Detektei Lessing

 

Band 46

 

Die letzte Lesung

1.

Unsere kleine Feier bei Anne im Café Klatsch lag hinter uns. Die Lobhudelei um den erfolgreich abgeschlossenen Fall tat gut und die Freude über die Familienzusammenführung war groß, aber nun hatte uns der Alltag wieder eingeholt. Ein neuer Fall musste her, damit ich meine Putzsekretärin und die Auszubildende bezahlen konnte. Doch wie so oft war weit und breit kein Klient zu sehen. Der Urlaub, den ich Trude und Axel spendiert hatte, kam mir erheblich teurer als erwartet. Die Behandlungskosten für meinen Hexenschuss, die ich als Privatversicherter zunächst vorstrecken musste, taten ein Übriges. Schlicht gesagt, das Wasser stand mir mal wieder bis zur Unterlippe.

„Eigentlich könnten wir doch mal wieder etwas zusammen unternehmen“, schlug Miriam vor. „Mach das“, entgegnete ich, ohne wirklich zugehört zu haben. „Erst ein Blubb frischer Sahne, welcher von Ramonas Löffel abgefeuert, mitten in meinem Gesicht landete, riss mich aus den Gedanken. „Huch“, erschrak ich. „Ups“, verkniff sich meine Liebste das Lachen. „Also Ramona, wirklich“, reagierte ich ungehalten. „Das geht doch nicht.“ „Unsere Tochter weiß eben, wie sie deine Aufmerksamkeit erregt.“ „Allerdings“, seufzte ich, während ich mir mit einem Küchentuch den Joghurt von der Nase putzte.

„Dann kannst du mir ja nun eine Antwort auf meine Frage geben.“ Ich zog den Kopf zwischen die Schultern. „Was für eine Frage?“ „Sei froh, dass du deine Strafe bereits erhalten hast“, feuerte Miriam mit einem unmissverständlichen Gesichtsausdruck. „Entschuldige, ich war wohl ganz im Gedanken.“ „Das glaube ich auch.“ „Würdest du deine Frage bitte wiederholen?“ Miriam verdrehte die Augen. Ramona hingegen lachte herzlich. „Eigentlich war es gar keine Frage. Ich sagte, wir könnten mal was zusammen unternehmen. Unser Tanzkurs liegt schon ein gutes Jahr zurück und sonst hast du ja immer gerade einen dringenden Fall, der keinen Aufschub duldet.“ „Ich bin halt ein vielgefragter Mann“, entgegnete ich grinsend. „Schön, dass es so ist, mein lieber Ehemann, aber über all diese Verpflichtungen solltest du deine Familie nicht vergessen.“ Dieser Wink war unmissverständlich. Nun ging es nur noch darum, den Schaden zu begrenzen.

So bequem das Sofa in meiner Detektei auch war, für eine ganze Nacht war es nicht ausgelegt. „Hast du schon ein bestimmtes Event im Auge?“, fragte ich vorsichtig nach. Miriam lächelte verschmitzt. „Tatsächlich findet in zwei Wochen im Schmidt Terminal eine Lesung mit Musik statt.“ Mir klappte die Kinnlade herunter. „Eine Lesung?“ „Genauer gesagt eine Krimilesung von Uwe Brackmann. Er wird aus seinem neuesten Krimi vorlesen. Zwischendurch präsentiert der Songwriter Mark Moldau einige Songs.“ Offensichtlich hatte sich mein Schatz bereits gut informiert.

„Sorry, Musik ist ja ganz toll, aber eine Lesung ist doch eher langweilig.“ „Und das weißt du, weil du ja schon auf so vielen Lesungen warst“, erwiderte Miriam. Meine Synapsen signalisierten Gefahr. Das Eis, auf dem ich gerade lief, war ziemlich dünn. „Etwas Kultur würde dir auch nicht schaden“, fuhr sie schwere Geschütze auf. „Abgesehen davon handelt es sich um eine Krimilesung. Wenn du gut zuhörst, kannst du sicherlich noch etwas lernen.“ Jetzt war klar, dass ich aus der Nummer nicht mehr rauskam. „Also schön, gehen wir also auf diese Lesung“, willigte ich zähneknirschend ein. „Aber falls ich dabei einschlafe, blamierst du dich.“ „Keine Bange, das werde ich zu verhindern wissen.“

So wichtig mir das gemeinsame Frühstück mit der Familie auch ist, so froh war ich an diesem Morgen darüber, mich in meine Detektei verkrümeln zu können. Insgeheim hoffte ich, dass sie die Lesung in den folgenden Tagen vergessen würde.

„Guten Morgen, Mädels“, begrüßte ich mein Team, ohne mir etwas anmerken zu lassen. „Feiern war gestern, heute geht der Ernst des Lebens weiter.“ Meine Motivationskünste waren nicht sonderlich erfolgreich. Während Trude irgendwie abwesend wirkte, gähnte Leonie müde vor sich hin. „Was steht denn heute an?“, erkundigte ich mich, obwohl ich genau wusste, wie schlecht die Auftragslage war. „Da wäre zum einen der Nachbarschaftsstreit, bei dem Sie mit Hilfe von Überwachungskameras den Diebstahl von Obst und Gemüse aufklären sollen und zum anderen die Vandalismus Sache in der Sankt Thomas Gemeinde“, zählte meine Putzsekretärin auf.

„Sauerei“, schimpfte Leonie. „Nicht mal vor dem Eigentum der Kirche wird heutzutage Halt gemacht. Wenn jemand etwas gegen die Kirche hat, soll er doch austreten.“ „Da hast du sicherlich Recht, Leonie“, pflichtete ihr Trude bei. „Aber wenn ich an die vielen Verfehlungen denke, die in den letzten Jahren innerhalb der Kirche aufgedeckt wurden, kann ich den Ärger einiger Leute sogar verstehen.“ „Wie auch immer, meine Damen, Sachbeschädigung ist eine Straftat und wenn die Polizei nicht die Zeit und ebenso wenig das Personal hat, sich auf die Lauer zu legen, sind wir halt gefordert“, stellte ich klar. „Abgesehen davon, sollte in diesem Land jedem, unabhängig von seinem Stand oder seiner Person, zu ihrem Recht verholfen werden.“

„Da wäre dann noch die Versicherungssache“, fuhr Trude nachdenklich fort. „Es wird sicher nicht einfach werden, dem vermeintlichen Opfer einen fingierten Unfall nachzuweisen“, seufzte Leonie. „Am besten, wenn wir den Geschädigten auf frischer Tat erwischen“, überlegte ich. Ich heftete den Stadtplan von Wolfenbüttel an die Ermittlungswand und zeichnete die in Frage kommenden Rechts vor Links Kreuzungen ein. „Wenn wir die alle im Auge behalten wollen, brauchen wir Axels Hilfe“, stellte ich fest. „Ich brauche ihn nur anrufen. Seit wir den Wagen haben, ist er jederzeit einsatzbereit“, bekundete Trude. „Ich weiß, er hat mir seine Hilfe bereits angeboten“, stimmte ich zu.

„Wir installieren zuerst die Kameras in der Okertal-Siedlung, danach sehen wir uns die betreffenden Unfallstellen an“, gab ich unsere weiteren Schritte für den Vormittag vor. „Axel postiert sich am besten vor der Wohnung des vermeintlichen Opfers“, erklärte ich Trude. „Sie rufen ihn an und instruieren ihn.“ Trude nickte. „Geben Sie ihm bitte ein Foto von der Zeugin und die Kamera mit dem Tele mit. Ich möchte wissen, ob sich die beiden besser kennen, als sie dem Gericht glaubhaft machten.“ „Bei der Öffentlichen sind inzwischen drei Schadenfälle auf den Namen Radkowitch anhängig. Mal Igor Radkowitch, dann dessen Bruder und zuletzt der Onkel. Ich wollte andere Versicherungen kontaktieren, um mich dort nach weiteren Unfallvorgängen der gleichen Art auf diesen Namen zu erkundigen.“ „Gute Idee Trude“, lobte ich meine Putzsekretärin. „Ich wette, da wird noch einiges auf uns zukommen.“

„Rechnen Sie denn mit einem groß angelegten, erwerbsmäßigen Versicherungsbetrug?“, fragte mich meine Azubine, während unserer Fahrt in die Okertalsiedlung. „Gut möglich, es wäre zumindest die Renaissance einer Betrugsart, wie es sie vor zwanzig Jahren schon einmal gab. Die Kollegen der Verkehrspolizei wurden damals bei jedem Unfall hellhörig, der auf Grund einer Rechts vor Linksregel zu Stande kam.“ „Ist es nicht so, dass sich die vermeintliche Zeugin an einer Stelle postiert, von der aus sie sieht, wenn sich ein Opferfahrzeug nähert, um gleichzeitig ihrem Komplizen das Zeichen zum Losfahren geben zu können?“ „So ist es“, bestätigte ich. „Der Zeuge muss dabei genau taxieren, wann der richtige Zeitpunkt zum Losfahren ist.“

Meine Azubine nickte grüblerisch. „Aber wenn die jedes Mal ihren eigenen Wagen dabei schrotten, bleibt doch von der Versicherungssumme unterm Strich kaum was über“, sinnierte sie nach einer Weile. „Meistens kommen teure Unfallfahrzeuge zum Einsatz, die extra zu diesem Zweck neu instandgesetzt wurden. Wenn der Schaden eher gering ist, versuchen die Täter alles ohne Polizei und Versicherung abzuwickeln. Dann ziehen sie den Opfern zwei- dreihundert Euro aus der Tasche und wenden sich ihrem nächsten Opfer zu“, erklärte ich. „Bei einem größeren Schaden scheuen die Täter dann aber auch nicht vor Polizei und Gericht zurück.“

Ganz schön dreist“, schüttelte Leonie den Kopf. „Die nutzen den Schrecken, den die Opfer wegen des Unfalls erlitten, schamlos aus.“ „Ja, dass perfide dabei ist, dass die Opfer auch noch dankbar sind, wenn die Sache nicht an die große Glocke gehängt wird.“ „Eins ist klar Chef, wir müssen diesen Gangstern einfach das Handwerk legen“, entgegnete Leonie kämpferisch. „Na dann auf in den Kampf.“

Eine halbe Stunde später trugen wir das Equipment in den Garten des Klienten. „Wie ich sehe, haben Sie Ihre Leiter ja bereits angestellt“, lobte ich den rüstigen Rentner. „Nur hochsteigen geht nicht mehr. Da macht der Kreislauf nicht mehr mit.“ „Deswegen sind wir ja jetzt hier“, lächelte ich ihm zu. „Meine Mitarbeiterin baut die Kameras genau dorthin, wo Sie am besten aufzeichnen.“ Leonie sah mich ungläubig an. „Ich dachte Sie…?“ „Ich kanns ja schon“, entgegnete ich schmunzelnd. „Du wolltest doch was lernen.“

„So Herr Wallner…“, weckte ich den alten Herrn als ich einige Zeit später seine Terrasse betrat. „…dann werde ich Ihnen nun erklären, wie Sie die Aufzeichnungen der Kameras jederzeit ansehen können. Wie ich sehe, haben Sie ihr Laptop ja bereits aufgestellt.“ „Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“ „Ein Glas Mineralwasser wäre jetzt genau das richtige“, entgegnete ich dankbar. „Kommt Ihre Assistentin noch dazu?“ „Die muss erst noch das Werkzeug ins Auto räumen.“ „Dann wird sie froh sein, wenn sie auch etwas trinken kann“, schlussfolgerte er, während er die Gläser holte. „Sie verwöhnen uns“, rief ich ihm nach.

