufzufrischen. Dass ich keine Neuauflage dieser Beziehung wollte, spielte bei ihren Bemühungen eine eher untergeordnete Rolle. Nach einer Aussprache in einem Cafe auf dem Bohlweg hatte sie es letztendlich begriffen. „Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Isa hat sich neu orientiert“, beruhigte mich Jogi. „Übrigens ein Staatsanwalt. Du siehst also, wie ähnlich ihr euch im Grunde seid.“

„Lass gut sein, Jogi, erzähl mir lieber, wie es dem Schlachter geht.“ „Soviel ich weiß, musste er bereits einige Male in ein anderes Gefängnis verlegt werden“, entgegnete mein Gegenüber. „Es ist kaum zu glauben, wie weit der Arm der Rache reicht.“ „Man kann nur hoffen, dass die Familie in Ruhe gelassen wird“, hoffte ich. „Die arme Ruth hat es so schon schwer genug.“ „Immerhin hat sie einen Teil des Geldes zurückerhalten.“ „Und gleich weiter an die Bank gezahlt. Bis jetzt hat sie nur einen Teil meines Honorars gezahlt. Immerhin bekomme ich jede Woche ein Fleischpaket.“ „Dann sollten wir das Fünfgängemenü deiner verlorenen Wette lieber bei dir zu Hause einlösen.“ „Noch hast du nicht gewonnen!“

„Hast du im Augenblick eigentlich einen Fall am Laufen?“ Ich kniff ein Auge zusammen und sah meinen Freund aus dem anderen herausfordernd an. „Jetzt mal ehrlich, glaubst du, ich liege den ganzen Tag auf der faulen Haut und lasse Trude für mich ackern?“ „Nun sei doch nicht gleich so dünnhäutig, ich hab's ja nicht bös gemeint.“ Ich kratzte mich verdrossen an der Stirn. „Ach Jogi, das weiß ich doch. Mein aktueller Fall bereitet mir momentan etwas Kopfzerbrechen.“ „Vielleicht kann ich dir weiterhelfen?“ „Nichts gegen deine Scharfsinnigkeit, aber Trude ist schon dran.“

Mein Freund sah mich erwartungsvoll an. „Nun spucks schon aus, du hast mich neugierig gemacht?“ „Horus und Sokol, ich suche die Bedeutung dieser Namen, Begriffe oder was auch immer hinter dieser Buchstabenfolge stecken soll.“ „Wenn du dich für Sport interessieren würdest, wüsstest du zumindest, was Sokol bedeutet.“ Ich starrte Jogi ungläubig an. „Den Namen Sokol führen die tschechischen Turner in ihrem Logo.“ Ich musste unwillkürlich lachen. „Wenn du mir jetzt etwas von Radfahrern erzählt hättest, könnte ich es in Zusammenhang bringen, aber Turner passen nun überhaupt nicht zu meinem Fall.“ „Nimm es, wie es ist. Was das andere Wort bedeutet, kann ich dir übrigens auch nicht sagen.“ „Bist du sicher, dass es nichts mit den chinesischen Schwimmern zu tun hat?“, feixte ich. „Blödmann.“

...und nichts als die Wahrheit – Detektei Lessing – Band 8

 

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„Nun, Frau Melzer, wir konnten Ihre Fingerabdrücke eindeutig zuordnen. Nun geben Sie doch zu, gestern um 8:40 Uhr bei der Staatsanwältin angerufen zu haben“, drängte Hauptkommissar Kleinschmidt. „Aber so glauben Sie mir doch. Ich habe gar keine Veranlassung zu einem solchen Anruf.“ „Ich verspreche Ihnen, die Sache vertraulich zu behandeln“, ließ sich Kleinschmidt nicht beirren. Der Chefsekretärin riss allmählich der Geduldsfaden. „Ich sage es Ihnen nun zum letzten Mal: Ich war es nicht, die bei der Staatsanwältin anrief! Und nun lassen Sie mich endlich gehen.“ „Wie erklären Sie sich dann Ihre Fingerabdrücke auf dem Telefon?“ Agnes Melzer verdrehte genervt die Augen. „Was weiß ich, wahrscheinlich habe ich irgendwann von dem Apparat aus telefoniert. Genau dazu sind die Dinger nämlich da.“

