Detektei Lessing

 

Band 39

 

Die drei Affen

 

-1-

 

Zum wiederholten Mal sah Lydia bereits auf ihre Armbanduhr. Der Kaffee in Cecylias Becher war längst wieder kalt und das Müsli, welches sie wie jeden Morgen für ihre Mitbewohnerin angerührt hatte, war sicherlich schon so pappig geworden, dass es nicht mehr schmeckte. Sie verdrehte die Augen, stakste durch den Flur und rief den Namen der Studentin, ehe sie mit einer Portion Unverständnis die Klinke zu ihrem Zimmer herunterdrückte und die Tür öffnete.

Zu ihrer Überraschung war Cecylia gar nicht da. Mehr noch, ihr Bett war unberührt. Demnach hatte die Einundzwanzigjährige die Nacht nicht zu Hause verbracht. Ein Umstand, der bei ihr sofort sämtliche Alarmglocken schrillen ließ. Immerhin gab es diese Regel, die sich die beiden Frauen selbst auferlegt hatten. Falls eine von ihnen über Nacht nicht nach Hause kommen würde, wollten sie sich unbedingt eine Nachricht zukommen lassen.

Lydia checkte ihr Handy, doch da war weder eine SMS noch ein Anruf auf ihrer Mailbox. Irgendetwas stimmte nicht, so viel war klar. Das mulmige Gefühl in ihrem Magen ließ keinen Zweifel zu. Lydia war sich sicher, dass ihrer Mitbewohnerin etwas zugestoßen sein musste. Immer wieder hatte sie Cecylia vor diesem Job gewarnt. Männer, die für die Gesellschaft der Studentin bezahlten. Es war nur eine Frage der Zeit, bis einer unter ihnen war, der mehr von ihr wollte, als sie zu geben bereit war. Ihrer Meinung nach gab es genügend andere Jobs, um sich das Studium zu finanzieren.

Lydia versuchte Cecylia anzurufen, erreichte jedoch nur die Mailbox. Sie hinterließ ihr eine Nachricht mit der Bitte, sich so bald wie möglich bei ihr zu melden. Dann griff sie ihr Tablet, schob es in den Rucksack und machte sich auf den Weg zur Ostfalia, wo sie Elektrotechnik studierte. Auch wenn es ihr alles andere als wohl dabei ging, konnte sie in diesem Moment nichts mehr tun. Außerdem hoffte sie, dass Benno mehr wusste. Cecylias Ex besuchte denselben Studiengang wie Lydia. Sie hatte die beiden miteinander bekannt gemacht. Seitdem waren sie immer wieder für einige Zeit zusammen und wieder getrennt, bis sie sich wieder vertrugen. Eine merkwürdige Beziehung, die sicherlich unter dem Job ihrer Mitbewohnerin litt. Immerhin hatte Cecylia von Anfang an mit offenen Karten gespielt.

Es versteht sich von selbst, dass Benno davon ausging, dass seine Freundin ihre Kunden lediglich begleitete. Wer nun der Meinung ist, eine solche Annahme sei naiv, der kennt Cecylia nicht. Sie verstand es sehr gut, andere zu überzeugen. Allein Lydia ließ sich nichts vormachen. Sie wusste, dass es nicht dabeiblieb, lediglich Gesellschaft zu leisten. Die Gedanken daran ließen Lydia auch während der Vorlesung nicht los. Selbst Benno, der im Hörsaal einige Plätze neben ihr saß, war aufgefallen, wie unkonzentriert sie den Ausführungen des Professors folgte.

„Was ist los?“, erkundigte er sich, während sie nach der Vorlesung gemeinsam über den Campus gingen. „War wohl reichlich spät gestern?“ „Cecylia kam über Nacht nicht nach Hause“, blieb Lydia abrupt stehen. Sie legte ihre Stirn in Falten und sah Benno beunruhigt an. „Sie hat sich nicht bei mir gemeldet. Hast du etwas von ihr gehört?“ „Schon seit einigen Tagen nicht mehr“, bekundete der Student. „War sie gebucht?“ Lydia nickte betreten. „Wenn ich bis zum Nachmittag nichts von ihr höre, gehe ich zur Polizei.“ Benno wirkte überrascht. „Meinst du nicht, dass es dafür noch zu früh ist?“ Lydia schüttelte den Kopf. „Verstehst du denn nicht, dass ich mir Sorgen mache?“ Benno strich sich über das markante Kinn. „Doch, aber immerhin ist Cecylia einundzwanzig“, gab er zu Bedenken.

„Na und?“, beharrte Lydia auf ihrem Entschluss. Der Student schüttelte den Kopf. „Du wirst sehen, wahrscheinlich steht Cecylia heute Abend wieder quietschfidel auf der Matte und versteht deine ganze Aufregung nicht.“ „Vielleicht hast du ja Recht, aber andererseits würde ich es mir nie verzeihen, wenn ich das Ganze auf sich beruhen lasse und am Ende ist ihr tatsächlich etwas zugestoßen.“ „Cecylia kann froh sein, eine Freundin wie dich zu haben“, schwärmte Benno, ohne dabei seine Unterstützung anzubieten. Ein Charakterzug, der den jungen Mann neben ihr nicht gerade auszeichnete.

„Könntest du mich zur Polizei begleiten?“, bat Lydia dennoch. „Nee, tut mir leid, aber ich habe leider einen Termin, den ich unmöglich absagen kann.“ „Na ja, schon klar“, nickte sie, die erwartete Antwort noch einmal für sich bestätigend. So wie Benno waren die Kerle allesamt. Es schien, als habe sich in dieser Altersgruppe ein katastrophaler genetischer Wandel vollzogen. Die Typen hatten nur noch ihr Vergnügen im Kopf. Zuverlässigkeit, Fleiß und Enthusiasmus waren offenbar nicht mehr modern.

Enttäuscht ließ sie Benno stehen und griff zu ihrem Smartphone. Cecylia hatte weder die SMS gelesen noch auf ihre Sprachnachricht reagiert. Sie sah auf ihre Armbanduhr. Es war fast Mittag. Lydia kam um vor Sorge. Kurzentschlossen schwänzte sie die restlichen Vorlesungen und ging nach Hause.

