Detektei Lessing

 

Code 44

 

 

-1-

 

Es war bereits neun Uhr, als der Wecker den neuen Tag für Artur und Manuela einläutete. Obwohl es für beide der Beginn eines ganz normalen Arbeitstages war, hatten sie es nicht eilig. Als Softwareentwickler genoss Artur die Gleitzeit, die ihm die Firma bot, bei der er angestellt war. Er war ohnehin der Typ Mensch, der am besten dann arbeiten konnte, wenn seine Kollegen gegangen waren. Es machte ihm nichts aus, wenn er dann auch schon mal bis spät in die Nacht am Monitor seines Rechners klebte. Da seine Freundin nachmittags und abends in einem Bistro arbeitete, spielte sich ihr eigentliches Privatleben vormittags ab. 

Manuela drehte sich zu ihrem Freund und begann ihn zärtlich zu streicheln. Während sie sich eng an ihn schmiegte, schnurrte sie wie ein Kätzchen. Gerade noch in seinen Träumen versunken, war Artur nun wie elektrisiert. Manuela wusste genau, wie sie ihren Lebensgefährten glücklich machen konnte und sie tat es, wann immer sich die Gelegenheit dazu bot.

„Manu“, seufzte er, „du machst mich wahnsinnig.“ „Warum nicht?“, hauchte sie. „Ich bin nicht weniger verrückt nach dir.“ Ihre warmen Hände schoben sich unter sein T-Shirt, drückten es gefühlvoll nach oben und zogen es schließlich über seinen Kopf. Ihre fordernden, wollüstigen Blicke hafteten dabei auf seinen Augen. Einem Reptil gleich, glitt ihre feuchte Zunge über seine Brust, spielte mit seinen Warzen, küsste ihn mit ihren fleischigen, vollen Lippen. Wie eine Schlange tauchte sie immer tiefer hinab, während Artur mehr und mehr seine Augen verdrehte und voller Lust stöhnte.

 

Gut gelaunt und die Musik im Autoradio um einiges lauter gedreht als sonst üblich, bog Artur Spengler erst gegen Mittag auf den Parkplatz der MSW ein. Er stellte seinen betagten Nissan auf dem angestammten Stellplatz unter der Birke ab und begab sich zum Hauteingang der Media Software Wolfenbüttel. Wie immer hob er den Arm, als er an den Sicherheitsleuten in der Pförtnerloge vorbeiging und wie immer grüßten die Männer in den grünen Uniformen. Dass sie sich hinter vorgehaltener Hand über sein Äußeres lustig machten, konnte Artur nicht sehen, aber selbst wenn, wäre er nicht derjenige gewesen, der etwas dagegen unternommen hätte. Er war es gewohnt, dass sich die Leute über die beiden großen Warzen lustig machten, die sein Kinn zierten.

Fröhlich leise vor sich hin pfeifend erreichte er einen der Aufzüge. Er schob die Karte in die Zeiterfassung, die seine Anwesenheit registrierte. Erst danach fuhr er in die dritte Etage hinauf, wo sich sein Arbeitsplatz befand. Artur saß mit acht weiteren Kollegen in einem länglichen Raum, der sich in einzelne Boxen gliederte. In einer dieser gläsernen Käfige befand sich sein Heiligtum. Ein Netzwerkrechner der neusten Generation.

„Morgen Artur“, grüsste der junge Mann in der Nachbarbox. „Spät dran heute, hä?“, grinste er süffisant. Artur verkniff sich jeglichen Kommentar, lächelte nur sporadisch zurück und verschwand in der Legebatterie, wie seine Kollegen die Glasboxen auch bärbeißig nannten. Nachdem er seinen Computer hochgefahren hatte, begann er wie an jedem anderen Arbeitstag mit der Durchsicht seines Postkastens. Hierin befanden sich üblicherweise Mitteilungen und  Arbeitsaufträge. Heute jedoch befand sich in seiner Mailbox eine Datei, mit der er nicht so recht etwas anfangen konnte. Eine Narretei seiner Kollegen oder ein Irrläufer, der ihn versehentlich erreicht hatte, mutmaßte Artur und entschloss sich, die Datei vorerst zu ignorieren. Es war nicht das erste Mal, dass man in ihm die Kuh sah, die aufs Eis geschoben werden sollte.

Der Mann mit dem dunkelblonden Pagenschnitt gab sich also seiner Arbeit hin, versuchte einfach nicht an die Datei zu denken, doch seine angeborene Neugier ließ ihn nicht zur Ruhe kommen, ließ ihn keinen klaren Gedanken fassen. Irgendwann gab er entnervt auf, schloss wütend auf sich selbst das Programm, an dem er gerade arbeitete und lud die ominöse Datei auf den Desktop. Bevor er dies tat, sah er sich nach allen Seiten um und prüfte, ob er beobachtet wurde.

Auf dem Monitor leuchteten nichts als Buchstaben und Zahlen, in einer scheinbar systemlosen und undurchdringlichen Reihenfolge. Eigentlich nichts Ungewöhnliches für einen Programmierer, aber in diesen Zeilen vermochte selbst Artur nicht zu lesen. Verbissen suchte er nach einem Schlüssel, ohne der Lösung des Rätsels auch nur einen einzigen Schritt näher zu kommen. Wer diesen ruhigen, eher schüchternen Mann mit den beiden Warzen im Gesicht jedoch kannte, wusste nur zu genau, dass er längst Feuer gefangen hatte, ja geradezu von dieser Herausforderung besessen war, egal wie lange es dauern würde, sie zu meistern.

 

Zur selben Zeit, nur ein Stockwerk höher.

 

„Ich denke, Sie wollten mir die Datei heute Morgen auf meinen Rechner schieben, Schubert“, zeterte der schwergewichtige Mann mit der fliehenden Stirn und den wenigen Haaren, die sich kranzförmig um seinen Schädel verteilten. „Ja, aber ich habe doch…“, stammelte Schubert. „Nichts haben Sie!“, ereiferte sich Sören Gustafsohn zunehmend ungehaltener. Schubert hämmerte aufgeregt in die Tasten seines Keyboards. „Aber ich habe Ihnen die Datei zugemailt.“ „Gnade Ihnen Gott, wenn die Daten in die falschen Hände geraten. Sie wissen, was das für Sie bedeuten würde“, drohte der Dicke. „Selbst wenn es einen Irrläufer gab, könnte niemand etwas damit anfangen. Ich habe die Datei wie immer codiert.“ „Finden Sie heraus, wo die Mail gelandet ist und informieren Sie mich, so bald Sie Näheres wissen.“ „Selbstverständlich“, buckelte Schubert, während sein Auftraggeber das Büro verließ.

Schubert hackte sich in jeden am Netzwerk angeschlossenen Rechner ein. Es vergingen Stunden, bis er den Weg rekonstruiert hatte, den seine Mail tatsächlich gegangen war. Er stellte mit Entsetzen fest, dass die darin enthaltene Datei zu allem Überfluss bereits geöffnet worden war. Schubert überlegte, ob er in den Ordnern des fremden Computers nach der Datei suchen, oder seinem Auftraggeber lieber gleich mitteilen sollte, was er herausgefunden hatte. Nun, der smarte Typ hinter dem gläsernen Schreibtisch tat eine ganze Menge, wenn die Kohle stimmte, aber er war nicht der Mutigste. Um bei seiner Suche auf dem PC nicht entdeckt zu werden, entschloss er sich zu Letzterem.  

 

In der gläsernen Box herrschte noch immer eine gespannte Atmosphäre. Der Mann, den seine Kollegen abwertend Warze nannten, hatte all sein Fachwissen aufgeboten, hatte Bücher gewälzt und ganze Seiten des verschlüsselten Materials durch ein Entcodierungsprogramm gejagt und doch waren all seine Bemühungen vergeblich. Inzwischen waren Stunden vergangen, in denen er seine eigentliche Arbeit vernachlässigt hatte. Schweren Herzens schloss er schließlich die Datei und wandte sich wieder der stupiden Buchhaltungssoftware zu, die er speziell für das Niedersächsische Kirchenamt konzipieren sollte.

Er dachte gerade über die doch eher weltlichen Dinge nach, mit denen sich auch die Kirche herumschlagen musste, als ihn ein Geistesblitz traf. Vielleicht lag die Lösung seines Problems im esoterischen Ursprung des Lebens begründet, oder besser gesagt, in deren Überlieferung, der Bibel. Möglicherweise enthielt sie den Code zur Entschlüsselung dieser geheimnisvollen E-Mail. Es war so etwas wie der klammernde Griff, mit dem man ihm die Programmiererehre nehmen wollte. Eine Drachensaat, die ihm, wie er annahm, von seinen Kollegen aufgezwungen war. Es musste sich dieser Herausforderung einfach entgegenstellen, um seine Selbstachtung nicht zu verlieren. 

 


In der Chefetage.

  

„Wir müssen etwas unternehmen“, bekundete Schubert aufgeregt. „Spengler hat die Mail bereits geöffnet und womöglich auch schon die Datei.“ Gustafsohn winkte ab. „Sie sagten doch selbst, dass die Daten von niemandem gelesen werden können, der nicht über den richtigen Code verfügt.“ „Spengler ist einer unserer fähigsten Mitarbeiter. Der Typ ist zwar eher unscheinbar, aber er hat Ehrgeiz. Ein Beißer, wie man so sagt.“ „Also schön, dann wollen wir uns Ihren Beißer mal etwas genauer ansehen.“

Der Mann mit dem lichten Haar erhob sich und durchmaß das mit dickem Teppich ausgelegte Büro. Er zog eine Schrankwand auf, hinter der einige Monitore zum Vorschein kamen. Der Dicke schaltete sie ein und kehrte mit einer Fernbedienung wieder zurück. „Wollen wir doch mal sehen, was der Kerl so treibt.“ Ein verschmitztes Schmunzeln legte sich über seine Lippen. Schubert war die Spielerei seines Bosses nicht verborgen geblieben. Was er zwar ahnte, aber nicht wusste, war, dass auch er ein Opfer dieser Bespitzelungen war.

Nach kurzem Zappen hatte Gustafsohn die richtige Box auf dem Monitor. Die versteckte Kamera musste sich an oder in der Zimmerdecke befinden. Der Betrachtungswinkel, aus der das elektronische Auge seine gestochen scharfen Bilder aufnahm, war so eingestellt, dass der Betrachter sowohl die betreffende Person als auch den Monitor einsehen konnte, an dem gearbeitet wurde. Artur Spengler beendete gerade die Datei, an der er gearbeitet hatte und sah sich nach allen Seiten um, während er eine andere öffnete.

„Ich werd verrückt“, keuchte Schubert, „da ist ja die Datei, die ich Ihnen zugemailt habe.“ „Falsch!“, entgegnete der Dicke erbost. „…die Sie in Ihrer Schusseligkeit verschludert haben!“ „Was macht er denn jetzt?“, merkte Schubert plötzlich auf. „Das darf doch alles nicht wahr sein.“ „Was ist?“ „Er hat eine Internetverbindung zu einer Bibelseite hergestellt.“ „Ja und?“, zuckte der Dicke mit den Schultern. Die Bibel ist der Schlüssel zur Kodierung.“ „Was?“, fuhr sein Boss in die Höhe. „Woher weiß er davon?“ Schubert wurde kreidebleich. „Ich weiß es nicht.“ „Gehen Sie sofort da runter und veranlassen Sie, dass der Kerl unter einem Vorwand seine Box verlässt. Er darf auf keinen Fall herausfinden, was es mit diesem Programm auf sich hat.“ 

 

-2-

 

Es war das erste Mal seit längerer Zeit, dass ich mich wieder mit Isabelle verabredet hatte. Zwei Tage war es her, als ich völlig überraschend eine Mail von ihr in der Mailbox meines Computers vorfand. Immerhin hatte es bei unserem letzten Aufeinandertreffen in einer Kneipe der Wolfenbütteler Innenstadt einiges an emotionalem Kleinholz gegeben. Da meine Ex über ihren Schatten gesprungen war und den ersten Schritt zu einer Aussprache getan hatte, schlug ich im Gegenzug ein Treffen auf für sie heimischem Terrain vor. So saß ich also in einem italienischen Cafe auf dem Braunschweiger Bohlweg, wartete geduldig auf ihr Erscheinen und sah den Bauarbeitern auf der anderen Straßenseite interessiert zu, wie sie an der Fassade der Schlossarkaden arbeiteten.

„Hallo Leo“, hörte ich unvermittelt meinen Namen. „Schön, dass du gekommen bist.“ Ich erhob mich und küsste Isabelle zur Begrüßung auf die Wangen. „Warum nicht“, entgegnete ich lächelnd, „meine Gefühle für dich haben sich durch unsere…“ Ich stockte um nach dem richtigen Wort zu suchen. „…sagen wir – Meinungsverschiedenheit – nicht geändert. Du bist nach wie vor eine sehr gute Freundin für mich.“ Isabelle lächelte etwas verlegen zurück. „Sollten wir uns nicht erst einmal setzen?“, fragte sie schließlich von meiner Zielstrebigkeit etwas irritiert. „Natürlich, entschuldige.“

Ich rückte ihr, ganz Gentleman, den Stuhl zurecht und nahm ihr gegenüber Platz. Am Eingangsportal des neuen alten Bauwerks wurde gerade eine der Säulen platziert. Ich versuchte mein Interesse daran so gut es ging zu verbergen. „Was darf ich dir bestellen?“, fragte ich höflich. Isabelle sah kurz in die Karte. „Ich nehme einen Bitterino.“ „Es ist lange her, dass wir hier bei Adriano saßen“, stellte ich fest. Die Kriminalhauptkommissarin nickte. „Nächsten Monat ist es ein Jahr her, dass du unseren Verein verlassen hast. Hast du deinen Schritt bereut?“ Das hatte ich mich selbst auch schon wiederholt gefragt, ohne eine eindeutige Antwort darauf zu finden. „Ja und nein“, sagte ich nachdenklich. „Zum einen ist es nach wie vor erhebend, sein eigener Chef zu sein, zum anderen wäre ich gerade in brenzligen Situationen froh, einen verlässlichen Partner an meiner Seite zu wissen.“

„Auch wenn ein solcher Sprung ins kalte Wasser nichts für mich gewesen wäre, so habe ich dich doch für deinen Mut bewundert.“ „Du weißt, weshalb ich diesen Weg gehen musste“, entgegnete ich gehaltvoll. „Glaube mir, es war das Beste für uns alle.“ „Dadurch konntest du nichts von dem, was geschah, rückgängig machen“, bekräftigte Isabelle mit einem tiefen Seufzer. „Das nicht, aber so muss ich wenigstens keine Angst davor haben, durch einen solch verhängnisvollen Fehler noch einmal einen Partner zu verlieren.“ „Ich denke, es reicht“, erwiderte Isabelle verärgert. „Du solltest die Mitleidsnummer endlich aufgeben. Selbst wenn du den Hinterhalt eher erkannt hättest, wärest du machtlos gewesen.“ „Ja, ja, ja und trotzdem hat es Ralf erwischt und ich lebe noch. Kannst du nicht verstehen, wie ich mich fühle? Ich werde Andreas Augen nie vergessen. Die Augen, mit denen sie mich fragte, weshalb es den Vater ihrer Kinder und nicht mich getroffen hatte.“

Buongiorno, haben Sie schon gewählt?“, unterbrach uns die freundliche Stimme des Kellners. „Einen Bitterino, bitte.“ „Und für mich noch einen Latte Macchiato“, fügte ich hinzu. Der galante Südländer machte sich auf den Rückweg. Die Bauarbeiter hatten die tonnenschwere Säule inzwischen an ihren zukünftigen Platz bugsiert. Ich fragte mich, ob sich der ganze Aufwand überhaupt lohnte. 

„Wollten wir uns nicht eigentlich über unsere Beziehung unterhalten?“, fragte Isabelle gedämpft. „Aber das ist es ja gerade“, entgegnete ich angekekst. „Wir haben keine Beziehung mehr miteinander! Ich möchte eine solide Freundschaft zu dir. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.“ „Ich weiß, ich weiß. Ich habe mich nur verkehrt ausgedrückt“, lenkte Isabelle ein. Ich hatte nicht das Gefühl, dass sie wirklich begriffen hatte, worum es mir ging. „Du bist eine moderne und tolerante Frau“, fuhr ich fort. „Dinge, die ich sehr an dir schätze.“ Meine Ex fühlte sich geschmeichelt. „Ich fand es wunderbar, als wir ohne Streit auseinander gingen, und ich fand es toll, dass diese Beziehung so unproblematisch in eine echte Freundschaft überging.“

Isabelle holte tief Luft, um mir zu antworten, brach aber ab, als sie den Kellner mit unserer Bestellung bemerkte. „Scusi, der Bitterino für Madame und der Latte Macchiato für den Seniore.“ Der smarte Südländer setzte die Tabletts ab und verschwand mit einem breiten Lächeln, welches sein makelloses Gebiss in voller Pracht erstrahlen ließ. „Ich weiß, dass wir uns damals nach unserer Aussprache zu diesem Schritt entschieden hatten, weil wir Beruf und Privatleben nicht trennen konnten“, setzte Isabelle erneut an. „Das mag auch alles richtig gewesen sein…“ „Moment“, unterbrach ich sie, weil ich bereits ahnte, wohin die Reise gehen sollte. „Ich darf dich daran erinnern, dass du diese Trennung wolltest, weil du Angst hattest, unsere Beziehung könnte deiner Karriere hinderlich sein.“

Die Kriminalhauptkommissarin senkte den Kopf. „Du hast ja Recht, unsere Trennung war ein Fehler, und ich schäme mich für meine Feigheit…“ Eine solche Aussage aus dem Mund meiner Ex hatte beinahe eine historische Bedeutung. „Aber jetzt steht doch einer erneuten Verbindung nichts mehr im Wege“, fügte sie beinahe enthusiastisch hinzu. „Fast war ich versucht gewesen, ihrer Reue nachzugeben, mich erneut von ihr um den Finger wickeln zu lassen und dann das. „Habe ich das gerade richtig verstanden?“, fragte ich rhetorisch. „Hast du mich gerade gebeten, eine neue Beziehung mit dir einzugehen, weil meine Arbeit als Privatermittler deiner Karriere nicht mehr im Wege steht?“ „Das ist doch wundervoll, nicht wahr?“

Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Immerhin war ich einiges von Isabelle gewohnt, aber derart selbstherrlich hatte ich sie bislang nicht eingeschätzt. Es dauerte einen Moment, bis ich die richtige Antwort parat hatte. „Es tut mir Leid, Isabelle, aber mehr als eine Freundschaft möchte ich nicht mehr mit dir. Wir haben uns viel zu weit voneinander entfernt. Abgesehen davon lässt mir mein Job momentan einfach nicht die Zeit für eine feste Beziehung. Wenn dir etwas an unserer Freundschaft liegt, solltest du dies akzeptieren.“

Nun war es Isabelle, die mir wie vor den Kopf geschlagen gegenübersaß. Ich hätte zu gern gewusst, was sich in diesem Augenblick in ihrem hübschen Köpfchen abspielte, doch dies sollte ich wohl nie erfahren. Die Frau, dessen Kariere ihr offensichtlich über alles andere ging, stand ruckartig auf. Ihre Stirn war knallrot angelaufen, der Rest ihres Gesichtes eher kalkweiß. Sie stand da und rang nach Worten, die ihr jedoch nicht einfallen wollten. Ich hatte sie offenbar in eine Situation gebracht, die sie nicht kontrollieren konnte. In ihrem Blick lag Verzweiflung, aber auch die Entrüstung darüber, ihr Ziel nicht erreicht zu haben.