Der Hauptkommissar ließ nicht locker. „Nach der Aussage der Reinigungskraft wurde das betreffende Telefon am selben Morgen gereinigt. Das bedeutet, dass die sichergestellten Fingerabdrücke in der Zeit von 8:30 Uhr bis zu unserem Eintreffen um 13:00 Uhr an das Gerät kamen.“ Der Hauptkommissar runzelte die Stirn. „Auch Ihre.“ „Also schön, ich habe kurz mit meiner Cousine telefoniert. Das wird ja noch erlaubt sein.“ „Warum denn nicht gleich so?“ „Weil meine Cousine in Kanada lebt. Solche Privatgespräche sind natürlich nicht erlaubt.“

Kleinschmidt kniff die Augen ein Stück weit zusammen und brummte sich etwas in den Bart. „Wir werden Ihre Angaben natürlich überprüfen.“ Agnes Melzer zuckte mit den Schultern. „Wird das nun an die große Glocke gehängt?“ „Gute Frau“, entgegnete der Hauptkommissar, „...glauben Sie mir, ich habe nun wirklich Wichtigeres zu tun, als hinter jeder Verfehlung nachzujagen. Wahrscheinlich waren Sie nicht die einzige, die dieses Telefon mit einem öffentlichen Fernsprecher verwechselt hat.“

Agnes Melzer folgten zwei weitere Damen, die in der fraglichen Zeit von dem fragwürdigen Angebot eines kostenlosen Telefonates Gebrauch gemacht hatten. „Alles menschlich“, lachte Miriam Herz, als ihr die Ermittler das Resultat ihrer Vernehmungen präsentierten. „So kommen wir nicht weiter, meine Herren. Wir müssen den Verbindungsnachweis der Telefongesellschaft abwarten.“ Kleinschmidt verzog die Nase. „Dann wird sich ja zeigen, welche der Damen uns aufs Glatteis führen will.“ „Was ist eigentlich mit den Reinigungskräften?“, erkundigte sich Tim Sinner. „Wer sagt uns denn, dass nicht eine von ihnen anrief?“ „Ein Gedanke, der zweifellos nicht von der Hand zu weisen ist“, stimmte Miriam Herz seinem Einwand zu. „Also schön“, räumte Kleinschmidt verdrossen ein. „Kümmern Sie sich darum, Sinner.“

„Ich habe mir noch einmal den Obduktionsbefund angesehen“, fuhr die Staatsanwältin zum Missfallen des Hauptkommissars fort. „Aber das haben wir doch nun schon mehr als einmal getan. Nichts, aber auch nicht das Geringste deutet darin auf ein Verbrechen hin.“ „So, tut mir Leid, wenn ich Ihnen da widersprechen muss. Ich bin da ganz anderer Meinung." Kommissar Sinner beobachtete mit Besorgnis, wie der Blutdruck im Gesicht seines Chefs immer weiter anstieg. Miriam Herz kramte unterdessen den Befund des Rechtsmediziners hervor und schlug eine zuvor gekennzeichnete Stelle auf.

„Sehen Sie hier, meine Herren. Es ist mir zunächst auch nicht aufgefallen, aber die Blessur an der Stirn des Opfers, die laut Mediziner nicht zwangsläufig von dem Sturz herrühren muss, könnte ebenso auf einen Schlag mit einem spitzen Gegenstand hindeuten.“ „...eine oberflächliche Wunde mit geringer Eindringtiefe, der mittels eines spitzen Gegenstandes unbekannter Herkunft ausgeführt wurde“, zitierte Kleinschmidt mürrisch. „Ja und, wer weiß wie alt dieser Kratzer war?“ „Lesen Sie“, forderte ihn die Staatsanwältin auf. „Moment, hier ist die Stelle. „...wurde dem Opfer mit hoher Wahrscheinlichkeit kurz vor dessen Tod zugefügt. Was sagen Sie nun?“, konnte sich Miriam Herz einer gewissen Genugtuung nicht erwähren.

