Detektei Lessing

 

Der Hasardeur

 

-1-

Die Situation, die sich dem Betrachter bot, war nicht anders, als man sie in etlichen Jerry Cotton Filmen bereits gesehen hatte. In dem verrauchten Hinterzimmer der kleinen Eckkneipe saßen vier Männer um einen Tisch herum und spielten Karten. Um genau zu sein, sie pokerten. In der Mitte des Tisches befand sich ein Berg von Geldscheinen, der stetig wuchs. Vor jedem der Männer lagen weitere Scheine. Moment, das heißt, einer der Spieler legte in diesem Augenblick seinen letzten Schein in die Mitte. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn und sein Puls jagte.

„Ich will sehen!“, forderte er die übrigen Männer am Tisch auf, ihre Karten zu zeigen. Der, der links von ihm saß, gab seiner Aufforderung als Erster nach. „Zwei Pärchen“, entgegnete dieser hoffnungsfroh. Ein kaum merkliches Lächeln huschte über Detlefs Gesicht. Der Mann, der ihm gegenüber saß, legte seine Karten ebenfalls auf den Tisch. „Drei Damen“, grinste der Mann, den alle nur den Fischer nannten. Der nächste in der Runde legte drei Asse auf den Tisch. „Na Detlef, kannst du da mithalten?“, wandte sich der Mann, der als Pinto bekannt war, Detlef zu. „Full House!“, legte er sein Blatt euphorisch auf die Tischplatte und begann, den Geldhaufen aus der Mitte des Tisches mit beiden Händen in seine Richtung zu ziehen. Pintos flache Hand krachte dazwischen, hinderte ihn daran, den Pott weiter zu sich zu ziehen. „Moment“, grinste der Mann mit den drei Assen und legte gleichsam ein viertes hinzu. „Damit dürfte der Pott jawohl an mich gehen.“

„Das kann nicht sein!“, sprang Detlef auf. „Willst du damit sagen, ich hätte betrogen?“ Pinto blieb äußerlich gelassen. Der Fischer und der vierte Mann erhoben sich dagegen ruckartig von ihren Stühlen und zogen sich zurück. Sie kannten Pinto nur zu genau und wussten, dass er am gefährlichsten war, wenn er scheinbar gelassen blieb.“ „Nein, nein“, lenkte Detlef noch rechtzeitig ein, „…so war es ja nicht gemeint.“ „Dann solltest du dich in deiner Wortwahl besser kontrollieren.“

Die Spieler kehrten an ihre Plätze zurück. „Kannst du mir wenigstens noch ein paar Scheine leihen?“, bettelte Detlef den Gewinner an. „Bevor du deine Schulden bei mir nicht beglichen hast, bekommst du keinen roten Heller mehr!“ „Du kriegst deine Kohle schon“, versicherte Detlef. „Du weißt, was passiert, wenn du den Termin nicht einhältst?“ „Mach dir keine Sorgen, ich werde das Geld schon auftreiben.“ Pintos Stirn krauste sich. „Wenn sich einer von uns Sorgen machen sollte, bist du das! Und nun sieh zu, dass du Land gewinnst. Für dich ist heute Feierabend.“

Detlef sah ungläubig in die Runde. Das hämische Grinsen seiner Mitspieler traf ihm wie die geballte Faust eines Boxers mitten ins Gesicht. Mit demselben Wimpernschlag betraten zwei von Pintos Barkeepern den Raum. „Seid so gut und begleitet den Herrn nach draußen und erinnert ihn bei der Gelegenheit an seinen nächsten Zahlungstermin. Nur, damit er ihn nicht vergisst.“

Der Tag graute bereits, als Detlef nach Hause kam. Sein Hemd war zerrissen und vom eigenen Blut verschmiert. Seine Oberlippe war aufgeplatzt und am rechten Lid klaffte eine blutende Wunde. Pintos Folterknechte hatten ihn gehörig durch die Mangel gedreht.

„Um Himmels Willen, was ist passiert?“, empfing ihn Vanessa bereits auf dem Flur. „Es ist nichts!“, stieß Detlef sie zur Seite. „Gib es zu!“, schrie ihn Vanessa an, „…du warst wieder spielen!“ „Wenn schon, was geht's dich an?“, erwiderte Detlef, während er im Bad verschwand, um sich das Blut aus dem Gesicht zu waschen. „Wenn du unser Haushaltsgeld durchbringst, geht es mich sehr wohl etwas an“, hielt ihm Vanessa vor. „Wo sind die zweihundert Euro, die ich in der Kaffeedose versteckt hatte?“ „Weg“, entgegnete der Angesprochene knapp. „Weißt du eigentlich, was du da getan hast? Wovon sollen wir denn nun den Rest des Monats leben?“ Detlef zuckte teilnahmslos mit den Schultern.

Unbeeindruckt zog er das zerrissene Hemd aus und ließ es zu Boden fallen. „Kannst ja deine Mutter noch mal anpumpen.“ „Du weißt genau, dass sie es auch nicht so dicke hat“, entgegnete Vanessa ratlos. „Dann stell dich doch an die Straße, vielleicht kannst du da noch ein paar Scheine machen.“ „Du bist so ein erbärmliches Arschloch! Weiß der Geier, was mich geritten hat, mit dir die Ehe einzugehen.“ „Damals hattest du eben noch Geschmack.“ „Ich muss von allen guten Geistern verlassen gewesen sein.“

„Streitet ihr euch schon wieder?“, stand Gesa plötzlich in der Tür. „Ihr wart so laut, dass ich nicht mehr schlafen konnte“, beschwerte sich das Mädchen. „Tut mir Leid mein Schatz“, griff Vanessa nach der Hand ihrer Tochter und führte sie zurück ins Kinderzimmer. „Papa und Mama haben nur etwas laut gesprochen. Am besten legst du dich noch ein bisschen hin. Ich muss jetzt zur Arbeit. Papa weckt dich dann zur Schule.“ Gesa kuschelte sich ein und schlief weiter.