 


-3-

 

Es war sicher nur der Jux eines Kollegen, aber nichtsdestotrotz hatte ihn der unbedingte Wille gepackt, das Rätsel zu lösen. Der Softwareentwickler gab die Bibel als Bezugsquelle für ein spezielles Entschlüsselungsprogramm ein. Angespannt bis in die Haarspitzen beobachtete er, wie sich auf seinem Monitor langsam, aber bestimmt der Code für ein Softwareprogramm herausbildete. Artur Spengler staunte nicht schlecht, als sich das, was er ursprünglich für einen Scherz seiner Kollegen hielt, mehr und mehr in etwas Unfassbares verwandelte.

Obwohl der unscheinbare Blondschopf kein Experte für mediale Strukturen in der Werbebranche war, ahnte er, um was es bei diesem Programm ging. Wenn nur ein kleiner Teil seiner Ahnung zutraf, ging es bei dieser Sache um Millionen und plötzlich wurde ihm klar, dass er im Begriff war, eine ungeheure Sauerei aufzudecken. Spengler sah sich ängstlich um. Ein Instinkt sagte ihm, dass wer immer auch hinter dieser Sache steckte, über Leichen gehen würde, um sein Vorhaben in die Tat umzusetzen.

Ohne zu zögern legte er eine CD in den Brenner und überspielte die zum Teil entschlüsselte Kopie der Datei. Kaum dass er seine Arbeit beendet hatte und die Disk in der Tasche seines Jacketts verschwinden ließ, stand Schubert in der Tür zu seiner Box. Spengler mochte den unsympathischen Abteilungs-leiter nicht sonderlich. Wo immer es möglich war, ging er ihm aus dem Weg.

„Für Sie habe ich heute eine ganz spezielle Aufgabe, Spengler“, überraschte er den Blondschopf. „Ich möchte, dass Sie sich um Frau Schafschneider kümmern. Eine neue Kollegin in unserer Abteilung, die von kompetenter Hand eingewiesen werden soll.“ Spengler traute seinen Ohren nicht. So etwas war in den drei Jahren, die er der Firma angehörte, nicht vorgekommen. Es fiel ihm nicht sonderlich schwer, den wahren Grund für diesen sonderbaren Wunsch zu durchschauen. Schubert war also mit von der Partie. Die Drahtzieher hatten demzufolge herausgefunden, welchen Weg ihre brisante Post genommen hatte. Spengler hatte damit gerechnet, schließlich arbeitete er in einem Softwareunternehmen. Aus diesem Grund hatte er die Mail in ihrem ursprünglichen Zustand belassen und nur die kopierte Datei entschlüsselt. Er war sich sicher, dass auf diese Weise niemand etwas bemerken würde.

Artur Spengler zuckte mit den Schultern. „Ich bin zwar dabei, ein neues Programm zu entwickeln, aber wenn Sie meinen, dass ich mich um die Dame kümmern sollte…“ „Allerdings, das meine ich“, bekräftigte Schubert.

Kurz darauf hatte sich Spengler mit der neuen Kollegin bekannt gemacht. Im Grunde war seine neue Aufgabe eine willkommene Abwechslung von seiner sonstigen Arbeit. Ab und an warf er einen heimlichen Blick auf seinen Arbeitsplatz, doch die Glasbox seiner Kollegin war soweit abseits gelegenen, dass er nicht sehen konnte, was darin vor sich ging.

„Entschuldigen Sie mich bitte für einen Moment“, sagte er schließlich. „Ich bin gleich wieder da.“ „Lassen Sie sich ruhig Zeit“, entgegnete die Neue in der Annahme, sein plötzlicher Aufbruch gelte einem unaufschiebbaren Hintergrund. „Ich komme schon klar.“ Spengler quittierte mit einem verlegenen Lächeln. Sollte sie doch glauben, dass er aufs Klo musste, sagte er sich, während er die Box verließ und auf Umwegen seinen eigentlichen Arbeitsplatz ansteuerte. Er musste wissen, ob Schubert tatsächlich in seinem Computer herumstöberte. Einige Atemzüge später wurde seine Ahnung zur Gewissheit.

Was auch immer Schubert mit der Sache zu tun hatte, Spengler traute ihm allemal zu, es mit dem Gesetz nicht so ernst zu nehmen. Bevor er jedoch mit seiner Entdeckung zur Polizei gehen konnte, musste er sich zu einhundert Prozent sicher sein. Der Blondschopf überlegte fieberhaft. Es war sicher das Beste, eine zweite Meinung einzuholen. Es stellte sich nur die Frage, wer kompetent genug war und wem er in dieser Sache überhaupt noch vertrauen konnte?

Da kommt nur einer in Frage, schoss es Spengler durch den Kopf. Einer seiner Studienfreunde war als metrologischer Informationstechniker an die ‚PTB’, die Physikalisch Technische Bundesanstalt nach Braunschweig gegangen. Wenn ihm einer weiter helfen konnte, war er es, Felix Nette. Der schlaksige Mann im unscheinbaren Sportjackett kramte sein Handy hervor und durchforstete die eingespeicherte Nummernkartei. Als er nicht fündig wurde, stieß er einen Fluch aus, denn leider war ihm die Adresse seines damaligen Freundes ebenso wenig geläufig. Schließlich kam ihm die Idee, keine weitere Zeit zu verlieren und seinen Studienfreund direkt auf der Arbeit aufzusuchen.

Er ließ einfach alles stehen und liegen, stempelte sich an der Zeiterfassung aus und verließ das Gebäude auf demselben Weg, auf dem er es am Morgen betreten hatte. In seiner Eile bemerkte er nicht, dass ihm mit einigem Abstand zwei Männer folgten.

Etwa eine halbe Stunde später und ungefähr fünfundzwanzig Kilometer von der MSW entfernt, bog Spenglers betagter Nissan in die Bundesallee und damit auf das Gelände der Physikalisch Technischen Bundesanstalt im nördlichen Braunschweiger Stadtgebiet. Der Softwareentwickler parkte gleich links auf dem großen Besucherparkplatz und begab sich in das angrenzende Gebäude, in dem sich auch die Anmeldung befand. Artur hatte nicht den geringsten Schimmer, in welchem der zahlreichen Gebäude sein Freund arbeitete.

Er hatte Glück, Felix Nette war an seinem Arbeits-platz und er hatte Zeit für seinen alten Studienfreund. Der freundliche Pförtner erklärte ihm den Weg und versprach, dass Felix Nette ihm entgegen kommen würde. Spengler verließ das Gebäude, überquerte den Parkplatz, auf dem er seinen Wagen abgestellt hatte und durchquerte den schmalen Grünstreifen, der den Parkplatz von der Bundesallee trennte.

Obwohl er seinen alten Freund schon längere Zeit nicht mehr gesehen hatte, erkannte er ihn sofort. Er trug noch immer denselben strubbeligen Haarschnitt und die gleiche Nickelbrille, die ihm schon während der Studienzeit den Spitznamen Einstein einbrachte. Artur winkte ihm zu, sah den Fahrdamm flüchtig auf und ab und trat auf die Straße. Als er etwa in dessen Mitte angelangt war, vernahm er die quietschenden Reifen eines Autos und noch im gleichen Augenblick die in der Sonne glitzernde Silhouette eines schnell näher kommenden Fahrzeugs. Es blieb ihm nicht einmal mehr die Zeit, um die Situation zu begreifen. Der Wagen raste wie ein Geschoss heran und erfasste ihn. Der Oberkörper des Softwareentwicklers klatschte mit einem dumpfen Knall auf die Motorhaube, seine Beine knickten wie verdorrte Grashalme im Wind. Einer Schaufensterpuppe gleich schleuderte er schließlich im hohen Bogen durch die Luft, um unmittelbar vor den Füßen seines Freundes reglos liegen zu bleiben.

Felix Nette sah auf den völlig verdreht daliegenden Körper herab, ohne so recht begriffen zu haben, was gerade unmittelbar vor ihm geschehen war. Er starrte dem davonrasenden Sportwagen hinterher, kniete sich nieder und fühlte seinem ehemaligen Freund den Puls. Erst jetzt schien er zu begreifen. „Artur, komm zu dir!“ Nur für einen kurzen Moment kam Artur Spengler noch einmal zur Besinnung. „In meiner Tasche“, hauchte er seinem Freund zu, während er kaum merklich mit dem Kopf auf die Jacketttasche deutete, in der er die CD aufbewahrte. Felix Nette holte die Hülle mit der Disk hervor. Sie war unversehrt. „Was soll ich damit?“, fragte der Mann mit dem strubbeligen Haar. Artur versuchte seine Lippen zu bewegen. Ein Schwall Blut trat aus seinem Mundwinkel, rann über seine Wange und tropfte schließlich auf den Asphalt. Einstein beugte sich dicht über ihn, doch mehr als ein undefinierbares Röcheln war aus dem Munde des Schwerverletzten nicht mehr zu vernehmen.

„Mein Gott, ich kann dich nicht verstehen“, entgegnete Felix, während er seinem Freund voller Entsetzen in die Augen sah. Er fühlte, dass ihm Artur etwas enorm Wichtiges mitteilen wollte, deshalb beugte er sich noch einmal hinunter, bis sein Ohr fast den Mund seines Freundes berührte. Im selben Augenblick erstarrte fast das Blut in seinem Körper. Der Wagen, der den Unfall verursacht hatte, kam zurück, und hielt genau auf die beiden zu. „44“, hauchte Artur mit einer letzten martialischen Kraftanstrengung, bevor sein Kopf zur Seite kippte und er für immer die Augen schloss.

Felix Nette hatte nicht viel Zeit, um Abschied zu nehmen. Der Wagen des Teufels raste mit immer höher werdendem Tempo auf sie zu. Nur noch wenige Meter trennten auch ihn vom Abgrund des Todes. Geistesgegenwärtig warf er sich zurück auf die Rasenfläche, über die er gerade gekommen war. Während er sich noch zur Seite rollte, sah er mit Entsetzen, wie der weiße Sportwagen ein zweites Mal den leblosen Körper seines Freundes erfasste. Schockiert beobachtete er, wie er bremste und die Beifahrertür aufgestoßen wurde. Ein gut gekleideter Mann sprang heraus. Sein Gesicht verbarg er hinter einer schwarzen Skimütze. In seiner Hand blitzte eine Pistole. Der wissenschaftlich technische Assistent warf sich reaktionsschnell hinter einen der Bäume. Ein leises Zischen, ein kurzes Plopp und ein Projektil hackte ein Stück rötliches Holz aus der Rinde der alten Kastanie. Die Gangster benutzten also einen  Schalldämpfer. Kein Zweifel, es musste sich um Profis handeln. Schlagartig wurde ihm bewusst, dass  er das nächste Opfer werden sollte.

Er beobachtete, wie sich der zweite ebenfalls maskierte Gangster an den Taschen seines toten Freundes zu schaffen machte. Es war offensichtlich, wonach der Kerl suchte. Da, wo sich Felix Nette gerade aufhielt, konnte er nicht bleiben. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Männer nahe genug waren, um auch ihn zu erwischen. Felix nahm all seinen Mut zusammen, schrie so laut er konnte und lief so schnell wie er es vermochte. Er rannte um sein Leben und hoffte, dass irgendjemand auf den Lärm, den er verursachte, aufmerksam wurde. Einen Tatzeugen konnten sie ausschalten, überlegte er, während er in gebückter Haltung weiter rannte, aber ein Dutzend…?

Links und rechts neben ihm schlugen die Kugeln ein, wirbelten Dreck auf oder zischten sengend heiß um Haaresbreite an seinem Schädel vorbei. In all der Aufregung ließ er völlig außer Acht, dass die Gangster nicht hinter ihm, sondern möglicherweise nur hinter der CD her waren.

 

-4-

 

„Machen Sie sich nicht ins Hemd, Schubert. Wir verlieren zwar einen fähigen Mitarbeiter, aber sichern uns so die nötige Zeit, um unseren Kunden zufrieden zu stellen.“ Schubert hielt es nicht in seinem Sessel. Immer wieder durchmaß er nervös den Raum, rannte von einer Ecke in die nächste und blieb schließlich vor dem großen Panoramafenster stehen, durch das man bei guter Sicht bis zu den Harzbergen sehen konnte. „Aber gab es denn wirklich keine andere Möglichkeit, den Mann zum Schweigen zu bringen?“ „Sicher, wenn Sie sich von dem Kerl erpressbar machen wollten und ihm immer wieder Geld in den Rachen werfen möchten? Nein, nein, je weniger Mitwisser, desto weniger Risiko!“

„Ja, aber…“ „Nichts da, denken Sie daran, dass Spengler nur deshalb ausgeschaltet werden muss, weil Sie Scheiße gebaut haben. Seien Sie froh, dass ich mittels der versteckten Kamera beobachten konnte, wie Spengler die Daten auf die CD kopierte, sonst wüsten wir nicht einmal davon. Nur gut, dass ich für solche Fälle ein kompromissloses Team in der Hinterhand habe. Übrigens dürfte Ihnen klar sein, dass die Kosten für diese Säuberungsaktion zu Ihren Lasten gehen.“

Schubert wagte nicht zu widersprechen. Nichtsdesto-trotz sah er immer wieder nervös auf seine Armbanduhr. „Sollten Ihre Leute nicht längst Vollzug melden? Da ist irgendetwas aus dem Ruder gelaufen, ich spüre so etwas.“ Der Dicke begann hämisch zu lachen, „Ihre Gefühle in allen Ehren, Schubert, aber Sie sollten vielleicht mal was für Ihre Nerven tun. Die Jungs sind Profis, die werden ihren Job ohne Wenn und Aber erledigen, da seien Sie versichert.“

 


-5-

 

„Sie können ganz beruhigt sein, Herr Professor. Auch wenn die Verlobung Ihrer Tochter zugegeben recht überraschend für Sie kam, so handelt es sich bei dem jungen Mann um einen durchaus integeren Herrn aus gutem Hause. An der Zuneigung, die er Ihrer Tochter entgegenbringt ist nicht zu zweifeln. Ich habe den jungen Mann mehrere Tage fast durchgängig beobachtet. Meiner Meinung nach besteht kein Grund, seine Aufrichtigkeit in Frage zu stellen.“

Der Mann mit dem ergrauten Haar nahm seine Brille ab, legte sie auf die Schreibtischablage und neigte sich entspannt gegen die Rückenlehne seines Chefsessels. „Ich habe meiner Frau gleich gesagt, dass ihre Angst völlig unbegründet ist, aber Sie wissen ja, wie Mütter so sind.“ Ich machte ein abschätzendes Gesicht. „Wie dem auch sei, ich bin mit Ihrer Arbeit sehr zufrieden.“ Der honore Herr erhob sich und reichte mir die Hand. Ich tat es ihm nach. „Schicken Sie mir bitte Ihre Rechnung.“ Ich dachte spontan an Trude. Meine Putzsekretärin war leider nicht die Schnellste. „Keine Angst, allerdings könnte es ein paar Tage dauern.“ Der Professor sah auf die Uhr auf seinem Schreibtisch. „Ich möchte nicht unhöflich erscheinen, aber leider habe ich gleich den nächsten Termin.“ „Kein Problem, ich finde allein hinaus.“

Ich hatte also mal wieder einen zufriedenen Klienten zurückgelassen. Langsam aber sicher kam ich besser ins Geschäft. Nach anfänglichen Schwierigkeiten und einigem Leerlauf hatte sich meine gute und diskrete Arbeit herumgesprochen und einige Leute kamen sogar schon auf Empfehlung in meine Detektei. Es lief relativ rund, wie man so sagt, denn endlich sollte sich auch an meiner Wohnsituation etwas ändern. Die schon lange versprochene Wohnung neben meiner Detektei wurde zu guter Letzt doch noch frei. Ich war also, von der Auseinandersetzung mit Isabelle einmal abgesehen, in guter Stimmung, als ich über den Flur des Bürokomplexes dem Aufzug entgegen schlenderte.

Hier also wird die Zeit gemessen, dachte ich, meinen Blick auf die Hinweistafel im Fahrstuhl gerichtet. ‚Die PTB liefert für ganz Deutschland die Zeit. Ihre Atomuhren steuern sämtliche Funkwecker, Bahnhofsuhren und viele Abläufe in der Industrie’. Ich dachte an die jährliche Zeitumstellung und daran, dass ich jedes Mal Tage brauchte, um mich an den veränderten Rhythmus zu gewöhnen. Aber das, so musste ich fairnesshalber eingestehen, ist ein Bockmist, den allein die Politik verzapft hatte. Auch wenn es den eigentlichen Grund für diese Posse nicht mehr gab, wenn erst einmal etwas in Gang gebracht war, ließ es sich nur mit Mühe wieder aufhalten, doch diese Mühe wollte sich halt keiner der Herren Politiker machen.

Die Kabine kam mit einem leichten Ruck an seinem Bestimmungsort an. Die beiden Hälften des Lifts schoben sich behäbig auseinander. Eine elegant gekleidete Blondine schritt gerade in betont anmutiger Weise den Gang entlang. Mein Blick ließ sich für einen Moment in ihren Bann ziehen. Gern wäre ich mit ihm zu ihr hinübergeschwebt, doch die beiden wieder zufahrenden Hälften der Kabinentür trennten uns. Fasziniert von ihrem Antlitz, hatte ich selbst das Aussteigen vergessen. Als sich der polierte Stahl wieder auseinander schob, war meine Traumfrau verschwunden. Mit einem tiefen Seufzer setzte ich meinen Weg fort. Hatte ich denn gar kein Glück mehr bei den Frauen?

Ich verließ das Gebäude durch einen Seitenausgang, der zum Besucherparkplatz führte. Wenigstens sprang mein Ascona beim ersten Startversuch an, was mir zumindest ein zufriedenes Lächeln ins Gesicht zauberte. Während ich den Wagen aus der Parklücke steuerte und über Sinn oder Unsinn der Sommerzeit nachdachte, wurde die Beifahrertür blitzartig aufgerissen. Ein äußerst gehetzt wirkende Person warf sich auf den Sitz neben mir und flehte mich an, loszufahren. Ehe ich richtig begriff, was eigentlich los war, ließ irgendetwas die Scheibe der Seitentür zerplatzen.

„Sie schießen auf mich“, rief der ungebetene Gast auf dem Sitz neben mir. Dies war alles andere als ein dummer Scherz, der Mann durchlebte Todesängste. Während ich das Gaspedal bis auf die Bodenwanne durchtrat und die durchdrehenden Räder meines Wagens ihr Profil im Asphalt hinterließen, sah ich zwei Männer, die mit gezogenen Schießeisen aus dem Dickicht der Büsche hervorsprangen. Sie schossen auf den Wagen und damit nun auch auf mich, was ich ihnen zunehmend übel nahm, da ihr heißes Blei immer mehr Löcher in das ehrwürdige Blech meines Asconas stanzte.