„Ich hoffe es wird nicht allzu kompliziert“, äußerte er seine Bedenken, kaum dass er auf die Terrasse zurückkehrte. „I wo, alles ganz einfach. Wenn ich Ihnen dann erklären darf?“ „Bitte.“ Ich klappte sein Laptop auf und gab den Link für die Cloud ein. Dann setzte ich ihm ein Lesezeichen und speicherte das Passwort. „So, sehen sie bitte. Es ist ganz einfach. Sie klicken nur auf dieses Zeichen und der Speicher öffnet sich.“ „Aha.“

„Ich habe die Kameras nach ihrem Standort beschrieben. Sowie Sie draufklicken, wird das zuvor gespeicherte Bild sichtbar.“ „Dann kann ich den elenden Schweiepuckel endlich das Handwerk legen.“ „So ist es“, pflichtete ich ihm bei. „Am besten rufen Sie in der Detektei an, sobald die Kamera den Dieb aufgenommen hat.“ „Toll, was es heutzutage alles gibt“, freute sich der Rentner. „Was ist mit der Rechnung?“, erkundigte er sich besorgt. „Das machen wir, wenn alles gelaufen ist“, beruhigte ich ihn, während ich mich erhob, um nach Leonie zu sehen. „Na dann bis bald, Herr Lessing.“

„Weshalb kommst du denn nicht nach? Der alte Herr hat dir extra ein Glas Mineralwasser fertig gemacht“, fragte ich meine Azubine, nachdem ich zum Wagen zurückgekehrt war. „Ich hatte einen Anruf von Christoph. Er fragte, ob ich am Wochenende frei habe, weil er und mein Onkel Detlef mit mir nach Sylt fahren wollen.“ „Ich hoffe du hast zugesagt, Sylt ist immer eine Reise wert.“ „Ich wollte zunächst nachfrage, ob es in Ordnung ist, weil wir doch die Kirche observieren müssen und auch noch den Versicherungsfall an der Backe haben.“ Ich winkte ab. „Da mach dir mal keinen Kopf. Du fährst gewiss mit deinen Onkeln nach Sylt. Vielleicht haben wir die Fälle bis dahin ja sogar schon aufgeklärt.“ „Ich hatte darauf gehofft, zumindest einen Fall allein lösen zu dürfen.“

„Da werden andere kommen“, tröstete ich meine Azubine. Ich bemerkte, wie sehr sie sich wegen der vertanen Gelegenheit grämte. „Ich bin wirklich gespannt, ob Trude wegen der vermeintlichen Unfälle etwas in Erfahrung bringen konnte“, überlegte Leonie, während ich den Wagen wendete, um zur letzten Unfallstelle in der Elbinger Straße zu fahren. Im selben Moment klingelte mein Handy. „Sie rufen aufs Stichwort an, Trude“, stellte ich fest. „Was haben Sie für mich?“ „Wir hatten offensichtlich den richtigen Riecher“, erklärte sie über die Freisprecheinrichtung. „Ich stieß auf ein rundes Dutzend Unfälle, die bei verschiedenen Versicherungen angezeigt wurden. Als Zeugin trat in den meisten Fällen eine gewisse Ludmilla Ponderenko auf.“ „Die ominöse Zeugin“, bemerkte Leonie.

„Aber das muss doch aufgefallen sein“, meldete Leonie Zweifel an. „Das Duo war klug genug, um die Unfälle auf halb Niedersachsen zu verteilen“, beschrieb Trude das Vorgehen der Betrüger. „Axel habe ich wie verabredet zur Wohnung von Igor Radkowitch geschickt. Er observiert sie seit etwa einer Stunde.“ „Gut, wir sehen uns jetzt die Örtlichkeiten an der letzten Unfallstelle an. Falls sich bei Axel etwa tut, informieren Sie uns bitte.“ „Geht klar, Chef. Ich bleibe natürlich ebenfalls dran.“

-2-

„Es gibt mehrere prägnante Stellen in der Lessingstadt, die sich für einen solchen Betrug hervorragend eignen“, beschrieb ich Leonie. „Auf der ‚Wendessener Straße‘ gilt gleich an drei Stellen die ‚Rechts vor Links Regel‘. Hierbei ist die Straße hinter dem Super-Markt ebenso schlecht einsehbar, wie die Straße zur ‚Siedlung‘, die eher wie eine breite Einfahrt wirkt.“ „Die beim Aldi-Markt kenne ich“, stimmte mir meine Azubine zu. „Die Straßenkreuzungen um den ‚Wiesengrund‘ und dem ‚Böttcherweg‘ bieten Betrügern ebenso gute Möglichkeiten, um Unfälle vorsätzlich zu provozieren, wie im Wohngebiet um die ‚Elbinger Straße‘.“

Leonie machte große Augen. „Wie sollen wir die denn alle gleichzeitig überwachen?“ „Gar nicht, wir werden jetzt nur einige Anwohner am letzten Unfallort befragen. Vielleicht können wir ja jemand ausfindig machen, der etwas gesehen hat.“ „Weshalb sollte das die Polizei nicht längst gemacht haben“, fragte Leonie stirnrunzelnd. „Weshalb sollten sie? Es gab bereits die Zeugin Ponderenko, wenn du dich erinnerst. Jeder weitere Aufwand müsste gerechtfertigt sein.“ „Das ist verrückt, aber auch irgendwie genial“, räumte Leonie euphorisch ein. „Kein Wunder, dass man den Betrügern so lange nicht auf die Spur kam.“

Ich stoppte den Wagen in einer der freien Parkbuchten und sah mich um. „Größtenteils Einfamilienhäuser und eine ganze Menge Balkone, auf denen sicherlich einige Leute gesessen hätten, wenn es an diesem Tag laut Polizeibericht nicht geregnet hätte“, seufzte ich. „Könnte das Wetter eine wichtige Rolle spielen?“, überlegte Leonie. „Eine gute Frage, auf die uns Trude vielleicht eine Antwort geben könnte.“

Die ersten Anwohner, die etwas gesehen haben konnten, wohnten in einem der Unfallstelle gegenüberliegenden Zweifamilienhaus. Auf dem Klingelschild der oberen Geschosswohnung stand der Name Schlenderjahn. „Na so möchte ich aber auch nicht heißen“, schmunzelte Leonie. „Ja bitte?“, meldete sich eine raue Stimme aus dem Lautsprecher der Gegensprechanlage. „Guten Tag. Bitte entschuldigen Sie die Störung. Wir ermitteln wegen eines Unfalls, der sich am 8. Mai vor Ihrem Haus ereignete“, erklärte ich. „Sind Sie von der Polizei?“, erkundigte sich die Stimme. „Nein, wir kommen von der Detektei Lessing und ermitteln im Auftrag der Versicherung“, entgegnete ich.

Eine Weile geschah gar nichts. „Hallo, sind Sie noch da?“, fragte ich irgendwann. Im nächsten Moment öffnete sich die Haustür. „So, so, von der Versicherung kommen Sie also“, wiederholte zu unserer Überraschung eine rüstige Dame mit eben jener rauen Stimme. „So ist es“, bestätigte ich. „Die wollen wohl mal wieder nicht zahlen“, entrüstete sie sich. Offenbar hatte sie schlechte Erfahrungen gemacht. „Darum geht es nicht, es gibt Zweifel am Hergang des Unfalls“, ergriff Leonie das Wort. „Waren Sie Zeugin des Unfalls?“, hakte meine Azubine nach. „Dazu müsste ich erst einmal wissen, um welchen Unfall es überhaupt geht, Kindchen.“

„Es geht, wie gesagt, um den Unfall vom 8. Mai“, entgegnete ich, ehe Leonie etwas sagen konnte. Die alte Dame lachte kurz auf. „Das habe ich schon mitbekommen, junger Mann. Ich bin ja nicht senil. Aber glauben Sie, ich weiß jetzt noch, welcher Unfall an diesem Tag geschah? Hier kracht es zwei bis drei Mal im Monat. Hier pulsiert das wahre Leben. Ich brauchte noch nie einen Fernseher und muss trotzdem für das Verdummungsprogramm bezahlen was einem tagtäglich vorgesetzt wird. Eine Sauerei ist das, wenn Sie mich fragen.“

Die energische alte Dame sprach mir irgendwie aus der Seele. „Unfallbeteiligt waren ein Mercedes in grau-Metallic und ein Dacia Sandero in schwarz“, erklärte Leonie. „Ah ja, ich kann mich erinnern“, nickte die vermeintliche Zeugin. „Das muss an einem Vormittag gewesen sein.“ „Stimmt“, bestätigte meine Auszubildende. „Um 10:22 Uhr.“ „Ich kam gerade vom Einkaufen zurück. Aber da war leider schon alles vorbei.“ „Ist Ihnen etwas aufgefallen?“, hakte ich nach. „Hören Sie nicht zu? Ich sagte doch, dass ich vom Einkaufen kam. Glauben Sie, ich stelle mich mit den schweren Taschen noch stundenlang hin und halte Maulaffenfeil?“

Ich atmete tief durch. „Abgesehen davon hatten es die Bullen nicht mal nötig beispielsweise meine Nachbarin zu befragen. Die hat nämlich alles mit angesehen.“ Ich horchte auf. „Sie meinen Frau Mengelmann, die unter Ihnen wohnt?“, resümierte ich, auf das zweite Klingelschild deutend. „Sehen Sie hier sonst noch einen Namen?“, erwiderte sie kopfschüttelnd. „Sind Sie sicher, dass Sie Detektiv sind und damit Ihren Lebensunterhalt bestreiten können?“ Mir blieb die Spucke weg. Sie winkte ab und wandte sich seufzend der nach wie vor offenstehenden Haustür zu. „Kein Wunder, dass dieses Land vor die Hunde geht.“

Während ich in eine Art Schnappatmung verfiel, verschwand die freundliche Dame im Hausflur. Ich war froh, dass ich mich beherrscht hatte. „Wenn Sie sich soweit beruhigt haben, Chef, klingele ich jetzt bei Mengelmann“, grinste Leonie unverhohlen. „Hoffentlich ist die Nachbarin umgänglicher“, lächelte ich noch immer den Kopf schüttelnd. „Und das, wo Sie doch sonst immer so ein Schlag bei den Ladys haben, witzelte Leonie weiter.“

„Hallo, ja bitte?“, meldete sich eine wesentlich freundlichere Stimme aus dem Lautsprecher der Sprechanlage. „Detektei Lessing“, stellte ich mich vor. „Bitte entschuldigen Sie die Störung. Wir ermitteln wegen eines Unfalls, der sich am 8. Mai vor Ihrem Haus ereignete“, entgegnete ich zum wiederholten Mal. Das Summen des Türöffners forderte uns auf, das Gebäude zu betreten. Auch hier trafen wir auf eine ältere Frau. Ich zuckte meine Zulassung und hielt ihn ihr entgegen. „Treten Sie bitte näher.“ Meine Azubine und ich kamen ihrer Aufforderung dankbar nach.