„Ich gehe jetzt“, wandte sich Vanessa ihrem Ehemann zu. „Denk bitte wenigstens daran, Gesa rechtzeitig zu wecken.“ „Ja, ja, verschwinde schon!“

Obwohl die junge Mutter kein gutes Gefühl hatte, als sie die Wohnungstür hinter sich ins Schloss zog, blieb ihr nichts anderes übrig, als auf Detlef zu vertrauen. Sie brauchte das Geld, welches sie durch die Putzstelle verdiente. Wenn es auch nicht viel war, trug es zumindest dazu bei, ihre kleine Familie am Leben zu erhalten. Da Detlef schon seit annähernd zwei Jahren arbeitslos war, bezog er nur noch Arbeitslosengeld 2. Die Tatsache, dass er dieses Geld auch noch in die Kneipe trug, ließ sie immer öfter über eine Trennung nachdenken.

Es war bereits nach 9 Uhr, als sie von der anstrengenden Arbeit im Rathaus nach Hause zurückkehrte. Ihr erster Gang führte sie ins Kinderzimmer. Es war so, wie sie es erahnt hatte. Gesa lag noch immer in ihrem Bett und schlief. Detlef hatte sie natürlich nicht geweckt, schlief wahrscheinlich noch seinen Rausch aus. Nachdem sie Gesa geweckt und für die Schule fertig gemacht hatte, ging Vanessa ins Schlafzimmer, um Detlef zur Rede zu stellen.

„Du hast Gesa nicht geweckt!“, warf sie ihm lauthals vor. „Was zum Teufel ist mit dir los, Detlef? Weshalb hast du dich so verändert? Du warst doch früher nicht so.“ „Meine Güte, musst du immer so herumzicken?“, stülpte er sich das Kissen über den Kopf. „Hör auf zu nerven und lass mich schlafen.“ „Nichts da!“, riss sie ihm wütend das Kissen weg. „Ich habe die Schnauze voll von dir und deiner Faulheit. Wenn du dir nicht endlich einen Job suchst, schmeiße ich dich raus.“ „Wozu soll ich mir einen Job suchen? Der reißt uns auch nicht aus der Scheiße. Ich stehe bei Pinto mit über zwanzig Mille in der Kreide.“

Vanessa traute ihren Ohren kaum. „Was redest du da?“ „Meine Güte, ist das so schwer zu verstehen? Ich hatte eine Pechsträhne. So etwas kommt vor. Irgendwann wird sich das Blatt auch wieder wenden. Du wirst sehen.“ „Glaubst du wirklich, was du da von dir gibst?“, fragte sich Vanessa, ob sich Detlef noch ein Fünkchen Verstand bewahrt hatte. „Wenn du weiterzockst, werde ich mich von dir trennen.“ „Versteh doch, alles, was ich brauche, sind tausend Euro und ein gutes Blatt. Ein einziges Mal nur muss das Glück auf meiner Seite sein und wir sind alle Sorgen los.“ Vanessa war schockiert. „Was zum Teufel ist an meinen Worten nicht zu verstehen?“ „Mach dir keine Sorgen mein Schatz, ich regele das.“

-2-

Detlef hatte sich mit viel Geschick und noch mehr Überredungskunst etwa 800 Euro zusammengeborgt. Das, was an den 1000 Euro fehlte, die er als Spieleinsatz benötigte, stammten aus dem Versteck, in dem Vanessa neuerdings ihr Haushaltsgeld aufhob und aus der Spardose seiner Tochter. „Du bekommst dein Geld mit Zinsen zurück, Kleines“, versprach Detlef, während er das Ersparte an sich nahm.

Er musste sich beeilen, die Wohnung zu verlassen, denn Mutter und Tochter mussten jeden Moment wieder heimkehren. Ihnen wollte er auf keinen Fall in die Arme laufen. Er spürte, dass ihre Not bereits in wenigen Stunden der Vergangenheit angehören würde. Wenn er das Geld nur dieses eine Mal noch investierte, würde er nicht nur all seine Schulden mit einem Schlag los sein, sondern noch genug Geld überbehalten, um mit Frau und Kind ganz groß auszugehen.

So hoffte er zumindest.

Als Detlef Stunden später nach Hause zurückkehrte, hatte sich keiner seiner Wünsche erfüllt. Er hatte das geliehene Geld auch dieses Mal verzockt. Da er Pinto somit nach wie vor über zwanzigtausend Euro schuldete, waren seine Schergen nicht gerade zimperlich mit ihm umgegangen, als er ihm gestehen musste, auch dieses Mal nicht zahlen zu können. Immerhin hatte er Detlef eine allerletzte Möglichkeit aufgezeigt, wie er seine Schulden bei ihm loswerden konnte. Eine Chance, die er nutzen musste, wenn er an seinem Leben hing.

Lautlos schob er den Schlüssel in das Schloss der Wohnungstür. Leise öffnete er sie, um sich vorsichtig in den dunklen Flur zu stehlen. Vanessa sollte ihn so nicht sehen. Immerhin schämte er sich, ihr so unter die Augen zu treten. Als das Licht anging, wusste er, dass seine Ankunft nicht unbemerkt geblieben war.

„Um Himmels Willen, wie siehst du denn aus?“, erschrak Vanessa bei aller Wut, die sie gegen Detlef hegte, als er ihr übel zugerichtet gegenüberstand. „Halb so schlimm“, verleugnete das Häufchen Elend seine Schmerzen. „Warte, ich helfe dir“, legte sie seinen Arm über ihre Schultern, um ihn zu stützen. Ein spitzer Schrei kündete von einer Verletzung seiner Hand.