Ich brauchte meinem unbekannten Beifahrer nicht zu sagen, dass er auf Tauchstation gehen sollte, so schlau war er von allein gewesen. Eigentlich sah ich nur noch seinen krummen Rücken. Der Rest von ihm hockte zusammengekauert im Fußraum. Offensicht-lich benutzten die Ganoven Schalldämpfer. Ich hatte es folglich mit Profis zu tun. Als sie bemerkten, dass sich der Abstand zu uns vergrößerte, wurde meine Annahme zur unliebsamen Gewissheit. Die schossen auf die Reifen und erwischten sie auch. Der Ascona wirbelte unkontrollierbar herum und stellte sich schließlich quer.

„Los, wer auch immer Sie sind, wir müssen hier raus.“ Ich zog meine Waffe und wartete, bis sie nahe genug herangekommen waren, um sie mit einigen bleiernen Grüßen zu überraschen. Während wir auf die von den schießwütigen Schurken abgewandte Seite meines Wagens robbten, zog ich mein Handy und drückte auf die Notruftaste, die meinen besten Freund und Exkollegen bei der Braunschweiger Kripo alarmierte. Es bedurfte nur wenige Worte, um Jogi den Ernst meiner Situation klar zu machen. Ich wusste, dass er sofort alle Hebel in Bewegung setzen würde, um mir aus der Patsche zu helfen.

Sekunden später waren die Gangster weiter vorgerückt als es mir lieb sein konnte. Ich hieß sie mit einer Salve von Schüssen, die ich in die Braunschweiger Nachmittagssonne feuerte, herzlich willkommen. Die Herren waren äußerst überrascht, um nicht zu sagen, perplex. „Die nächsten Grüße schicke ich um einiges tiefer“, rief ich ihnen zu.

Meine Überraschung hatte ihre Wirkung nicht verfehlt. Die Gangster stoppten und starrten sich konsterniert an. Leider besannen sie sich schon im nächsten Augenblick und trennten sich. Ihre Absicht wurde schnell deutlich. Während einer von ihnen den Wagen in weitem Abstand umging, suchte sich der andere eine sichere Deckung. Sie wollten uns buchstäblich in die Zange nehmen. Ich sah mich um, konnte jedoch keine andere Deckung in unserer Nähe ausmachen.

„Wir müssen zurück in den Wagen“, verkündete ich im Brustton der Überzeugung. „Die Kerle wollen uns von zwei Seiten unter Beschuss nehmen.“ „Das darf doch alles nicht wahr sein“, jammerte der Mann mit der Nickelbrille. „Was haben Sie gemacht?“, fragte ich ratlos. „Diese Mistkerle haben einen Freund von mir einfach über den Haufen gefahren.“ Er schüttelte fassungslos mit dem Kopf. „Einfach über den Haufen. Am helllichten Tag.“

Es blieb keine Zeit mehr, um weitere Informationen aus ihm herauszuholen, die Kerle begannen uns wieder unter Feuer zu nehmen. Nun platzte auch die Glasscheibe in der Fahrertür und ein weiteres Geschoss stanzte ein kreisrundes Loch in die Windschutzscheibe. Einem Spinnennetz gleich, zogen sich dutzende feiner Risse durch das Glas. Wütend feuerte ich zurück. Einer der beiden Killer hatte sich hinter einem Baum postiert, den anderen konnte ich gar nicht ausmachen. Ich betete, dass sie den Tank nicht erwischten. Ein einziger Schuss hätte uns mitsamt der Karre auf den Mond katapultieren können.

Während ich meine Waffe nachlud, ließ das Kreuzfeuer plötzlich nach. Kurz darauf vernahm ich den Grund dafür. Aus der Ferne waren bereits erste Sirenen zu hören. Als ich den Kopf vorsichtig herausstreckte, sah ich nur noch, wie die Halunken Fersengeld gaben. „Sind Sie in Ordnung?“, fragte ich den völlig verstörten Mann, der sich bis tief in den Fußraum vor der Rücksitzbank gedrückt hatte. „Ja, ja, es geht schon.“ Nach und nach füllte sich der Parkplatz mit Neugierigen, die angelockt durch das hollywoodreife Spektakelum, aus den angrenzenden Gebäuden zusammenströmten.

Angesichts der vielen Menschen verzichtete ich darauf, den Gangstern nachzusetzen. Zu groß war das Risiko, dass womöglich ein Unbeteiligter von einer verirrten Kugel getroffen wurde. Erst jetzt sah ich das Ausmaß der Zerstörungen an meinem Wagen. Auch wenn ich meinen alternden Ascona oft genug verflucht hatte, weil er nicht anspringen wollte, so tat mir der traurige Anblick, den er jetzt bot, doch in der Seele weh.

Der Mann, dessen Beine da aus der Fondtür meines Wagens baumelten und von dem ich nicht einmal den Namen kannte, schien am Ende seiner Nerven. Jetzt, da er sich der Gefahr, in der er geschwebt hatte, erst so richtig bewusst wurde, begann er am ganzen Körper zu zittern. „Meine Güte, Herr Nette, was ist denn geschehen“, fragte einer der herbeigeeilten Pförtner. Doch der Mann mit dem Afrolook war zu keiner Reaktion fähig. Während sich die Schaulustigen den wildesten Fantasien hingaben, trafen die ersten Einsatzfahrzeuge von Polizei und Rotem-Kreuz am Ort des Geschehens ein. Mit dabei war mein Freund und Exkollege, Jürgen Wurzer.

„Meine Güte“, feixte er als er mich wohlbehalten neben meinem Wagen sah. „Hast du mit deiner Rostlaube an einem Designerwettbewerb teilgenom-men?“ Mehr als ein müdes Lächeln hatte ich nicht für ihn über. „Das sagt einer, der sich mit einem dicken Daimler durch die Gegend chauffieren lässt.“ „Jeder liegt so, wie er sich bettet“, entgegnete Jogi spöttisch. „Ich denke, es ist besser, ein Licht anzuzünden als in die Dunkelheit zu schauen“, konterte ich stichelnd. „Okay“, sagte Jogi anerkennend, „Diese Runde geht an dich.“ 

Unser kleiner Schlagabtausch war alles andere als böse gemeint, er war eher eine Art Ritual, welches wir während unserer gemeinsamen Dienstzeit zu einer  wahren Kunst entwickelt hatten. Außenstehende wussten dabei nie, ob wir uns tatsächlich anfeindeten, was uns nicht selten zum Vorteil gereichte.

„Also, erklärst du mir, was hier ablief?“, erkundigte sich mein Freund nun in gewohnt bedachter Routine. „Wenn ich das nur wüsste“, entgegnete ich ohne jede Idee auf den Mann deutend, der gerade, von einem Sanitäter betreut, in den Rettungswagen stieg. „Er sprang plötzlich in meinen Wagen“, erklärte ich, „und forderte mich auf, loszufahren.“ „Was du natürlich nicht tatest, weil du…“ „Weil die Ganoven sofort zu schießen begonnen“, unterbrach ich Jogi. „Ich habe zunächst gar nicht begriffen, was eigentlich geschah, weil die Killer Schalldämpfer benutzten“, erklärte ich wütend. „Wenn ich die Kerle wenigstens vernünftig beschreiben könnte, aber sie trugen Motorradhauben. Mir fiel auf, dass sie gut gekleidet und beide so um die dreißig waren.“ Ich weiß nur, dass mein Fahrgast Zeuge war, als sein Freund überfahren wurde.“ „Das Opfer liegt etwa zweihundert Meter weiter vorn, auf der anderen Seite des Parks. Bastian kümmert sich um ihn. Ich wollte erst einmal schauen, was du so treibst.“ „Wie nett von dir“ entgegnete ich grinsend, „aber wie du siehst, hatte ich die Sache auch ohne dich recht gut im Griff.“ „Ich sehe und staune.“

Mein Freund und ich gingen zum Rettungswagen hinüber, um nach dem ominösen Mann zu sehen und um eine Erklärung von ihm zu bekommen. Er bekam gerade eine Spritze verabreicht. „Kann ich mit ihm reden?“, fragte der Kriminalhauptkommissar. „Ich habe ihm gerade ein Sedativum verabreicht“, entgegnete der Notarzt. „Aber fassen Sie sich bitte kurz, der Mann steht noch immer unter einem leichten Schock.“

„Kriminalhauptkommissar Wurzer“, stellte sich mein Exkollege vor. „Würden Sie mir bitte Ihren Namen sagen.“ Der Mann, der von seinen Freunden auch Einstein genannt wurde, schien durch meinen Freund hindurch zu sehen. „Wer auch immer Sie sind“, sagte er an mich gewandt, „es muss mein Schutzengel gewesen sein, der Sie gesandt hat. Haben Sie vielen Dank, Sie haben mir das Leben gerettet.“ „Kennen Sie die Männer, oder können Sie die Kerle beschreiben?“, fragte Jogi weiter. „Kennen? Nein.“ Der Ärmste schüttelte den Kopf. „Die trugen Masken.“ „Können Sie sich vorstellen, weshalb es die Ganoven auf Sie abgesehen hatten?“, erkundigte sich der Hauptkommissar. Einstein rang um Worte. „Es war schrecklich, die haben Artur einfach über den Haufen gefahren.“ „Der Tote ist Ihnen also kein Unbekannter“, merkte mein Freund auf. „Nein, nein, wir haben zusammen studiert. Ich war zwar sehr überrascht, als mir der Pförtner am Telefon mitteilte, dass Artur mich besuchen wollte, aber ich habe mich gefreut, ihn nach all den Jahren wiederzusehen.“ „Und Sie haben keine Ahnung, was er von Ihnen wollte?“ „Beim besten Willen“, beteuerte der Mann mit der unmodernen Nickelbrille. „Dann haben Sie sicher ebenso wenig eine Idee, was die Typen von Ihrem ehemaligen Studienfreund wollten?“ Einstein schüttelte den Kopf.

Jogis Handy läutete. Es unterbrach die Befragung des Zeugen und gab mir die Gelegenheit, ihm meinerseits einige Fragen zu stellen. „Darf ich fragen, auf welchem Gebiet Sie hier tätig sind, Herr eh…? Entschuldigen Sie, aber ich habe Ihren Namen vorhin nicht recht verstanden.“ „Felix Nette. Ich arbeite in der Forschungsabteilung der PTB.“ „Sicher eine interessante Tätigkeit. Könnten Sie sich vorstellen, dass der Besuch Ihres Studienfreundes mit Ihrer Arbeit hier zusammenhängt?“ Einsteins Gesicht spannte sich an. Auf seiner Stirn bildeten sich tiefe Falten. „Eher nicht. Artur wusste doch gar nicht, an was ich arbeite.“ „Und umgekehrt?“ „Kann ich nicht sagen, ich weiß nur, dass es Artur nach Wolfenbüttel verschlagen hatte. Womit er sein Geld verdient, ist mir nicht bekannt.“

„Verdiente“, bemerkte Jogi, der sein Telefonat gerade beendet hatte. „Ihrem Freund war leider nicht mehr zu helfen. Er muss sofort tot gewesen sein.“ „Ich hab’s mir gleich gedacht“, beteuerte Felix Nette. „Er lag so verrenkt da, dass er nur tot sein konnte. Zuerst dachte ich an einen Unfall, aber als der Wagen drehte und noch einmal genau auf ihn zuraste, gab es keinen Zweifel mehr. Die wollten Artur töten!“ Haben Sie sich das Kennzeichen des Wagens merken können?“ „Tut mir Leid, es ging alles so schnell, aber es war ein weißer Sportwagen, glaube ich.“ „Na, das bringt uns doch schon etwas weiter. Hat Ihnen ihr Studienfreund noch etwas mitteilen können, bevor er verstarb?“, fragte Jogi zuversichtlich. „Leider nicht“, schluckte Einstein trocken. „Ich konnte mich nicht mal mehr um ihn kümmern. Die Kerle begannen sofort auf mich zu schießen.“   

Die Killer waren Profis, soviel stand für mich fest. Umso mehr fragte ich mich, weshalb die Ganoven das Risiko eingingen und ihr potentielles Opfer am helllichten Tag und dazu noch auf offener Straße um die Ecke brachten. Aus irgendeinem Grund hatten sie keine andere Wahl, doch welches Motiv war so immens wichtig, um ein solches Risiko einzugehen? Da man davon ausgehen musste, dass Felix Nette ein zufälliges Opfer wurde, konnte dieses Motiv nur in der Vergangenheit des Getöteten begründet sein. Das jedoch lag nicht in meiner Zuständigkeit. Was mich beschäftigen sollte, war der Zustand meines geschundenen Vehikels und die Frage, wer mir den Schaden ersetzen würde. Da mein Ascona kriminaltechnisch untersucht werden musste, brauchte ich mich zumindest nicht um seinen Abtransport zu kümmern. Die Experten der KTU würden ihn in seine sämtlichen Einzelteile zerlegen, um auch das letzte Geschoss sicherzustellen. Ein solches Ende hatte mein treuer Gefährte nicht verdient.

 

-6-

 

„Verdammt noch mal, das kann doch alles nicht wahr sein!“, fluchte der Dicke. „Wenn diese Scheiß CD nicht bald wieder auftaucht, sind wir alle am Arsch!“ „Aber, wir können nichts dafür, Chef“; rechtfertigte sich einer der beiden Ganoven. „Wie sollten wir ahnen, dass dieser schießwütige Django plötzlich auftaucht.“ „Wisst ihr Pfeifen wenigstens, wer der Kerl ist, an den Spengler die Disk weitergab?“ Die Männer sahen sich bärbeißig an, doch es blieb ihnen nichts anderes übrig, als die Frechheit des Dicken zähneknirschend zu schlucken. „Wir haben nur Spenglers Handy, aber leider ist es bei dem Crash etwas in Mitleidenschaft gezogen worden. Schubert hat es bereits in der Mache. Vielleicht lässt sich darin die Telefonnummer rekonstruieren, mit der er den Kerl anrief?“

Sören Gustafsohn sprang trotz seiner Leibesfülle wie ein Puma aus dem speziell für ihn angefertigten Schreibtischstuhl. „Muss ich mich denn hier um alles selber kümmern? Vielleicht wollen die Herrschaften hier so lange warten, bis sich der Typ hier vorstellt und die Disk als Fundsache abgibt?“ Der Dicke hopste so aufgeregt wie ein Flummi durch den Raum. „Mensch, fahrt endlich los und dreht Spenglers Wohnung um, ehe es die Bullen tun. Möglicherweise findet sich dort ein Anhaltspunkt, eine Notiz oder ein Foto, über das wir dem Kerl auf die Spur kommen können.“

Die beiden Proleten verschwanden, während sich der Dicke entnervt wieder in seinen Sessel sinken ließ. Nachdem er einige Male tief durchgeschnauft hatte griff er zum Telefon und tippte eine Nummer ein, die er nirgends niedergeschrieben hatte.

„Es gibt Schwierigkeiten. Die betreffende Person wurde liquidiert, aber die Disk befindet sich leider noch immer nicht in unserer Hand.“ Sören Gustafsohn hörte aufmerksam zu und als der Teilnehmer das Gespräch beendet hatte, stand dem übergewichtigen Mann hinter dem Schreibtisch der kalte Schweiß auf der Stirn. Wenn er geahnt hätte, mit was für Leute er sich einließ, wäre er einen anderen Weg gegangen, um seine Spielschulden zu begleichen. Immer wieder fuhr er sich mit beiden Handflächen über das aufgedunsene Gesicht. War es das wirklich wert gewesen? Der Dicke schlug mit der Faust auf seinen Schreibtisch, als wolle er sich selber Mut machen. Sören Gustafsohn, da musst du jetzt durch!

 

-7-

 

Ich stellte den alten Nissan Bluebird vor dem Haus Nummer 14 in der Harzstraße ab. Es war das Auto von Artur Spengler, in dem die Spurensicherung keinerlei Anhaltspunkte fand, die zur Aufklärung des Verbrechens führen konnten. Der weiße Daimler, der quasi im selben Moment hinter mir einparkte, war der Dienstwagen meines Freundes. Wir hatten uns kurzerhand entschlossen, den Wagen des Opfers auf diese Weise nach Wolfenbüttel zu überführen. Es war der einfachste Weg, um Spenglers Hinterbliebenen wenigstens diesen, sicherlich mehr als unangenehmen Weg zu ersparen.

„Ja bitte?“, hallte es aus dem Lautsprecher neben der Haustür. „Frau Spengler?“, fragte Jogi abwartend. „Wer will das wissen?“, erkundigte sich die Stimme misstrauisch. „Entschuldigung, mein Name ist Wurzer, ich bin von der Polizei und hätte Sie gern gesprochen.“ „Ist was mit Artur?“ „Vielleicht sollten Sie besser öffnen, damit wir uns in aller Ruhe unterhalten können.“ „Ja, ja, sofort“, entgegnete die Stimme nun um einiges aufgeregter.

Jogi hielt der mehr als schlanken jungen Frau in der Strickjacke seinen aufgeklappten Dienstausweis entgegen. „Treten Sie bitte näher, meine Herren. Mein Lebensgefährte ist leider noch nicht da. Er wollte noch etwas erledigen, aber er müsste jeden Moment da sein. Kann ich Ihnen einstweilen etwas anbieten?“ „Nein danke, sehr liebenswürdig“, lehnte mein Freund betreten ab. Ich hatte den Eindruck, dass die junge Frau bereits ahnte, dass etwas Furchtbares geschehen war. „Wir müssen Ihnen leider eine schlechte Nachricht übermitteln. Es ist besser, wenn Sie sich setzen.“ „Ist er tot?“, fragte sie, kaum dass sie in die Polster ihres Sofas gesunken war. Ihre Augen wanderten eine Antwort suchend zwischen Jogi und mir hin und her.

„Ihr Lebensgefährte ist von einem Auto erfasst worden“, erklärte mein Freund schließlich mit einem dicken Kloß im Hals. „Unser aufrichtiges Beileid.“ Das Gesicht der jungen Frau erstarrte. „Er hat nicht gelitten. Der Notarzt sagte, er sei sofort tot gewesen.“ „Wie, wo?“, stammelte sie unter Tränen. Möchten Sie ein Glas Wasser?“, mischte ich mich kurz ein. „Ja bitte, in der Küche.“ „Über das Wie können wir nicht viel sagen“, fuhr Jogi fort. „Die Ermittlungen haben gerade erst begonnen. Es geschah auf der Bundesallee in Braunschweig.“ Die junge Frau hob den Kopf. „Was wollte er denn da?“ „Wir hofften, dass Sie uns etwas dazu sagen könnten.“ Sie schüttelte den Kopf. „Artur hat mich von unterwegs angerufen und gesagt, dass es etwas später wird, weil er für die Firma noch einen wichtigen Weg zu erledigen hat, aber er hat mit keiner Silbe erwähnt, dass er nach Braunschweig fährt.“

Ich reichte ihr das Glas Wasser. „Danke.“ „Er war also für seinen Arbeitgeber unterwegs“, resümierte Jogi. Die junge Frau trank und nickte. Sie hatte sich wieder etwas gefangen. Mein Freund zog sein Notizheft hervor. „Wo war Ihr Lebensgefährte beschäftigt?“ „Bei der Media Software. Er hat dort Büro- und Spielprogramme entwickelt.“ Jogi zeigte sich beeindruckt, aber das war er immer, wenn es um Computer ging. „Gibt es sonst noch Angehörige, die wir informieren sollten?“, erkundigte ich mich. „Arturs Mutter lebt noch. Ich denke, es ist besser, wenn sie es von mir erfährt“, stockte sie, erneut von einem Tränenschauer erfasst. „Können wir sonst noch etwas für Sie tun?“, fragte Jogi fürsorglich. „Ich möchte ihn noch mal sehen.“ „Wir müssen Sie ohnehin um die Identifizierung bitten. Vor morgen Vormittag wird das allerdings nicht möglich sein. Ich rufe Sie an, sobald die Rechtsmedizin den Leichnam freigegeben hat.“

Jogi überreichte der jungen Frau seine Karte und bat sie ihn anzurufen, falls sie doch noch Hilfe braucht, oder für den Fall, dass ihr noch etwas einfiele, was von Bedeutung sein könnte. Abschließend überreichte ich ihr den Autoschlüssel für den Wagen ihres Lebensgefährten und wir verabschiedeten uns.