„Cecylia, bist du zuhause?“, stürmte sie in die gemeinsame Wohnung, riss erwartungsvoll die Tür zum Zimmer ihrer Mitbewohnerin auf und sackte niedergeschlagen in sich zusammen. In diesem Moment bestätigten sich all ihre Ängste, ließen die schlimmsten Fantasien in ihr reifen und trieben sie förmlich dazu, die Polizei einzuschalten. Hastig suchte sie zwei aktuelle Fotos heraus, auf denen Cecylia allein zu sehen war, dann machte sie sich mit ihrem Rad auf den Weg zur Dienststelle an der 'Lindener Straße'.

„Was kann ich für Sie tun?“, erkundigte sich die freundliche Polizeibeamtin in der Anmeldung. „Meine Mitbewohnerin ist verschwunden“, erklärte Lydia. „Sie möchten also eine Vermisstenanzeige erstatten.“ „Ja, genau.“ „Na, dann kommen Sie mal herein.“ Der daraufhin einsetzende Summton ließ sie die Eingangstür öffnen und eintreten. Gleich an der ersten Tür wurde sie bereits von der Beamtin erwartet.

„Wir gehen am besten in ein Büro und dann erzählen Sie mir, wieso Sie davon überzeugt sind, dass Ihre Mitbewohnerin verschwunden ist.“ Lydia folgte der Polizistin und setzte sich schließlich auf einen Stuhl, der neben einen weißen Schreibtisch stand. „So, dann schießen Sie mal los“, lächelte ihr die Beamtin aufmunternd zu.

„Ich habe Ihnen hier zwei Fotos von Cecylia mitgebracht“, kramte Lydia in ihrem Rucksack herum. „Das ist prima“, lobte die Polizistin. „Die Vermisste heißt also Cecylia mit Vornamen“, tippte sie in die Tastatur. „Ja, Cecylia Edelstein“, ergänzte Lydia. „Ihre Wohnung ist wo?“ „Jahnstraße 54.“ „Wie alt ist Frau Edelstein?“ „Einundzwanzig.“ „Und seit wann vermissen Sie Ihre Mitbewohnerin?“ „Sie ist gestern Abend nicht nach Hause gekommen und hat sich auch sonst nicht gemeldet“, erklärte Lydia.

Die Polizeibeamtin unterbrach die Aufnahme der Anzeige und sah die Studentin mit einer Mischung aus Ratlosigkeit und Ernüchterung an. „Volljährige können ihren Aufenthaltsort frei wählen und müssen niemandem erzählen, wo sie hingehen. Wenn ein erwachsener Mensch für ein paar Tage nicht zu erreichen ist, kann man nicht einfach nach ihm suchen lassen, das darf die Polizei auch gar nicht.“

Lydia erzählte von der Verabredung, die sie mit Cecylia getroffen hatte und sie erzählte der Beamtin auch von dem Job beim Escortservice. „Hat Frau Edelstein einen Freund?“ Lydia wog den Kopf. „Na ja, es gibt da einen Exfreund, aber der weiß auch nichts.“ „Gab es Streit mit ihrem Partner?“ „Nicht dass ich wüsste“, bekundete die Studentin. „Selbst wenn es so wäre, raten wir in einem solchen Fall erst einmal zur Geduld. Meistens taucht der oder die Vermisste nach ein paar Tagen, in denen er zur Ruhe kommt, von ganz allein wieder auf.“

„Nein, nein, so ist das alles nicht. Benno ist ihr nicht so wichtig, aber ihr Studium an der Welfenakademie würde Cecylia auf gar keinen Fall schleifen lassen“, versuchte Lydia der Beamtin klarzumachen. „Sie hat ja nicht mal Kleidung zum Wechseln mitgenommen. Wenn sie sich wirklich eine Auszeit hätte nehmen wollen, dann ganz sicher nicht, ohne einen Koffer mit ihren persönlichen Sachen mitzunehmen.“ Die Polizistin legte ihre Stirn nachdenklich in Falten. „Litt Frau Edelstein eventuell unter Depressionen oder einer anderen psychischen Krankheit oder ist sie auf lebenswichtige Medikamente angewiesen?“ „Nein, nichts von alledem“, entgegnete Lydia seufzend. „Tja, dann kann ich leider nichts für Sie tun.“

Reichlich enttäuscht erhob sich die Studentin. „Was, wenn sie sich auch nach drei Tagen nicht gemeldet hat?“, ließ sie nicht locker. „Sofern Sie einen realen Anhaltspunkt für ein Verbrechen haben, können Sie sich natürlich bei mir melden. Ansonsten sollten wir mit der Vermisstenanzeige mindestens eine Woche warten“, vertröstete sie die Frau in Uniform. „Tut mir leid, aber mir sind da die Hände gebunden.“ „Da muss man wohl erst den Kopf unter dem Arm tragen, ehe die Polizei aktiv wird“, brachte Lydia ihren Ärger zum Ausdruck und ging.

Wütend, frustriert und vor allem hilflos verließ die junge Frau die Polizeidienststelle. „Von wegen Freund und Helfer“, wetterte sie, während sie sich auf ihr Fahrrad schwing. Ein weiteres Mal versuchte sie Cecylia anzurufen, doch wieder meldete sich nur die Mailbox. Schließlich beschloss sie, selbst nach ihr zu suchen. Sie radelte in die Innenstadt, wo sie überall dahinfuhr, wo sich Cecylia gern aufhielt. Doch wo auch immer sie nach ihrer Freundin fragte, war die Antwort dieselbe. Niemand hatte die Gesuchte gesehen.

Zu guter Letzt schob sie das Rad vom ehemaligen Kaufhaus Bähr kommend bis zum Löwentor. Aber auch im Café unter den Krambuden traf sie Cecylia nicht an. Dafür wurde sie auf das Werbeschild einer Detektei aufmerksam und ein Gedanke ergriff von ihr Besitz. Es war das Lebensmotto ihres Vaters, der sich niemals mit dem Offensichtlichen zufriedengab. Außergewöhnliche Situationen erfordern, wo immer es nötig ist, auch außergewöhnliche Maßnahmen. Wer an die Quelle will, muss gegen den Strom schwimmen.

Kurzentschlossen drückte sie die unverschlossene Haustür auf und folgte einem weiteren Schild in die erste Etage. An der Tür zur Detektei war ein Zettel angebracht, der über den Umzug des Detektivs in die Dr.-August-Wolfstieg-Straße informierte. Die junge Frau verdrehte die Augen, aber auch diese weitere Hürde konnte sie nicht von ihrem Vorhaben abhalten. Lydia gab die Adresse in den Navigator ihres Handys und schwang sich auf ihr Rad. Einige Minuten darauf klingelte sie an meiner Haustür.