Vanessa bugsierte ihren Mann ins Wohnzimmer, wo sie ihm auf das Sofa half. Während sie eine Schale mit warmem Wasser, ein Handtuch und den Verbandskasten holte, steckte sich Detlef eine Zigarette an. „Wie es aussieht, sind mindestens zwei Finger gebrochen“, stellte sie mit Entsetzen fest. „Pintos Leute haben Sie mir gebrochen. Falls ich nicht zahle, werden sie mir die Finger ganz abschneiden.“ „Wir müssen zur Polizei!“, flehte Vanessa ihn an. „Damit dürfen diese Verbrecher nicht durchkommen.“ „Du hast ja nicht die geringste Ahnung, mit was für Leuten ich es da zu tun habe. Selbst aus dem Knast heraus hätte Pinto noch so viel Macht, um uns das Leben zur Hölle zu machen.“

Es vergingen Minuten, in denen die Eheleute stumm nebeneinander kauerten. „Aber es muss doch eine Möglichkeit geben, aus der Sache herauskommen zu können“, suchte Vanessa verzweifelt nach einem Ausweg. „Den gibt es auch“, erwiderte Detlef eher zögerlich. „Pinto bot mir an, dass du die Schulden bei ihm abarbeiten könntest.“ Vanessa hoffte, ihren Mann missverstanden zu haben. „Ein Bild von dir fiel aus meiner Brieftasche. Er meinte, wenn du zu einigen seiner Geschäftspartner freundlich wärst, würde er mir einen Teil der Schulden erlassen.“

Vanessa brauchte einige Atemzüge, ehe sie begriff, was tatsächlich hinter diesem Angebot steckte. „Du hast ihm hoffentlich sofort klar gemacht, dass er sich seine Offerte sonst wohin stecken kann…“ Detlef sah betreten zu Boden. „Was ist schon dabei, wenn du ein wenig nett zu diesen Typen bist.“ „Das ist doch jetzt nicht dein Ernst?“, griff sich Vanessa ungläubig an den Kopf. „Das kann doch alles nur ein böser Traum sein. Du würdest mich tatsächlich verscherbeln, um deinen erbärmlichen Arsch zu retten!“ „Versteh doch, Schatz. Wenn du morgen Abend nicht bei Pinto aufkreuzt, werden mich seine Leute fertigmachen. Willst du das wirklich?“

Einen Moment lang dachte Vanessa über die Worte nach, die der Geistliche bei ihrer Hochzeit rezitierte: Wie in guten, so in schlechten Zeiten. Sie überlegte, ob dieses Versprechen jedes Opfer beinhaltete und ob Detlef dasselbe für sie oder die gemeinsame Tochter tun würde und mit einem Mal war sie sich ihrer Antwort sicher. „Du hast dir die Sache allein eingebrockt, du wirst sie auch allein auslöffeln.“ „Du willst mich im Stich lassen?“ Vanessa lachte kurz auf. „Du bist es, der uns im Stich gelassen hat.“

Noch während Gesa in der Schule und Detlef im Bett war, packte Vanessa das Notwendigste zusammen und verließ die gemeinsame Wohnung. Ein Anruf bei ihrer besten Freundin hatte sie in ihrem Entschluss bestärkt. Im Grunde hatte sie Detlef bereits vor langer Zeit verlassen. Nun vollzog sie diese Trennung nur noch räumlich. Für die nächsten Wochen konnten sie und Gesa bei Regina unterkommen. Später würde sich eine andere Wohnung finden, da war Vanessa zuversichtlich. Wichtig waren jetzt im Grunde nur die Sicherheit ihrer Tochter und die Entscheidung, ihr weiteres Leben ohne Detlef zu führen.

-3-

Detlef war am Ende. Er wusste, dass ihm nur noch ein Wunder helfen konnte, sein verpfuschtes Leben wieder in den Griff zu bekommen. Er musste sich ändern, am besten eine Therapie gegen seine Spielsucht beginnen und endlich wieder eine Arbeit finden. Er wusste dies und dennoch konnte es keinen Neuanfang geben, wenn er sein altes Leben nicht mit einem sauberen Schnitt hinter sich lassen konnte. Solange er bei Pinto in der Kreide stand, würde ihn diese Vergangenheit wie eine Zwangsjacke umklammern. Ebenso klar war ihm allerdings auch, dass ihm der Kroate keinen weiteren Zahlungsaufschub gewähren würde. Doch wie sollte er einen solchen Batzen Geld so schnell zusammenbringen?

Detlef zermarterte sich das Hirn, ohne auch nur den Ansatz einer Idee zu finden. Er steckte in der wohl kniffligsten Zwickmühle seines Lebens. Aufgewühlt trieb es ihn immer wieder ins Kinderzimmer, wo er auf das leere Bett seiner Tochter starrte, von dort aus ins Schlafzimmer und schließlich in die Küche. Er wusste nicht, wie oft er seine Wohnung mittlerweile auf diese Weise durchschritten hatte, als sein Blick plötzlich an dem Schlüssel haften blieb, der Vanessa sämtliche Türen im Rathaus öffnete, er wusste nur, dass dies die Chance sein musste, auf die er gehofft hatte.

Aus ihren Erzählungen wusste er, dass in der Stadtkasse stets eine nicht unerhebliche Menge Bargeld vorgehalten wurde. Einfach mit dem Schlüssel in das Rathaus spazieren, die Kohle abgreifen und wieder verschwinden, überlegte er triumphierend. Wer sollte ausgerechnet auf ihn kommen?