 

-8-

 

„Du hattest Recht, George. Das ist tatsächlich der Typ mit der Plempe“, erkannte der kleinere der beiden Killer. „Da haben wir voll in die Scheiße gegriffen, Alter“, bemerkte der Jüngere. „Nur gut, dass wir die Bullen noch ins Haus gehen sahen. Wäre eine ziemliche Überraschung gewesen, wenn wir plötzlich vor ihnen gestanden hätten.“ Der Kleine zeigte auf sein Schießeisen und grinste. „Ihre Freude wäre nur von kurzer Dauer gewesen.“ Sein Kumpel schürzte ebenfalls die Lippen. „Wenn du keine bessere Idee hast, würde ich mir jetzt gern die Wohnung ansehen.“     

Nachdem der weiße Daimler mit den beiden vermeintlichen Polizeibeamten abgefahren war, zog der Jüngere den Schlüssel hervor, den er dem Toten abgenommen hatte. „Oder wollen wir noch ein wenig warten?“ „Worauf?“, erwiderte der Ältere bissig. „Keine Ahnung, aber mit irgendwem müssen die Bullen ja so lange gequatscht haben.“ „Ist doch schön“, grinste sein Kumpan spöttisch. „Ist doch möglich, dass uns dort oben eine kleine Entschädi-gung für unsere Unannehmlichkeiten erwartet.“ Es dauerte einen Moment, bis Vasili kapierte. „Na, auf das Mütterchen bin ich gespannt.“

Kurz darauf standen die beiden Ganoven in der Tür zum Schlafzimmer von Manuela Wenzel. Die junge Frau lag bäuchlings auf dem Bett ihres verstorbenen Lebensgefährten und schluchzte in dessen Kissen. „Wir kommen, um dich zu trösten, Süße“, plärrte einer der maskierten Männer unvermittelt los. Die Frau auf dem Bett erschrak fast zu Tode. „Wie kommen Sie hier rein?“, fragte sie am ganzen Körper zitternd. „Dein Lover war so nett, uns seinen Haustürschlüssel zu überlassen. Mein smarter Kumpel hier und ich sollen uns ein wenig um dich kümmern.“ „Trösten und so – du verstehst?“, grinste der andere, ohne einen Zweifel an seinen Absichten aufkommen zu lassen.

„Verschwindet!“, schrie Manuela. „Die Polizei hat gerade angerufen. Der Kommissar wird jeden Moment hier sein.“ Vasili knuffte dem Älteren seinen Ellenbogen in die Seite. „Ist sie nicht niedlich, die Kleine?“ „Die Bullen sind gerade raus, Süße. Wir haben also eine Menge Zeit, um dich aufzuheitern.“ Die junge Frau riss in ihrer Verzweiflung die Schublade aus dem Nachtschränkchen und kramte eine Schere hervor. „Kommt mir nicht zu nahe!“, rief sie. „Glaubt mir, ihr werdet keine Freude an mir haben.“ „Uiii… jetzt bekomm ich aber mächtig Angst.“ George gab seinem Kumpan per Handzeichen zu verstehen, dass er sich dem Bett von der linken Seite aus nähern sollte, während er es selbst von der Balkonseite aus probierte. Kichernd, sich einen Spaß daraus machend, die junge Frau in Panik zu versetzen, kamen sie Schritt um Schritt näher.

Manuela hatte sich in die Hocke gesetzt. Die Schere wie ein Dolch in der rechten Faust, war sie bereit, sich so teuer wie nur irgend möglich zu verkaufen. Trotz ihrer Trauer war der Instinkt, sich zu verteidigen, größer denn je. Jetzt zählte nur noch der Selbsterhaltungstrieb und der war bei der jungen Fitnesstrainerin besonders gut ausgeprägt. Längst waren ihre Tränen jenem eiskalten Blick gewichen, mit dem die Jungfrau von Orleans einst einen ganzen Krieg entschied.

„Ich lach mich tot, die Kleine hat Rasse“, grunzte Vasili vor Vergnügen. „Buh!“, versuchte er sie zu erschrecken. „Buh!“ Dabei geriet er unversehens in die Reichweite der jungen Frau. Manuela stach in Todesangst zu und traf den Killer heftig am linken Unterarm. „Verfluchtes Miststück!“, schimpfte er, während er sich die Motorradhaube vom Kopf zog und seinen Arm betrachtete. „Die Schlampe hat mich tatsächlich erwischt.“

George nutzte die kurze Abgelenktheit Manuelas aus und schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht. Die Fitnesstrainerin verlor das Gleichgewicht und krachte mit dem Hinterkopf gegen die Wand. Die andere Hand des Killers traf ihr Handgelenk derart hart, dass sich die Faust öffnete und sie die Schere verlor. „Hör zu, Mädchen, entweder du sagst uns sofort wo dein Verblichener sein Papierkram aufbewahrt, oder aber ich schicke dich dort hin, wo dein Liebster bereits ist. Vorher überlasse ich dich allerdings noch meinem Freund, der sich sicher schon darauf freut, sich mit dir zu trösten.“

Manuela hatte sich inzwischen so weit von dem Schlag erholt, dass sie den ruhigen Worten des kleineren Mannes folgen konnte. Sie versuchte kühlen Kopf zu bewahren. So war ihr sehr schnell bewusst, dass sie diesen Überfall nicht überleben würde. Sie hatte das Gesicht eines der Männer gesehen. Sie würden sie töten, daran bestand kein Zweifel. Ihre einzige Hoffnung lag in der Zeit, die sie herausschinden musste, um dem Schicksal vielleicht auf die Sprünge zu helfen. „Schauen Sie am besten in Arturs Sekretär nach, vielleicht finden Sie dort, wonach Sie suchen.“ George ließ sich nicht lange bitten.“

 


-9-

 

Mein letzter Auftrag war erledigt. Endlich hatte ich Zeit, um die neue Wohnung nach meinem Geschmack zu renovieren. Viel war eigentlich nicht zu tun, aber der Teppichboden im Wohnzimmer sollte durch Laminat ersetzt werden und die Raufasertapete in der Küche brauchte einen neuen Anstrich. Während Trude bereits seit einigen Tagen damit beschäftigt war, die Wohnspuren der Vormieterin zu beseitigen, karrte ich nach und nach die Möbel heran, die ich in meiner alten Garage in Braunschweig untergestellt hatte. Auch wenn es nur eine neue Wohnung war, die ich bezog, so brachte sie doch endlich den lange ersehnten Neuanfang für mein privates Leben mit sich.

Ich hatte mich von Jogi beim Mietwagencenter absetzen lassen und war nun mit dem Pritschenwagen vor der Detektei vorgefahren, um die Schlüssel für die Garage zu holen. Plötzlich kam mir ein Gedanke, der Unbehagen in mir auslöste. Meines Wissens war in den Taschen Artur Spenglers nur der Schlüssel zu seinem Auto gefunden worden, doch was war mit den Wohnungsschlüsseln? Nahm nicht jeder, der morgens das Haus verlässt, den Schlüssel mit, um wieder hineinzukommen? Ich führte mir die Aussage des Tatzeugen ins Gedächtnis zurück. Hatte seinen Aussagen zu Folge nicht einer der Gangster die Taschen des Opfers durchsucht? Wenn meine Vermutungen zutrafen, befand sich Spenglers Lebensgefährtin möglicherweise in ernster Gefahr. Ich rief Jogi an, um ihm meine Befürchtung mitzuteilen.

„Mir liegt leider noch keine Aufstellung der Spuri vor. Wenn du tatsächlich Recht hast… Ich werde mich umgehend darum kümmern. Sobald ich näheres weiß, melde ich mich.“ Unser Gespräch war beendet, doch das dumpfe Gefühl in meiner Magengegend war nach wie vor da. Im Gegenteil, es wurde immer drückender und so beschloss ich kurzerhand, noch einmal bei der jungen Frau vorbei zu sehen. Ihre Adresse war schließlich nicht weiter als fünf Minuten von der meinen entfernt.

Da die Harzstraße eine Einbahnstraße ist, die nicht durchgängig in eine Richtung befahren werden kann, musste ich zunächst über den Harztorwall fahren, um zu der Hausnummer 14 zu gelangen. In Höhe des Heckners Verlages fand ich einen Parkplatz. Mir fiel sofort ein weißer Camaro auf, der auf die vage Beschreibung unseres Zeugen passte. Da war sie wieder, die beklemmende Angst, zu spät zu kommen. Es war dasselbe Gefühl, welches ich hatte, als ich meinen Partner verlor. Mit ihm kam die Gewissheit noch längst nicht darüber hinweg zu sein.

Schnischnaschnappi! Der Klingelton meines Handys riss mich aus diesen unseligen Gedanken. Es war mein Freund, der mir mitteilte, dass weder sein Partner noch die Leute von der Spuri bei der Leiche ein Schlüsselbund gefunden hatten. Der Versuch, die Lebensgefährtin des Opfers zu warnen, war leider misslungen. Es ging niemand ans Telefon. Jogi schien nicht weniger beunruhigt darüber als ich. Als er hörte, dass ich meine Zelte vor der Tür besagter Dame bereits aufgeschlagen hatte, schien er noch besorgter zu sein.

„Du wartest dort auf mich!“, tönte er mit allem Nachdruck durchs Telefon. „Ich bin in 15 Minuten da.“ Ehe ich etwas sagen konnte, war unser Gespräch beendet und ich stand da, unbeholfen wie ein Tropf. Was war, wenn die Gangster tatsächlich bereits dort oben waren, um zu vollenden, was sie vor Stunden begonnen hatten. Spenglers Lebensgefährtin musste irgendetwas wissen, was ihrem Auftraggeber schaden konnte. Als ich mir vorstellte, wie sie die arme Frau unter Druck setzten, konnte ich nicht länger warten.

Ich legte den Daumen auf einen der anderen Klingeldrücker und läutete Sturm. Es dauerte nicht lange, bis eine resolute Dame an einem der Fenster im Parterre erschien und sich lauthals entrüstete. „Sind Sie noch recht bei Trost, junger Mann? Eine alte Frau ist doch kein D-Zug!“ „Das ist ein Notfall, bitte öffnen Sie die Tür!“, entgegnete ich, ohne auf ihre Worte einzugehen. „Ha, da könnte ja jeder kommen. Ich sehe mir regelmäßig Aktenzeichen XY an, mit dem netten Rudi… Ich komm jetzt nicht auf den Namen – na egal, jedenfalls wird dort oft genug vor solchen Spitzbuben gewarnt.“ „Hören Sie, gute Frau, ich bin Privatermittler und in der Wohnung von Herrn Spengler liegt ein Notfall vor. Bitte drücken Sie aufs Knöpfchen und lassen mich herein. Es geht um jede Minute.“ „Sind Sie wirklich so ein Matula?“ Ich hätte mir die Haare raufen können. „Ja, bin ich und wenn Sie mich jetzt hereinlassen, werde ich ihnen nachher Geschichten erzählen, dass Ihnen Augen und Ohren übergehen.“ „Versprochen?“ „Ein Detektiv – ein Wort!“

Endlich schlug der Summton des Türöffners an. Der Weg ins Treppenhaus war frei. Ich stürmte die knarrenden Holztreppen empor, zu der Wohnung von Artur Spengler und seiner Lebensgefährtin. Genau in dem Moment, in dem ich vor der Tür anlangte, vernahm ich einen spitzen Schrei, der urplötzlich erstarb. War dies der Beweis für die Richtigkeit meiner Befürchtungen? Wenn es so war, konnte ich nicht einfach wie ein Berserker die Tür eintreten und wild um mich schießend in die Wohnung stürmen. Andererseits konnte ich mich ebenso wenig für einen Handwerker oder den guten Nachbarn ausgeben, der mal schnell nach dem Rechten sehen wollte. Wenn hinter dieser Tür dieselben Ganoven zu Gange waren, mit denen ich mir kurz zuvor einen Schusswechsel geliefert hatte, wäre ich sofort aufgeflogen. Nein, ich musste mir irgendetwas anderes einfallen lassen.

Immer den Gedanken im Nacken, in der Wohnung könnte etwas Schreckliches geschehen, zermarterte ich mir das Hirn. Letztendlich fiel mir der Balkon ein, den ich bei meinem ersten Besuch bemerkt hatte. Er war Teil einer Stahlkonstruktion, die an der Rückseite des Hauses angebaut war. Ich musste also in die Wohnung im Parterre, um über die Stützen nach oben zu gelangen. Selbst wenn die Balkontür verschlossen war, konnte ich zumindest sehen, was in der Wohnung vor sich ging. Ich musste also noch einmal bei der alten Dame Sturm klingeln.

„Da wird doch der Hund in der Pfanne verrückt“, hörte ich sie durch die noch geschlossene Tür wettern. „Ach Sie schon wieder“, hörte ich sie sagen. „Ihr jungen Leute heutzutage habt einfach keine Zeit mehr.“ „Tut mir Leid, aber ich muss auf ihren Balkon“, stürmte ich an ihr vorbei. „Auf meinen Balkon?“, fragte sie verdutzt. „Was wollen Sie denn da?“, kam sie mir nachgerannt. „Ich muss sehen, was dort oben vor sich geht.“ „Na, dann kommt ja doch noch etwas Leben in die Bude. Ich koche uns inzwischen einen Kaffee.“

Während ich mich über die Metallstreben der Balkonkonstruktion in die Höhe hangelte, fiel mein Blick unversehens auf die Zeiger meiner Armband-uhr. Seit dem Gespräch mit Jogi waren knapp zehn Minuten vergangen. Er musste also bald eintreffen. Nichtsdestotrotz musste ich wissen, was dort oben vor sich ging. Vorsichtig und so lautlos wie eine Raubkatze glitt ich über das Geländer. Niemand hatte mich gesehen, niemand hatte mich gehört. Tageslicht spiegelte sich in der Glasscheibe der Balkontür, machte es notwendig, dass ich beide Hände seitlich an die Stirn legte, um im Inneren der Wohnung etwas sehen zu können.

Spenglers Lebensgefährtin kauerte gefesselt und geknebelt auf dem Bett. Ein mir unbekannter Mann stand ihr unmaskiert gegenüber. Er hielt ein Handtuch, welches er auf seinen Unterarm presste. „Bete zu Gott, dass wir finden, wonach wir suchen“, hörte ich ihn in südländischem Akzent durch die einen Spalt breit geöffnete Balkontür drohen. „Du weißt, was dir sonst blüht, Miststück.“ Die junge Frau weinte unterdessen ohne Unterlass. Ein Wunder, dass sie sich überhaupt noch so gut hielt, nach allem, was an diesem Tag auf sie eingeströmt war.

In diesem Moment trat der zweite Gangster in den Raum. Er war sichtlich erzürnt. Auf Grund seiner Größe und der Art, wie er sich bewegte, erkannte ich in ihm einen der Männer, die an der Schießerei beteiligt waren. „Meine Geduld ist am Ende! Ich habe dich gewarnt! Wo ist die Disk?“ Für einen Moment nahm er der Frau den Knebel aus dem Mund. Bevor sie antworten konnte, jappte sie nach Luft. „Aber ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich nichts von einer CD weiß. Artur ist gleich von der Arbeit aus nach Braunschweig gefahren. Vielleicht ist das, wonach Sie suchen, noch im Auto?“ Der kleinere der beiden Männer trug eine Motorradhaube. Er griff sich an den Kopf, wie jemand, dem gerade sämtliche Schuppen vor den Augen abfielen. 

„Die Karre von dem Kerl. Die haben wir völlig vergessen.“ „Der Wagen steht unten vor dem Haus. Die Polizeibeamten haben ihn mir vorhin gebracht“, erklärte Manuela in der Hoffnung, die Gangster nun los zu werden. „Sieh an, die Bullen, immer dein Freund und Helfer“, machte sich der Mann mit dem südländischen Akzent lustig. „Blödmann“, entgegnete der andere unwirsch. Wenn die Bullen die Karre in der Mache hatten, ist die Disk bestimmt nicht darin zu finden.“ „Und wenn doch?“, zuckte der Größere.“ „Der Schlüssel hängt im Flur, am Haken“, erklärte die Frau auf dem Bett, in der Hoffnung, dass die beiden Gangster die Wohnung verließen. „Also schön, ich werde nachsehen.“ Er stopfte ihr den Knebel wieder in den Mund und wandte sich seinem Kumpel zu. „Du hältst hier oben so lange die Stellung.“ „Es wird mir ein besonderes Vergnügen sein“, grinste der Unmaskierte lüstern.

Besorgt beobachtete ich, was weiter geschah. Der Kleinere war kaum zur Tür heraus, als sich sein Kumpan auch schon dem Bett der jungen Frau näherte. Ich ahnte, was kommen würde. „So, nun zu uns zwei Hübschen“, sagte der Südländer mit stechend frivolen Blick. Die Frau auf dem Bett versuchte sich noch kleiner zu machen, zog ihre Beine dicht an ihre Brust. Angesichts dessen, was sie nun erwarten würde, schüttelte sie immer wieder panisch den Kopf. „Je mehr du dich zierst, du kleines Miststück, desto mehr reizt du mich.“

Es fiel mir schwer, mich zurückzuhalten. Immer wieder sah ich zur Uhr, hoffte, dass Jogi bald einträfe, doch wenn man die Sekunden zählt, hat man das Gefühl, die Zeit bliebe stehen. Als dieser Kretin jedoch seine Hose fallen ließ und seinem hilflos wimmernden Opfer die Beine spreizte, gab es kein Halten mehr. Noch während ich hinter der Mauer vorsprang, schlug er ihr ins Gesicht, um ihren Widerstand zu brechen. Das Überraschungsmoment auf meiner Seite, warf ich die Balkontür zur Seite, katapultierte mich mit ein, zwei schnellen Sätzen in die Höhe und warf mich diesem Teufel in Menschengestalt entgegen.

Meine Faust krachte ihm mitten ins Gesicht, ließ ihn in seiner Bewegung erstarren und schließlich unter mir zwischen Bett und Wand zu Boden gehen. Meinem ersten Schlag folgten weitere, die den Ganoven vollends außer Gefecht setzten. Spenglers Lebensgefährtin kauerte verängstigt, zusammenge-rollt in der äußersten Ecke des Bettes und starrte mich apathisch an. Ich nahm ihr vorsichtig den Knebel aus dem Mund und löste ihre Fesseln, die ich gleich wieder dazu verwandte, um den perversen Unhold zu fixieren.