Kleinschmidt schüttelte den Kopf. „Das ist doch Haarspalterei! Diese Blessur könnte von einem Schlag herrühren, ebenso gut könnte sich der Tote aber auch beim Hissen der Flagge verletzt haben. Ja, vielleicht war diese doch eher kleine Verletzung der Grund für sein Stolpern und den folgenden Sturz?“

Der Einwand des Hauptkommissars entbehrte nicht einer gewissen Logik, wie die Staatsanwältin einräumen musste und doch hielt sie nach wie vor an ihrer Überzeugung von einem Verbrechen fest. „Wir wissen nicht, was dort oben auf dem Turm geschehen ist, aber ist es nicht unser Job, eben genau dies zweifelsfrei herauszufinden?“, wandte sie sich an die Ermittler. „Wir haben ja sonst nichts Wichtigeres zu tun“, ereiferte sich Hauptkommissar Kleinschmidt bissig.

„Möglicherweise sollten wir nun auch die Aussage des Wachmannes in einem anderen Licht sehen“, gab Kommissar Sinner zu bedenken. „Kleinschmidts Blicke trafen ihn gänzlich unvorbereitet. „Von welcher Aussage sprechen Sie, Herr Sinner?“, horchte die Staatsanwältin auf.“ „Ach“, tat Kleinschmidt mürrisch ab, „...der wollte sich doch nur wichtig machen.“ Miriam Herz ließ sich nicht beirren und wandte sich wieder dem jungen Kommissar zu. „Was hat es mit dieser Aussage auf sich?“ „Na ja“, räusperte sich Sinner etwas verlegen, „...es klang schon etwas übertrieben. Angeblich hat dieser Horst Kreuzer auf dem Dachboden über dem Brauhaus einige Gegenstände gefunden, die seiner Meinung nach darauf hindeuten, dass sich dort jemand verborgen hielt.“ „Ja und, sind Sie dem Hinweis des Mannes nachgegangen?“ „Eigentlich nicht“, räumte Sinner ein. „Aber ich bitte Sie, Frau Staatsanwältin, der Mann war doch immer noch völlig von der Rolle.“ „Das kann ich nur bestätigen“, blies der Kommissar in dasselbe Horn. „Er hatte mir zuvor erklärt, dass ihn die Bilder des Toten selbst im Schlaf noch verfolgen.“ „Sie sehen also, Frau Staatsanwältin, dass der Aussage des Mannes nicht sonderlich viel Gewicht beizumessen ist.“

Miriam Herz konnte ihre Empörung nur schwerlich zurückhalten. Sie kochte innerlich. „Ich sehe hier eigentlich nur eines. Der Mann hat Ihre Arbeit gemacht und anstatt ihm dankbar zu sein, spielen Sie das Engagement dieses Wachmannes als Hirngespinst herunter. Ich erwarte, dass Sie dem Hinweis unverzüglich nachgehen.“ Während Sinner einige Male trocken schluckte, holte Kleinschmidt tief Luft, um dem Rüffel der Staatsanwältin mit allem Nachdruck entgegenzutreten. „Steht nicht demnächst auch Ihre Pensionierung an?“, kam ihm Miriam Herz zuvor. „Bis dahin sind es noch drei Jahre!“ „Dann sehen Sie zu, dass Sie den Fall bis dahin abgeschlossen haben.“

Die Gesichtsfarbe des Hauptkommissars glich inzwischen einer überreifen Tomate. Sinner machte sich ernsthafte Sorgen um seinen Chef, wagte aber nicht, auch nur ein einziges Wort zu sagen. Von dieser Seite kannte er die Staatsanwältin noch nicht und wäre ich dabei gewesen, wäre auch ich ins Grübeln gekommen. Noch bevor Kleinschmidt platzte, erhob sie sich und verließ das Büro. Die Türklinke noch in der Hand, drehte sie sich noch einmal um. „Ich möchte bis morgen Mittag Ihren Bericht auf meinem Schreibtisch haben.“ „Geht klar“, antwortete Sinner für seinen Chef, der entgegen seiner sonstigen Art noch immer um Worte rang.