Mit dem Gefühl, endlich seine Schulden loszuwerden und noch mal ganz von vorn anfangen zu können, verließ er gegen Mitternacht die Wohnung. In der Plastiktüte, die er mit sich führte, trug er einen Schraubenzieher und eine Taschenlampe.

Er liebte die Wolfenbütteler Innenstadt mit ihren vielen liebevoll restaurierten Fachwerkhäusern. Detlef war hier aufgewachsen, kannte diese Stadt wie kaum ein anderer. Von hier fortzugehen, um irgendwoanders zu leben, kam nicht in Betracht.

Detlef überquerte die Breite Herzogstraße, ging am Café Schlüter vorbei über den Holzmarkt und die Reichsstraße bis er schließlich auf den Stadtmarkt gelangte. Froh darüber, von niemandem gesehen worden zu sein, der ihn kannte, kletterte er an der schmalen Holzbrücke, die den Stadtmarkt über die Oker bis zum Zimmerhof verbindet, auf der rechten Seite auf die Ufermauer, um so in den Hinterhof des Rathauses zu gelangen.

Er hatte Glück, denn obwohl es eine laue Sommernacht war, waren zu dieser Zeit kaum Menschen unterwegs. Die Fenster der angrenzenden Häuser lagen ebenso in der Dunkelheit wie das Flussbett der Oker. Selbst der Mond schien sich hinter einer dichten Wolkendecke zurückgezogen zu haben. Über die alte Natursteinmauer, die den Lauf der Oker seit Jahrhunderten bestimmte, kam er nun nicht mehr weiter. Ein Fächer aus geschmiedeten Eisenstäben versperrte ihm den weiteren Weg in den Hinterhof.

Detlef besann sich auf die Schlüssel, mit denen Vanessa zum Putzen in das Rathaus gelangte. Vielleicht befand sich unter ihnen einer, der das Tor öffnete. Nachdem er einige ausprobiert hatte, stieß er auf den richtigen. Bevor er durch das Tor verschwand, sah er sich sorgfältig um. Es war niemand zu sehen und außer dem Plätschern des langsam dahin fließenden Flusses war auch kein Laut zu vernehmen.

Im matten Schein seiner Taschenlampe machte er schließlich einen Hintereingang aus. Als er sich der Tür näherte, flutete plötzlich gleißendes Licht den Hof. Detlef blieb erschrocken stehen. Er war in den Erfassungs-bereich eines Bewegungsmelders geraten. Es dauerte einige Atemzüge, ehe er die Situation erfasst hatte. Einige Mülltonnen boten ihm zumindest für den Moment ausreichend Schutz vor den neugierigen Blicken eventuell aufmerksam gewordener Nachbarn.

Nachdem er sicher war, dass sich in den angrenzenden Fenstern nichts rührte, verließ er seine Deckung und schob sich mit dem Rücken an der Hauswand entlang, bis zur Tür vor. Bereits der erste Schlüssel passte. Die erste Etappe hatte er also erfolgreich hinter sich gebracht. War nur die Frage, wo sich die Stadtkasse befand und wie er dort hingelangte. Die auf jeder Etage beziehungsweise Ebene angebrachten Hinweisschilder erwiesen sich dabei als überaus hilfreich.

Unweit des Eingangs auf der Ebene eins erweckte das Bürgeramt mit der Wohngeldstelle sein Interesse. Detlef folgte dem Hauptflur, bis er zu seiner Linken auf die verschlossene Tür des Bürgeramtes stieß. Die Schlüssel an seinem Bund waren schnell durchprobiert. Als er feststellen musste, dass jedoch keiner passte, trat er wütend gegen die Tür. Von dem stillen Alarm, den er dadurch auslöste, bemerkte er nichts. Frustriert setzte er seinen Weg fort. Letztendlich war er hier, weil er an das große Geld wollte und das lag, Vanessas Erzählungen zufolge, in der Stadtkasse.

Um dort hinzugelangen gab es laut Hinweisschildern zwei Wege. Die eine Möglichkeit bot der Fahrstuhl, den er allerdings aus Angst darin steckenzubleiben nicht benutzen wollte. Blieb folglich der Weg über eines der Treppenhäuser. Die Stadtkasse befand sich den Schildern nach auf Ebene 3. Detlef benutzte das Haupttreppenhaus. Als er an der großen Ornamentglasscheibe vorbei nach oben stieg, erinnerte er sich an einen Rathausbesuch mit der Schulklasse. Schon damals beeindruckte ihn die kunstvolle Darstellung der Wolfenbütteler Innenstadt. Von den Hauptläufen der Oker umgeben, waren Hauptkirche, Rathaus und Schloss darin eingebettet.

Auf der dritten Ebene angekommen, wandte sich Detlef nach rechts. Er lief durch einen schmalen Flur dessen weiß getünchte Wände nur durch grau gestrichene Holzbalken und einigen Bildern unterbrochen wurden. Im Schein seiner Taschenlampe tauchte plötzlich zu seiner Rechten eine weitere Treppe auf. Er wusste von Vanessa, dass sie in die Dachgeschosswohnung hinauf führte. Sie wurde nur noch als Büro, Lager und Werkstatt des Hausmeisters genutzt. Der Mann selbst wohnte schon lange nicht mehr dort oben.

Detlef folgte dem Gang weiter, bis er schließlich vor der Tür von Zimmer 301 stand, dem Ort, an dem sich nach seinen Informationen die Stadtkasse befand. Bereits mit dem zweiten Schlüssel ließ sich die Tür öffnen. Als er den Tresor erblickte, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Wie konnte er nur so dumm gewesen sein? Er hätte wissen müssen, dass das Geld nicht in einer einfachen Kassette aufbewahrt werden würde. Er sah sich den Stahlschrank genauer an und stellte fest, dass es sich um ein älteres Model handelte. Gleichzeitig fiel ihm die Werkstatt in der ehemaligen Hausmeisterwohnung wieder ein. Vielleicht ließ sich der Stahlschrank mit einem Stemmeisen aufbrechen?