„Nehmen Sie die Decke“, sprach ich die Ärmste mit ruhigen Worten an. „Sie können sich noch an mich erinnern?“, fragte ich, während ich ihr beim Aufstehen half. „Ich war vorhin mit Hauptkommissar Wurzer bei Ihnen.“ Ihr zögerliches Nicken verriet mir, dass sie langsam wieder zur Besinnung kam. Dennoch musste ich sie stützen, als wir ins Wohnzimmer hinüber gingen. Den Ganoven hatte ich gut verpackt am Bett verzurrt. Er musste sich so lange gedulden, bis er von der Polizei in Gewahrsam genommen wurde. 

„Hast du den anderen Ganoven unten erwischt?“, fragte ich meinen Freund, als dieser endlich in der Wohnungstür auftauchte und mir reichlich verdutzt gegenüberstand. „Wieso den anderen?“, fragte Jogi verwundert. „Wieso bist du überhaupt hier oben?“ „Weil ich handeln musste.“ Ich deutete mit den Augen auf das Wohnzimmer. Mein Exkollege hatte mich auch ohne viele Worte verstanden. „Der Kerl liegt handlich verpackt im Schlafzimmer“, rühmte ich mich, nicht ohne dabei eine gewisse Genugtuung zu empfinden. „Den anderen Vogel hast du ja wohl unten davonflattern lassen“, witzelte ich, während ich dem Südländer unsanft auf die Beine half. „Du hattest vergessen, ihn vorher zu beringen. Wie sollte ich also wissen, dass er aus dem gleichen Schlag stammt wie dieser hier?“ „Solche Vögel erkennt man an ihrem Gefieder“, setzte ich noch einen drauf.

 

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„Habe ich es denn nur noch mit unfähigen Idioten und Dilettanten zu tun?“, wetterte der Dicke. „Wenn dein Kumpel auspackt, sind wir alle geliefert.“ „Keine Angst, Boss, Vasili hält dicht.“ „Ich habe keine Angst, aber du solltest welche haben. Wenn dein Kumpel nämlich quatscht, wirst du der Erste sein, der es zu spüren bekommt. Hast du wenigstens herausgefunden, wer der Typ ist, mit dem sich Spengler treffen wollte?“ „Ich bin mir nicht sicher.“ George holte ein Foto hervor, das er im Sekretär des Softwareentwicklers gefunden hatte. Er deutete auf einen jungen Mann mit wirrem Haar, unter dem der Name Felix Nette geschrieben stand. „Ich glaube, es war der hier.“

Gustafsohn rümpfte die Nase. „Na, wenigstens deckt sich dies mit den Recherchen, die Schubert gemacht hat. Allem Anschein nach hat der Typ mit Spengler zusammen die Schulbank gedrückt. Bleibt nur noch die Frage, wer der Kerl ist, zu dem sich dieser Nette ins Auto flüchtete.“ „Das muss ein Bulle sein, Boss.“ „Wie auch immer, um den kümmerst du dich später. Jetzt ist erst einmal die CD wichtiger. Mach diesen Nette ausfindig und mach ihm klar, dass es gesünder für ihn ist, wenn er die Disk herausrückt.“ „Auf die sanfte Tour?“, fragte George grinsend. „Wie du es anstellst, ist egal, nur bring mir endlich die CD.“

 

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Dafür, dass ich im Grunde gar nichts mit der Sache zu tun hatte, konnte ich ausgesprochen zufrieden mit meiner Arbeit sein. Dass ich wegen dieser Geschichte wertvolle Zeit im Polizeipräsidium auf der Lindener Straße vergeuden musste, gefiel mir weniger gut. Daran änderte auch die adrette Schwarzhaarige nichts, die just in diesem Moment mit tanzenden Hüften an mir vorbeiflanierte. Zumindest lenkte sie mich für einige Augenblicke von meinem schlechten Gewissen ab, welches ich mir wegen Trude machte. Schließlich hatte ich die gute Seele mit der ganzen Umzugsplackerei allein zurückgelassen.

Tim Sinner, der neue Kommissar an Hauptkommissar Kleinschmidts Seite, trat zu mir auf den Flur heraus. Endlich wurde ich hereingebeten. „Hauptkommissar Wurzer hat uns alles erklärt“, sagte Kleinschmidt gelassen. „Beachtlich, beachtlich, verehrter Herr Meisterdetektiv“, lobte er in seiner jovial, arroganten Art. „Da haben Sie ja geradezu heldenhaft gehandelt.“ „Ich habe nicht mehr als meine staatsbürgerliche Pflicht getan“, entgegnete ich beflissentlich. „Trotzdem benötigen wir selbstredend eine detaillierte Aussage von Ihnen, die wir natürlich an Ort und Stelle protokollieren müssen. Als guter Staatsbürger wird Ihnen sicherlich daran gelegen sein, dass der Täter nicht ungeschoren davon kommt.“ „Selbstverständlich verehrter Herr Hauptkommissar“, entgegnete ich nicht weniger pomadig.

Der Mann mit dem breiten Schnauzer lächelte, als ich ihm von der resoluten Dame berichtete, die wahrscheinlich noch immer mit ihrem frisch aufgebrühten Kaffee auf mich wartete, um sich einige haarsträubende Storys aus meinem Leben als Privatermittler anzuhören. Er folgte mir aufmerksam, als ich erzählte, was sich im Schlafzimmer des Opfers abspielte und er spitzte die Ohren, als ich schilderte, wie der Tatverdächtige der jungen Frau zugesetzt hatte.

„Nun noch ein paar Worte in eigener Sache, verehrter Herr Lessing“, fuhr Kleinschmidt fort, nachdem ich das Protokoll unterschrieben hatte. „Es mag sein, dass Ihr Eingreifen in diesem speziellen Fall Schlimmeres verhindert hat, doch für die Zukunft empfehle ich Ihnen, auf die Polizei zu warten. Wir leben in einem Rechtsstaat, in dem keinerlei Selbstjustiz geduldet wird.“ Jogi und ich sahen einander an. „Ich habe nichts anderes als Nothilfe geleistet“, erwiderte ich kopfschüttelnd. Es lag mir fern, mich an dem Tatverdächtigen zu rächen.“ Kleinschmidt sah mich durchdringend an. „In Anbetracht der Schießerei bei der PTB bin ich mir da nicht so sicher.“ Ich sprang empört auf. „Diesen Blödsinn muss ich mir nicht anhören!“

Wutentbrannt verließ ich Kleinschmidts Büro. Anstatt froh zu sein, dass dem Opfer nicht noch mehr Leid zugefügt worden war, machte mir der arrogante Pinsel auch noch Vorhaltungen. Ich war mehr als bedient. „Sind Sie nicht Herr Lessing“, vernahm ich plötzlich eine mehr als erotische Stimme. Als ich mich herumdrehte, war mein Zorn wie weggeblasen. Vor mir stand genau die rassige Schwarzhaarige, wegen der ich mir zuvor fast den Kopf verrenkt hatte.

„Worum geht es?“, fragte ich neugierig. „Nun, ich bin erst kürzlich nach Wolfenbüttel gezogen und da Ihnen ein gewisser Ruf vorauseilt, dachte ich, Sie könnten mir ein wenig von dieser hübschen Stadt zeigen.“ Ich tippte mich fragend an die Brust. „Sind Sie sicher, dass Sie den richtigen meinen?“ „Hundertprozentig“, entgegnete die attraktive Lady. „Es sei denn, Sie sind nicht der Lessing, der vor einigen Wochen den faulen Apfel aus dem Korb entfernte.“ Jetzt verstand ich nur noch Bahnhof. Gute Frau, Sie sprechen in Rätseln.“ „Also, den Detektiv, der einen Polizeibeamten enttarnt und dingfest macht, habe ich mir etwas kombinationssicherer vorgestellt.“ Endlich wusste ich, worauf meine Gesprächspartnerin abzielte. „Wenn Sie von Kommissar Schneider sprechen, möchte ich weniger von einem faulen Apfel als vielmehr von einer fehlgeleiteten Seele sprechen. Letztendlich waren es seine eigenen Ideale, die ihm das Genick brachen. Wenn Sie mich fragen, ist Schneider nicht mehr als ein armes Würstchen.“ * Ich stutzte. „Aber sagen Sie, woher wissen Sie das eigentlich?“

Die schwarzhaarige Schönheit wollte gerade antworten, als sich die Tür zu Kleinschmidts Büro öffnete und der Hauptkommissar in voller Größe leibhaftig vor uns stand. „Sie sind ja immer noch hier, Lessing und wie ich sehe, haben Sie sich bereits mit Staatsanwältin Herz bekannt gemacht.“ Mir klappte die Kinnlade herunter.

„Bei Frau Herz werden Sie mit Ihren Extratouren ganz bestimmt nicht mehr durchkommen.“ „Stimmt“, betätigte die neue Staatsanwältin. „Ich werde Herrn Lessing heute Abend beim Essen ganz gehörig die Leviten lesen. Sie können Ihren Mund jetzt übrigens wieder schließen. Wäre es Ihnen recht, wenn ich Sie gegen 20 Uhr vor Ihrer Detektei abhole? Ein Auto haben Sie ja wohl nicht mehr, wenn ich richtig unterrichtet bin.“ Ich lächelte dem Hauptkommissar triumphierend ins Gesicht. „Ja, da muss ich wohl der Obrigkeit Gehorsam leisten.“ 

 

*Im Banne der Dämonen.

 

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Felix Nette hatte sich unweit seiner Arbeits- und Wirkungsstätte ein repräsentatives Einfamilienhaus gebaut. Seine Forschungsarbeit bei der physikalisch technischen Bundesanstalt war geachtet, von den Kollegen anerkannt und sein Job daher gut bezahlt. An diesem Nachmittag kehrte Felix Nette früher als gewöhnlich nach Hause und in seiner Begleitung war auch keiner der Praktikanten, mit denen er manchmal auch zu Hause noch arbeitete, sondern Kommissar Mohamed Hariri, der ihm als Personenschutz zur Seite gestellt war. Hauptkommissar Wurzer hatte auf diese Vorsichtsmaßnahme bestanden. Ahnte er womöglich, dass Felix Nette in unmittelbarer Gefahr schwebte?

Birgit erwartete ihren Mann und seinen Begleiter bereits vor der Haustür. Sie war mehr als nervös und sie brannte darauf, alle Einzelheiten zu erfahren. Felix hatte seine Frau vom Polizeipräsidium aus angerufen und schonend auf das Unglaubliche vorbereitet. Dass er damit jedoch genau das Gegenteil von dem bewirkte, was er eigentlich erreichen wollte, hätte er wissen müssen.

„Mein Gott, Felix“, schloss sie ihn schließlich in die Arme. „Bist du in Ordnung?“ „Aber ja“, löste er sich peinlich berührt aus ihrem Klammergriff. Er konnte es nicht ausstehen, wenn sie ihre breiten Flügel schützend über ihn ausbreitete. „Wie du siehst, lebe ich noch und damit dies so bleibt, wird dieser junge Mann…“ Er wandte sich dem gebürtigen Tunesier mit deutschem Pass zu. „…über Nacht bei uns bleiben.“ Birgit legte ihre Hand über den geöffneten Mund. „Glauben Sie, dass es diese Verbrecher wieder versuchen?“ Hariri zuckte mit den Schultern. „Es ist nicht auszuschließen, aber für diesen Fall bin ich ja da. Sie brauchen also nicht die geringste Angst zu haben.“

Birgit Nette traute dem Frieden nicht so recht. Sie sah durch das große Blumenfenster in den Garten hinaus. Nicolette spielte mit ihrem kleinen Jack Russel. Seit sie den Hund zu ihrem siebten Geburtstag bekommen hatte, waren die beiden unzertrennlich. „Setzen Sie sich doch Herr Hariri. Das Essen ist gleich fertig, kann ich Ihnen einstweilen etwas zu trinken anbieten?“ „Ein Mineralwasser wäre jetzt tatsächlich nicht schlecht.“ Birgit verschwand in der Küche, um kurz darauf mit einer Flasche und drei Gläsern ins Wohnzimmer zurückzukehren. „Was wollen diese Leute überhaupt von dir? Geht es um deine Arbeit?“ „Nein, ein ehemaliger Studienfreund, du kennst ihn nicht, suchte mich plötzlich gegen Mittag auf. Bevor er mir jedoch den Grund für seinen Besuch nennen konnte, wurde er vor meinen Augen über den Haufen gefahren.“ Birgit wurden die Knie weich. Sie stellte die Flasche ab, um sich erst einmal zu setzen. „Um Himmels Willen, das ist ja schrecklich.“

„Was immer der Grund für diese Tat war“, mischte sich Kommissar Hariri in das Gespräch ein. „Die Gangster sind offenbar nicht an ihr Ziel gelangt. Wie wir inzwischen wissen, wurde die Lebensgefährtin des Opfers unterdessen von den vermeintlichen Killern zu Hause aufgesucht.“ „Wenn Sie mich fragen, suchen die doch nach irgendetwas“, kombinierte Birgit. „Nach den Angaben der Frau suchten die Ganoven tatsächlich nach einer CD. Mein Kollege, Hauptkommissar Wurzer und der Detektiv, zu dem Sie ins Auto flüchteten, konnten das Schlimmste verhindern.“ Nette nickte anerkennend. „Dieser Privatermittler scheint offenbar die seltene Gabe zu besitzen, stets zur rechten Zeit am richtigen Ort zu sein.“

Felix Nette erhob sich. „Bitte entschuldigen Sie mich einen Augenblick.“ Schlagartig war ihm bewusst geworden, wie brisant die Disk in seiner Tasche eigentlich sein musste. Artur Spengler hatte für die kleine glitzernde Scheibe sein Leben verloren und letztendlich war auch auf ihn geschossen worden. Wenn er doch nur eine andere Wahl gehabt hätte, aber die Schulden für die teuren Medikamente seiner Tochter und all die anderen Verpflichtungen waren ihm längst über den Kopf gewachsen. Mit der Disk hatte er endlich die Möglichkeit all dies hinter sich zu lassen und vor allem bestand die Möglichkeit, Nicolette in den Vereinigten Staaten operieren zu lassen. Noch wusste er nicht, wie er Kapital aus der Sache schlagen konnte, aber wenn er sich den Inhalt der Disk erst einmal angesehen hatte, würde er sicher einen Hinweis darauf finden, wie sie ihm genug Geld einbringen konnte, um seinem Sonnenschein die teure Operation zu ermöglichen.

Der Mann mit dem strubbeligen Haar sah sich im Badezimmer um. Er suchte nach einem geeigneten Versteck für die CD. Letztendlich fiel sein Blick auf die Revisionsöffnung seiner Badewanne. Fürs Erste würde dieses Versteck reichen. Sowie er mehr Zeit hatte, wollte er sich nach einem sichereren Ort umsehen. Er nahm eine Münze aus dem Portmonee und löste damit die Schraube mit dem breiten Schlitz, die sich in der Mitte der Fliesenabdeckung befand. Schließlich legte er die Schutzhülle mit der CD in das Loch und verschloss es wieder. Dann kehrte er ins Wohnzimmer zurück.

Während sich in der kleinen Villa der Nettes die Lage bei einem leckerem Abendessen und einem kleinen Gläschen Rotwein zunehmend entspannte, tippte etwa einhundert Meter vom Haus entfernt ein Mann nervös mit den Fingern auf dem mit Leder bezogenen Sportlenkrad eines Camaros herum. Es fiel ihm von Minute zu Minute schwerer, sich in Geduld zu fassen. So wurde mit einsetzender Dunkelheit aus dem Tippen ein Trommeln, bis ihm irgendwann der Kragen platzte und er es nicht länger auf dem Sitz aushielt.

Wie sollte er auch ahnen, dass der Kerl, der aller Wahrscheinlichkeit nach die CD an sich genommen hatte, mit einem Bullen im Schlepptau nach Hause zurückkehrte. Und daran, dass der Kerl ein Bulle war, bestand für George kein Zweifel. Diese Sippe roch er auch noch zweihundert Meter gegen den Wind. Er galt unter seinen Berufskollegen nicht umsonst als umsichtig und besonnen, was nicht zuletzt auf seine gute Nase und den ausgeprägten Instinkt zurückzu-führen war. Leider gehörte Geduld nicht unbedingt zu Georges Tugenden, was zur Folge hatte, dass er sich, kaum dass die Dunkelheit seine Spuren verwischte, durch den angrenzenden Garten der Nachbarvilla zum Grundstück der Nettes schlich.

Von seinem Standort, hinter zwei mannshohen Thuja Bäumchen, hatte er einen guten Blick auf die Terrasse und durch das große Fenster ins Wohnzimmer. Im Hintergrund lief irgendeine dieser völlig überzogenen amerikanischen Serien ohne Sinn und Verstand. George hasste alles, was über den großen Teich herüberschwappte. Er war mit Herz und Seele Chauvinist, was ihm auch den Beinamen Patriot eingetragen hatte.

Da stand er also, der Vaterlandsfreund, zwischen den beiden Thujas, die auch nicht aus den heimischen Wäldern stammten und wartete darauf, dass der multikulturelle Polizeibeamte endlich seinen Dienst beendete.

Etliche Zigarettenlängen später tat sich endlich wieder etwas im Wohnzimmer der Nettes. George warf die Kippe zu den anderen Stummeln, die bereits zu seinen Füßen lagen. Die Anspannung in ihm wuchs. Der Fernsehaperrat wurde ausgeschaltet. Felix Nette und seine Frau erhoben sich ebenso wie der dunkelhaarige Bulle. Endlich räumte der Kerl das Feld. George zog noch einmal das Magazin seiner österreichischen Glock heraus und kontrollierte es. Reine Angewohnheit. Die vollen achtzehn Schuss standen ihm zur Verfügung. Man wusste ja nie. Dann machte er sich bereit, doch was war das? Der Kerl machte sich gar nicht bereit, um das Haus zu verlassen. Georg beobachtete, wie er eine Decke entgegennahm, die er auf dem Sofa platzierte. Er verfluchte diesen Bullen und mit ihm die ganze Polizei. Es stellte sich die Frage, ob es nicht sinnvoller war, die schlafenden Hunde schlafen zu lassen.

 

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Als pünktlich um 20 Uhr ein Auto vor dem Haus hupte, wusste ich, dass es nicht nur ein merkwürdiger Traum war. Eine äußerst attraktive und vor allem hoch interessante Frau holte mich zu einem, wie ich fand, außergewöhnlichen Rendezvous ab. Nun, ich bin nicht unbedingt ein Mann, der sich an alte Traditionen klammert, aber die Art und Weise, wie dieses Stelldichein zustande gekommen war, nötigte mir in gewisser Hinsicht Respekt ab. Die Welt befindet sich im Umbruch.