„Ich habe bereits von der Detektei Lessing gehört“, überraschte sie uns, während sie uns in ihr Wohnzimmer bat. „Ich hoffe nur Gutes?“, entgegnete ich lächelnd. „Meine Tochter musste vor einigen Jahren Ihre Dienste in Anspruch nehmen. Meine Enkelin war damals in die Satanisten-Szene hineingerutscht.“ Ein Fall, an den ich mich noch heute mit einigem Schaudern erinnerte. „Wie geht es Ihrer Enkelin heute?“, erkundigte ich mich. „Am Anfang dachten wir, sie würde die schrecklichen Ereignisse nie vergessen, aber inzwischen ist sie darüber hinweg.“ „Das freut mich sehr.“ Leonie sah mich interessiert an. Es ging um einen Fall, der weit zurück lag und den man selber rasch vergessen möchte.

„Meine Familie hat Ihnen viel zu verdanken, Herr Lessing“, sagte Frau Mengelmann, während sie mir anerkennend mit ihrer Hand auf die Schulter klopfte. „Bevor Sie mir Ihre Fragen stellen, koche ich uns aber einen Kaffee“, ließ sie keinen Zweifel daran, mir auf diese Weise ihre Wertschätzung zum Ausdruck bringen zu wollen. Nachdem sie uns im Wohnzimmer zurückgelassen hatte, entdeckte ich an den Wänden einige gerahmte Fotos.

„Ist das auf dem Foto die Enkelin von Frau Mengelmann?“, erkundigte sich Leonie, die es ebenfalls nicht auf dem Sofa gehalten hatte. „Es muss einige Zeit vor ihrem Verschwinden aufgenommen worden sein“, mutmaßte ich. „Wie kam das Mädchen eigentlich zum Satanismus?“ „Zunächst zog sie sich immer häufiger schwarze Klamotten an, schminkte sich und traf sich mit anderen jungen Leuten aus der Gothic-Szene. Nichts worüber sich ihre Eltern sorgen mussten, aber dann geriet sie an einen jungen Mann, der sie zu geheimen okkulten Treffen mitnahm, auf denen nicht nur Tiere geopfert wurden.“ „Krass!“, sinnierte Leonie. „Auf dem Foto sieht sie so harmlos aus.“ „Das war sie auch. Als sie begriff, was vor sich ging, war es zu spät.“

„Ich habe leider nur noch etwas Gebäck“, kehrte Frau Mengelmann ins Wohnzimmer zurück. „Der Kaffee ist auch gleich durchgelaufen.“ „Machen Sie sich doch bitte keine Umstände wegen uns.“ „Ihr Besuch bereitet mir Freude“, entgegnete die Rentnerin. „Sie haben mir damals das Wichtigste auf der Welt wohlbehalten zurückgebracht. Ich stehe tief in Ihrer Schuld.“ „Das tun Sie nicht“, erwiderte ich. „Ich tat meine Arbeit, sonst nichts.“

„Dann komme ich am besten zum Grund unseres Besuchs“, lenkte Leonie das Gespräch auf unseren aktuellen Fall. „Ach ja, der Unfall“, erinnerte sie sich. „Ich glaube es ging um einen grauen Mercedes und einen Dacia.“ „Alle Achtung, Sie haben ein gutes Gedächtnis“, lobte ich verblüfft. „Na ja, ich habe mir diesen Unfall nur deswegen gemerkt, weil da diese junge Frau war, die von den Polizeibeamten befragt wurde.“ „Wieso fiel Ihnen die Frau auf?“, hakte ich nach. „Weil die schon vor dem Unfall an der Ecke stand und ständig die Elbinger Straße hinuntersah. So, als würde sie auf den Bus warten.“ Das hörte sich mehr als interessant an.

„Sehr merkwürdig“, stutzte meine Azubine. „Zumal es an der Ecke keine Haltestelle gibt.“ „Konnten Sie sehen, ob die Frau dem Mann im Mercedes ein Zeichen gab?“, wagte ich mich ein gutes Stück weit vor. Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe sie leider nicht die ganze Zeit beobachten können, aber ich bin mir sicher, dass sie den Fahrer des Mercedes kannte.“ Ich horchte auf. „Sie scheinen sich dessen recht sicher zu sein“, resümierte ich. „Ja natürlich, ich sah, wie sie, kurz nachdem die Polizei weg war, mit ihm zusammen in einen anderen Wagen stieg, der ein Stück weiter die Straße hinunter parkte. Der Mercedes war ja inzwischen abgeschleppt.“ „Das haben Sie wirklich gut beobachtet“, lobte ich sie verblüfft.

Dies waren mehr als Indizien, welche vom Anwalt der Betrüger als Zufälle abgetan werden konnten. Beweise für einen fingierten Unfall waren es allerdings auch noch nicht. „Ich hole uns erst einmal den Kaffee“, erklärte sie, während sie sich erhob und das Wohnzimmer verließ. „Kann ich Ihnen behilflich sein, Frau Mengelmann?“, bot sich Leonie an. „Ach, dass ist nett. Das Tablett ist mir doch schon recht schwer geworden.“

Während die Mädels in der Küche zu tun hatten, erinnerte ich mich an meine aktive Zeit bei der Braunschweiger Kripo. Es war im Grunde dieselbe Sache wegen der ich damals den Dienst quittierte. Das Desinteresse einiger Polizisten, aber auch die Unterbesetzung und der bürokratische Aufwand sorgen schon zu meiner Zeit dafür, dass den Dingen nicht in der erforderlichen Weise auf den Grund gegangen wurde. Schien eine Sache klar, legte sich so mancher Ermittler oft viel zu früh fest. Den vermeintlichen Täter im Blick, wurde dann so lange mit Scheuklappen weiterermittelt, bis die Kette von Indizien passte. Diese Gleichgültigkeit führt zu Justiziars Erblindung. Ein bekannter, nicht hinnehmbarer Makel.

„Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, die Polizeibeamten hätten auf Sie zukommen und zum Unfallhergang befragen müssen“, stellte ich klar, „…aber die Beamten wussten natürlich nicht, dass Sie etwas beobachtet hatten.“ Frau Mengelmann schenkte uns Kaffee ein und stellte die Kanne auf ein Stövchen ab. Die darunter züngelnde Flamme zischte, während sie die Tropfen fraß, die auf die brennende Kerze tropften. „Das ist so nicht richtig, Herr Lessing“, widersprach die alte Dame. „Ich habe den Wachtmeister darauf angesprochen, aber er sagte mir, dass bereits alles geklärt sei.“

Leonie und ich sahen uns fassungslos an. Wobei ich meine Wut nur schwer verbergen konnte. „Wären Sie bereit, Ihre Aussage vor Gericht zu wiederholen?“, stellte Leonie die entscheidende Frage. Frau Mengelmann zuckte mit der Schulter. „Natürlich, warum nicht?“ „Großartig“, freute sich meine Azubine. „Genau wie die Kekse“, gestand ich. „Haben Sie die selber gebacken?“ „Sie sind ein Schmeichler, Herr Lessing. Die Kekse sind von meiner Enkelin. Sie hat Konditorin gelernt.“ Da schloss sich der Kreis auf eine wundervolle Weise und es bestätigte sich wieder einmal, dass ich mich damals richtig entschieden hatte.

-3-

In den folgenden Tagen hatten wir alle Hände voll mit der Observation an der Antonius -Gemeinde und mit allerlei kleineren Fällen zu tun. Eigentlich ging das Leben seinen ganz normalen Gang und so hatte ich Miriams Idee zu einer Lesung im Schmidt Terminal an der ‚Halchtersche Straße‘ zu gehen, längst wieder vergessen. „Denkst du an heute Abend, Schatz?“, erinnerte sie mich bei unserem gemeinsamen Frühstück. Ich sah sie aus großen Augen fragend an.

„Du hast doch wohl hoffentlich dein Versprechen nicht vergessen?“, reagierte sie lauernd. „Natürlich nicht, mein Schatz“, entgegnete ich gedehnt. „Du hast es vergessen“, durchschaute sie mich enttäuscht. Inzwischen ratterten meine Synapsen auf Hochtouren. Der Überdruck in meinem Gehirn entwickelte die verrücktesten Ideen. „Kultur!“, entfleuchte es in letzter Sekunde meinem Mund. Das Überdruckventil öffnete sich und der angestaute Druck entwich mit einem leisen Pfeifen, allgemein als Tinnitus bekannt. „Dein Glück“, quittierte Miriam meine Eingebung. „Ich dachte schon, du hättest die Lesung vergessen.“ „Ich bitte dich, mein Schatz. Wo werde ich denn etwas, was dir so sehr am Herzen liegt, vergessen können?“

„Überzieh es nicht! Sei heute Abend lieber pünktlich, damit du dir noch etwas Passendes anziehen kannst.“ Vergebliche Liebesmüh, meine Liebste hatte mich also doch längst durchschaut. C`est la vie, so ist das Leben. „Ich werde um 17 Uhr auf der Matte stehen, versprochen.“ Damit stopfte ich mir den letzten Bissen Toast in den Mund, schlürfte den Rest Kaffee aus der Tasse und gab Miriam einen Kuss. „Du willst doch wohl nicht…“ Weiter brauchte mein Schatz nicht zu sprechen. Ich tippte mir an die Stirn und drehte mich zu Ramona. „Jetzt hat dich der Papa beinah vergessen.“ „Ich frage mich, ob es sich bei dir schon um eine einsetzende Demenz handelt“, bekam ich die nächste Breitseite. Ich drückte meiner Kleinen ein Kuss auf die Stirn und sah Miriam kopfschüttelnd an. „Allmählich brauchst du für deine Zunge auch einen Waffenschein.“

Während ich über die Treppe in meine Detektei hinunter ging, hoffte ich darauf, dass meine Worte die erhoffte Wirkung erzielten. Ich kann schon was vertragen, aber dies war nicht der Umgang, den ich mir für uns wünschte.

So richtig wohl fühlte ich mich in der Klamotte nicht, aber Miriam hatte auf Hemd und Krawatte bestanden. Bei dem legeren Jackett hingegen konnte ich mich durchsetzen. Der Stetson gehörte ohnehin zu mir wie die Pileolus zum Papst. „Wenn Tanja in den nächsten 5 Minuten nicht hier eintrudelt, können wir das Event sowieso vergessen“, wetterte Miriam ungeduldig. „Es ist immer das Gleiche, wenn wir ausgehen wollen“, brachte sie sich selbst in Rage. „Ich hoffe, sie hat uns nicht vergessen. Scheint ja in letzter Zeit normal zu sein.“ Auch diese Spitze ignorierte ich weltmännisch.

Kurz darauf saßen wir in meinem Wagen und fuhren über die ‚Goslarsche‘ und die Kreuzung ‚Kaltes Tal‘, um am Entertainment-Center vorbei, zum Busbahnhof des Schmidt-Terminals zu gelangen. Obwohl wir bereits 20 Minuten vor Veranstaltungsbeginn eintrafen, war der Andrang beachtlich. Zu meiner Überraschung begrüßte uns der Autor persönlich. Gleich darauf gab es einen Begrüßungssekt. Auch wenn mir jetzt ein Bier lieber gewesen wäre, eine schöne Geste, die Miriam offensichtlich sehr genoss. Was für ein Trubel und so gar nicht meins, aber was tut man nicht alles dem Haussegen zuliebe?

Als ich meine Liebste inmitten einer Traube gackernder Hühner sah, wandte ich mich dem Musiker zu, den ich am Ende eines kleinen Saales hinter seiner Gitarre entdeckte. Das weckte schon eher mein Interesse, zumal ich mich in meiner Jugendzeit selber mit der Klampfe versuchte. Wenn es auch nur dazu diente, die richtigen Mädels abzuschleppen. Wer in die Saiten hauen konnte, brauchte kaum Konversation betreiben. Da war er wieder, der wehmütige Gedanke an meine Junggesellenjahre. Ist es vermessen, sich diese Zeit für ein paar Tage zurückzuwünschen?