Nur einige Minuten später stand er mit einem Brecheisen vor dem Tresor und versuchte das Unmögliche. Doch schon nach wenigen Versuchen gab er frustriert auf. In seiner Wut nahm er sich schließlich den Schreibtisch vor. Alles, was er darin fand, waren einige Briefmarken und eine kleine Geldkassette, in der er einige Münzen fand. Er sah auf das Werkzeug in seiner Hand und entschloss sich die Tür zum Bürgeramt damit aufzubrechen. Er wusste von den Geldern, die dort für Ausweise und andere Formalien gezahlt wurden und er hoffte, wenigstens an diese zu gelangen.

Gerade als er über die Treppe nach unten schlich, vernahm er ein schepperndes Geräusch und kurz darauf die Stimmen zweier Männer. Er lauschte, konnte aber nicht verstehen, was sie sagten. Als er sich schließlich weiter wagte, sah er, wie die Männer Hals über Kopf mit zwei Reisetaschen in den Händen das Weite suchten. Für die Dauer eines Augenblicks nur sah er im diffusen Licht eine vermummte Gestalt. Noch war ihm nicht klar, dass er gerade Zeuge eines Einbruchs wurde und so tastete er sich bis an die Tür zum Bürgeramt vor. Als er die Aufbruchspuren sah, wurde im klar, dass ihm die Männer zuvorgekommen waren.

Als er sich abwenden wollte, um ebenfalls das Weite zu suchen, vernahm er jedoch ein leises Stöhnen. Im Schein seiner Taschenlampe entdeckte er schließlich einen Mann in Uniform. Keinen Polizisten, so viel war im sofort klar. Er kniete sich neben den Mann und fühlte seinen Puls. Als er sich einigermaßen beruhigt wieder aufrichtete, fiel sein Blick auf einen weiteren Mann, der hinter einem der Schreibtische lag. Plötzlich vernahm er laute Geräusche. Detlef schreckte auf. Panik machte sich in ihm breit.

Wenn man ihn hier antreffen würde, musste es so aussehen, als habe er die Männer vom Wachdienst niedergeschlagen. Während die Geräusche näher kamen, eilte Detlef hinaus auf den Flur. Bislang war niemand zu sehen und doch konnte es nur noch Sekunden dauern, bis man ihn hier entdecken würde. Da er sich sicher war, dass sich die Polizei oder wer sich auch immer vom Kulturamt aus näherte, rannte er nach links am Eingangsbereich vorbei in Richtung des Ratskellers. Er wusste, dass es dort eine Verbindung vom Rathaus zur Gaststätte gab. Seine Schlüssel passten jedoch nicht. Er erinnerte sich an eine weitere Verbindungstür von der Vanessa erzählt hatte, doch dazu musste er dorthin, wo sich die öffentlichen Toiletten befanden.

Ohne lange nachzudenken, hastete er zum ehemaligen Haupteingang mit der Ratswaage. Das Blaulichtgewitter mehrerer Streifenwagen drang durch die Fenster und erhellte die Eingangshalle. Vor der Tür standen bereits Polizisten, denen allem Anschein nach jeden Moment die Tür aufgeschlossen würde. Er musste seinen Plan somit aufgeben. Zu groß war die Gefahr, ihnen beim Durchqueren der Halle in die Arme zu laufen. Was blieb, war der Weg zurück und über die Treppe nach oben. Vielleicht konnte er sich dort irgendwo verstecken und in Ruhe abwarten, bis die Luft wieder rein war?

Detlef befand sich auf der zweiten Ebene, als er fast am Ende des Flures plötzlich vor dem Amtszimmer des Bürgermeisters stand. Er wusste, dass dieses Büro zu denen gehörte, die Vanessa reinigte. Folglich musste einer der Schlüssel an ihrem Bund passen. Nachdem er sich Zutritt verschafft hatte, suchte er im Lichtkegel seiner Taschenlampe nach einem geeigneten Versteck. Er wunderte sich, weil der Raum erheblich kleiner war als von ihm erwartet. An ein geeignetes Versteck war nicht zu denken. Dafür entdeckte er hinter dem Glas einer Vitrine das goldene Buch der Stadt.

Detlef nahm es als Wink des Schicksals. Wenn es hier schon kein Geld zu holen gab, würde sich dieses Buch sicherlich versilbern lassen. Da die Vitrine verschlossen war, wollte er sie kurz entschlossen aufbrechen, musste allerdings feststellen, dass er das Stemmeisen gar nicht mehr bei sich hatte. Im nächsten Augenblick fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Er hatte es im Bürgeramt zur Seite gelegt, als er sich über den am Boden liegenden Wachmann beugte. Nun stand ihm also nur noch der Schraubenzieher zur Verfügung. Doch angesichts des einfachen Schlosses, was es zu knacken galt, stellte dies kein Problem dar.

Er nahm das in braunem Leder gebundene Buch aus der Vitrine, steckte es in seinen Rucksack und verließ das Amtszimmer. Die nächste Tür führte ihn in den kleinen Konferenzraum. Ein Versteck für ihn ließ sich darin allerdings auch nicht finden und so begab er sich zurück ins Treppenhaus. Er erinnerte sich an die ehemalige Hausmeisterwohnung und fasste den Entschluss, es dort zu versuchen. Doch kaum, dass er die vierte Ebene erreicht hatte, vernahm er Schritte, die sich von rechts näherten. Da nun auch von unten schnell näher kommende Geräusche zu hören waren, blieb ihm nur der Weg nach links.