„Ja bitte?“, begrüßte Miriam die Studentin. „Guten Tag. Bin ich hier richtig bei der Detektei Lessing?“ „Nicht ganz, die Detektei ist unten im Souterrain, aber es gibt noch keine Klingel. Am besten kommen Sie herein. Ich bringe Sie nach unten. Mein Mann zieht nämlich gerade mit seiner Detektei um.“ „Ich will nicht stören“, hielt Lydia inne. „Sie stören nicht, kommen Sie.“ Die Studentin sah Miriam skeptisch an und folgte ihr.

„Trude, Leopold, wo seid ihr? Ich bringe euch eine Klientin“, rief mein Schatz. „Ach da sind Sie ja, Trude. Das hier ist Frau...“ Sie überlegte. „Ich habe Sie noch gar nicht nach Ihrem Namen gefragt“, stellte Miriam lächelnd fest. „Den kriegen wir schon raus, nicht wahr?“ „Lydia Morten. Ich weiß offen gesagt gar nicht, ob ich hier richtig bin.“ „Bei uns sind Sie immer richtig“, entgegnete Trude. Das war der Moment, in dem ich hinzukam. „Mein Name ist Lessing, kommen Sie bitte mit in mein Büro“, forderte ich die junge Frau auf.

„So“, sagte ich und schloss hinter uns die Tür. „Das ist der einzige Raum, der bereits fertig ist, aber Sie sind ja sicherlich nicht hier, um sich meine Detektei anzusehen“, grinste ich verlegen. „Es ist doch schon recht hübsch geworden“, sah sich die junge Frau in meinem Büro um. „Was kann ich denn für Sie tun?“ „Es geht um meine Mitbewohnerin“, erklärte sie. „Cecylia ist gestern Abend nicht nach Hause gekommen und erreichen kann ich sie auch nicht. Ich war bereits bei der Polizei, um sie vermisst zu melden, aber dort sagte man mir, dass sie ohne einen triftigen Grund nichts machen können.“ „Das ist richtig“, bestätigte ich die Handlungsweise der Polizei. „Aber ich weiß genau, dass Cecylia etwas zugestoßen sein muss“, beharrte sie energisch. „Na, dann erzählen Sie am besten von Anfang an.“

Die Schilderung der Umstände wurde nur durch Trude unterbrochen, die uns ihren berühmten Kaffee servierte. „Werden Sie nach Cecylia suchen?“ „Ich fürchte, Ihre Angst könnte nicht so ganz unbegründet sein“, zeigte ich mich nachdenklich. „Kennen Sie den Namen des Escortservice?“ „Cecylia hat mich mal mitgeschleppt. Die suchten noch jemanden fürs Telefon, Anfragen aufnehmen und die Mädchen vermitteln, aber nachdem ich den Betreiber der Agentur kennengelernt hatte, entschied ich mich gegen den Job. Die Begleitagentur heißt Mondlicht, der Betreiber Radenkowitsch.“ Ich machte mir eifrig Notizen. „Das ist doch schon eine ganze Menge, wo ich mit meinen Ermittlungen ansetzen kann“, resümierte ich.

„Sie sind also davon überzeugt, dass Frau Edelstein auch die Wünsche der Herren erfüllte, die nicht auf der Speisekarte standen“, griff ich eine der Aussagen meiner Auftraggeberin auf. „Ja, leider. Ich habe sie immer wieder davor gewarnt, aber sie meinte, es sei leicht verdientes Geld. Außerdem würde sie nur mit den Kunden ins Bett gehen, die ihr gefielen.“ „Tja“, seufzte ich. „Man kann den Leuten leider nur vor die Stirn gucken.“ „Das sagt mein Vater auch immer“, lächelte Lydia zustimmend.

„Wie finanzieren Sie eigentlich Ihr Studium?“, hakte ich nach. „Die Unterstützung durch meine Eltern ist ausreichend. Ab und an kellnere ich aushilfsweise, aber eigentlich komme ich auch so klar. Mein Vater ist Bauunternehmer und finanziell gut gestellt. Ihr Honorar dürfte kein Problem sein. Wenn ich meinem Vater von Cecylia Verschwinden erzähle, wird er es gutheißen, dass ich Sie mit der Suche nach ihr beauftragt habe.“

„Gut“, schürzte ich zufrieden die Lippen. „Nannte Cecylia eventuell den Namen einer Kollegin?“ Lydia überlegte einen Moment. „Carmen Diaz ist die einzige. Ich lernte sie in der Okercabana kennen. Sie war mit einem Kunden dort. Wir haben den Abend zusammen gefeiert. Mit der Adresse kann ich Ihnen leider nicht weiterhelfen.“ „Es dürfte kein Problem sein, die herauszubekommen“, erklärte ich. „Sowie ich Näheres weiß, melde ich mich bei Ihnen.“

-2-

Eine merkwürdige Geschichte, von der ich noch nicht wusste, wie ich sie einordnen sollte. Die nächsten Stunden würden zeigen, ob die Angst meiner Auftraggeberin begründet war. Eine einzige Suchanfrage bezüglich der Agentur Mondlicht im Internet öffnete gleich mehrere Seiten. Der Chef des Begleitservices lächelte mir als eine Art Selfmade Manager entgegen. Kein unbeschriebenes Blatt, wie ich ohne große Mühe herausfand. Neben der Agentur gehörten auch eine Diskothek, zwei Bars und zwei Spielhallen in sein Portfolio. Alte Zeitungsberichte zeigten ihn mit einer bekannten Größe des Rotlichtmilieus.

Die Agentur selbst warb auf einem Dating Portal mit mehr als zwei Dutzend attraktiver Frauen. Sie alle wurden mit gehobenem Intellekt und natürlicher Erscheinung angepriesen. Ich muss gestehen, dass ich sehr angetan war. Natürlich gab es verschiedene Buchungsnummer, um die gewünschte Begleitung online zu daten. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass die Begleitdamen mit falschen Namen abgebildet waren. Logisch, nur auf diese Weise konnte für ihre Sicherheit und die nötige Anonymität gesorgt werden. Die verschwundene Cecylia Edelstein trug das Pseudonym, Tinka. Carmen Diaz nannte sich Carmen. Die Adresse der Agentur bekam ich über das Impressum im rechtlichen Teil der Seite.