Irgendwann begann die Veranstaltung mit einer kurzen Ansprache des Veranstalters. Da dieser unentgeltlich für das leibliche Wohl seiner Gäste sorgte, war eine kurze Werbung in eigener Sache nur legitim. Im Anschluss folgten einige Worte des Autors zum Inhalt des Romans und dem Hinweis, das Handy nach der Lesung wieder anzuschalten. Es war schon witzig zu sehen, wie viele Leute daraufhin in ihre Taschen griffen. Den Abschluss der Vorredner machte der Musiker, der hervorhob, wie nah sich seine Songs inhaltlich an den Roman anlehnten.

Endlich ging´s los und das, was der Autor vortrug war zu meiner Überraschung weniger langweilig als befürchtet. Ja, der Krimi erinnerte mich sogar ein wenig an mein eigenes Leben.

Nachdem das erste Kapitel abgeschlossen war, griff der Musiker in die Saiten. Er sang einen Schlager aus den frühen Achtzigern. Das war der Moment, in dem zwei Reihen vor mir eine Frau aufsprang und dem Mann hinter der Klampfe einen Büstenhalter zuwarf. Es folgten eindeutige Zurufe, und Liebesbekundungen, die den Musiker vollends aus dem Rhythmus brachten. Ein Mitarbeiter des Veranstalters ging schließlich dazwischen und bedeutete der Stalkerin wieder Platz zu nehmen. Nachdem sich auch das Publikum beruhigt hatte, las der Autor weiter.

„Du hattest Recht“, flüsterte ich Miriam zu. „So eine Lesung ist wirklich eine interessante Sache.“ Meine Liebste verdrehte die Augen. „War ja klar.“ Als sich das Gleiche nach dem Ende des zweiten Kapitels wiederholte, schlug die Stimmung unter den Zuhörern um. Was zuvor irgendwie amüsant wirkte, schien nun zu nerven. Einige Besucher forderten die Dame zur Ruhe auf. Als sich diese dann sogar zur Bühne begab, versuchte der Mann vom Ordnungsdienst die Frau daran zu hindern. Die Situation drohte bereits vollkommen aus dem Ruder zu laufen, als ihr Idol eingriff und mit der Stalkerin den Saal verließ.

„Haben Sie bitte einen Moment Geduld und bleiben Sie bitte so lange sitzen. Ich bin sicher, Mark Beerell wird in wenigen Augenblicken zurückkommen.“ Die Situation wirkte auf die Anwesenden zwar irgendwie skurril, aber sie taten, um was sie der Autor gebeten hatte, weil er es verstand, die Zeit des Wartens mit interessanten Informationen zu überbrücken. Zur allgemeinen Verwunderung dauerte es tatsächlich nicht lange, bis der Musiker zurückkehrte und den angespielten Song zu Ende performte.

Das Publikum hatte gerade noch applaudiert, als ein lauter Schrei des Entsetzens die einsetzende Stille zerriss. Jedem der Anwesenden war sofort klar, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste. Ich sprang auf, um nachzusehen. Autor und Musiker sowie einige Zuhörer folgten mir in den Ruhebereich des Terminals, wo die Veranstalterin mit der Hand vor dem Mund, starr vor Bestürzung, auf die Stalkerin deutete. Erst als ich näherkam, sah ich einen Schaschlikspieß aus dem rechten Ohr der Frau ragen.

Da sich vom Ordnungsdienst niemand berufen fühlte, um die Frau auf ein Lebenszeichen zu überprüfen, gab ich mich als Detektiv zu erkennen, trat an die Person heran und fühlte ihr den Puls. „Sie ist tot“, stellte ich fest. Erneute Schreie anwesender Damen lockten weitere Zuhörer und natürlich auch Miriam aus dem Saal an den Fundort der Leiche. „Das ist doch die Verrückte von vorhin“, hörte ich jemanden sagen. Ein anderer deutete auf Mark Beerell. „Sie haben doch gerade noch mit der Frau gesprochen.“ „Der Musiker hat sie ermordet, das liegt doch auf der Hand“, schlussfolgerte vorschnell ein Mitarbeiter des Ordnungsdienstes.

„Rufen Sie lieber die Polizei“, bat Miriam den Mann erbost. Inzwischen wies ich die Zuhörer an, Ruhe zu bewahren und sich wieder auf Ihre Plätze zu setzen. Miriam zückte ihren Dienstausweis. „Ich bin Staatsanwältin. Niemand verlässt das Terminal, bis die Polizei hier ist. Postieren Sie sich bis dahin an den Ausgängen“, befahl sie den Männern vom Ordnungsdienst.

Die sahen hingegen die Veranstalterin fragend an. „Bitte meine Herren, folgen Sie den Anweisungen der Staatsanwältin“, bestärkte sie Miriam in ihrem Bemühen. Sie selbst schien vom Auffinden des Leichnams noch immer geschockt.

„Ich habe nichts damit zu tun!“, weigerte sich einer der Besucher. „Sie können mich hier nicht gegen meinen Willen festhalten!“, rief er. „Wer gehen will, kann dies nach Abgabe seiner Personalien natürlich tun, aber bedenken Sie bitte, dass Sie sich dadurch verdächtig machen“, machte Miriam allen Anwesenden deutlich. „Nach einer kurzen Befragung durch die Polizei können Sie ohnehin nach Hause gehen.“ „Unter uns ist ein Mörder, so viel steht fest“, ließ sich der Mann nicht beirren. „Offensichtlich haben Sie ein großes Interesse daran, die Veranstaltung so schnell wie möglich zu verlassen“, stellte ich fest. „Was wollen Sie damit sagen?“, reagierte der Mann bärbeißig. „Nichts“, entgegnete ich gedehnt. „Ich wundere mich nur, weil sie so nervös reagieren.“

„Irgendwie hat er ja Recht“, sprang ihm eine Frau zur Seite. „Wer garantiert mir denn, dass ich nicht das nächste Opfer des Mörders werde?“ „Gute Frau, es ist doch noch gar nicht sicher, ob es sich um einen Mord handelt.“ „Was denn sonst? Die Frau wird sich den Spieß wohl kaum selber in den Kopf gerammt haben“, meldete sich ein weiterer Zuhörer zu Wort. „Sie wissen ebenso wenig wie ich, ob es sich am Ende um einen tragischen Unfall handelt“, eröffnete ich eine weitere Möglichkeit.

„Das ist ja lächerlich“, erregte sich der Mann, der es so eilig hatte. „Da hinten sitzt der Mörder! Sie wollen Ihren Freund doch nur aus der Schusslinie nehmen.“ „Genau, der ist doch vorhin mit dem Opfer verschwunden“, stellte die Frau fest. „Er hat sie umgebracht, weil sie ihn mit ihrer Penetranz zur Weißglut brachte.“ Ich konnte mir diesen Schwachsinn nicht länger anhören und ging zu Mark, der mit Miriam und der Veranstalterin im Innenhof des Terminals nach Luft schnappte.

Nur wenige Minuten nachdem ich die Stalkerin auf ihre Vitalfunktionen überprüft hatte, trafen Polizei und Rettungswagen am Terminal ein. Miriam gab sich sofort als Staatsanwältin zu erkennen. Der ebenfalls eingetroffene Notarzt nahm sich des Opfers an und stellte kurz darauf dessen Tod fest. Nach und nach trafen weitere Streifenwagen ein. Polizisten sicherten den Fundort der Leiche und nahmen die Personalien aller Anwesenden auf.

„Was machst du denn hier, Leo?“, erkundigte sich Oberkommissar Sinner verwundert, als er mich im Foyer entdeckte, wie ich uns gerade einige Getränke organisierte. „Miriam und ich haben die Lesung besucht“, entgegnete ich, als wäre es das Normalste von der Welt. „Die Staatsanwältin ist auch hier?“ Sinner sah sich nach allen Seiten um. „Ist sie.“ Ich deutete auf den kleinen Innenhof. „Der smarte Typ neben ihr ist der Songwriter Mark Beerell“, erklärte ich. „Der Mann mit der Mütze ist der Schriftsteller. Die beiden traten gemeinsam auf.“

„Ich bin wirklich überrascht, dich bei einer solchen Veranstaltung anzutreffen“, räumte der Ermittler ein. „Etwas Kultur könnte dir auch nicht schaden“, erwiderte ich großspurig. „Offenbar erlebt man bei solchen Events einiges“, grinste Sinner. „Das Opfer ist übrigens die Stalkerin des Musikers. Er hat, kurz bevor die Leiche von der Veranstalterin entdeckt wurde, mit ihr gesprochen. Sie hatte wiederholt die Veranstaltung gestört.“ „Interessant“, überlegte Sinner. „Wir reden nachher weiter. Ich will hören, ob der Notarzt schon etwas zum Umstand des Todes sagen kann.“ „Sie hat einen Schaschlikspieß im Ohr“, warnte ich den Ermittler vor. „Das nenne ich mal kreativ“, reagierte Sinner bemerkenswert locker. Ich lieferte die Getränke im Innenhof ab und folgte ihm zum Fundort. Miriam ließ es sich nicht nehmen, mich dabei zu begleiten.

Als wir dazustießen packte der Notarzt gerade seinen Koffer ein. „Doktor Sahe-Mafasi“, hörten wir, wie sich der Mediziner vorstellte. „Die Frau starb an inneren Blutungen im Gehirn. Der Spieß muss ihr mit großer Kraft in das Ohr gerammt worden sein“, erklärte er. „Da war nichts mehr zu machen. Ich nehme an, es war in Ihrem Interesse, dass ich den Spieß so beließ, wie ich ihn in der Frau vorfand.“ Oberkommissar Sinner nickte dem Arzt dankbar zu. „Kann das Opfer bei der Tat oder danach geschrien haben?“ „Das kommt sicherlich darauf an, ob der Spieß Teile des Sprachzentrums zerstörte“, hielt sich der Arzt vage. „Da kann Ihnen der Rechtsmediziner nach der Obduktion sicher mehr sagen“, vertröstete er Sinner.

„Können Sie schon etwas zum Zeitpunkt des Todes sagen?“, erkundigte sich Schubert. Doktor Sahe-Mafasi hob nachdenklich die Brauen. „Unter allem Vorbehalt ist die Frau nicht länger als eine Stunde tot.“ „Das kommt hin“, bestätigte Miriam. „Herr Beerell begab sich gegen 19:20 mit der Frau in die Sitzecke, um mit ihr zu sprechen. Frau Schmidt entdeckte das Opfer etwa 10 Minuten nach seiner Rückkehr auf die Bühne. In der Zwischenzeit war weder ein Hilferuf noch ein Schmerzensschrei zu hören.“ „Dann war Herr Beerell also der letzte, der die Frau lebend sah“, stellte Kommissar Schubert fest. „Nein“, widersprach ich. „Der Letzte war der Mörder.“

Der Oberkommissar nickte mir bekennend zu. „Ich halte Herrn Beerell nicht für derart abgebrüht, um gleich nach dem Mord an… Wie heißt die Frau eigentlich?“, unterbrach ich mich.