„Guten Abend“, begrüßte ich die neue Staatsanwältin etwas zu bieder, als ich zu ihr ins Auto stieg. Ohne Frage, die Frau hatte Geschmack. Der Audi TT war alles andere als eine nullachtfünfzehn Karosse. Der Sportwagen passte zu seiner Besitzerin, wie ich bereits nach unserem ersten Gespräch am Nachmittag glaubte, feststellen zu können. Er war nicht weniger rassig und mindestens genauso temperamentvoll wie sie. „Schön, dass Sie sich für heute Abend frei machen konnten“, trällerte sie gut gelaunt. „Ich hoffe, Sie mussten meinetwegen niemanden versetzen?“ Es war verblüffend, wie zielstrebig diese Frau zu Werke ging. „Ich bin allein stehend“, entgegnete ich, nicht weniger forsch. „Sie können also ganz beruhigt sein.“ „Schön, dann bin ich gespannt, wohin Sie uns nun führen werden.“

So beschaulich die alte Lessingstadt auch wirkt, so vielfältig ist ihr Angebot an exzellenter Küche. Ob es das war, was den berühmten Dichter und Bibliothekar einst nach Wolfenbüttel trieb und ihn die ebenso bedeutende Bibliotheka Augusta ins Leben rufen ließ, oder die Liebe, entzieht sich meiner Kenntnis. Fakt ist nur, dass er an dieser Stelle die wohl schönsten, aber auch tragischsten Jahre seines Lebens verbrachte. Das zumindest hatte ich mit meinem Namensvetter gemein. Nach meiner Trennung von Monika war auch ich in ein Tal tiefer Depressionen eingetaucht. Eine Frau wie Miriam Herz war da genau die richtige Medizin.

Sie stoppte den Audi TT vor einem chinesischen Restaurant am Wendessener Berg. Das Sun gehörte sicherlich zu den besseren Adressen asiatischer Kochkunst. Zumindest war dies die vorherrschende Meinung in meinem Bekanntenkreis. Wie auch immer, das von chinesischer Kunst bestimmte Ambiente stimmte meine Begleitung zumindest schon einmal positiv ein.

„Ehrlich gesagt, hätte ich hier nicht ein solches Restaurant erwartet“, zeigte sich Miriam angenehm überrascht. „Wenn das Essen hält, was Konfuzius verspricht…“ „Ich weiß nicht, in wie weit dieser chinesische Gelehrte Einfluss auf das Essen nimmt, ich weiß allerdings, dass er dazu rät, sich nach dem Essen körperlich zu betätigen.“ Die Staatsanwältin stutzte. Ich griente verschmitzt. „Ich würde vorschlagen, nach dem Essen in den Keller zu wechseln, um auf der hauseigenen Kegelbahn einige ruhige Kugeln zu schieben.“ Miriam starrte mich ungläubig an. „Kegeln? Ein chinesisches Restaurant mit einer Kegelbahn? Was für eine entzückende Idee. Meine Güte, wissen Sie wann ich das letzte Mal…?“ „Ich kann nur hoffen, dass es eine Weile zurückliegt, damit ich neben Ihnen nicht ganz so blass aussehe.“

Das Essen war ausgesprochen lecker, unsere Gespräche wurden mit jedem Reisschnaps lockerer und die Glückskekse verkündeten den Beginn einer Romanze. Wobei diese Vorraussagung sicherlich auf jedem Glückszettel stand, der an diesem Abend gelesen wurde. Vielleicht trug dieses kleine Stück Papier dazu bei, dass Miriam und ich kurz darauf Brüderschaft miteinander tranken. Vielleicht war es aber auch der Schnaps, von dem wir eindeutig das eine oder andere Gläschen zuviel erwischt hatten. Wie auch immer, an diesem Abend kamen wir jedenfalls beide auf unsere Kosten. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals zuvor so viel Spaß beim Kegeln hatte, obwohl sicherlich nie zuvor so viele Pumpen geworfen wurden. Besonders beeindruckt war ich jedoch von der Unbekümmertheit mit der mir Miriam begegnete.

Immerhin waren wir vernünftig genug, den Audi stehen zu lassen und uns ein Taxi zu rufen. Dass dieses Taxi dann allerdings nur bis zur Jägermeisterstraße fuhr, war so eigentlich nicht vorhersehbar. „Du bringst mich aber noch ins Bett“, lallte sie, während der Wagen vor dem Hochhaus stoppte. „Meine Güte“, grinste sie reichlich beschwipst. „Ich glaub, ich habe ein bisschen zu viel getrunken. Das Haus, in dem ich wohne, ist plötzlich zweimal da.“ „Nein, nein“, beruhigte ich sie, „das zweite ist so etwas wie eine Fata Morgana.“ „Und in welchem von den beiden Häusern wohne ich nun?“

Ich war mehr als glücklich, als ich meine Eroberung endlich in ihrer Wohnung hatte. Auch wenn es mir zugegeben nicht leicht fiel, ich blieb meinem Prinzip, eine derartige Situation niemals auszunutzen, auch in jener Nacht treu. Als ich einige Stunden später fröstelnd zu mir kam, lag ich immer noch angekleidet auf ihrem Sofa. Der kleine Gentleman, den ich mir vorsichtshalber eingesteckt hatte, befand sich immer noch an Ort und Stelle. Passiert war also nichts. Ich wälzte mich noch etwas wackelig auf den Beinen aus den Polstern und huschte ins Bad. Kurz darauf machte ich mich schon mal in der Küche nützlich.

„Würden Sie mir freundlicherweise erklären, was Sie in meiner Küche treiben?“, vernahm ich plötzlich Miriams reichlich zerknautscht wirkende Stimme. „Du wirkst…, sagen wir mal…, etwas deplatziert. Kann es sein, dass du dich weder an gestern Abend noch an die letzte Nacht erinnerst?“, fragte ich amüsiert. „Du…, haben wir etwa…?“ Miriam griff sich geschockt an den Kopf, während ich mit meinem nickte. „Sie und ich?“ „Also, ich bin sehr enttäuscht von dir. Heute Nacht hatte ich zumindest das Gefühl, dass es dir mächtigen Spaß bereitete“, gab ich ihr zweideutig zu verstehen. „Oh Gott, oh Gott.“

„Einen Kaffee?“ „Nur wenn Sie mir versprechen, mit dem entsetzlichen Geklapper aufzuhören.“ Ich reichte ihr die Tasse und lächelte die nun gar nicht mehr so sicher auftretende Staatsanwältin mitleidig an. Ihr Blick fiel durch die geöffnete Tür auf das zerwühlte Sofa im Wohnzimmer. „Haben Sie…, ich meine hast du dort die ganze Nacht verbracht?“ Natürlich wusste ich genau, was sie so nachdrücklich beschäftigte, aber noch wollte ich sie nicht erlösen. Ich wollte ganz einfach ihre Unsicherheit noch ein wenig genießen. Denn die brachte eine Seite von ihr zum Vorschein, die sie in einem sehr sympathischen Licht erscheinen ließ.

„Nicht die ganze Nacht, aber das weißt du doch. Habe ich wirklich so wenig Eindruck bei dir hinterlassen, dass du dich an nichts erinnern kannst?“ „Natürlich nicht, mir fehlen nur einige Details.“ Womit sie seufzend an ihrem Kaffee schlürfte und ins Bad verschwand. Der Männer verschlingende Vamp war also nur Fassade. Ich fragte mich, ob ihr Verhalten eine Art Schutzwall war, den sie um sich herum aufgebaut hatte, um niemanden wirklich an sich heran zu lassen.

Während Miriam im Bad war, hatte ich mir die Freiheit genommen und ein kleines Frühstück hergerichtet. „Geht es dir inzwischen etwas besser“, erkundigte ich mich, als wir uns später gegenüber saßen. Miriam nickte betreten. „So etwas ist mir noch nie passiert. Hoffentlich habe ich mich nicht allzu sehr daneben benommen?“ „Aber nein“, beruhigte ich sie, „du warst sehr ausgelassen. Wir hatten wirklich viel Spaß, vor allem beim Kegeln. Der chinesische Reiswein muss dich aus der Bahn geworfen haben.“ „Oh Gott, oh Gott.“ Miriam griff sich an die Stirn, stützte ihren Kopf in die Ellenbogen und sah mich schließlich aus zwei geschwollenen Augen Mitleid erregend an. Der Moment, ihre Befürchtungen zu zerstreuen, schien gekommen. „Hoffentlich hat uns niemand gesehen.“ „Ich kann dich beruhigen, du bist weder peinlich aufgefallen noch ist zwischen uns etwas gelaufen.“ Miriam blickte mich verstört an. „Wie jetzt, du meinst wir haben nicht…?“ „Nein! Was glaubst du? Ich bin kein Mann, der eine solche Situation ausnützen würde.“

Die Frau auf der anderen Seite des Tisches sackte erleichtert zusammen. Sämtliche Anspannung war schlagartig von ihr abgefallen. „Ich habe dich ausgezogen und ins Bett gebracht. Was ein ziemliches Stück Arbeit war. Es ist sicher leichter, einen Sack Flöhe zu hüten.“ Miriam sah zu mir auf. „Danke, dass du die Situation nicht ausgenutzt hast.“ Ich verzog eine Braue und seufzte. „Ich bin halt zu gut für diese Welt.“

 


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George hatte mit dem dicken Gustafsohn telefoniert. Sie waren übereingekommen, den schlafenden Hund in Form der Polizei nicht zu wecken. Solange nicht klar war, was Nette über die Disk wusste, konnte jede Aktion, die unnötig Staub aufwirbelte, nach hinten losgehen. George sollte das Haus weiter im Auge behalten und auf den richtigen Moment warten, um zuzuschlagen.

Der Killer setzte sich wieder in den Camaro und nahm eine Mütze Schlaf. Erst als der Morgen graute, wurde er durch ein klappendes Gartentor geweckt. Der Zeitungsbote hatte direkt neben dem Wagen sein Fahrrad abgestellt. Der Mann für das Grobe verbarg sein Gesicht vorsichtshalber hinter einem Stadtplan. Während er noch von einer heißen Tasse duftenden Kaffees träumte, tat sich etwas am Haus der Nettes. Zunächst erschien der Polizeibeamte. Er sah sich nach allen Seiten um, peilte die Lage und winkte schließlich seinen Schutzbefohlenen und dessen Tochter heran. Sie stiegen in den Passat des Beamten und fuhren los. George folgte ihnen ein Stück weit auf der Peiner Straße, bis der Wagen nach rechts abbog. Kurz darauf kamen sie am Schulzentrum an. Das Kind stieg aus und verschwand winkend in dem Gebäude.

Die Fahrt ging weiter, jetzt in die entgegengesetzte Richtung, zum Arbeitsplatz von Felix Nette. Der Passat bog auf den Parkplatz ein, auf dem George und sein Kumpan am Vortag die Schießerei hatten. Der Killer war immer noch zornig, wenn er an den Kerl mit der alten Karre dachte. Sein Auftrag wäre längst erledigt gewesen, hätte sich der Sheriff nicht eingemischt.

George stoppte den Camaro auf der Bundesallee. Weit genug weg, um nicht gesehen zu werden, jedoch nahe genug, um den Passat im Blickfeld zu behalten. Entgegen seiner Hoffnung stieg auch der Bulle aus. Er begleitete Nette quer über den Parkplatz zu einem roten Skoda Fabia. Es handelte sich offenbar um den Wagen der Zielperson. Nette nahm etwas heraus und verschwand mit dem Polizeibeamten in einem der angrenzenden Bauwerke. Der Killer griff sich an den Kopf. Sollte die Disk die ganze Zeit über unbewacht in Nettes Wagen gelegen haben?

George wurde die Sache allmählich zu dumm. Er hatte das Gefühl, der Auftrag würde ihm entgleiten. Wer wusste schon, wie lange Vasili wirklich dicht hielt. Die Ganovenehre galt letztendlich nur so lange, bis das Angebot stimmte, welches der Staatsanwalt in Aussicht stellte, um an die wirklich großen Happen, die Hintermänner, heranzukommen. Mit der so genannten Kronzeugenregel hatte Justitia schließlich schon so manche Organisation auffliegen lassen.

Wenn es nach George gegangen wäre, hätte er Nette und seinen Wachhund längst in das Reich der ewigen Träume geschickt, doch das wollte Gustafsohn nicht. Der Mann hinter dem Sportlenkrad suchte eine Idee und er fand sie. Ohne zu zögern startete er seinen Camaro und raste zurück zur Schule. Warum sollte er sich nicht ein geeignetes Druckmittel besorgen? Auf diese Weise würde man ihm die verfluchte Disk auf einem silbernen Tablett servieren. Die Frage war nur, wie er ohne viel Aufsehen zu erregen an das Gör herankam? Die Schwierigkeit lag überdies darin, dass er die Kleine nur für einen kurzen Moment bei Morgengrauen gesehen hatte.

 

Die Telefonnummer des Sekretariats war schnell herausgefunden. Den Namen des Tatzeugen hatte er vom Klassenfoto des inzwischen leider verschiedenen Artur Spenglers. „Hier spricht Felix Nette. Meine Tochter hat gerade Unterricht. Ich bin im Klinikum Salzdahlumer Straße. Meine Frau hatte einen schweren Verkehrsunfall. Wir wissen noch nicht, ob sie überlebt. Ich schicke meinen Assistenten, Herrn Wortmann bei Ihnen vorbei, um meine Tochter abzuholen.“ Die Sekretärin zeigte sich betroffen und versprach, alles Nötige zu veranlassen.

George ging an den Kofferraum. Für solche Fälle hatte er stets sein so genanntes Notfallköfferchen dabei. Mit einigen geübten Handgriffen klebte er sich einen Schnauzer und falsche Koteletten an. Zusammen mit der brünetten Echthaarperücke sah er nun wie ein anderer Mensch aus.

 „Guten Tag, mein Name ist Wortmann“, stellte er sich schließlich im Sekretariat der Schule vor. „Ich bin Mitarbeiter von Herrn Nette und soll hier seine Tochter abholen.“ Ruth Schimmelpfennig machte ein betrübtes Gesicht. „Sie sind uns bereits durch Herrn Nette angekündigt. Die kleine Nicolette müsste jeden Augenblick hier sein. Wie schlimm steht es denn um Frau Nette?“ „Das kann ich Ihnen leider auch nicht sagen, ich habe lediglich den Auftrag, die Tochter meines Chefs hier abzuholen und ins Krankenhaus zu bringen. Aber ich fürchte, es ist ernst.“ „Da ist es gut, dass Sie so freundlich sind und Nicolette bei uns abholen“ lobte die Sekretärin. „Heutzutage kann man nicht vorsichtig genug sein.“ George nickte zustimmend. „In der Not müssen wir eben alle ein wenig enger zusammen rücken.“ „Das haben Sie aber nett gesagt“, flirrte Ruth Schimmelpfennig mit den Augen. Ihre Begeisterung für den brünetten Mann mit dem Schnauzer war unübersehbar.

„Ah, da ist unser kleiner Sonnenschein ja schon“, begrüßte sie Nicolette, die durch den Hausmeister hereingeführt wurde. „Was ist mit meiner Mama?“, ereiferte sich das Mädchen aufgeregt. „Beruhige dich erst einmal, Nicolette. Deine Mama hatte einen Unfall, aber es geht ihr einigermaßen gut und damit es ihr schon bald wieder besser geht, möchte sie dich sehen.“ Fräulein Schimmelpfennig stand bewundernd hinter ihrem Tresen. „Wie gut Sie mit Kindern umgehen können“ lobhudelte sie ihn nochmals. „Vielleicht trifft man sich ja mal bei einer anderen Gelegenheit“, streckte sie sogleich ihre Fühler aus. „Es würde mich freuen“ entgegnete George, während er die Tür öffnete und das Kind auf den Flur hinausschob.

 

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„Es ist wirklich nicht nötig, dass Sie die ganze Zeit über hier bleiben“, erklärte Felix Nette.“ Ich habe bis etwa 16 Uhr in meinem Büro zu tun. Ich denke, hier bin ich sicher. Fahren Sie ruhig nach Hause und legen Sie sich erst einmal hin. Sie haben vergangene Nacht sicher kein Auge zubekommen.“ „Ich habe wirklich kaum geschlafen“, stimmte Mohamed Hariri zu. „Ich müsste allerdings zunächst mit Hauptkommissar Wurzer Rücksprache halten.“ „Tun Sie das. Ich bin sicher, er hat nichts einzuwenden.“

Der Computerelektroniker brannte darauf, die CD endlich unbeobachtet in seinen Rechner legen zu können, um dem Geheimnis endlich auf die Spur zu kommen. Die ganze Nacht über war ihm das Bildnis seines Studienfreundes nicht aus dem Kopf gegangen. Immer wieder hörte er ihn die ominöse 44 sagen. Was nur, was konnte es mit dieser Zahl auf sich haben? War sie der Schlüssel zu einer kodierten Datei, die sich auf dem runden Silberling befand?

„Okay“, hörte er den jungen Kriminalbeamten sagen. „Mein Chef hat nichts dagegen. Ich hole Sie dann um 16 Uhr wieder ab.“ Er reichte Felix Nette eine Visitenkarte mit seiner Handynummer. „Rufen Sie mich bitte unverzüglich an, wenn Ihnen etwas merkwürdig vorkommt. Ich komme sofort.“ „Na, machen Sie sich mal keine Sorgen. Die Gangster waren vermummt. Warum sollten die Angst haben, dass ich sie wieder erkenne?“ „Ach Herr Nette, wer weiß schon, was in einem kranken Hirn vor sich geht? Vielleicht waren die Killer der Meinung, der Tote hätte Ihnen vor seinem Ableben noch etwas anvertraut.“ Einstein schüttelte verständnislos den Kopf. „Wie sollte er, der Ärmste muss sofort tot gewesen sein.“

Der im Grunde sehr sympathische Polizeibeamte war gegangen. Endlich hatte der Informationstechniker die nötige Ruhe, um die Disk, die er am Morgen wieder an sich genommen hatte, auf ihren Inhalt zu überprüfen. Bis in die wuscheligen Haarspitzen gespannt, öffnete er die Datei. Leider war sie nur teilweise entschlüsselt, doch das, was er las, war auch so schon dermaßen unglaublich, dass es ihm fast die Luft zum Atmen nahm. Selbst für ihn als Fachmann war es nicht leicht, sich zwischen all den Gleichungen und Formeln zurechtzufinden, aber letztendlich war er sich sicher, auch ohne den noch verschlüsselten Rest der Datei lesen zu können, dass dieses Programm die Medienlandschaft auf den Kopf stellen würde. Dies wiederum bedeutete, dass er für die CD eine sechsstellige Summe Finderlohn herausholen konnte. Es stellte sich nur die Frage, wer hinter alle dem steckte, denn eines war klar, diese Sache war für Artur eine Nummer zu groß. Da mussten ganz andere Kaliber die Fäden ziehen.

Felix Nette überlegte noch, wie er an die richtigen Leute gelangen konnte, als das Telefon auf seinem Schreibtisch anschlug. Er erschrak regelrecht, als er die aufgeregte Stimme seiner Frau vernahm. Um überhaupt etwas zu verstehen, musste er den Hörer ein gutes Stück weit von seinen Ohren entfernt halten. „Nun beruhige dich erst einmal, Birgit. Ich verstehe ja kein einziges Wort.“ Doch die sonst so besonnene Frau wollte und konnte sich offenbar nicht beruhigen. Nach einigem Hin und Her begriff Einstein, dass seine Tochter von der Schule entführt worden war. Ein Mann hatte sie angerufen und damit gedroht, dass sterbenskranke Kind zu töten, falls die Polizei eingeschaltet werden würde. „Der Mann fordert seine CD von uns zurück!“, dröhnte Birgit ins Telefon. „Weißt du etwas davon?“, fragte sie ihn eindringlich.