 

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„Haben Sie etwas herausgefunden?“, erkundigte ich mich bei Trude. „Jede Menge!“, flötete meine eifrige Büroperle gut gelaunt. „Dass es sich bei dem Wort Sokol um einen Begriff handelt, den die tschechische Turnerriege in ihrem Logo führt, weiß ich inzwischen“, erklärte ich mit breiter Brust. Trude ließ sich nicht von mir beeindrucken. Stattdessen tippte sie mit flinken Fingern eine Internetadresse in die Tastatur ihres Computers.

„Sokol“, erläuterte sie, „...ist ein anderes Wort für Falke. In der slawischen Mythologie ist er eine Gestalt der Sonne und des Lichts. Seine scharfen Augen und sein großer Mut wurden von jeher bewundert und machten ihn zur Symbolfigur der Krieger. In russischen Mythen wird von Helden berichtet, die sich in Falken verwandelten, um schwierigste Aufgaben zu bewältigen. Dies ist wohl auch der Grund, weshalb sich Ihre Turnervereinigung Sokol nennt. Bei den Kelten zählte der Falke übrigens als Übermittler zwischen dieser und der Anderswelt . Was immer das heißen mag.“

Ich hatte mir inzwischen einen Stuhl herangezogen und ihre Erläuterungen aufmerksam verfolgt. „Sokol bedeutet also nichts anderes als Falke“, fasste ich nachdenklich zusammen. „Was um alles in der Welt könnte das mit meinem Fall zu tun haben?“ Trude zuckte mit den Schultern. „Tja, das dürfte dann wohl Ihr Part sein.“ Ich tat einen tiefen Seufzer. „Bleibt noch das Wort Horus. Konnten Sie dazu auch etwas herausfinden?“ „Aber ja, entgegnete Trude zu meiner Überraschung. „Auch dieses Wort führt uns in die Mythologie. Es ist der ägyptische Sonnengott Horus, der diesen Namen trägt.“ Ich staunte nicht schlecht, aber ich wusste ja um Trudes Qualitäten. „Manchmal wünschte ich, Sie würden unsere Brötchen verdienen.“ „Nee, nee, Chef, das machen Sie mal schön weiter“, lachte Trude. „Was hat Heiko Buchwald mit dem ägyptischen Sonnengott zu tun?“, fragte ich verwundert.

„Nach der ägyptischen Mythologie besiegte Horus die finsteren Mächte“, fuhr Trude fort. „Er hatte übrigens den Kopf eines Falken.“ „Womit wir wieder bei unseren gefiederten Freunden wären“, stellte ich kopfschüttelnd fest. „So ist es“, pflichtete mir meine Sekretärin bei. „Ich wäre nicht Trude Berlitz, wenn ich mir dazu nicht meine eigenen Gedanken gemacht hätte.“ „Zu welchen Resultaten sind Sie bei Ihren Überlegungen gekommen?“, fragte ich sie gespannt. „Es ist nur so eine Idee“, entgegnete Trude unsicher. „Vielleicht war der Verstorbene ja auch Mitglied einer Sekte?“

Ich dachte einen Moment lang darüber nach und fasste alle Anhaltspunkte zusammen. Da war der Ring des Toten, den nicht einmal seine Frau kannte, sowie die Zahlungsbelege, die ich im Geheimfach des Sekretärs entdeckte und nicht zuletzt die mysteriösen Äußerungen von einem anderen Leben, von denen Heiko Buchwald nur wenige Wochen vor seinem Tod sprach. Alles Indizien, die auf eine Mitgliedschaft in einer Sekte hindeuteten. Es war noch zu früh, um sich abschließend festzulegen, andere Eventualitäten durften nicht außer Acht gelassen werden, aber die Möglichkeit, dass eine Sekte im Spiel war, hatte meinen Puls erheblich schneller schlagen lassen. Ein gutes Zeichen, wie mich die Vergangenheit lehrte.