Es galt keine Zeit zu verlieren. Wer auch immer hinter ihm den Gang entlang kam, war ihm dicht auf den Fersen. Detlef versuchte schnell, und dabei möglichst leise, dem nach rechts abknickenden Gang zu folgen. Zu seinem Entsetzen passte keiner seiner Schlüssel auch nur zu einem der Büros. Vanessa hatte ihm von einem Einbruch erzählt, der etwa zwei Jahre zurücklag. Damals waren die Einbrecher über die Brandschutztreppe an der Herrentoilette eingestiegen. Vielleicht konnte er diesen Weg zur Flucht nutzen? Als er dort anlangte, musste er jedoch feststellen, dass ihm diese Möglichkeit durch eine neu installierte Alarmanlage versperrt war.

Als letzte Chance, unentdeckt zu bleiben, bot sich eine offene Teeküche, an deren Dachschräge er eine kleine Luke entdeckte, die in den Drempel führte. Der durch Leichtbauwände abgeteilte Stauraum konnte seine Rettung sein.

Detlef krabbelte hinein und schloss hinter sich die Klappe. Dies tat er so, dass er einen vor dem Türchen stehenden Mülleimer so gut es eben ging wieder davor zog. Falls doch jemand auf die Idee kommen sollte, einen Blick in den Drempel zu werfen, musste er zumindest um eine der nächsten Ecken kriechen. Der zur Verfügung stehende Platz war minimal und die Staubpartikel der Mineraldämmwolle, die zwischen den Sparren verbaut war, machten seiner Nase gehörig zu schaffen. Jetzt nur nicht niesen, dann war alles vorbei.

Die Geräusche kamen näher. Er vernahm Stimmen, Schritte, das Klappen von Türen. Die entscheidende Frage war, ob man das Rathaus routinemäßig absuchte, oder ob er auf seiner Flucht durch die Flure gesehen worden war. Sollte letzteres zutreffen, war es lediglich eine Frage der Zeit, bis man ihn finden würde. Nur wenige Meter hinter ihm wurde die Einstiegsluke zum Drempel aufgerissen. Detlef hielt den Atem an. Ein Lichtstrahl erhellte die ihn umgebende Dunkelheit. Wer auch immer da draußen war, sobald er sich die Mühe machte und den Stauraum inspizierte, war seine Flucht am Ende.

„Du willst dich doch da nicht allen Ernstes hineinzwängen?“, vernahm er die Stimme eines Mannes. „Und wenn sich da drinnen jemand versteckt?“, gab eine weibliche Stimme zu bedenken. „...und wenn unsere Angela nächste Woche schwanger ist?“ „Hä?“ „Dann ist sie ein ebenso schmutziges Mädchen wie du, wenn du da wieder herauskommst“, feixte der Kerl.“ „Blödian!“, entgegnete seine Kollegin und schloss die Klappe. Detlef atmete erleichtert auf. Die Schritte entfernten sich.

Die Zeiger seiner Armbanduhr standen auf kurz nach drei Uhr. Detlef lauschte angespannt in die Dunkelheit. Schon seit einer Viertelstunde war kein Geräusch mehr zu vernehmen. Im Grunde deutete alles darauf hin, dass sich niemand mehr im Rathaus aufhielt, doch der Mann im Drempel traute der vermeintlichen Ruhe nicht und verharrte eine weitere Stunde in seinem Versteck. Zeit, in der er über das Geschehene nachdenken konnte. Er fragte, wonach die Einbrecher im Bürgeramt gesucht hatten. Viel Geld war dort nicht zu holen, das wusste er von Vanessa. Überdies stellte sich die Frage, wie sie in das Rathaus gelangt waren. Immerhin hatte er den Hofeingang hinter sich wieder verschlossen.

Zögerlich und auf das Äußerste angespannt, schob er sich wieder der kleinen Klappe entgegen, durch die er in die Teeküche und schließlich auf den Flur gelangte. Das Herz pochte ihm bis an den Hals. Die Anspannung, unter der er stand, setzte pures Adrenalin frei. Ein ganz ähnliches Gefühl wie beim Zocken, gestand er sich ein. Nur der Einsatz bei diesem Spiel war ungleich höher. Der Einsatz war sein verkorkstes Leben. Für jeden anderen nicht von Wert, aber für ihn war es alles.

 

 

-4-

„Die Kollegen Frommbach und Meister sowie die Kollegin Emsig und ich haben das Gebäude akribisch von unten nach oben durchsucht“, meldete Kommissar Schneider seinem Vorgesetzten. „Die Einbrecher sind sicher längst über alle Berge.“ „Davon war auszugehen“, zeigte sich Hauptkommissar Fröhlich nicht sonderlich überrascht. Die Kerle haben die Zeit bis zu unserem Eintreffen genutzt, um sich in aller Ruhe abzusetzen. Sie bleiben vor Ort, bis die Spurensicherung eintrifft. Ich fahre derweil ins Krankenhaus und versuche, eine erste Aussage von den Wachleuten zu bekommen.“

Während Kommissar Schneider und seine Kollegin Emsig in ihrem Streifenwagen vor dem Rathaus Wache schoben, bemühte sich Fröhlich um ein Gespräch mit dem Notarzt. Dieser hatte den Rettungswagen ins Wolfenbütteler Klinikum begleitet und die Opfer einer weiteren ärztlichen Versorgung zugeführt.