„Es tut mir leid, Trude, ich muss Sie leider mit der Arbeit allein lassen. Der Techniker zum Anschluss der Rechner müsste bald hier sein. Aber Sie wissen ja Bescheid. Unser neuer Fall erfordert sofortiges Handeln.“ „Nun machen Sie sich mal nicht ins Hemd, Chefchen“, entgegnete meine Putzsekretärin. „Da bin ich ja wohl ganz andere Sachen von Ihnen gewöhnt.“ Ich verzog nachdenklich das Gesicht, weil ich mir nicht sicher war, ob ich Trude richtig verstanden hatte. Letztlich hakte ich ihre Äußerung gedanklich ab und machte mich auf den Weg nach Braunschweig. Die Agentur befand sich in der Helmstedter Straße. Ich brauchte einige Minuten, ehe ich einen Parkplatz gefunden hatte, der meinen Ansprüchen gerecht wurde. Soll heißen, auf dem ich keinen Strafzettel für falsches Parken erhalten würde. Davon hatte ich nämlich in der jüngeren Vergangenheit schon genügend bekommen.

Wenigstens blieb mir das Treppensteigen erspart. Die Agentur Mondlicht befand sich im Parterre. Die Frau am Empfang musterte mich bereits, als ich noch nicht ganz zur Tür hereingekommen war. „Guten Tag, mein Name ist Lessing, ich würde gern...“ „den Abend mit einer attraktiven Begleitung verbringen“, fiel sie mir lächelnd ins Wort. „Ja, genau“, änderte ich blitzschnell meine Strategie, weil ich in genau diesem Moment eine Idee hatte.

„Woher wissen Sie das?“, stellte ich mich naiv. „Langjährige Erfahrung, Herr Lessing.“ Ich nickte ihr zu. „Haben Sie sich auf unserem Internetportal schon eine Dame ausgesucht?“ „Nein, das ist mir zu unpersönlich. Ich würde gern Tinka für heute Abend buchen. Kann man sich die Mädchen vorher in Natura ansehen?“ Die Disponentin stutzte. „Also einen solchen Wunsch hat bislang auch noch niemand geäußert. Nein, natürlich nicht. Wir sind eine seriöse Begleitagentur und kein Freudenhaus. Abgesehen davon sind Sie meines Wissens bislang kein Kunde bei uns. Darf ich fragen, warum es gerade Tinka sein soll?“ „Die Dame wurde mir von einem Geschäftsfreund empfohlen. Gibt es ein Problem mit meiner Auswahl?“ „Die von Ihnen gewünschte Dame ist leider erkrankt und steht deshalb momentan leider nicht zur Verfügung.“

Ich verzog das Gesicht. „Das kann ja wohl nicht sein!“, rief ich. „Mein Bekannter hatte die Dame erst vorgestern gebucht. Da war sie noch sehr gesund. Wissen Sie was? Ich möchte sofort mit Ihrem Chef sprechen.“

Sie erhob sich, eilte wortlos um ihren Tresen und verschwand hinter der Tür zum Büro ihres Chefs, die sie einen Spalt breit geöffnet ließ. Ich nutzte die Zeit, um einen Blick auf den Monitor hinter dem Tresen zu werfen. Ich traute meinen Augen kaum, als ich ein Kartenspiel darauf sah. Trudes Laster schien sehr verbreitet. Ich klickte es in die Taskleiste und rief im Explorer die Adressliste der Damen auf. Carmen Diaz wohnte in der Wolfenbütteler Straße 124. Bevor die Spielerin zurückkehrte, stellte ich den Urzustand wieder her. „Sie haben Glück, Herr Lessing. Herr Radenkowitsch hat einen Augenblick Zeit für Sie.“ „Na, das ist doch mal was“, entgegnete ich mit einem spitzbübischen Grinsen auf den Lippen und folgte ihrer Handbewegung.

„Herr Lessing, ich kann Ihnen leider nur eine andere Dame vermitteln“, kam Radenkowitsch um seinen Schreibtisch herum, um mich mit ausgestreckter Hand zu begrüßen. „Wie Ihnen meine Mitarbeiterin bereits sagte, ist Tinka leider erkrankt.“ „Sie wissen genauso gut wie ich, dass dem nicht so ist“, widersprach ich. „Wer sind Sie?“, erkannte der Mann, dass ich aus einem ganz anderen Grund vor ihm stand.

Ich zückte meine Zulassung. „Privatschnüffler“, las Radenkowitsch. „Wenn ich bis drei gezählt habe und du dann immer noch vor mir stehst, kriegst du einen Satz heiße Ohren von mir verpasst!“, drohte mir der ehrenwerte Geschäftsmann. „Dann bin ich mal gespannt, was die Polizei dazu sagt, wenn sie davon erfährt, dass sich Frau Edelstein für Sie prostituierte. Zuhälterei ist eine Straftat.“ „Eins!“ Der Kerl ließ sich nicht von meiner Drohung beeindrucken. „Ein Tipp von mir und morgen früh nimmt Ihnen das Sittendezernat die Bude auseinander“, setzte ich noch einen drauf. „Zwei!“ In seinen Augen funkelte es bedrohlich. „Also schön, für den Augenblick haben Sie gewonnen“, lenkte ich ein. „Aber wenn Frau Edelstein etwas zugestoßen sein sollte, werde ich Sie dafür verantwortlich machen.“

Man muss wissen, wann es besser ist, den Schwanz einzuziehen. Auch wenn das Ego darunter leidet, gibt es Situationen, in denen es gesünder ist, für den Moment nachzugeben. Ich beschloss daher, den Anruf bei der Sitte und einen weiteren bei der Steuerfahndung auf meine To-do-Liste zu setzen. Am Ende braucht es doch ein wenig Genugtuung für die angeschlagene Psyche.