„Trude, ich könnte Sie mal wieder knutschen“, lobte ich die gute Seele. „Ist alles im Preis mit drin“, entgegnete sie über das ganze Gesicht strahlend. „Hauptsache, Sie vergessen die vereinbarte Gehaltserhöhung nicht.“ Allmählich wurde ich das Gefühl nicht mehr los, um dieses Zugeständnis nicht herumzukommen. „Schauen Sie doch mal im Internet nach, ob es in unserer Gegend so eine Sekte gibt.“ „Das habe ich längst getan“, erwiderte Trude verschnupft. „Bislang allerdings ohne Erfolg.“ „Bleiben Sie dran!“

Ein Blick zur Uhr verriet mir, dass es höchste Zeit für eine Observation von Manuela Biedermann war. Ich hoffte, dass sie mich weiter bringen würde. „Ich fahre inzwischen nach Klein Vahlberg. Falls Sie etwas herausfinden, erreichen Sie mich über mein Handy.“ Ein hartes Brötchen und etwas Rotwurst waren alles, was sich in der Küche fand. Wenigstens die Kanne mit Kaffee stand noch unberührt auf dem Tisch. Ich schnappte sie mir ebenso wie meinen Stetson und machte mich auf den Weg.

Vorbei am Falkenheim, direkt hinter Groß Denkte, tat sich der immer wieder überwältigende Blick über die Ebene auf, die sich zwischen Elm und Asse sanft wie ein Seidentuch ausbreitet und sich so zart an die Hänge der beiden Höhenzüge anschmiegt, dass er jeden Betrachter zum Verweilen einlädt. Ich dachte an einen meiner ersten Fälle als Privatermittler, bei dem ich auf einem Parkplatz unterhalb des Jugendcamps ein verdächtiges Paar observierte. Damals erhielt ich dort den Schlüssel zur Lösung des Falles. Heute führte mich mein Weg an das anderen Ende der Asse, durch das kleine, verträumt gelegene Mönchevahlberg, über das rumpelige Kopfsteinpflaster von Groß Vahlberg und schließlich weiter hinauf bis Klein Vahlberg.

Ein Dörfchen wie gemalt, genau wie die Wiesen und Felder, die es umgab. Ich konnte mich an eine militärische Einrichtung erinnern, mit der zu Zeiten des eisernen Vorhangs von einem Hügel oberhalb des Dorfes bis weit in den Osten gehorcht wurde. Alles längst Vergangenheit und doch noch so nah. Ganz in der Nähe fand ich auch die Adresse von Manuela Biedermann, die laut Telefonbuch am ‚Elmblick' wohnte. Nach den Erzählungen ihrer Kollegin war die Bankkauffrau Single und lebte sehr zurückgezogen. Offensichtlich hatte sie auf Grund einiger unschöner Erlebnisse in ihrer Vergangenheit ein eher gestörtes Verhältnis zu Männern.

Während meiner Fahrt nach Klein Vahlberg hatte ich mir hin und her überlegt, ob es klüger war, die Frau direkt auf den Mieter des Schließfaches anzusprechen oder sie vorab einige Zeit zu beobachten. Die Situation, welche sich bot, als ich an dem Haus vorbeifuhr, in dem sie zur Miete wohnte, entband mich jeder weiteren Denkübung. Eine junge Frau, auf welche die Beschreibung der Bankangestellten passte, stürmte eilig aus dem Haus und schwang sich in ihren Wagen. Ich konnte gerade noch wenden, als sie auch schon nach links in die Hauptsraße einbog und in Richtung des ehemaligen Schachtgeländes davonbrauste.

Ich heftete mich an ihre Fersen. Am Ortsausgang fuhr sie geradeaus und jagte über die Feldstraße nach Semmenstedt. Bei der Einmündung auf die Bundesstraße 79 beachtete sie nicht die Vorfahrt und fuhr ohne jede Rücksicht in die Leipziger Straße, von wo aus sie mit quietschenden Reifen in die Bundesstraße 82 in Richtung Hedeper abbog. Ich hatte Mühe, ihr zu folgen. Kurz vor dem ehemaligen Bahnhof bog sie nach links in einen holperigen Weg, der wenig später an einer Scheune vorbeiführte. Der dunkelgrüne Seat wurde endlich langsamer. Zur Rechten wurde ein kleines Wäldchen sichtbar, aus dem nach und nach mehrere Gebäude auftauchten. Genau hier bog sie wieder nach rechts ab.