„Wie schlimm ist es, Herr Doktor?“ „Wie Sie sich vorstellen können, kann ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht allzu viel sagen, aber zumindest haben beide Patienten keine schwerwiegenden Kopfverletzungen erlitten.“ „Sie sind also ansprechbar“, schlussfolgerte der Kriminologe. „Nun ja, ich möchte meinem Kollegen nicht vorgreifen, aber für ein paar Minuten dürfte es sicherlich möglich sein. Letztendlich entscheidet dies aber der behandelnde Arzt.“ „Haben Sie vielen Dank.“

„Hat Fröhlich irgendetwas davon gesagt, wann die Spusi hier sein wird?“, rieb sich Kommissarin Emsig müde das Gesicht. „Nee, aber du glaubst doch nicht im Ernst, dass sich die Kollegen die Nacht um die Ohren schlagen. Es ist Samstag, da bleibt das Rathaus eh geschlossen. Keine Gefahr also, dass der Tatort verunreinigt wird“, stellte Schneider fest. „Dann sollen wir letztendlich nur wegen des aufgebrochenen Fensters hierbleiben?“, konnte es Kommissarin Emsig kaum glauben. „Nee, ich denke, Fröhlich will einfach nur auf Nummer Sicher gehen“, entgegnete ihr Kollege. „Soviel ich weiß, wurde der Hausmeister informiert. Keine Ahnung, wann eine Firma kommt, um den Schaden zu beheben.“ „Wie auch immer, wenn ich hier sitzenbleibe, schlafe ich irgendwann ein“, gähnte die Frau mit den roten Haaren. „Kommst du mit raus eine rauchen?“ „Okay, ich begleite dich, aber qualmen kannst du doch sicherlich auch alleine.“

Detlef hatte sich in der Zwischenzeit durch das Treppenhaus nach unten geschlichen. Nun war er dabei, die Lage zu peilen. Nach vorn zum Stadtmarkt, in Höhe der Touristinformation, hatte er einen Streifenwagen ausgemacht. Er wusste nicht, ob sich die Polizisten noch im Rathaus befanden und ob es der einzige Wagen war, der noch vor Ort war, aber er wusste, dass er zusehen musste, jetzt das Weite zu suchen. Auf der Rückseite des Gebäudes schien alles ruhig. Als er durch eines der Fenster nach draußen sah, bemerkte er, dass es aufgebrochen war. Hier also waren die vermummten Kerle eingestiegen, schlussfolgerte er.

Sein Weg führte ihn hingegen zu der Tür, durch die er das Rathaus auch betreten hatte. Mit äußerster Vorsicht öffnete er die Tür und späte hinaus in den Hinterhof. Von den beiden Streifenpolizisten war nichts zu sehen und doch musste er damit rechnen, dass sie jeden Moment hinter der nächsten Ecke hervorkamen. Im Schutze der Dunkelheit schlich er bis an die Mauer, hinter der nach wie vor in scheinbar unabdingbarer Gelassenheit die Oker vorbei floss. Gerade als er einen Blick zur Brücke riskierte, erhellte ein flackerndes Licht die Nacht.

Kommissarin Emsig blies den Rauch ihrer Zigarette provokant in das Gesicht ihres Kollegen. „Danke sehr. Wie kommt es, dass du, obwohl du nicht rauchst, ein Feuerzeug mit dir herumträgst?“ „Man weiß ja nie...“ „Seit wann bist du eigentlich geschieden, Kai?“, erkundigte sich die Frau mit den roten Haaren. „Seit über zwei Jahren“, entgegnete Kollege Schneider. „Rita wollte die vielen Überstunden und die ständige Nachtschicht nicht länger hinnehmen.“ Kommissarin Emsig nickte verständnisvoll. „Bei uns ist auch schon lange die Luft raus.“ „Tja“, stutzte Schneider, „...das bringt unser Beruf dann wohl so mit sich.“

Der Mann mit dem Rucksack wich zurück. Solange die Polizisten auf der Brücke standen und zu allem Überfluss auch noch in seine Richtung sahen, war ihm der Rückweg versperrt. Wenn er nicht entdeckt werden wollte, musste er sich in Geduld fassen.

„Und, hast du auch schon an Scheidung gedacht?“, griff Kommissar Schneider die Worte seiner Kollegin auf. „Ich hoffe eigentlich noch etwas ändern zu können, um unserer Ehe neuen Schwung zu geben, aber irgendwie bin ich mit meinem Latein am Ende.“ „Vielleicht hilft ja ein Swingerclub? Ein befreundetes Pärchen geht regelmäßig dorthin“, erklärte Schneider. „Ich weiß nicht so recht. Warst du auch schon mal dort?“ „Wenn ich wüsste, dass du hingehst, wäre ich sicher dazu bereit.“ „Schleimer“, kicherte die Rothaarige verlegen.

Detlef wippte nervös von einem Bein auf das andere. Lange konnte es nicht mehr dauern bis es hell wurde. Dann würde die Betriebsamkeit rund um das Rathaus stark zunehmen und sicher würden dann auch der Hausmeister und weitere Polizisten auftauchen, um den Einbruch zu rekonstruieren, Spuren und Fingerabdrücke zu sichern und das aufgebrochene Fenster zu reparieren. Spätestens dann musste er verschwunden sein.

Er überlegte, ob es denn möglich war, sich an der Kaimauer herabzulassen und nach rechts unter dem Rathaus hindurch zu verschwinden. Offensichtlich führte die Oker zurzeit wenig Wasser. Von daher drohte also keine Gefahr. Soviel er wusste, floss sie in großen Röhren unter den Häusern der ‚Krambuden' hindurch. Da er gegen den Strom ankämpfen musste und die Oker erst im sogenannten Klein Venedig wieder auftauchte, war dieser Fluchtweg jedoch so gut wie ausgeschlossen. Wollte er mit dem Strom fliehen, musste er unter die Brücke hindurch waten. Da die Polizisten nach wie vor auf den Fluss hinunter sahen, war dies ebenso fatal.