Mein nächster Anlaufpunkt war Cecylia s Kollegin, Carmen Diaz, dessen Namen ich von Lydia Morten erfahren hatte. Sie war auf dem Sprung, als ich bei ihr anklingelte. „Hallo, mein Name ist Lessing“, stellte ich mich vor, während sie die Tür hinter sich zuzog und abschloss. „Ich bin Privatermittler. Sorry, wenn ich Sie überfalle, aber es geht um Ihre Kollegin. Cecylia Edelstein wird seit gestern Abend vermisst.“

„Es tut mir leid, Herr Lessing, aber ich habe in einer halben Stunde eine Verabredung am anderen Ende der Stadt.“, entgegnete sie hektisch. „Wenn ich mich jetzt nicht beeile, fährt mir der Bus vor der Nase weg.“ „Wie wäre es, wenn ich Sie fahre. Dann könnte ich Ihnen unterwegs ein paar Fragen stellen.“ „Haben Sie so was wie einen Ausweis?“, sah sie mich forschend an. „Selbstverständlich“, entgegnete ich ihr meine Zulassung präsentierend. „Sie müssen entschuldigen, aber man kann nicht vorsichtig genug sein.“ „Kein Problem.“

„Ich muss ins Graf Koks“, erklärte sie. „Das kenne ich.“ „Sie sagten, Cecylia sei verschwunden?“ „So ist es“, bestätigte ich. „Sie hat sich nicht bei ihrer Mitbewohnerin gemeldet und ist auch telefonisch nicht zu erreichen“, klärte ich Carmen Diaz über den Stand der Dinge auf. „Wissen Sie, wer sie für gestern Abend gebucht hatte?“ „Nein, leider nicht, aber da kann Ihnen Sandra sicherlich mehr zu sagen.“ Ich ahnte, von wem sie sprach. „Wer ist Sandra?“ „Sandra ist die gute Seele der Agentur. Sie vermittelt uns die Kunden und managt alles.“ „Ich fürchte Sandra und ich hatten keinen sonderlich guten Start. Ihr Chef war leider nicht kooperativ.“ „Ja, mit Drago ist nicht zu spaßen.“ Carmen hatte mein Problem verstanden.

„Ich muss morgen Nachmittag ohnehin in die Agentur. Bei der Gelegenheit könnte ich vielleicht etwas herausfinden“, legte sich die Katalanin ins Zeug. „Das wäre einfach super“, stimmte ich ihrem Vorschlag zu. „Wie läuft das bei Cecylia?“, hakte ich nach. „Wissen Sie, wie weit sie bei ihren Dates geht?“ „Im Allgemeinen entscheiden wir selbst, wie weit wir gehen. Falls es ein Angebot gibt und es ist eine gewisse Sympathie vorhanden, kann so ein Date auch schon mal die ganze Nacht andauern.“

„Radenkowitsch setzt Sie und die anderen Damen dabei wirklich nicht unter Druck?“, konnte ich nicht so recht daran glauben. „Wir zahlen lediglich für die Vermittlung. Es ist unsere Sache, was wir dabei verdienen. Cecylia brauchte immer Geld, sie nahm es dabei leider mit der Auswahl ihrer Intimkunden nicht so genau.“ „Kannten Sie Cecylias Kunden?“ „Es kommt natürlich vor, dass die Herren eine Gesellschafterin wechseln, aber in der Regel bleiben sie uns treu.“

Ich spürte, wie sie mir auswich. „Nun behaupten Sie von sich, selber nicht so weit wie Cecylia zu gehen“, wurde ich konkreter. „War darunter ein Kunde, der aus diesem Grund zu Ihrer Kollegin wechselte?“ „Wie gesagt, es kam schon mal vor“, blieb sie vage. „War eventuell ein spezieller Kunde darunter, der Ihnen nicht koscher vorkam?“, ließ ich nicht locker. „Ich würde nicht fragen, wenn es nicht um das Leben Ihrer Kollegin ginge“, baute ich etwas mehr Druck auf. Sie seufzte. „Ich weiß. Es gab da tatsächlich einen Typen, der mir Angst machte.“ „Können Sie sich an den Namen erinnern?“, hakte ich nach.

Carmen sah mich ängstlich an. „Wenn der Mann erfährt, dass Sie den Namen von mir haben, bringt er mich um.“ Kalter Schweiß stieg ihr auf die Stirn. Ich merkte, wie groß ihre Angst war. „Im Gegensatz zur Polizei habe ich die Möglichkeit, Sie auch dann aus der Sache herauszuhalten, wenn es zur Anklage kommt. Ich verspreche Ihnen selbst dann noch Ihren Namen heraushalten zu können,“ „Tut mir leid, aber ich kann nicht. Ich habe eine kleine Tochter, an die ich zu allererst denken muss.“ „Okay, das kann ich verstehen“, seufzte ich. „Vielleicht kann Ihnen Kristin Wohlrauch helfen. Seit einem Zwischenfall mit demselben Kunden arbeitet sie nicht mehr als Hostess.“ Ich wurde hellhörig. „Wo kann ich sie erreichen?“ „Sie jobbt als Bedienung im Eiscafé Alex auf dem Bohlweg.“

Als ich an einer roten Ampel stoppen musste, schnallte sich Carmen Diaz unvermittelt ab und öffnete die Beifahrertür. „Ich steige hier aus. Bitte finden sie Cecylia.“ Ich versprach es, obwohl man sich eigentlich nie so weit aus dem Fenster lehnen sollte. Die Tür klappte zu und ich sah ihr nach, wie sie im Graf Koks verschwand. Die Ampel schaltete auf Grün und ich gab wieder Gas. Zwei Kreuzungen weiter hinderte mich ein merkwürdiges Gefühl an der Weiterfahrt. Kurzentschlossen lenkte ich meinen Wagen auf die Linksabbiegerspur und wendete.

Das Graf Koks ist ein mittelgroßes Restaurant mit einem modernen Ambiente. Gerade an lauen Sommerabenden lädt der gemütliche Außenbereich zum Treffen mit Freunden ein. Zwei kleine Räume, die sich dem Gastbereich anschließen, bieten aber auch Ruhe und Privatsphäre. Zu meinem Glück wurde mir ein Tisch zugewiesen, von dem aus ich einen guten Blick auf den Tisch von Carmen Diaz und ihrem Begleiter hatte.

Ihr gegenüber saß ein älterer Herr in Schlips und Kragen. Belauschen konnte ich sie nicht, weil sich mein Tisch zum einen zu weit von ihnen entfernt befand, zum anderen untermalte eine Mischung von klassischer und moderner Musik die ansprechende Atmosphäre. Ich nahm mir vor, bei Gelegenheit mit Miriam hier essen zu gehen.

Ich bestellte mir hausgemachtes Sauerfleisch mit Bratkartoffeln und ein alkoholfreies Bier. Um Ärger zu vermeiden, rief ich Miriam an und sagte das gemeinsame Abendessen ab. Damit sie sich keine Gedanken wegen meines Wohlergehens machte, flunkerte ich ein wenig und erzählte ihr, dass ich mir unterwegs einen Snack holen würde. Ein Küsschen für Ramona beendete unser Gespräch.

Während des Essens und auch danach fiel mir nichts Außergewöhnliches auf. Der Kellner, der Carmen und ihren Begleiter bediente, brachte auch mir das Essen. Der Mann in der weißen Livree war sehr zuvorkommend. Man merkte, dass ihm Carmen Diaz nicht unbekannt war. Sie gingen vertraut miteinander um. Wahrscheinlich war die junge Frau des Öfteren mit wechselnden Begleitern im Graf Koks.