„Ich wollte eigentlich auf die Spusi warten, um das Gesamtbild nicht zu zerstören“, erklärte Schubert den Umstand, dass er bislang noch nicht im Rucksack der Frau nach ihren Papieren gesucht hatte. „Haben Sie ein erstes Foto gemacht, um die Auffindesituation zu dokumentieren?“, erkundigte sich Sinner. „Wir können ja nicht zwingend davon ausgehen, dass die Spusi eintrifft, bevor das Opfer zur Seite kippt.“ Schubert schluckte trocken, griff zu seinem Handy und fotografierte das Opfer, sowie den Auffindeort.

Anschließend öffnete Sinner den Rucksack. „So, hier habe ich ja schon ihren Personalausweis. Das Opfer trug den schönen Namen Isabell Sonntag“, las er. „Sie wohnte hier in Wolfenbüttel.“ Miriam schüttelte den Kopf. „Der Name sagt mir nichts, aber ich sprach bereits mit Herrn Beerell. Er kennt die Tote von einigen Auftritten. Allerdings habe sie ihn nie zuvor in diesem Ausmaß gestalkt.“

„Die Besucher der Lesung werden ungeduldig“, unterbrach uns Walburga Schmidt, die natürlich bemüht war, die Situation für die Besucher des Schmidt Terminals erträglich zu halten. „Die Leute wollen verständlicherweise nach Hause.“ „Sie haben Recht“, nickte ihr Sinner verständnisvoll zu. „Kümmern Sie sich darum, Schubert. Ich möchte jetzt erst einmal mit Herrn Beerell sprechen.“ „Ja, aber wir können die Leiche doch nicht unbewacht hier herumsitzen lassen.“ „Dann stellen Sie halt einen der Polizisten dazu ab“, reagierte sein Vorgesetzter genervt. „Sowie Sie die Personalien und eine erste Aussage haben, können sie die Leute entlassen.“ „Soll ich die Leute gleich für morgen Vormittag in die Dienststelle einbestellen?“ Sinners Stirn krauste sich. „Machen Sie das, unsere Kollegen werden es Ihnen danken. Ich werde dann allerdings ganz sicher nicht anwesend sein.“

-4-

Spurensicherung und Rechtsmedizin bestätigten die ersten Eindrücke des Notarztes. Der Fundort der Leiche war auch der Tatort. Doktor Schnippler bezifferte 19:30 Uhr plus minus 15 Minuten als Todeszeitpunkt. Bevor und nachdem das Opfer in die Rechtsmedizin nach Braunschweig verbracht wurde, fertigte die Spurensicherung eine Unmenge von Fotos aus allen erdenklichen Positionen an. Jedes auch noch so unscheinbare Teilchen wurde durch ein kleines Nummernschild gekennzeichnet, in einem Grundriss dokumentiert und abschließend fotografiert. In dieser Weise bearbeitet, wurde es in einem Beutel mit einer Nummer eingetütet und in eine Beweismittelkiste eingeräumt.

Ähnlich verhielt es sich mit einer speziellen Folie, mit der abschließend jeder Zentimeter der Sitzecke beklebt wurde, um sie danach mitsamt den darauf befindlichen Fasern nebst potentiellen DNA-Trägern wieder abgezogen und vakuumiert zu werden. Auf diese Weise sichergestellt, konnte von Technikern im Labor genauestens nachvollzogen werden, wo sich die betreffende Folie und somit ein möglicher Beweis befunden hatte.

Seit ich meinem Dienst bei der Mordkommission quittiert hatte, war der technische Aufwand bei der Tatortanalyse enorm gestiegen. Inzwischen fand ein regelrechtes Wettrüsten zwischen Verbrechen und Polizei statt. Untersuchungsmethoden und die Sicherung möglicher Beweismittel waren eine Wissenschaft geworden. All dies konnte allerdings nicht die gute alte Ermittlungsarbeit ersetzen, bei der eine Fülle relevanter Indizien und Beweise in Kombination mit unterschiedlichsten Motiven zusammengetragen wurden.

Es lag auf der Hand, dass die Veranstaltung nicht fortgesetzt wurde. Entgegen aller Erwartungen wurde der Musiker weder von der Polizei verhaftet, noch zur Vernehmung in die Polizeidienststelle mitgenommen. Lange, nachdem der Autor und die übrigen Eventbesucher das Terminal verlassen hatten, saßen Miriam, Mark und ich mit Walburga Schmidt noch zusammen und unterhielten uns.

„Ich verstehe das alles nicht“, seufzte der immer noch sehr mitgenommen wirkende Songwriter. „Nach unserem Gespräch war alles tutti. Ich hatte ihr für einen der nächsten Tage ein Abendessen im Smedien zugesagt. Dort wollte ich ihr in aller Ruhe klarmachen, dass ich nicht mehr als eine Freundschaft zu ihr wollte“, erklärte uns Mark. „Ihr musste doch klar gewesen sein, dass du mitten in einer Partnerschaft steckst“, führte Walburga an, die den Musiker seit Jahren kannte. „Oder lief da was zwischen dir und dieser Frau?“, hakte sie nach. „Quatsch“, reagierte Mark energisch.

„Ich verstehe nach wie vor nicht, weshalb das Opfer keinen einzigen Laut von sich gab“, stellte Miriam die Frage, die uns alle beschäftigte. „Sie muss den Mörder gekannt haben“, schlussfolgerte Walburga. „Wie sollte er sonst so dicht an sie herangekommen sein?“ „Wenn ihr zum Tatort hinüberseht, wird klar, wie dunkel es dort ist. Viel heller war es dort zur Tatzeit auch nicht und dennoch gelang es dem Täter, das Ohr präzise zu treffen“, sinnierte ich. „Wenige Millimeter daneben und der Holzspieß wäre gebrochen.“

„Mir wird schlecht“, griff sich Walburga an den Hals. „Na weißt du, Leopold, ganz so ausführlich musst du uns an deinem Gedankengang auch nicht teilhaben lassen“, schimpfte Miriam. „Als ich die Frau mit dem Spieß im Kopf da sitzen saß, konnte ich zunächst meine Gedanken gar nicht ordnen“, versuchte die Veranstalterin den Augenblick zu erklären, in dem sie das schreckliche Bild vor sich sah. „Alles purzelte irgendwie durcheinander, ließ mich keinen klaren Gedanken fassen.“

„Es geht auch Menschen, die in ihrem Beruf häufig mit dem Tod zu tun haben nicht anders“, tröstete Miriam. „Ich werde mich hoffentlich niemals an den Anblick eines Ermordeten gewöhnen.“ „Was bleibt, ist die Frage nach dem Warum?“, fragte ich nach einem möglichen Motiv. „Mark scheint der Einzige der Anwesenden zu sein, der die Frau offenbar etwas kannte“, sagte ich nachdenklich. „Was willst du damit sagen?“, fühlte sich der Musiker angegriffen. „Dass du die Tote bei einem deiner Konzerte eventuell in Begleitung gesehen hast“, nahm ich ihm den Wind aus den Segeln.

„Es ist offensichtlich, dass du kurz vor dem Mord an Isabell Sonntag mit ihr am Tatort gesprochen hast“, kombinierte ich. „Das Gespräch mit ihr verlief harmonisch, weil ich mich auf ein Date mit ihr einließ.“ „Du hattest dich mit ihr verabredet?“, konnte Walburga kaum glauben, was uns Mark erzählte. „Aber das war doch nur, um sie fürs erste ruhig zu stellen“, behauptete er. „Jemand anderer hat das dann wörtlich genommen“, entgegnete ich unüberlegt. „Dein Sarkasmus war schon mal besser“, reagierte Miriam kopfschüttelnd. „Sorry.“

„Wie kam die Frau nur auf die Idee, du würdest dich auf sie einlassen?“, hakte Walburga nach. „Du bist dir sicher, der Frau keinerlei Hoffnungen gemacht zu haben?“ „Aber ja“, beteuerte Mark genervt. „Ich hatte mit der Lady nicht das Geringste zu tun. Sie war ein Fan, mehr nicht.“ „Wenn dem so ist, haben Sie nichts zu befürchten“, versprühte Miriam Zuversicht. „Ich weiß gar nicht, was ich den Kommissaren morgen Nachmittag sagen soll.“ „Herr Sinner hat Sie in die Dienststelle gebeten?“, erkundigte sich die Staatsanwältin. „Hoffentlich können die mich bis dahin als Tatverdächtigen ausschließen.“

„Ich glaube zwar nicht, dass es nötig sein wird, aber für den Fall der Fälle weiß ich einen guten Anwalt. Die Adresse eines ausgezeichneten Detektivs hast du ja“, grinste ich schelmisch. Wie konnte ich zu diesem Zeitpunkt ahnen, dass er schon kurz darauf meine Dienste in Anspruch nehmen musste?

„Du hattest Recht, mein Schatz. So eine Lesung ist tatsächlich eine tolle Sache“, räumte ich auf dem Heimweg ein. Miriam schüttelte ungläubig den Kopf. „Man kann einfach nirgends mit dir hingehen. Es scheint mir so, als würde dir der Tod an jeder Ecke begegnen.“ Mein Gesicht verzog sich, weil ich einen tiefen Seufzer ausstieß. „Ich weiß, was du meinst, aber was kann ich für das Schlechte in der Welt?“

-5-

„Guten Tag, Herr Beerell“, empfing Schubert den Musiker. „Es ist gut, dass Sie unserer Einladung nachgekommen sind.“ „Ich hoffe, ich kann zur Klärung des Verbrechens beitragen“, entgegnete der Songwriter. „Das wäre wünschenswert. Wie Sie sich sicher denken können, waren wir in der Zwischenzeit nicht untätig. Es gibt einige neue Erkenntnisse, die bereits etwas Licht auf den Fall werfen“, sprach der Kommissar für Marks Gefühl reichlich borniert. „Wenn Sie mir bitte in das Besprechungszimmer folgen? Mein Chef wird gleich zu uns stoßen.“

Der Besuch in der Polizeidienststelle an der ‚Lindener Straße‘ war eine Premiere für Mark. Aus seiner Sturm- und Drangzeit kannte er bislang nur die alte Villa auf dem ‚Grüner Platz‘. Dort hatte er allerdings auch schon mal eine Nacht in einer Ausnüchterungszelle verbracht. Lange war es her und fiel längst in die Rubrik ‚Jugendsünden‘. Trotzdem war sein Verhältnis zur Polizei auch heute eher von Misstrauen geprägt.

„Wollen Sie etwas trinken?“, erkundigte sich Schubert, kaum dass er auf dem Holzstuhl hinter dem Tisch Platz genommen hatte. „Kaffee, Cola, Wasser?“ „Ein Wasser wäre prima.“ Während er auf den Kommissar wartete, betrat sein Chef den Raum. „Entschuldigen Sie die kleine Verspätung, ich habe noch mit der Pathologie telefoniert. Wir wissen inzwischen, wie Frau Sonntag starb.“ Er legte eine Mappe mit einigen Seiten darin auf dem Tisch ab und stieß einen tiefen Seufzer aus. „Kein schöner Tod, wie Sie sich denken können.“

Mark zuckte mit den Achseln. „Ich weiß zwar nicht, wie ich Ihnen behilflich sein kann, aber…“ „Wie wäre es mit der Wahrheit?“, schnitt ihm Sinner das Wort ab. Im selben Moment kehrte Schubert mit den Getränken zurück. „Ich habe Ihnen einen Kaffee mitgebracht“, wandte sich der Kommissar seinem Vorgesetzten zu. „Sehr nett von Ihnen.“ Sinner schob ihm die Mappe zu und sah ihn schweigend an.