Felix Nette hatte mit vielem gerechnet, doch dass die Gangster nicht einmal davor zurückschreckten, ein siebenjähriges Kind zu kidnappen, hatte er nicht erwartet. Welch bittere Ironie der Geschichte. Wenn seine Tochter nicht binnen der nächsten sechs Monate operiert wurde, würde sie unausweichlich an einer seltenen Form der Leukämie sterben. Wenn er das aus der Hand gab, was ihm genug Geld für die aufwendige Operation brachte, musste sie es ebenso. Doch wer konnte ihm garantieren, ob die Gangster seinen Sonnenschein nicht doch töteten, wenn sie die Disk erst einmal hatten? Allmählich wurde ihm klar, dass die Leute, die hinter dem Ganzen steckten, auch ihn nicht davon kommen lassen konnten. Wer gewährleistete ihnen, dass nicht noch mehr Kopien von der Disk gemacht wurden? Einstein griff sich verzweifelt an den Kopf. Auf was hatte er sich da nur eingelassen?

„Bleib wo du bist, unternimm nichts und versuch dich zu beruhigen. Ich bin in 10 Minuten zu Hause!“

 

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Meine gute Seele hatte sich einmal mehr selbst übertroffen. Schlaf- und Badezimmer waren nicht wieder zu erkennen. Trude hatte die beiden Räume mit viel Liebe zum Detail ganz nach ihrem Geschmack eingerichtet. Ohne Frage, sie hatte es wirklich gut gemeint, aber der Himmel allein weiß, woher sie die Tagesdecke mit den vielen Rüschen und Spitzen hatte, die mein Allerheiligstes zierte. Vielleicht hätte ich diese Geschmacksvergewaltigung noch hingenommen, aber als ich mich auf dem neuen Bett breit machte und an der gegenüberliegenden Wand die antiquierten Bilder ihrer Großmutter sah, war’s mit meinem Verständnis vorbei.

Anstatt den Augenblick verdienter Ruhe ein wenig zu genießen, trieb es mich sofort wieder aus den Federn. Die scheußlichen Bilder konnten keinesfalls hängen bleiben. Was sollte mein Besuch von mir denken. Ich nahm sie unverzüglich ab und stellte sie in die Ecke, neben den Wäschekorb. Um meine Putzsekretärin für ihre natürlich gut gemeinte Geste nicht anzublaffen, atmete ich erst einmal tief durch. Während ich das Wohnzimmer durchquerte, fiel mein Blick auf die beiden Wände, deren Raufaser ich noch weiß streichen wollte. Der verdammte Farbroller, schoss es mir durch den Kopf. Ich hatte total vergessen, einen neuen zu besorgen. Schnell schnappte ich mir Lederjacke und Stetson, hastete auf die Tür zu und bekam selbige mit voller Wucht an den Kopf geknallt. Der Stetson segelte von meiner lädierten Birne geradewegs in den noch offenen Farbeimer.

„Oh, oh, Leopold“, hörte ich die verzerrte Stimme meiner Sekretärin. „Haben Sie sich etwas getan?“ Ich torkelte noch ein wenig benommen durch den Raum, versuchte mich auf den Beinen zu halten und einen klaren Gedanken zu fassen. „Setzen Sie sich erst einmal, Chef. Ich habe Sie nicht gesehen.“ „Durch die geschlossene Tür wohl schwerlich möglich“, bemerkte ich reichlich angefressen. „Ich hole ihnen Eiswürfel aus dem Kühlschrank. Das runde Ding da an Ihrer Stirn wird zunehmend größer.“ Auch das noch, dachte ich, wie peinlich.

Während Trude in die Detektei hinüberhastete, fühlte ich vorsichtig meine Stirn. Dort wuchs tatsächlich eine ordentliche Beule heran. Ganz zu schweigen von meinem Brummschädel. Gerechterweise musste ich mir jedoch eingestehen, dass ich den kleinen Zusammenstoß durch meine Unaufmerksamkeit selbst verursacht hatte. Trude traf nicht die geringste Schuld. Als ich allerdings meinen geliebten Stetson im Farbeimer erblickte, war’s mit der Einsicht vorbei. Ich bückte mich, zog den Hut aus dem Eimer und ließ die dickflüssige Farbe in das Behältnis zurücktropfen. Was dann geschah, hätte ich wissen müssen.

In dem unbedingten Willen, mir so schnell wie möglich Linderung zu verschaffen, stürmte Trude heran. Ich hörte sie durch den Flur kommen, eine Reaktion war trotzdem nicht mehr möglich. In diesem Augenblick war ich auch viel zu sehr mit meinem Stetson beschäftigt, als dass ich an irgendetwas anderes gedacht hätte. Was sich noch mit demselben Atemzug rächen sollte.

Wieder flog die Tür auf. Diesmal traf sie mich am Hintern. ich verlor das Gleichgewicht, kippte vornüber und schlug mitsamt dem Stetson lang hin. Dass ich bei dieser Gelegenheit gleich den Farbeimer mit umstieß, bemerkte ich erst, als ich wieder aufstand. Der weiße Brei hatte sich in genau die Richtung ergossen, in die ich gefallen war. Ich sah aus, als wäre ich in die Mehltonne gesegelt. „Um Himmels Willen, Herr Lessing!“, erschrak Trude zu Stein erstarrt. „Wie sehen Sie denn aus?“ Ich hob den Stetson und setzte ihn wehmütig auf den Kopf. „Nun passt wenigstens wieder alles zueinander.“

Da stand sie nun, mit dem Eisbeutel in der Hand und dem Wissen, einen gebrauchten Tag erwischt zu haben. Ratlos und bestürzt, immer noch in der Absicht, Gutes zu tun, doch ohne den Mut, auch nur noch einen einzigen Finger zu rühren. Das Klingeln des Telefons in ihrer Tasche muss wie eine Erlösung für sie gewesen sein. „Detektei Lessing, Sekretariat, Berlitz am Apparat. Einen kleinen Moment bitte, Herr Lessing steht gerade neben mir.“ Meine weißen Finger fuhren genervt an die Stirn. Intensiver Schmerz ließ mich zusammenzucken. „Musste das sein?“, flüsterte ich ärgerlich. Trude hob mit unschuldsvoller Miene die Schultern und reichte mir das Telefon. „Lessing.“ Es meldete sich die aufgeregte Stimme eines Mannes. Ich erkannte nicht sofort, dass sie zu Felix Nette gehörte. „Herr Lessing, ich brauche Ihre Hilfe. Wir müssen uns unbedingt treffen, es geht um Leben und Tod.“ Ich stutzte. „Kennen Sie einen Ort, an dem wir ungestört sind?“, fuhr er fort. Er schien vor irgendetwas ungeheure Angst zu haben. „Also schön, treffen wir uns in einer Stunde im Fahrstuhl vom I-Punkt.“

 

-17-

 

„So verstehen Sie doch, Herr Lessing. Diese Leute sind über jeden meiner Schritte informiert. Wenn die spitz kriegen, dass ich mich nicht an ihre Anweisungen halte und mich an die Polizei wende, tun sie meiner Tochter etwas an.“ Ich ahnte die ganze Zeit über, dass etwas an dieser Sache faul war. „Aber was wollen die von Ihnen? Welche Forderungen stellen die Entführer?“ „Artur hatte mir vor seinem Ableben eine Disk übergeben. Wahrscheinlich suchen die Gangster danach.“ Ich musterte ihn argwöhnisch. „Was für eine Disk?“

Der Fahrstuhl stoppte im obersten Stockwerk des Gebäudes. Die auseinander schiebenden Türhälften gaben den Blick auf das Restaurant frei. Da niemand einsteigen wollte, drückte ich den Knopf für die unterste Etage. Ich fühlte mich in meine Lausbubenzeit zurückversetzt, als ich mit den Freunden den lieben langen Tag damit verbrachte, in irgendwelchen Kaufhäusern in Fahrstühlen oder auf Rolltreppen hoch und runter zu fahren.

„Was kann es so wichtig auf einer CD geben, dass die Gangster selbst vor Mord und Kidnapping nicht zurückschrecken?“, fragte ich Nette. „Es handelt sich um ein verschlüsseltes Programm. Ich habe in der kurzen Zeit leider nur einen kleinen Teil entkodieren können“, erwiderte er, aber soweit ich erkennen konnte, handelt es sich um ein mediales Programm mit dem das Kaufverhalten der Konsumenten suggestiv beeinflusst werden kann.“ „Gab Ihnen Artur Spengler einen Hinweis, als er Ihnen die Disk übergab?“ Nette schüttelte den Kopf. „Sie meinen einen Code?“ Ich nickte. „Er versuchte es, aber ich konnte ihn kaum verstehen.“

Seine Aussage deckte sich zumindest mit dem, was Manuela Wenzel angab. Die Gangster hatten auch sie nach einer Disk gefragt. Demnach vermuteten sie nur, dass Nette sie hatte. „Selbst wenn Sie dem Entführer die Disk aushändigen, glaube ich kaum, dass sie ihre Tochter einfach so laufen lassen. Schon allein deswegen halte ich es für besser, die Polizei zu informieren. Dort gibt es speziell geschulte Leute, die sich bestens mit solchen Fällen auskennen.“

Felix Nette wischte meinen Rat energisch zur Seite. „Die Disk ist Nicolettes einzige Chance. Weiß ich, wer hinter alledem steckt? Möglicherweise gibt es eine undichte Stelle und irgendetwas sickert durch. Abgesehen davon glaube ich kaum, dass die Polizei tatsächlich bereit wäre, die Originaldisk in die Hände der Verbrecher zu geben. Nein, nein, ich vertraue Ihnen das Leben meiner Tochter an, sonst niemandem.“

Bevor ich antwortete, musste ich erst einmal tief Luft holen. „Ihr Vertrauen ehrt mich, trotzdem bitte ich Sie inständig Ihre Entscheidung noch einmal zu überdenken.“ Felix Nette winkte entschlossen ab. „Seien Sie versichert, Herr Lessing, meine Frau und ich haben es uns ganz sicher nicht leicht gemacht. Die Entscheidung ist uns sehr schwer gefallen, aber sie ist aus unserer Sicht die einzige Chance, die Nicolette hat. Bitte retten Sie das Leben unserer Tochter.“

Auch wenn ich, schon wegen meiner Vergangenheit bei der Polizei, der Meinung war, dass es besser gewesen wäre, die Hüter für Recht und Ordnung einzuschalten, musste ich die Entscheidung der Nettes akzeptieren.

Für einige Augenblicke war in der Fahrstuhlkabine nichts als das surrende Geräusch der Laufräder zu hören, die den Aufzug in der Spur hielten. Ich war von dem Schicksal des kleinen Mädchens sehr betroffen. Es war nur allzu verständlich, dass der Mann neben mir große Angst um das Leben seiner Tochter hatte.

„Meine Frau rief mich in der PTB an. Der Entführer hatte ihr kurz zuvor mitgeteilt, dass er Nicolette in seiner Gewalt hat. Er ließ keinen Zweifel daran, dass mir Spengler die Disk übergeben hatte. Er muss beobachtet haben, wie ich mich über Artur beugte.“ Auch wenn mir das Ganze noch immer mehr als suspekt vorkam, bestand kein Grund, an der Aussage meines Klienten zu zweifeln. „Bevor ich Ihnen meine Hilfe zusage, würde ich gern wissen, was Sie von mir erwarten.“ „Ich habe mir überlegt, dass ich mich mit dem Anrufer treffe und die Disk gegen meine Tochter austausche. Sie sollen sich im Hintergrund halten und erst dann eingreifen, wenn etwas schief läuft.“ Obwohl ich mir wie in einem schlechten Film vorkam, willigte ich ein. „Also schön, ich bin dabei.“

 

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Weiße, mit den Jahren stumpf gewordene Fliesen gaben dem Betrachter einen sterilen Eindruck wieder. Sie waren stumme Zeugen einer längst vergangenen Zeit. Einer besseren Zeit, wie George fand. Blut war an ihnen hinunter gelaufen, das Blut unzähliger Schweine und Rindviecher, die an dieser Stelle ihren Tod fanden. Er selbst hatte einst an diesem Ort gearbeitet, hatte blutige Schweinehälften wahrhaft kunstvoll zerlegt, bevor sie zu Schinken und Koteletts weiter verarbeitet wurden. Damals, das war bevor sein jüngerer Bruder wegen einer kleinen Dummheit von einem übereifrigen Bullen erschossen wurde. Damals, als er sich schwor, nicht länger für einen Hungerlohn zu malochen.

Seither waren mehrere Jahre ins Land gezogen und der Mann mit dem flinken Messer, wie man ihn in einschlägigen Kreisen nannte, hatte sich einen Namen in der Szene gemacht. Nun war er also in ein anderes Leben zurückgekehrt. Auch wenn der Schlachthof längst seine Pforten geschlossen hatte, so konnte er das Quieken der Tiere in ihrem Todeskampf trotzdem noch deutlich vernehmen. Man brauchte nur aufmerksam hinzuhören.

„Jetzt halt endlich die Klappe“, riss George der Geduldsfaden. Der falsche Bart kitzelte unter seiner Nase. „Bis jetzt ist das hier nicht mehr als ein Ausflug für dich, aber wenn du nicht sofort mit dem Geplärre aufhörst, werde ich dich in den Keller sperren. Da kannst du dann soviel schreien wie du willst.“ Nicolette erschrak. Sie hatte Angst vor diesem Mann, aber noch mehr fürchtete sie sich davor, allein in einem dunklen Keller eingesperrt zu sein. Tränen rannen über ihr blasses Gesicht. „Ich will zu meiner Mami“, fügte sie mit dünner Stimme kaum hörbar hinzu. „Ich hasse Kinder!“

George sprang auf. Ein Wagen näherte sich. Knirschender Kies, der unter der Last eines schweren Wagens unter den Rädern zusammengedrückt wurde, hielt unmittelbar vor der alten Verladerampe. Der Killer setzte mit drei, vier schnellen Sätzen zur Tür hinüber und peilte durch einen schmalen Schlitz nach draußen. Er kannte den Wagen, er gehörte Gustafsohn, der offenbar nach dem Rechten schauen wollte.

George kehrte an seinen Platz zurück und band dem Mädchen ein Tuch vor die Augen. Sein dicker Auftraggeber betrat die ehemalige Schlachte. „Ein unangenehmer Ort, an dem du dich hier zurückgezo-gen hast“, sah sich Gustafsohn mit gerunzelter Nase um. „Hast du inzwischen mit dem Kerl von der PTB gesprochen?“ „Dieser Nette wird keine Sperenzien machen. Er weiß, um was es geht.“ „Das hoffe ich für dich“, drohte der Dicke. Noch so eine Pleite und wir können beide unser Testament machen.“

Nicolette hörte aufmerksam zu. Einer der Männer hatte ihren Nachnamen ausgesprochen. Wenn sie doch nur etwas sehen könnte, aber die Hände, mit denen sie das Tuch herunterziehen konnte, waren ja auf dem Rücken gefesselt. Beharrlich rieb sie ihren Kopf gegen die angezogenen Knie und schaffte es schließlich, den Stofffetzen so weit nach oben zu schieben, dass sie an dem Tuch vorbeiblinzeln konnte. Ein letztes Mal rieb sie ihren Kopf gegen das Knie, da geschah es. Das Tuch lockerte sich und rutschte schließlich ganz über den Kopf. Nicolette sah in die Richtung aus der sie die Stimmen vernahm. Es dauerte einige Sekunden, bis sich ihre Augen an das grelle Licht der Deckenstrahler gewöhnt hatten. Sie konnte den Mann nicht richtig sehen. Sein Gesicht verbarg sich in einem Lichtschatten. Eines fiel ihr jedoch auf. Er war außergewöhnlich dick.“

„Sag mal, bist du von allen guten Geistern verlassen?“, empörte sich der Dicke als er zu Nicolette hinüber sah. „Das Mädchen hat mich gesehen.“ „Das kann nicht sein“, wiegelte George ungläubig ab, bevor auch er sich zu dem gefesselten Kind umdrehte. „Verdammt! Sie müssen mir glauben, ehe ich Sie hereinließ, habe ich ihr eine Augenbinde verpasst.“ „Du hättest ihr etwas anderes verpassen sollen! Sie wird mich wieder erkennen. Das Risiko kann ich nicht eingehen. Du wirst sie liquidieren müssen!“ George starrte Gustafsohn entgeistert an. „Ich kann doch kein Kind töten.“ „Sie hat uns beide gesehen.“ George griff sich instinktiv an den falschen Bart. „Deine lächerliche Verkleidung wird dich wohl kaum davor bewahren, dass sie dich in der Verbrecherkartei wieder erkennt. Es wird unumgänglich sein, wenn du die nächsten Jahre nicht auf Staatskosten leben willst?“

 

-19-

 

Mir blieb nicht viel Zeit zum Handeln. Die Entführer hatten sich bereits ein weiteres Mal gemeldet. Felix Nette hatte das Gespräch auf dem Anrufbeantworter mitgeschnitten, um es mir nun Wort für Wort vorspielen zu können. Der Anrufer fasste sich kurz. Eine Rückverfolgung wäre also selbst mit dem technischen Equipment der Polizei nicht möglich gewesen.

„Ich will mit meiner Tochter sprechen!“, forderte Felix Nette. „Wer sagt mir denn, dass sich Nicolette überhaupt in Ihrer Hand befindet?“ Kurz darauf war die ängstliche Stimme eines kleinen Mädchens zu vernehmen. „Genug jetzt!“, beendeten die schroffen Worte des Entführers den Augenblick der Erleichterung. „Kommen Sie heute Abend mit der Disk in den Hafen.“ „Der Hafen ist groß“, unterbrach ihn Nette. „Kommen Sie um Mitternacht zur Getreideverladung. Wenn Sie Ihr Balg in einem Stück zurückhaben wollen, sollte dort kein Bulle auftauchen!“ „Glauben Sie wirklich, ich würde das Leben meiner Tochter aufs Spiel setzen?“ Der Gangster beendete das Gespräch mit einem hässlichen Lachen.

„Das haben Sie wirklich gut gemacht“, lobte ich Felix Nette. „Wenigstens wissen wir jetzt, dass es Ihrer Tochter den Umständen entsprechend gut geht.“ Der Mann mit dem wuscheligen Haar nickte betreten. „Wie geht es eigentlich Ihrer Frau?“ „Meine Schwägerin ist da. Sie ist Krankenschwester. Ich glaube, sie hat Birgit etwas zur Beruhigung gegeben.“ „Ich muss sagen, Ihre Frau hält sich ganz großartig. Das habe ich schon ganz anders erlebt.“ „Meine Frau weiß, dass ich alles unternehmen werde, um unseren Sonnenschein unbeschadet nach Hause zu holen.“ „Was ist mit dem Personenschutz?“, fragte ich nachdenklich. „Herr Hariri holt mich gegen 16 Uhr bei der PTB ab.“ „Das wird ein Problem“, überlegte ich nach einem Ausweg suchend. „Ich kenne Hariri. Ein guter Mann. Der lässt sich nicht so ohne weiteres abschütteln.“

Je mehr ich über unser Vorhaben nachdachte, desto mehr plagte mich die Erkenntnis, dass ich im Begriff war, einen Fehler zu begehen. Immer wieder drängte sich jene verhängnisvolle Nacht in mein Bewusstsein zurück, als mein Partner, Ralf Kestner, das Opfer einer solchen Fehlentscheidung wurde. Nicht zuletzt wegen seines Todes hatte ich meinen Dienst bei der Kripo quittiert. Genutzt hatte es im Grunde nichts. Die Vergangenheit holte mich auch jetzt noch, in meinem neuen Leben wieder ein. Ich konnte ihr nicht aus dem Wege gehen, hier und jetzt musste ich eine Entscheidung treffen. Eine Entscheidung, von der ich nicht wusste, ob sie wirklich die Richtige war.