Es war etwa 21 Uhr, als das ungleiche Paar aufbrach. Ich hatte bereits bezahlt und folgte ihnen. In solcher Situation ist es für einen Detektiv wichtig, nur dann seinen eigenen Bedürfnissen nachzugehen, wenn man davon ausgehen kann, dass man nach dem Gang zur Toilette keine Überraschung erlebt und die Zielperson verschwunden ist. Gleiches gilt für die Rechnung. Was der Kellner bringt, wird sofort bezahlt. Die Zeche zu prellen, um die Observation nicht abreißen zu lassen, ist keine gute Idee. Da ich Profi bin, bemerkte mich Carmen noch nicht einmal, als sie an mir vorbeiging.

Ich folgte dem ungleichen Paar, als sie das Graf Koks verließen. Im selben Moment fuhr ein Taxi vor. Der Kellner musste es für sie bestellt haben. Leider war mir dies entgangen und so blieb mir nichts anderes übrig als zuzusehen, wie sie in das Taxi stiegen und davonfuhren. Ich ärgerte mich, da ich eigentlich damit rechnen musste. Wenigstens gelang es mir, heimlich ein Foto von dem Mann zu machen. Denn da war nach wie vor dieses dumme Gefühl in meinem Magen. Daran hatte auch das leckere Sauerfleisch nichts geändert.

Es war spät geworden und ehrlich gesagt war ich ziemlich down. Der Umzugsstress der letzten Wochen hatte mir mehr zugesetzt, als ich es mir eingestehen wollte. Auch Detektive werden älter. Langjährige Erfahrung macht die schwindende Kondition eben auch nicht wett. Als ich mich hinter das Steuer meines Wagend klemmte, fiel mir mein Bauch auf, der sich in den letzten Monaten von einem Sixpack zu einer kleinen Molle entwickelt hatte. Ich musste gegensteuern, so viel stand fest. Ob Miriam Lust auf einen weiteren Tanzkurs hatte? In Anbetracht der noch ausstehenden Arbeiten im Haus und Garten, verwarf ich diesen Gedanken jedoch wieder. Eins nach dem anderen, sagte ich mir, während ich von der Autobahn abbog und über den ‚Hermann-Löns-Weg‘ nach Hause fuhr.

-3-

Ein neuer Tag bringt neuen Schwung. Der erste Fall, den ich in den neuen Räumen meiner Detektei bearbeitete, hatte zumindest ein wenig von einem Neuanfang. Es war nur logisch, dass ich deshalb ganz besonders motiviert war. Als Trude ihren Dienst wie üblich um 9 Uhr antrat, überraschte uns Miriam mit einem zweiten Frühstück. Da ich mich nach dem Aufstehen wegen einer selbst auferlegten Diät mit einer Tasse Kaffee zufriedengegeben hatte, konnte ich die Köstlichkeiten zwar genießen, aber mit meinen guten Vorsätzen wars dahin.

„Konnten Sie gestern Abend denn noch etwas in Erfahrung bringen, Chef?“, erkundigte sich Trude zwischen Rührei und Lachsschinken. „Die Agentur Mondlicht gehört einem gewissen Radenkowitsch“, entgegnete ich. „Kein Unbekannter in der Szene.“ „Der Techniker war übrigens noch da“, erinnerte mich Trude. „Die Computer sind eingerichtet und das Internet läuft.“ „Prima“, freute ich mich. „Dann kanns ja wieder losgehen.“ „Sorry, meine Lieben, aber sollten wir zunächst nicht in aller Ruhe das Frühstück genießen? Ihr habt nachher noch genug Zeit, um Neuigkeiten auszutauschen und Pläne zu schmieden“, ermahnte uns Miriam. „Entschuldige, du hast natürlich vollkommen Recht. Der Morgen gehört dir und Ramona.“

Schon bald würde unsere Tochter in die Kita und Miriam wieder ins Gericht gehen, dann würde der Ernst des Lebens beginnen und diese schöne Zeit findet ein Ende, um einer anderen Zeit Platz zu machen. Eine neue Episode unseres Lebens muss sich einspielen. Auch sie wird viele unvergessliche Momente hervorbringen, aber es ist der Augenblick, der zählt, denn er kehrt nie zurück. Es ist genau dieser Gedanke, dem wir uns immer wieder stellen sollten, um die Dinge, die das Leben ausmacht, nicht zu verpassen.

Nach dem leckeren Frühstück fiel es uns schwer, in den Arbeitsmodus zu wechseln, aber in Anbetracht der Dringlichkeit unseres neuen Falles mussten wir aktiv werden. „Zunächst sehen Sie sich bitte die Begleitagentur Mondlicht etwas genauer an“, beauftragte ich meine Putzsekretärin. „Es wäre gut, wenn Sie mehr über diesen Radenkowitsch herausbekommen würden“, fügte ich an, um gleichzeitig zu mahnen. „Aber Vorsicht, mit dem Kerl ist nicht zu spaßen.“ „Wenn der Mann kein Unbekannter im Milieu ist, wie Sie sagen, dann versteht sich das von selbst.“ Angesichts der Kundenkartei kam mir eine Idee. „Sie kennen nicht zufällig jemanden, der in der Agentur putzt?“ Trudes Stirn legte sich in Falten. „Ich kann mich ja mal umhören, aber ich denke eher nicht.“ „Okay, dann lassen Sie mal. Nicht, dass Sie am Ende noch schlafende Hunde wecken.“ „Wie Sie meinen, Chef,“ zeigte sich die gute Seele erleichtert.