„Wenn ich Ihre Worte richtig in Erinnerung habe, erklärten Sie uns gegenüber, Sie hätten die Tote lediglich von einigen Konzerten gekannt, die Sie in diesem Jahr im regionalen Umfeld gaben“, fasste der Oberkommissar zusammen. Der Zeuge nickte. „Das stimmt so allerdings nicht“, bezichtigte ihn Sinner, die Unwahrheit zu sagen. „Sie wurden von Frau Sonntag erst gestalkt, nachdem Sie die Affäre zu ihr abbrachen.“ Mark Beerell fühlte sich ertappt.

„Offensichtlich haben Sie den Ernst der Lage noch nicht erkannt“, fuhr Sinner vor. „Im Zuge unserer Ermittlungen suchten wir natürlich auch die Wohnung von Frau Sonntag auf, wo wir auch den Anrufbeantworter des Opfers abhörten“, erzählte der Kommissar. „Sie können sich wohl nicht zufällig an einen Anruf erinnern, bei dem Sie eine Nachricht darauf hinterließen?“ Der Songwriter schluckte trocken. Hinter seiner Stirn rumorte es gewaltig. Blufften die Kommissare oder hatte das kleine Luder seine recht eindringliche Warnung tatsächlich nicht gelöscht?

„Okay, da war mal was zwischen Isabell und mir. Nichts Ernstes, nur für eine Nacht, dachte ich.“ „Das sah Frau Sonntag wohl etwas anders“, schlussfolgerte Schubert. „Na ja, sie sprach von der großen Liebe, obwohl ich ihr von Anfang an nichts versprochen hatte. Ich gab ihr sogar mehrfach zu verstehen, dass ich meine Lebenspartnerin auf keinen Fall wegen ihr verlassen würde.“ „Was ja wohl ganz offensichtlich nicht den erwünschten Erfolg brachte“, resümierte Schubert. „Deswegen mussten Sie Frau Sonntag auf andere Weise loswerden“, ließ Sinner keinen Zweifel daran, dass er Mark Beerell für den Mörder hielt.

„Die Frau war verrückt und ich wusste mir allmählich keinen Rat mehr, aber deswegen bringe ich sie doch nicht um.“ „So? Das hörte sich auf dem Anrufbeantworter aber ganz anders an“, warf ihm Schubert vor. Der Kommissar betätigte eine Taste auf seinem Laptop und spielte die Bandaufnahme ab. „Lass mich endlich in Ruhe und lass vor allem Marie aus der Sache raus, sonst bist du fällig.“

„Um Himmels Willen, ich meinte doch damit nicht, dass ich sie umbringen werde!“, erregte sich der Musiker. „So? Für mich klang das aber genauso“, ließ sich der Oberkommissar nicht beirren. Mark schlug mit der Faust auf den Tisch. „Verdammt noch mal, ich habe diese Frau nicht getötet, auch wenn ich es im Geiste schon etliche Male hätte tun können.“ „Sie sind impulsiv, ich würde sogar von Jähzorn sprechen“, interpretierte der Ermittler die Reaktion seines Gegenübers. „Zumindest haben Sie sich nicht unter Kontrolle.“

Mark winkte ab. „Sie drehen sich die Dinge so, wie Sie sie brauchen. Vorn mir erfahren Sie kein Wort mehr.“ „Dann muss ich Ihnen leider mitteilen, dass wir Sie in der Sache nicht mehr als Zeuge, sondern als Tatverdächtigen befragen.“ „Ich gehe jetzt! Sie können mich hier nicht festhalten“, verkündete der Befragte und stand auf, um den Raum zu verlassen. „Das steht Ihnen derzeit selbstverständlich noch frei, aber ich darf Sie bitten, sich bis auf Weiteres zu unserer Verfügung zu halten.“

Meine Prophezeiung bestätigte sich also, nur dass Mark die von mir erhaltende Visitenkarte von meinem Freund und Rechtsanwalts schneller benutzte als erwartet. Ebenso schnell klingelte das Telefon auf Trudes Schreibtisch und nur eine halbe Stunde später begrüßte ich die niedliche Reno in Christoph Börners Vorzimmer.

„Wo hast du denn nur meine aufsässige Nichte gelassen?“, erkundigte sich der smarte Advokat und Schwipp-Onkel meiner Azubine. „Die hat noch genügend Arbeit auf ihrem Schreibtisch“, entgegnete ich lächelnd. „Wie ich höre, hast du mich an einen Mandanten empfohlen. Ein gewisser Herr Beerell, dessen Veranstaltung du kürzlich mit Miriam zusammen besucht hast.“ „Ein Freund aus alten Zeiten, zu dem ich allerdings lange keinen Kontakt mehr hatte.“

„Wie auch immer, deinem alten Kumpel steht das Wasser bis zum Hals.“ In meinem Gesicht stand ein dickes Fragezeichen. „Wann soll er die Frau denn umgebracht haben? Er war höchstens 5 Minuten mit ihr allein. Das heißt, er war ja nicht mal mit ihr allein. Keine zwanzig Meter von den beiden entfernt saßen fünfzig Besucher der Lesung und warteten ungeduldig darauf, dass die Veranstaltung weitergehen würde. Abgesehen davon hast du den Mann kennengelernt. Glaubst du wirklich, der geht zwischen zwei Songs mal eben um die Ecke und ermordet seine Stalkerin?“ „Sie war mehr als seine Stalkerin“, überraschte mich Christoph. „Während dein Kumpel meinte, es wäre ein One-Night-Stand, glaubte Isabell Sonntag an die große Liebe.“ Ich griff mir an den Kopf. „Na jetzt wird mir natürlich einiges klar. So ein Idiot, durch seine Lügerei hat er sich jetzt so richtig verdächtig gemacht.“

„Es kommt noch dicker, Leopold“, setzte der Rechtsanwalt noch einen drauf. „Oberkommissar Sinner nahm natürlich die Wohnung des Opfers unter die Lupe und stieß bei dieser Gelegenheit auf eine Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter. Der Musiker hatte darauf eine Drohung hinterlassen.“ Ich griff mir an die Stirn. „Wie dumm kann man denn sein?“ „Als ich von ihm wissen wollte, weshalb er dies getan hatte, erklärte er seine Worte als Kurzschlusshandlung. Isabell Sonntag wollte seiner Partnerin von ihrer Beziehung erzählen.“ „Na prima, da liefert er auch gleich noch das passende Motiv mit“, seufzte ich.

„Er ist unbedarft und genau das lässt ihn in meinen Augen unschuldig erscheinen“, bekundete mein Freund. „Ich bin schon sehr darauf gespannt, wie das Obduktionsergebnis ausfällt. Eins ist klar, dein Kumpel ist nur deshalb noch auf freiem Fuß, weil Sinner ihm die Tat bislang nicht nachweisen kann. Sollte einer der Zeugen doch etwas gesehen haben, was Mark Beerell belasten könnte, wird Tim beim Richter Untersuchungshaft beantragen.“ „Es muss doch irgendetwas geben, womit wir Mark entlasten können“, überlegte ich. „Wahrscheinlich wäre es effektiver, den wahren Mörder zu finden“, krauste sich Christophs Stirn. „Du warst selber bei der Mordkommission und weißt, wie schwer es ist, in andere Richtungen weiter zu ermitteln, wenn du einen derart Verdächtigen im Gewahrsam hast.“

-6-

„Du hast doch vorhin mit dem Pathologen telefoniert, Tim. Konnte er dir erklären, weshalb das Opfer nicht schrie?“ Oberkommissar Sinner rieb sich nachdenklich den Nacken. „Er hat es mir zwar erklärt, aber diese medizinischen Begriffe sind für mich nichts als Fachchinesisch. Das Ganze klang schon reichlich kompliziert, aber zumindest ist die Art, wie die Frau ermordet wurde, aller Wahrscheinlichkeit dafür verantwortlich.“ „Krass. Der Täter wusste also ganz genau, was er tat“, schlussfolgerte Schubert.

„Einen Moment bitte, ich bekomme gerade die Zusammenfassung herein, um die ich Doktor Schnippler bat.“ Der Oberkommissar überflog den kurzen Befund, sah mit aufgeblasenen Wangen zu seinem Kollegen und zitierte. „ Der Spieß drang durch den Gehörgang, zerfetzte das Trommelfell und zerstörte die Ohrschnecke.“ Er holte tief Luft und schüttelte entsetzt den Kopf, um schließlich weiterzulesen. „Der Spieß drang dann durch den Vestibularkanal in den Temporallappen, wo das Sprachzentrum verletzt wurde und es zu inneren Blutungen kam, die letztendlich sehr schnell zum Exitus führten.“

„Ich habe noch nie etwas von einer solchen Tötungsart gelesen oder gehört“, bekundete der Kommissar. „Ich auch nicht und ich habe schon so einiges gesehen“, unterstrich Sinner. „Wo lernt man auf eine derart schreckliche Weise zu töten?“, brachte es Schubert auf den Punkt. „Vielleicht beim Geheimdienst oder einer Spezialeinheit des Militärs“, überlegte der Oberkommissar. „Oder aber beim organisierten Verbrechen“, vermutete Schubert. Sinner kam eine weitere Möglichkeit in den Sinn. „Vielleicht wird diese Art der Tötung aber auch bei einer fernöstlichen Kampfsportart gelehrt.“ „Mit Sport hat das wohl nichts mehr zu tun“, verzog Schubert das Gesicht.

„Wie dem auch sei“, beendete der Oberkommissar die Spekulationen. „Sie sollten herausfinden, was unser Tatverdächtiger in seinem bisherigen Leben so getrieben hat. Ich zäume den Gaul inzwischen von hinten auf und erkundige mich bei Roland Hecht.“ „Wer ist das?“, krauste sich Schuberts Stirn. „Ein Bekannter von mir, der als ein Experte für militärische Ausbildung bei der Bundeswehr gilt. Er wird mir sicherlich sagen können, ob diese Tötungsart Bestandteil einer Nahkampftechnik ist. Wir treffen uns in etwa zwei Stunden in der Kriminaltechnik.“

Während sein Vorgesetzter wieder einmal in einem Außeneinsatz war, blieb für Schubert, wie so oft, nur die muffige Büroarbeit am Computer. Er hasste diese Tage, weil sie so gar nichts mit dem zu tun hatten, was er sich unter seinem Beruf vorgestellt hatte.