Das Ziel ihrer wilden Hatz musste ganz in der Nähe sein. Für den Fall, dass sie mich bemerkt hatte, folgte ich ihr nicht weiter, fuhr an der Abfahrt vorbei und parkte meinen Wagen von einigen Bäumen und Strauchwerk verdeckt am Wegrand. Wie von mir vermutet, bog der Seat etwa zweihundert Meter weiter von dem mit Schlaglöchern durchsetzten Feldweg nach links ab und verschwand zwischen den Bäumen. Da ich mich an diesem Ort nicht auskannte, wusste ich nicht, wie es im hinteren Teil des Wäldchens aussah. Führte womöglich ein anderer Weg weiter? Ich konnte also nur auf meinen Instinkt vertrauen und der sagte mir, dass sich genau hier, weit genug abgelegen vom nächsten Ort, das Refugium einer Sekte befinden könnte.

Ich wartete einen Moment, ob die Bankangestellte zurückkehren würde, ehe ich mich mit meiner Kamera bewaffnet in die Büsche schlug. Vorsichtig und so geräuschlos wie möglich, bewegte ich mich auf die zuvor ausgemachten Häuser zu. Die dicht bewachsene Vegetation ließ nicht gerade darauf schließen, dass die Besitzer großen Wert auf ein gepflegtes Grundstück legten. Mir war's nur recht, boten mir die vielen Büsche und Sträucher doch ausreichend Deckung, um so nahe wie möglich an die Gebäude heranzukommen.

Nachdem ich mir von einigen dornigen Zweigen die ersten Kratzer im Gesicht geholt und meinen Stetson zum ich weiß nicht wievielten Male aus dem kniehohen Gras aufgehoben hatte, stand ich unvermittelt vor einem kleinen Teich. Ich umging den Weiher und schlich mich in gebückter Haltung näher an die nun deutlicher durch die Bäume sichtbar werdenden Gebäude an. Mein Blick fiel auf ein herrschaftliches Wohnhaus, welches von zwei weiteren Gebäuden flankiert wurde. Vor dem linken Bauwerk entdeckte ich den dunkelgrünen Seat, dem ich hierher gefolgt war. Ich atmete erleichtert auf. Mein Instinkt hatte mich also auch diesmal nicht in Stich gelassen.

Jetzt war äußerste Vorsicht geboten. Schon ein Fehltritt konnte mich verraten. Ein zufälliger Blick aus einem der Fenster würde mich entlarven. Jede auch noch so kleine Deckung ausnutzend, huschte ich durch das Unterholz, presste mich in das wild wuchernde Gras und versteckte mich unter meinem braunen Stetson, der wie eine Art Schutzschild über meinem Haupte schwebte.

Das Teleobjektiv meiner Kamera wie ein Fernglas nutzend, erkundete ich jedes der mir zugewandten Fenster und hoffte irgendetwas zu sehen, was mich weiterbringen konnte. Eine ganze Weile lag ich so da und spähte durch den Sucher meiner Kamera. So bemerkte ich erst durch das Licht, welches nach und nach die Fenster der Häuser erleuchtete, dass die Dämmerung eingesetzt hatte. Endlich, hinter einem der jetzt beleuchteten Fenster glaubte ich Manuela Biedermann zu erkennen. Sie schien sich mit einem Mann zu unterhalten. War dies möglicherweise der unbekannte Schließfachbesitzer?

Ich richtete mich etwas auf, um im geeigneten Moment ein Foto von dem Mann schießen zu können. Hierzu veränderte ich die Einstellung des Objektivs, richtete die Kamera aus, indem ich den Ellenbogen an dem Stamm eines Baumes anlehnte und ihn so wie ein Stativ nutzte. Nun hieß es Geduld bewahren und im richtigen Moment abzudrücken. Doch noch während ich mich auf das konzentrierte, was vor der Kameralinse geschah, verspürte ich einen heftigen Stoß in meinem Rücken.

Die linke Hand des Todes