„Hast du das gerade gehört Kai?“, unterbrach sich Kommissarin Emsig. „Nö.“ „Ich glaube, die ersten Marktverkäufer rücken an“, überlegte die Rothaarige. „Stimmt, heute ist ja Samstag. Jetzt höre ich es auch.“ „Dann sollten wir besser unseren Wagen zur Seite fahren.“ „Besser wäre es“, stimmte Kommissar Schneider zu. Dass er, während er seiner Kollegin folgte, ihren Allerwertesten nicht einmal für die Dauer eines einzigen Wimpernschlags aus den Augen ließ, sei an dieser Stelle entschuldigt.

Somit war der Weg für Detlef endlich frei. Ohne lange zu zögern, sprang er auf die Mauer und schob sich auf demselben Wege, auf dem er gekommen war, am Spalier vorbei und kletterte auf die Brücke. Gerade als er sich nach rechts wandte, um über den Fluss das Weite zu suchen, sah er, wie sich die Polizeibeamtin in seine Richtung drehte. Panik keimte in ihm auf. Anstatt zu überlegen, rannte er los. Was zweifelsohne die sicherste Methode war, die Aufmerksamkeit der Polizistin auf sich zu ziehen.

„Polizei!“, rief sie hinter ihm her. „Bleiben Sie stehen!“ Was Detlef natürlich nicht tat. Er rannte über die Brücke und bog nach rechts und umrundete das ehemalige Hertie Kaufhaus. Kommissarin Emsig konnte den Abstand zu ihm in etwa halten. Während sie Detlef verfolgte, gab sie über Funk Informationen weiter. Es war nur noch eine Frage von Minuten, bis ihr Kollege Schneider dem Flüchtigen mit Hilfe des Streifenwagens den Weg abschnitt. Eine Taktik, die sie bei ähnlichen Fällen schon mehrfach erfolgreich angewandt hatten.

Der Verdächtige hastete inzwischen, ohne dem fließenden Verkehr auch nur einen Hauch von Aufmerksamkeit zu widmen, in Höhe des Parkhauses über die Straße. Sein Ziel war der Seeliger Park, in dem er sich ausgezeichnet auskannte. Bremsen quietschten, Reifen blockierten, brannten ihr Profil übel riechend in den Asphalt. Ohne die ausgezeichnete Reaktion des Fahrzeuglenkers hätte Detlef sein Ziel nicht erreicht.

Während er dessen ungeachtet seine Flucht fortsetzte, knallte dem alten Mercedes ein weiteres Fahrzeug ins Heck. Nachdem sich Kommissarin Emsig davon überzeugt hatte, dass es keine Verletzten gab, setzte sie die Verfolgung fort. Rasch bildete sich ein langer Stau, der den Verkehr auf dem Schiffwall vollends zum Erliegen brachte. Die Kommissarin hatte dennoch Zeit gebraucht und somit den Flüchtigen aus den Augen verloren. Als sich der Weg gabelte, musste sie daher ihrer Intuition vertrauen.

Obwohl Kommissar Schneider in weiser Voraussicht rechtzeitig Unterstützung angefordert hatte, würde es einige Zeit in Anspruch nehmen, bis diese vor Ort war. „Bin jetzt bei den Kasematten“, vernahm er einen Funkspruch seiner Kollegin. „Halte dich zurück“, entgegnete er in der Annahme, die Kommissarin habe den Flüchtigen bis dort hin verfolgt. „Bin gleich da!“

Detlef hatte sich für den linken Abzweig entschieden und benutzte eine andere Fußgängerbrücke, die über einen Seitenarm der Oker bis in den Park eines angrenzenden Seniorenheims führte. Dort schob er den Rucksack in eine herumliegende Plastiktüte, entsorgte seine Jacke in einem Gebüsch und verließ den Park über eine weitere Okerbrücke in Richtung Bahnhof.

Kommissarin Emsig und ihr Kollege Schneider sicherten sich gegenseitig, während sie die offenen Gewölbe unter der Seeliger Villa nach dem Flüchtigen absuchten. „Ich hätte schwören können, dass ich den Verdächtigen hier gesehen habe“, grämte sich die Rothaarige. „Vielleicht ist er ja um den Berg herum“, mutmaßte Schneider. „Falls er versucht, über den Spinnereiparkplatz zu entkommen, werden die Kollegen ihn stellen. Ich habe sie dorthin geschickt und die von dir erhaltene Beschreibung durchgegeben.“ „Wunderbar“, atmete die Kommissarin erleichtert auf. „Dann könnten wir uns ja das Gelände hinter dem Altenheim vornehmen.“

Ohne es zu wissen, nahmen sie nun den gleichen Weg, wie der Flüchtige. Kurz bevor sie die Brücke zum Bahnhof betraten, machte Kommissar Schneider eine interessante Entdeckung. „Na, da brat mir doch einer einen Storch, wenn dies nicht die Jacke unseres Spezis ist.“ „Aber klar, das ist sie. Kein Zweifel. Sieh mal nach, ob noch was in den Taschen ist“, schlug seine Kollegin vor. „Moment“, und schon durchsuchte Kai Schneider die Jacke. Kurz darauf förderte er einige Zettel zu Tage. „Mal sehen, ob etwas Brauchbares dabei ist“, sinnierte er erwartungsvoll. „Schau einer an, daran hat unser Spezi ganz offensichtlich nicht gedacht, als er sich seiner Jacke entledigte.“ „Was hast du denn da?“ „Einen Abholschein einer Pfandleihe in Braunschweig.“