„Das nächste, um was ich Sie bitten möchte, sind Infos zu Benno Stachel. Der Freund der Vermissten ist Student der Elektrotechnik an der Ostfalia. Wie ich von unserer Auftraggeberin erfuhr, hat Cecylia Edelstein zwei Tage vor ihrem Verschwinden mit ihm Schluss gemacht.“ „Dann hätte er also ein Motiv“, kombinierte Trude. „Nachdem, was mir Frau Morten erzählte, vergeht kaum ein Monat, in dem die Vermisste nicht wenigstens einmal ihren Freund in die Wüste schickt“, relativierte ich ihre Analyse. „Das lässt sich kein Mann auf Dauer gefallen“, bemerkte Trude skeptisch. „Genau deswegen möchte ich gern mehr über den Herrn wissen.“ „Okay.“

„Zuallererst suchen Sie mir aber bitte die Adresse von Kristin Wohlrauch heraus. Sie war eine Kollegin von Cecylia Edelstein beim Escortservice.“ „Auch eine Studentin?“ Ich zuckte mit den Achseln. „Da habe ich gar nicht nachgefragt.“ Meine Sekretärin verdrehte übertrieben die Augen. „Es muss wohl schon reichlich spät gewesen sein“, flachste sie. „Zu spät, Trude, viel zu spät. Aber jetzt muss ich erst einmal nach Braunschweig fahren. Bis zum Mittag müsste ich eigentlich zurück sein.“

Ich fuhr auf direktem Weg zum Café Alex auf den Bohlweg, um mit Kristin Wohlrauch zu sprechen. Ich setzte mich an einen der Tische im Außenbereich und bestellte den üblichen Cappuccino. Als der Kellner servierte, erkundigte ich mich nach seiner Kollegin. „Kristin hat Spätdienst. Da müssen Sie wohl noch einmal wiederkommen.“ „Das ist leider ungünstig“, verzog ich das Gesicht. „Ich müsste dringend mit ihr sprechen.“ „Dann rufen Sie Kristin doch an.“ „Das würde ich gern, aber dummerweise habe ich die Telefonnummer Ihrer Kollegin nicht. Es wäre sehr nett, wenn Sie mir die Nummer geben könnten.“ „Sorry, Mister, aber da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen.“ Ich schob einen Zwanziger über den Tisch. „Es ist sehr wichtig.“ Tut mir leid“, entgegnete er standhaft und wechselte den Tisch.

Der Kellner hatte kaum die nächste Bestellung aufgenommen, als auch schon mein Handy klingelte. „Ach Trude, Sie sind es.“ „Bei wem wird denn sonst noch mein Name im Display angezeigt?“ „Äh ja, Sie haben Recht.“ „Ich wollte Ihnen nur die Adresse von Frau Wohlrauch mitteilen. Brauchen Sie auch die Telefonnummer?“ „Wunderbar!“, sparte ich nicht mit Begeisterung. „Ich sende Ihnen am besten beides zu. Für alle Fälle.“ Ich bedankte mich bei Trude, ohne mitzubekommen, dass ich die gute Seele längst nicht mehr an der Strippe hatte.

Die Adresse, Madamenweg 20, war schnell im Navi eingegeben. Die Parkplatzsuche dagegen gestaltete sich als wesentlich schwieriger. In der Stolzestraße wurde ich schließlich fündig. Die fünf Minuten Wegzeit passten gut in mein Fitnessprogramm. In dem dreistöckigen Eckhaus zum Sackring befand sich neben einem Copyshop auch ein Secondhand für Reitsport. Da die Haustür unverschlossen war, folgte ich den Treppenstufen, bis es nicht weiterging. Die ehemalige Escort Begleitung bewohnte eine Mansardenwohnung unter dem Dach. Ich zählte die Kalorien, die ich auf dem Weg nach oben verlor. Es dauerte eine Weile, ehe Kristin Wohlrauch auf mein Klingeln reagierte. Zunächst öffnete sie die Tür nur zaghaft und auch nur einen Spalt breit. Eben so viel, wie es die eingelegte Sicherungskette ermöglichte.

„Ja bitte?“, fragte sie ziemlich leise. Ich hielt ihr meine Zulassung entgegen. „Guten Tag, mein Name ist Lessing. Ich bin privater Ermittler.“ Sie griff nach meiner Legitimierung und studierte jedes Wort darauf. „Es tut mir leid, falls ich Sie störe, aber es ist wirklich sehr wichtig.“ Sie gab mir den Ausweis zurück, während sie mich fragend anstarrte. Ich sah mich demonstrativ um. „Vielleicht sollten wir das besser in Ihrer Wohnung besprechen?“ Die junge Frau bewegte sich keinen Zentimeter. „Sie müssen mir schon sagen, um was es geht“, entgegnete sie von einer gewissen Angst getragen. „Eine ehemalige Kollegin von Ihnen ist seit gestern Morgen verschwunden.“ Ihre Stirn krauste sich. „Wer?“ „Cecylia Edelstein.“

Die Tür schloss sich, um sich mit dem nächsten Atemzug komplett zu öffnen. „Cecylia ist weg?“, wiederholte sie hinter mir die Tür verriegelnd. „Ausgerechnet Cecylia“, flüsterte sie, sich an den Kopf greifend. Ihre Haare waren fettig, ihre Kleidung sauber, aber schluderig. „Wieso sagen Sie, ausgerechnet?“, nahm ich den Faden auf. Sie bot mir einen freien Platz in einem Sessel unterhalb der Dachschräge an. In den übrigen lag Wäsche. Vor dem niedrigen Glastisch stand ein Bügelbrett. „Wie wärs mit nem Kaffee? Sie hielt inne. Kristin und ich waren gut befreundet“, erklärte sie nachdenklich. Ihr Blick schien verloren. „Bis Sie die Begleitagentur verließen“, schlussfolgerte ich. „So muss man wohl sagen“, räumte sie gedankenvoll ein. „Man kann aber auch sagen, dass ich mich zu diesem Zeitpunkt von meiner Naivität verabschiedete.“

Ich spürte, wie einschneidend ihr Erlebnis mit dem Kunden war, wenn es die junge Frau dazu bewogen hatte, ihr Leben so abrupt zu verändern. „Sie und Cecylia haben höchstwahrscheinlich dieselben schlimmen Erfahrungen gemacht, nicht wahr?“ „Bei Tinka war es anders. Sie war schon immer bereit, erheblich weiter als ich zu gehen, aber letztlich läuft es immer auf das Gleiche hinaus. Die Kunden verstanden kein Nein.“

„Meine Auftraggeberin macht sich große Sorgen. Sie befürchtet, dass Frau Edelstein etwas Schreckliches zugestoßen sein könnte.“ Kristin Wohlrauch sah mich fragend an. „Ich verstehe nicht so recht, wie ich Ihnen weiterhelfen kann.“ „Nun ja“, druckste ich herum. „Ich sprach bereits mit einer weiteren ehemaligen Kollegin. Sie erzählte mir von dem, was Ihnen zustieß, verriet mir allerdings nicht den Namen des Mannes.“ Kristin schüttelte den Kopf. „Wieso glauben Sie, dass Tinka überhaupt etwas angetan wurde?“, brachte sie es auf den Punkt. „Und selbst wenn? Wer sagt Ihnen denn, dass es sich um denselben Kunden handelt?“ „Sie haben mit all Ihren Einwänden recht, aber wer kann wissen, ob es nicht doch so ist.“

Wir schwiegen einen Augenblick, ehe ich einen Ausweg fand. „Sie brauchen mir nicht den Namen des Mannes nennen. Ich muss nicht wissen, was er Ihnen antat, aber ich würde gern die Vorgehensweise des Mannes begreifen, um mir ein Bild machen zu können.“ Kristin war sich unschlüssig, sie hatte nach wie vor große Angst und sie schämte sich für ihre Vergangenheit. „Sagen Sie mir, wo Sie zusammen gegessen haben?“, stellte ich so einfühlsam wie möglich eine erste unverfängliche Frage.