„Was Sie mir da schildern, hat eher wenig mit einer gebräuchlichen militärischen Nahkampfausbildung zu tun“, erklärte Roland Hecht. „Allerdings findet man beim Mixed Martial Arts, kurz MMA genannt, auch die Kunst, sich mit verschiedenen Waffen zu verteidigen. Das israelische Militär und der Mossad nutzen diese effektive Art der Kampftechnik bei der Ausbildung seiner Spezialkräfte und den Agenten.“ Sinner stutzte. „Um eine solche Technik einzusetzen bedarf es also fundiertes Fachwissen.“ „Wenn es derart präzise und in der von Ihnen beschriebenen Weise ausgeführt wurde, ganz sicher.“

„Was ist mit Terrorismus?“, hakte Sinner nach. „Eher nicht“, schien sich Hecht sicher. „Eine solche Technik ist eher filigran und soll in den meisten Fällen etwas Bestimmtes zum Ausdruck bringen. Es erfordert viele Jahre der Übung, ehe ein Holzspieß derart präzise eingesetzt werden kann. Beim Terrorismus geht es eher um martialisches Auftreten, welches Angst und Schrecken in der Bevölkerung verbreiten soll.“ „Wie sieht es mit der organisierten Kriminalität aus?“, stellte der Oberkommissar seine vorerst letzte Frage. „Sorry, aber da bin ich nicht der richtige Ansprechpartner“, hielt sich Hecht zurück. „Da dürfte es in Ihren Reihen sicherlich qualifiziertere Experten geben.“ „Hoffentlich haben Sie damit recht. Vielen Dank für Ihre Expertise und Ihre Zeit.“

Wesentlich weiter hatte ihn der Experte nicht gebracht, aber immerhin wusste er nun, dass es Kampfsportarten gab, bei der nicht nur Schwerter und Stöcke zum Einsatz kamen. Er fragte sich, was der Mord an einer Stalkerin in einer beschaulichen Stadt wie Wolfenbüttel mit dem Mossad, der Mafia oder den Triaden zu tun haben sollte. Letztlich wischte er die Gedanken daran einfach zur Seite und schüttelte den Kopf. Was nicht sein durfte, dass konnte auch nicht sein.

„Und? Konntest du etwas herausfinden?“, überfiel Oberkommissar Sinner seinen Kollegen Schubert geradezu, als sie auf dem Parkplatz vor der Rechtsmedizin aufeinandertrafen. „Dieser Beerell war zwar bei der Bundeswehr, aber eine besondere Nahkampfausbildung hat er dort nicht erhalten“, nahm ihm Schubert eine weitere Hoffnung. „Aber das bedeutet ja nicht, dass er sich dieses Wissen nicht in seiner Freizeit angeeignet hat.“ „Mach es nicht so spannend“, forderte ihn Sinner auf.

„Ich bin durch Zufall auf einen Post bei Facebook gestoßen, der unseren Tatverdächtigen mit einem gemeinsamen Bekannten zeigt.“ Schubert reichte seinem Vorgesetzten sein Handy auf dem er das betreffende Foto aufgerufen hatte. „Der Mann ist Aikido-Kämpfer in Braunschweig. Die Gruppe trainiert in der ‚Rote Wiese‘.“ „Sehr gute Arbeit, Schubert“, lobte Sinner.

„Hallo Ruprecht“, begrüßte der Oberkommissar den Leiter der Kriminaltechnik. „Hast du etwas für uns?“ „Jede Menge und nichts“, entgegnete der Techniker. „Die Sitzgruppe ist geradezu übersät mit Fingerabdrücken und DNA. Es wird Tage dauern, um alles auszuwerten.“ „Wie sieht es mit Faserresten und dergleichen aus?“, hakte Schubert nach. „Da gilt das Gleiche. Wie ich von einem der Angestellten erfuhr, gehen im Laufe einer Woche mehrere Reisegesellschaften durch das Terminal. Unmöglich nachvollziehbar, welche Kleidung diese Leute trugen, um sie von der der zum Tatzeitpunkt Anwesenden auszuschließen.“

„Das kann doch alles nicht wahr sein“, wetterte der Oberkommissar. „Es muss doch unter all diesen Anhaftungen ein Fussel unseres Tatverdächtigen sein, auf dem sich etwas Blut des Opfers befindet“, lamentierte er. „Tja, das Leben ist kein Ponyhof“, feixte Ramsauer. „Ich kann Ihnen leider keine Beweise backen. Der Angriff muss für das Opfer derart überraschend gekommen sein, dass es nicht in der Lage war, sich wehren zu können. Konnte der Rechtsmediziner unter den Fingernägeln der Toten keinerlei Abwehrspuren finden?“ „Leider nicht“, entgegnete Sinner seufzend. „Was meine Annahme bestätigt“, unterstrich der Techniker. „Die arme Frau hatte nicht den Hauch einer Chance. Geradezu gespenstisch, wenn Sie mich fragen.“

„Apropos Gespenst. Besteht die Möglichkeit, dass eine bislang unbekannte Person auf einem anderen Weg als dem Eingang vom Busbahnhof ungesehen in das Terminal gelangte?“, fiel Schubert eine Seitentür ein, die zu einem kleinen Parkplatz führte. „Dabei handelt es sich um eine Tür mit Schnappschloss“, erklärte der Techniker. „Nach Aussage der Veranstalterin ist das Schloss stets verriegelt“, las der Kommissar von seinem Notizzettel ab. „Stellt sich die Frage, ob das Schloss vorher nicht doch entriegelt wurde“, merkte Sinner an. „Da muss ich Sie enttäuschen, dieses Schloss verfügt nicht über einen derartigen Mechanismus“, machte Ramsauer die Überlegung des Oberkommissars zunichte.

„Es gibt drei Türen, die in das Terminal führen“, holte Ramsauer aus. „Der Haupteingang zum Gebäude befindet sich auf der ‚Halchtersche Straße‘. Dort gibt es auch noch eine kleine Küche, in der wir nichts tatrelevantes fanden. Von dort aus hätte der Täter oder die Täterin mitten durch den Veranstaltungsraum laufen müssen“, erklärte der Leiter der Spusi. „Abgesehen davon war der Eingang durch ein Schnappschloss nur von Drinnen als Fluchttür nutzbar“, ergänzte der Techniker. „Womit dieser Zugang auszuschließen ist“, sinnierte Sinner.

„Aufgrund der Aussagen der Mitarbeiter der Firma Schmidt hielt sich nach dem Beginn der Lesung kein Besucher außerhalb des Veranstaltungsraums auf. Nach der zweiten Unterbrechung begaben sich der Musiker und das spätere Mordopfer in den Teil des Terminals, der als Gastronomischer Teil genutzt wird und zum seitlich gelegenen Parkplatz führt“, fasste Sinner zusammen. „Die Mitarbeiter hielten sich nach eigenen Angaben in der Nähe der Eingangstür auf“, führte Schubert aus. „Dort soll während des Gesprächs zwischen Mark Beerell und dem späteren Opfer keine weitere Person durchgegangen sein.“

„Dann muss der Täter das Terminal erst betreten haben, nachdem die Lesung wieder begonnen hatte“, schlussfolgerte Oberkommissar Sinner. „Wieviel Zeit verging, bis Frau Schmidt die Tote entdeckte?“, versuchte der Ermittler den Ablauf zu rekonstruieren. Sein Kollege Schubert sah auf seinen Notizblock. „Der Musiker setzte die Lesung mit einem Song fort, den er vor der Unterbrechung nicht zu Ende spielen konnte. Erst im Anschluss begab sich die Zeugin zur Theke, hinter der sie daraufhin das Opfer in einer Sitzecke vorfand“, beschrieb der Kommissar. Er sah nochmals auf seinen Notizblock. „Ihrer eigenen Einschätzung nach waren bis zu diesem Zeitpunkt etwa sechs bis sieben Minuten vergangen.“

„Wo befanden sich die beiden Mitarbeiter des Ordnungsdienstes während dieser Zeitspanne?“, hakte Sinner nach. „Immer noch im Bereich der Eingangstür“, las Schubert ab. „Wenn dem so ist, kann es keinen anderen Täter als Mark Beerell geben. Er war der Einzige, der bis wenige Minuten vor der Entdeckung des Opfers mit diesem allein war. Er hat ein Motiv, weil er die Affäre zu Frau Sonntag vor seiner Lebensgefährtin geheimhalten wollte und letztlich war er es, der ihr auf dem Anrufbeantworter eine Drohung hinterließ.“ Die Ermittler waren sich einig. „Machen wir Nägel mit Köpfen.“

„Tja, meine Herren. Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht wesentlich weiterhelfen kann, aber wie ich sehe, werden Sie den Tatverdächtigen auch ohne mich überführen können“, erklärte der Leiter der Kriminaltechnik. „Auf mich wartet noch reichlich Arbeit“, verabschiedete sich Ramsauer mit einem Lächeln auf den Lippen. „Ich weiß nie, ob er nicht wieder einen seiner Späße gemacht hat“, schüttelte Sinner den Kopf.

„Wenn wir ihm nun auch noch eine Verbindung zum Kampfsport nachweisen können, ist die Sache klar“, ließ sich Schubert nicht aus dem Konzept bringen. Womit sich der alte Herr noch einmal umdrehte. „So ist das mit der Liebe, wenn man das haben will, was man nicht hat, setzt man nur das aufs Spiel, was man hat und hat am Ende gar nichts mehr. Ich habe meine Uschi jedenfalls nie betrogen“, bekundete der Techniker und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.

-7-

„Es ist nur eine Frage der Zeit, wann die Polizei bei deiner Lebensgefährtin auftaucht und dich nach der Beziehung zu Isabell Sonntag befragt“, setzte ich Mark Beerell ins Bild. Der Musiker verlor jegliche Farbe aus dem Gesicht. „Dürfen die das denn einfach so?“ „Du scheinst dir immer noch nicht über den Ernst der Lage im Klaren zu sein“, griff ich seine Frage auf. „Es geht hier um Mord! Einen Mord, der dir angelastet werden soll. Ein Mord, der dich für fünfzehn Jahre hinter Gitter bringen könnte.“ „Ja, aber ich wars doch nicht“, entgegnete Beerell naiv. „Das weißt du und vielleicht glauben dir dein Anwalt und ich, aber der Richter wird sich ganz sicher nicht auf dein Wort verlassen.“

Mein Gegenüber sah mich aus starren Augen voller Entsetzen an. Ich glaube, er hatte erst in diesem Augenblick wirklich begriffen, dass seine Freiheit ernsthaft in Gefahr war. „Ich gehe mal stark davon aus, dass deine Lebenspartnerin nichts von der Affäre ahnt“, fuhr ich mit seiner Befragung fort. Mein Klient schüttelte den Kopf. „Dann solltest du so schnell wie möglich zu ihr fahren und ihr alles beichten. Glaub mir, es ist besser, wenn sie die Wahrheit von dir erfährt.“ „Da muss ich dann jetzt wohl durch.“

„Eins noch“, hielt ich ihn zurück. „Gibt es etwas, was ich sonst noch wissen sollte?“ „Was meinst du, Leopold?“ „Hat dir Frau Sonntag möglicherweise etwas aus ihrer Vergangenheit oder von Problemen erzählt, die sie mit jemandem hatte?“ „Wir hatten einen One-Night-Stand, mehr nicht. Glaub mir, Leopold, dabei und auch danach wurde nicht viel gesprochen.“ Mein Klient überlegte. „Das heißt, als ich sie fragte, womit sie ihre Brötchen verdient, meinte sie, dass sie von ihrem Ex gut versorgt wird.“ „Wer ihr geschiedener Mann sei, erwähnte sie wohl nicht?“ „Wie gesagt, wir hatten Besseres zu tun.“

„Herr Börner hat dir ja gesagt, dass du damit rechnen musst, von der Polizei demnächst wieder vernommen zu werden. Bis dahin solltest du in dich gehen und dir noch einmal all das ins Gedächtnis rufen, was du im Zusammenhang mit Frau Sonntag gesehen oder gehört hast. Jede, aus deiner Sicht auch noch so unbedeutende Kleinigkeit könnte von Bedeutung sein.“ „Falls mir noch etwas einfällt, melde ich mich.“