Die junge Frau schöpfte allmählich Vertrauen. „Im Graf Koks.“ „Gut, das kenne ich. Wohin gingen Sie anschließend?“ Sie holte tief Luft. „Sein Wagen stand in einer Seitenstraße. Ich stieg ein. Er sagte, er habe eine Überraschung für mich.“ „Was denn für eine Überraschung?“, fand ich ein wenig blauäugig. Sie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Ehrlich gesagt war mir der Mann zu diesem Zeitpunkt sympathisch. Ich dachte an einen Konzertbesuch. An diesem Abend gaben die ‚Toten Hosen‘ ein Konzert in Braunschweig. Nie im Leben hätte ich damit gerechnet, dass er direkt in ein Hotel und aufs Zimmer mit mir gehen würde.“ „Ich nehme an, Sie fragten sich, was die Überraschung war“, resümierte ich. „Ja, irgendwie schon. Wie gesagt, der Mann war mir nach wie vor sympathisch.“

„Es kam also zu einvernehmlichem Sex“, brachte ich die Geschehnisse jenes Abends auf den Punkt. Kristin nickte. Tränen liefen ihr über das Gesicht. „Alles war gut, wir hatten Spaß und amüsierten uns. Zwischendurch tranken wir Sekt. Irgendwann verlor ich die Kontrolle über meinen Körper. Es war, als wäre ich in ihm gefangen.“ „Er hat Ihnen eine Droge in das Getränk gemischt“, teilte sie offenbar das tausendfache Schicksal so vieler missbrauchter Frauen.

„Das Schlimmste aber war, in diesem Zustand all die Perversionen, die dieses Schwein mit mir trieb, erleben zu müssen. Es widerstandslos hinnehmen zu müssen, ohne dass ich mich dagegen wehren konnte. Weder die Schreie, die in meiner Kehle erstarben, noch die Chance der Umklammerung dieser unsichtbaren Kraft zu entfliehen, ließen mich meine Selbstachtung bewahren. Glauben Sie mir, ich starb einen unsichtbaren Tod.

„Sie hätten den Kerl anzeigen müssen!“, entfuhr es mir wütend. Ihr Schicksal hatte mich tief gerührt. Es war nicht das erste Mal, dass ich einen Fall bearbeiten musste, in dem einer jungen Frau KO-Tropfen verabreicht worden waren. In diesem Fall konnte es sich allerdings auch um eine andere Droge handeln.

„Wer hätte mir denn geglaubt?“, fuhr sie mich aufgebracht an. „Für jemand anderen ist es leicht, die Dinge klar zu sehen.“ Dann endlich erzählte sie mir schließlich, was nach der Tat geschah und wie sie sich fühlte. „Als ich aufwachte war ich noch etwas benommen. Auf dem Nachtschrank lagen tausend Euro. Ich war vollkommen durcheinander, wusste noch nicht einmal, wo ich mich überhaupt befand. Erst nach und nach kehrte ein Teil der Erinnerung zurück. Der Kerl war zu diesem Zeitpunkt längst verschwunden.“

„Die Droge hätte man in Ihrem Körper nachweisen können“, erklärte ich. „Heute weiß ich das auch. Aber dies ändert heute nichts mehr an der Tatsache, dass meine Aussage gegen seine steht. Glauben Sie mir, einem angesehenen Geschäftsmann glaubt man tausendmal mehr als einer Escort Begleitung.“ Ich lehnte mich seufzend zurück. Ich wusste, dass sie Recht hatte und dennoch verbot es sich für mich und meine Rechtsauffassung, den Kerl einfach so davonkommen zu lassen.

„Wie heißt der Mann?“ Kristin holte tief Luft. „Sie müssen mir versprechen, mich auf jeden Fall aus der Sache herauszuhalten.“ Ich nickte ihr zu. „Der Mann heißt Kasimir Bullenweber.“ Ein Pfiff entfleuchte meinen Lippen. „Der Bullenweber?“, wiederholte ich den Namen, um keine Verwechselung zu riskieren. „Verstehen Sie jetzt mein Problem?“

Kasimir Bullenweber gehörte zu den Top 10 der Wirtschaftsmanager in Niedersachsen. Sein Urteil bedeutete das Für und Wider für ein Unternehmen. Sein Wort entschied über Wohl und Untergang, wenn es um Zukunft und Innovation ging. War es der besondere Kick, den dieser Mann zu seiner Zerstreuung suchte, oder war er einfach nur so weit abgehoben, dass es für ihn keine Grenzen mehr gab? Ein Mensch, der den Respekt für seine Mitmenschen und jegliche Form von Anstand verloren hatte, musste ebenso zur Rechenschaft gezogen werden wie jeder andere.

„Sie können sich auf mich verlassen“, erneuerte ich mein Versprechen. „Sie wissen nicht zufällig, ob sich Cecylia gestern Abend mit Bullenweber traf?“ „Nein.“ Gleichzeitig kam mir ein weiterer Gedanke. „Okay, Sie haben wohl nicht zufällig eine Idee, wie ich an die Kundenkartei der Agentur Mondlicht herankomme?“ „Ich verfüge nur über die Namen meiner ehemaligen Kunden, aber die werden Ihnen ja sicher nicht weiterhelfen“, überlegte Kristin. „Von denen haben sich stets alle einwandfrei benommen.“ „Falls ich auf einem anderen Weg an die komplette Kartei komme, könnte mir Ihre Liste dabei helfen, schneller die Guten von den Bösen zu trennen.“ Mein Argument stieß auf Billigung. „Gut, ich gebe Ihnen die Namen.“ Während sie in einer Schublade kramte, versprach ich ihr Genugtuung.

Lessing 25 ‚Der Fluch des Delinquenten‘