Im Hinblick auf das, was nun vor meinem Klienten lag, wollte ich nicht in seiner Haut stecken. Er hatte meine Detektei gerade verlassen, als ich Trude mit den entsprechenden Recherchen beauftragte. „Es geht mir um die Vergangenheit von Frau Isabell Sonntag. Ich möchte alles wissen, was die Ermordete betrifft“, erklärte ich. „Wer sind ihre Eltern? Hat sie eine Ausbildung gemacht? Wo arbeitete sie und wer war ihr Ex?“ „Und was machen wir?“, erkundigte sich Leonie. „Du kümmerst dich um Herrn Wallner und Pfarrer Möller. Falls du dabei Hilfe brauchst, kannst du dich auf Axel verlassen. Er weiß Bescheid.“ „Wie, ich soll die beiden Fälle allein weiter betreuen?“, fragte meine Azubine verdutzt nach. „Fühlst du dich der Aufgabe nicht gewachsen?“ „Doch, klar, Chef, danke für Ihr Vertrauen.“

„Was den Versicherungsbetrug betrifft, habe ich unseren Bericht bereits an die Schadenstelle der Öffentlichen übermittelt“, brachte mich Trude auf den neusten Stand. „Die werden sich bei uns melden.“ „Sehr schön, dann können wir zwei uns nun auf unseren Hauptfall konzentrieren. Ich werde mir jetzt die Wohnung von Frau Sonntag vornehmen, um mir selbst ein Bild von der Frau zu machen.“ „Treten Sie dem Oberkommissar dabei bloß nicht wieder auf die Füße“, mahnte meine Putzsekretärin. „Es läuft gerade so schön harmonisch.“ „Aber Trude, Sie kennen mich doch.“ „Eben.“

Die Wohnung von Isabell Sonntag befand sich in Melverode, unmittelbar am Einkaufscenter in der ‚Görlitzstraße‘. Die wenigen Parkplätze waren derart schmal, dass ich beim Aussteigen darauf achten musste, die Tür meines Wagens nicht zu weit zu öffnen. Direkt neben dem Bäcker führte ein Gang in den hinteren Bereich des Mietshauses. Ein Klingelschild mit dem Namen des Opfers ließ darauf schließen, dass sie bis zu ihrem Tod in der zweiten Etage gelebt hatte.

Das Siegel der Polizei an der Wohnungstür war von weitem zu erkennen. Der Kleber, der es fest auf dem Türrahmen halten sollte, war auch nicht mehr das, was er zu meiner aktiven Zeit war. Ebenso wenig das Sicherheitsschloss, welches seinen Namen nicht verdiente. Ich benötigte nur wenige Sekunden, um mit meinem Türöffner in die Wohnung zu gelangen. Keiner der Nachbarn hatte etwas mitbekommen.

Da stand ich also mitten auf dem Flur und sah mich um. Es war ein beklemmendes Gefühl, in der Vergangenheit einer Toten zu stehen und anhand der Gegenstände herausfinden zu wollen, um was für einen Menschen es sich bei Isabell Sonntag gehandelt haben mochte. Auf dem ersten Blick wurde mir klar, dass sie recht ordentlich gewesen war. Schirm, Schuhe, Kleiderbürste und Jacken hatten jeweils ihren festen Platz. Hinter der Spiegeltür des Garderobenschranks lagen Tücher, Handschuhe und weitere nützliche Gegenstände, die man zum Einkaufen benötigt.

Bis auf einen Frühstücksteller, Besteck und eine Tasse auf der Ablage der Spüle stand auch in der Küche nichts herum. Ein Blick in den fast leeren Kühlschrank verriet mir, dass sie nicht oft kochte. Was wiederum auf einen einsamen Menschen hindeutete. Ich bediente mich an einer der beiden darin befindlichen Wasserflaschen und gönnte mir einen wohltuenden Schluck. Die Verstorbene hatte sicher nichts dagegen.

Oftmals sind es Fotos, die irgendwo in der Wohnung an den Wänden hängen oder gerahmt auf Kommoden, Schreibtisch und Nachtschränken standen. In dieser Wohnung fand ich nichts von alledem. Selbst wer keinen Partner hat oder hatte, ist Kind von jemandem. Kein Foto von seinem Ex aufzuhängen, ist nachvollziehbar, aber wer noch nicht einmal ein Bild seiner Eltern aufstellt, muss eine schreckliche Kindheit erlebt haben. Selbst wenn dies alles der Fall war, fragte ich mich, weshalb in der gesamten Wohnung kein einziges Foto ihres Idols zu finden war. Hier stimmte etwas nicht, so viel sagte mir meine Erfahrung.

Mein Eindruck von einer sehr aufgeräumten Wohnung setzte sich in allen weiteren Räumen fort. Die Wohnung war nach meinem Dafürhalten bestenfalls ein Rückzugsort und weniger ein Ort an dem gewohnt und gelebt wurde. Sie warf mehr Fragen auf, als sie beantwortete und doch war ich mir sicher, dass sie ein Geheimnis barg, denn eine Insel der Ruhe konnte auch so etwas wie ein Versteck sein.

Ich hatte die Frau erlebt, hatte mitbekommen, wie verrückt sie sich im Terminal benahm und nun sah ich, wie sie gelebt hatte und beides passte ebenso wenig zusammen wie ein Kuckucksei in ein Storchennest. Immer und immer wieder sah ich mich in der Wohnung um. Irgendetwas passte hier nicht hinein, war fehl am Platz, störte mich, ohne zu wissen, was es war. Zwei Kabel auf ihrem Schreibtisch deuteten auf ein Laptop welches wohl von der Polizei mitgenommen wurde. Letztlich fiel mein Blick auf einen Designersessel, der wie ein Fremdkörper auf mich wirkte.

Ich räumte das runde Kissen zur Seite und kippte die Sitzschale samt Ständer nach vorn, um an den runden Boden zu gelangen. Dieser ließ sich relativ einfach abdrehen. Als ich das Eisen abhob, lehnte ich mich zufrieden zurück. Ich hatte eine kleine Ledertasche entdeckt, die offenbar so etwas wie der ganz persönliche Tresor der Toten war. Unter anderem bewahrte sie hier all die Fotos auf, die ich in der Wohnung vermisst hatte. Darüber hinaus Papiere, Geld und Briefe, doch letztlich weckte ein USB-Stick mein ganz besonderes Interesse.

Bevor ich mich dazu entschloss, alles wieder an seinen Platz zurückzulegen, fotografierte ich den Inhalt im Versteck, jeden einzelnen Brief sowie die Papiere. So konnte ich Christoph die Fotos vorlegen und Oberkommissar Sinner mit der Nase darauf stoßen, ohne einräumen zu müssen, in die Wohnung eingebrochen zu sein. Nur auf diese Weise waren die mutmaßlichen Beweise vor Gericht verwertbar. Da ich den Datenträger nicht an Ort und Stelle kopieren konnte, nahm ich ihn kurzerhand an mich, um mir dessen Inhalt auf meinem Laptop im Auto anzusehen.

Zu meiner Überraschung war der Stick mit einem Passwort gesichert und kopiergeschützt. Auf was ich da gestoßen war, ließ sich allerdings nur erahnen. Doch bereits die Auswertung der Briefe und Dokumente, die ich mit meinem Handy abfotografiert hatte, machte mir klar, dass der Fall weit komplexer war, als zunächst angenommen.

Während ich mir noch eines der Fotos genauer ansah, fiel mir ein schwarzer Audi auf, der neben meinem Wagen parkte. Ich bemerkte eine Vignette, die an der Frontscheibe steckte. Zwei südländisch aussehende Männer stiegen aus und gingen auf den Gang zu, der an der Bäckerei vorbei zum Eingang des Mietshauses führte. Egal, ob es nun Neugier, Erfahrung oder einfach nur Bauchgefühl war, es trieb mich dazu, ihnen zu folgen.

Einer der beiden sah sich um, bevor er auf das Klingelschild von Isabell Sonntag drückte. Als sich nichts tat, betraten sie das Gebäude durch die unverschlossene Haustür. Ich musste herausfinden ob die Wohnung des Opfers ihr Ziel war. Während die vermeintlichen Südländer mit dem Aufzug fuhren, nahm ich die Treppe. Ich hörte, wie sie in der 2. Etage ausstiegen und folgte ihnen vorsichtig in den Flur, der zur Wohnung des Opfers führte.

Die Herren waren weniger zimperlich als ich, als sie das Polizeisiegel brachen. Das Schloss bekamen sie zwar weniger schnell geöffnet, aber ebenso professionell. Ich griff zum Handy und wählte den Notruf mit unterdrückter Nummer. „Ich wohne in der ‚Görlitzstraße‘ 8 in Melverode. Hier wurde eine Wohnung versiegelt, in die gerade zwei Männer einbrechen.“ „Mit wem spreche ich denn?“ „Das tut nichts zur Sache“, erwiderte ich. „Haben die Männer einen Schlüssel?“, erkundigte sich der Beamte. „Was? Nee! Wenn die einen Schlüssel hätten, bräuchten die ja wohl kaum in die Wohnung einbrechen“, entgegnete ich und beendete das Gespräch.

Nun hieß es warten und warten und warten. Nach einer knappen halben Stunde verließen die Herren Einbrecher die Wohnung. Da sie die Tür nicht so fein säuberlich wie ich wieder verschlossen, musste ich mich sputen, um nicht von ihnen gesehen zu werden. In der Schaufensterscheibe eines Tabak- und Zeitschriftenladens sah ich, wie einer der Männer die kleine Ledertasche aus dem Versteck hinter den Sitz legte. Nun war ich froh, dass sich der USB-Stick in meinem Besitz befand.

Da die Polizei selbst nach einer halben Stunde noch nicht da war, fasste ich den Entschluss, ihnen zu folgen. Um den Männern nicht aufzufallen, musste ich warten, bis sie in den Audi gestiegen und davongefahren waren. Wenigstens konnte ich die Fahrertür nun weit genug öffnen, um schnell genug in meinen Wagen zu steigen. Ich sah gerade noch, wie sie nach links in Richtung Autobahn abbogen. Zumindest hatte ich mir das Peiner Kennzeichen gemerkt.

Während wir die A36 in Richtung Braunschweig auffuhren, kam uns ein Streifenwagen entgegen. Der Beamte auf dem Beifahrersitz hielt offenbar einen Kaffeebecher in der Hand und freute sich des Lebens. Ich entschloss mich daher, Oberkommissar Sinner anzurufen, um ihm von dem Einbruch in die Wohnung zu erzählen. Falls die Südländer das Versteck gefunden hatten, musste ich Sinner klaren Wein einschenken.

Sonderlich erbaut war er von meiner Beichte nicht, aber um den Schaden so klein wie möglich zu halten, bat er mich, an dem Audi dranzubleiben. Da ich ständig durchgab, wo ich mich gerade befand, tauchte schon kurz hinter dem Kreuz Süd-West ein ziviles Fahrzeug der Polizei neben mir auf. Die Frau in der Leitzentrale bat mich darum, nun ihren Kollegen die Verfolgung zu überlassen. Während die Beamten die Observation also übernahmen, ließ ich mich um einige Autolängen zurückfallen, blieb aber in der Nähe.

An der Ausfahrt zur 'Hildesheimer Straße' staute sich der Verkehr. Während der Audi an der Kreuzung eine Grünphase erwischte, mussten die Beamten und ich bei Rot halten. Als es endlich weiterging war der Audi samt Südländer über alle Berge.

 

 

Lessing 2 ‚Im Banne der Dämonen‘