„Darüber habe ich mir auch schon den Kopf zerbrochen. Vielleicht kann ich ihm ein Schlafmittel in den Drink mischen.“ Ich lächelte gequält. „Es wäre zumindest eine Möglichkeit.“ Ich sah zur Uhr. „Wir haben es jetzt 15 Uhr. In einer Stunde holt Sie Hariri ab. In neun Stunden findet die Übergabe der Disk statt. Ich denke, es ist sinnvoll, wenn ich mir den Ort erst einmal ansehe, an dem der Austausch stattfinden soll.“ „Das ist sicher eine gute Idee“, stimmte mir der Mann mit der Nickelbrille zu. „Aber bitte, seien Sie rechtzeitig wieder da.“ „Versuchen Sie ruhig zu bleiben, es wird schon alles gut gehen.“

Mit diesen Worten erhob ich mich und ließ Felix Nette in seinem Wohnzimmer zurück. Fast wäre ich an dem Leihwagen vorbeigelaufen, den ich mir eine gute Stunde zuvor bei der Esso Tankstelle auf dem ‚Neuen Weg’ besorgt hatte. Meine Gedanken wucherten kreuz und quer durch meinen Kopf. Es gab so viele Ungereimtheiten, die diesen Fall so verworren machten, dass ich die vielen Fakten und Indizien erst zu einem halbwegs geordneten Bild zusammenfügen musste.

Artur Spengler war bei seiner Arbeit für die Media Software Wolfenbüttel offensichtlich auf etwas Ungeheuerliches gestoßen. Da die MSW bislang keine Anzeige erstattet hatte, musste es sich bei der Software allem Anschein nach um etwas Illegales handeln. Er kopierte die betreffenden Daten und machte sich auf den Weg zu seinem ehemaligen Studienfreund Felix Nette, um dessen fachlichen Rat einzuholen. Wozu es nicht kam, weil Spengler überfahren wurde, bevor er mit seinem Freund sprechen konnte. Daraus folgerte ich, dass der Softwarespezialist bereits an seinem Arbeitsplatz beobachtet worden war.

Da die Killer die Disk nicht bei ihrem Opfer fanden, mussten sie davon ausgehen, dass der Mann sie an sich genommen hatte, der auch Zeuge dieses Mordes geworden war. Seine Verfolgung scheiterte, weil sich Felix Nette in meinen Wagen rettete. Womit auch ich im Spiel war.

Was folgte, war die Suche nach dem Namen jenes Mannes und nach dessen Adresse. Zu diesem Zweck statteten die Gangster der Lebensgefährtin des Ermordeten einen Besuch in dessen Wohnung ab. Nach den Angaben von Manuela Wenzel fanden sie ein Foto aus Spenglers Studienzeit, auf dem sie Felix Nette wieder erkannten. Die dazugehörige Adresse herauszufinden, war keine Schwierigkeit. Leider schwieg der in der Wohnung von Artur Spengler gefasste Killer bislang beharrlich.

Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei dem Entführer der kleinen Nicolette um seinen noch flüchtigen Komplizen handelte, war groß. Das Kind war also in den Händen eines skrupellosen Mörders, von dem es bislang nichts als eine vage Beschreibung von Manuela Wenzel gab, die ihn dazu nur mit einer Motorradhaube über dem Gesicht gesehen hatte. Wenn meine Schlussfolgerungen stimmten, konnte ich mein Wissen um die Entführung nicht vor der Polizei zurückhalten.

Der Kidnapper musste Felix Nette beobachtet haben. Er musste den Mitarbeiter der PTB in Begleitung von Machmud Hariri gesehen haben. Als ihm klar wurde, dass er nicht an seine Zielperson herankam, kam er auf die Idee, dessen Tochter zu entführen. Er musste sich zuvor also ein genaues Bild von der Familie verschafft haben. Ich zog den Zündschlüssel wieder ab und stieg aus. Irgendwo hier hatte er sein Opfer beobachtet, da war ich mir sicher. Doch von der Straße aus war dies nur sehr bedingt möglich.

Mein Blick fiel auf das Nachbargrundstück. Ich läutete an der Gartenpforte und hoffte, dass niemand zu Hause war. Für lange Erklärungen hatte ich jetzt weder die Zeit noch die Prämisse. „Ja?“, röhrte die Stimme einer älteren Dame von der sich öffnenden Haustür herüber. Ich klappte meinen Ausweis herunter. Selbst ein Adler hätte aus der Entfernung nicht erkennen können, was darauf zu lesen war. „Sprengmittelbeseitigungsdienst“, plärrte ich knapp zurück. „Wir haben Grund zur Annahme, dass sich im Erdboden Ihres Gartens eine bislang nicht detonierte Fliegerbombe befindet. Bitte bleiben Sie im Haus, bis ich alles durchsucht habe.“ Die Tür flog blitzartig zu.

Ich weiß schon, was Sie jetzt denken, Okay, okay, Sie haben ja Recht, aber in Anbetracht der Situation zählte möglicherweise jede Minute, die ich hier unnutz mit langen Erklärungen vergeudet hätte. Das Grundstück grenzte direkt an den Garten der Nettes. Die Sicht auf die Terrasse war nur durch einige Thuja beeinträchtigt. Als ich zwei von ihnen etwas zur Seite drückte, um besser hindurch sehen zu können, fielen mir einige auf dem Boden liegende Zigarettenkippen auf. Ich wettete mit mir selbst, dass sie erst wenige Stunden an dieser Stelle lagen und dass sie von niemand anderem als von dem flüchtigen Killer stammten. Dem Mann, der meinem Erachten nach auch der Entführer von Nicolette Nette war. Ich bückte mich, um einige der Kippen einzutüten, als ich plötzlich einen heftigen Schlag an meinem Gesäß verspürte.

„Tagedieb, Wegelagerer“, betitelte mich die resolute Pensionärin. „Ich habe mit meinem Sohn telefoniert. Sie sind gar kein Minenräumer. Die melden sich nämlich vorher an, sagt mein Sohn.“ Und ein weiteres Mal sauste der Teppichklopfer in meine Richtung. Ich konnte gerade noch abtauchen. „Okay, ich habe geschwindelt. Ich bin Privatermittler. Sehen Sie, hier ist mein Ausweis.“ Die rüstige Evastochter setzte ihre Brille auf und las. „Ja und, was treiben Sie hier in meinem Garten?“ Ich deutete auf die Zigaretten-kippen. „Rauchen Sie?“ „Sehe ich so aus, als wenn ich meine Stummel im Garten verstreue?“ Ich verkniff mir jeglichen Kommentar.

„Sieht ganz so aus, als hatten Sie in der vergangenen Nacht einen ungeladenen Zaungast.“ „Ein Spanner in meinem Garten?“, empörte sie sich. „Ich habe Birgit schon so oft gesagt, dass sie ein paar Gardinen anbringen soll. Aber sie sagt immer, sie habe nichts zu verbergen. Na, wenn ich den Kerl zwischen die Finger bekomme.“ Ich war davon überzeugt, dass sie tatsächlich meinte, was sie sagte. „Ihnen ist also nichts Außergewöhnliches aufgefallen?“ „Natürlich nicht, ich hätte doch sofort die Polizei gerufen.“ „Dann haben Sie sicher nichts dagegen, wenn ich ein paar von den Kippen mitnehme?“ „Aber nein, packen Sie ruhig alle ein.“

Die alte Dame rückte mir nicht eher von der Pelle, bis auch die letzte Kippe in meiner Tüte verstaut war. „Was wollen Sie eigentlich damit?“ „Die gehen ins Labor“, erklärte ich ihr. „Aller Wahrscheinlichkeit nach lässt sich dort die DNA Ihres ungebetenen Besuchers feststellen.“ „Ach ja, das habe ich neulich gerade im Tatort gesehen. Wenn der Kerl in der Verbrecherkartei steht, wissen Sie, wer er ist.“ Ich staunte nicht schlecht. „Genauso machen wir es.“ „Versprechen Sie mir aber, mich auf dem Laufenden zu halten.“ Ich versprach es und machte mich auf die Socken. 

 

-20-

 

Es war, als wäre ich nie fort gewesen. Alles war noch so, wie an jenem Tag vor nun schon sieben Monaten, als ich den Dienst bei der Braunschweiger Kripo quittierte. Das altehrwürdige Bauwerk in der Münzstraße, in dem das Präsidium untergebracht war, hatte sich nicht verändert. Die breite Steintreppe, über die man in die erste Etage gelangte, wies noch immer die ausgetretenen Stufen auf. Seit Jahren sollte sie renoviert werden, doch für dergleichen unpopuläre Baumaßnahmen war im Stadtsäckel eben kein Geld. Das wurde für Prestigeobjekte gebraucht, die mehr Wählerstimmen brachten.

Die Tür zum Büro meines Freundes meldete auch noch jeden Besucher auf dieselbe markerschütternde Weise an, wie sie es seit Jahren machte. Ein lang gezogenes, unüberhörbares Quietschen, welches sich auch dadurch nicht reduzieren ließ, indem man die Tür langsamer öffnete oder sie mit einem Ruck aufstieß.

„Welch Glanz in meinen bescheidenem Büro“, empfing mich Jogi. Er hatte ein breites Lächeln auf seinen schmalen Lippen. Seine Zigarette verqualmte wie eh und je in einem der Ascher auf seinem Schreibtisch. Eine seiner kleinen Unarten, denen ich früher kaum eine Bedeutung bemaß. Erst jetzt fielen sie mir auf, weil ich sie vermisste. Selbst die ellenhohe goldfarbene Figur auf einem Sockel mit der Inschrift: ‚Die ideale Justitia’ stand noch auf seinem Schreibtisch. Sie war den klassischen Athene-Statuen nachempfunden, von hohem, schlankem Wuchs und in ein schlichtes Gewandt gehüllt, das an den schönsten Rundungen des üppigen Körpers jene Falten warf, die zum Wesen antiker Darstellungs-kunst gehören. Der winzige Blätterkranz auf dem Kopf erinnerte an die Siegessymbole griechischen Altertums. Die schwarz gemalte Klappe über dem rechten Auge verfremdete die Figur. Ich hatte sie meinem Freund zu seiner Beförderung zum Hauptkommissar geschenkt. Sie sollte ihm Mahnung und Ansporn zugleich sein. Ein Wink, nicht alles stets so verbissen zu sehen und Triebfeder, Gesetz und Menschlichkeit miteinander zu verbinden.

„Was führt dich zu mir?“ „Ich muss dich dringend sprechen“, entgegnete ich mit ernster Miene. „Worum geht’s?“ Ich kramte das Tütchen mit den Kippen hervor. „Die sind vom Nachbargrundstück der Nettes. Offensichtlich wurde Felix Nette gestern Abend beobachtet.“ Jogi griff zum Telefon. „Ich werde die Stummel sofort ins Labor bringen lassen.“ „Vielleicht haben wir Glück und der Entführer befindet sich in der Verbrecherkartei.“ „Entführer?“, stutzte Jogi und ließ den Hörer sinken. „Die Tochter der Nettes ist heute Vormittag von einer unbekannten Person, die sich als Mitarbeiter der PTB ausgab, von der Schule abgeholt worden. Der Kidnapper hat sich bereits gemeldet.“

Jogi sprang verärgert auf und flitzte hinter seinem Schreibtisch her. „Warum weiß ich nichts davon?“ „Wenn es nach Felix Nette geht, wüsstest du immer noch nichts. Der oder die Entführer haben damit gedroht, die Kleine zu töten, falls er die Polizei einschaltet. Daraufhin hat er sich an mich gewandt. Ich konnte ihn leider nicht umstimmen.“ „Es ist gut, dass du trotzdem gekommen bist.“ Mein Freund beruhigte sich wieder. „Es gibt noch etwas, was du wissen solltest.“ Jogis Stirn krauste sich. „Na, mach’s mal nicht so spannend.“ „Die Entführer verlangen im Austausch eine Datendisk.“ „Was für eine Disk?“ „Nette hat sie von Spengler, als der im Sterben lag. Er wollte so etwas wie einen Finderlohn herausschlagen.“ „Ja fangen denn plötzlich alle an zu spinnen?“

Die quietschende Tür unterbrach unser Gespräch an einer denkbar ungünstigen Stelle. „Jetzt nicht!“, fuhr der Kriminalhauptkommissar herum. „Aber ich denke, ich soll etwas fürs Labor abholen?“, piepste eine Stimme kleinlaut zurück. „Ach so, kommen Sie herein.“ Jogi reichte der zierlichen Frau das Tütchen mit den Zigarettenkippen. „Die sollen alles andere stehen und liegen lassen. Ich brauche so schnell wie möglich eine DNA Analyse.“ „Geht klar“, nickte die eingeschüchterte Botin. „Ach ja, entschuldigen Sie, war nicht bös gemeint.“ Die junge Frau nickte und verließ das Büro.

„Wann und wo soll die Übergabe stattfinden?“ Ich sah meinen Freund nachdenklich an. „Bevor ich dir diese Frage beantworte, möchte ich von dir wissen, wie du reagieren wirst.“ „Na wie schon, ich werde natürlich den ganzen Apparat in Bewegung setzten.“ „Dann tut es mir Leid. Mein Auftraggeber hat ausdrücklich verlangt, die Polizei aus der Sache herauszuhalten. Wenn ich dir nun trotzdem etwas gesagt habe, dann unserer Freundschaft Willen und weil ich es für einen Fehler halte, eine solche Aktion allein durchzuführen. Du weißt, was diese Gangster mit Spengler gemacht haben. Ein Mord mehr oder weniger macht da keinen Unterschied.“

Jogi ging zum Fenster hinüber und sah auf die Straße hinunter. Was er dort sah, waren jedoch nicht die vorbeihetzenden Menschen mit ihren voll gepackten Einkaufstaschen, sondern all die unschuldigen Kinder, die Jahr für Jahr Opfer irgendwelcher Verbrechen wurden. „Was zum Teufel ist auf dieser verdammten CD, was es rechtfertigt, ein Kind in Angst und Schrecken zu versetzen?“ „Spengler hat wohl einen Teil der Dateien entschlüsselt. Er wollte seinen Studienfreund offensichtlich um Rat fragen. Felix Nette weiß nach eigenem Bekunden nicht, um welche Daten es sich handelt.“

Mein Freund wippte nachdenklich auf seinen Zehen. „So, wie sich die Sache momentan für mich darstellt, hat Spengler die CD oder zumindest die Daten darauf bei seinem Arbeitgeber gestohlen.“ Jogi zog die linke Braue nach oben. „Eine Anzeige liegt bislang allerdings nicht vor.“ „Wart ihr schon bei der MSW?“ „Klar, aber dort vermisst angeblich niemand eine verloren gegangene Disk.“ „Was ist mit dem Kerl, den wir in der Wohnung Spenglers kassiert haben?“ „Schweigt weiterhin beharrlich“, entgegnete Jogi mit einem müden Achselzucken. „Wenn wir wenigstens wüssten, wer der andere war, der uns durch die Lappen ging.“ „Dafür habe ich euch die Kippen mitgebracht.“ „Tja, vielleicht haben wir ja das nötige Quäntchen Glück. Ich werde dich auf jeden Fall auf dem Laufenden halten.“

Inzwischen schlängelte sich eine graue Wurst durch den Aschenbecher. Die Glut hatte mittlerweile auf den Filter übergegriffen und verursachte einen penetranten Gestank. Jogi drückte den Stummel aus und steckte sich eine neue Zigarette an, von der er ein, zwei, tiefe Züge inhalierte, um sie dann wie immer im Aschenbecher zu deponieren. „Ich mache dir einen Vorschlag“, begann er lauernd. „Du nennst mir Zeit und Übergabeort und ich verspreche dir, auf die Kavallerie zu verzichten.“ „Du hast lange gebraucht, um mich zu verstehen“, entgegnete ich zufrieden.

 

-21-

   

Felix Nette brütete intensiv über dem Computer, als Kommissar Machmud Hariri sein Büro betrat. Es war kurz nach halb vier Uhr am Nachmittag. Der junge Kommissar wollte den metrologischen Informations-techniker, wie abgesprochen, nach Hause begleiten. Hariri konnte seinem Schutzbefohlenen nicht viel Neues berichten. Die Ermittlungen gingen eher schleppend voran. Obwohl der Mord an Artur Spengler am helllichten Tag und dazu auf offener Straße geschah, gab es, allem Anschein nach, außer Felix Nette keine weiteren Zeugen. Zudem schwieg der gefasste Tatverdächtige nach wie vor beharrlich. Wenigstens hatte man inzwischen über Europool die Identität des Bosniers klären können. Es handelte sich um einen gewissen Vasili Radischeskow, der in seiner Heimat bereits wegen ähnlicher Straftaten gesucht wurde.

Felix Nette sah kurz auf, als Hariri das Büro betrat. „Ah, da sind Sie ja schon.“ Sein Blick flog in die rechte Ecke seines Computers. „Meine Güte, es ist ja schon fast vier. Bitte nehmen Sie noch einen Moment Platz, ich bin gleich soweit.“ Der Kommissar setzte sich auf einen der Besucherstühle. „Kein Problem, lassen Sie sich Zeit.“ Der Informationstechniker wollte einen letzten Versuch unternehmen, die letzten noch immer codierten Dateien auf der CD zu entschlüsseln. Er war sich sicher, dass der Kommissar nichts von dem verstehen würde, was er eventuell auf dem Monitor sehen konnte. Zudem hatte ihn so etwas wie das Jagdfieber gepackt. Es war wie ein Zwang, eine Sucht, die von ihm Besitz ergriffen hatte. Nette hatte die Zahl 44 in alle nur möglichen Gleichungen zerlegt und sie dann als möglichen Code ausprobiert. Doch egal, was er anstellte, das Ergebnis war stets das Gleiche. Die Dateien blieben ihm verschlossen.

Die Zeiteinblendung an seinem Computer hatte die 16 Uhr Marke längst überschritten. Der Mann mit der Nickelbrille fragte sich mittlerweile, wann sich der Detektiv melden würde, um ihm den Kommissar vom Halse zu schaffen. Er selbst hatte sich deswegen bereits das Hirn zermartert, war aber zu keiner brauchbaren Idee gekommen. Er war Wissenschaftler und kein Mafioso. Woher sollte er wissen, wie er einen Profi auf elegante Weise abschüttelt?

Er hatte seine Gedanken noch nicht ganz vollzogen, als ihn einer dieser fürchterlichen Klingeltöne aus denselbigen riss. Hariri warf ihm einen entschuldigenden Blick herüber und kramte sein Handy hervor. „Kommis...“ Weiter kam er nicht, denn die Person am anderen Ende unterbrach ihn, indem er seinen Namen nannte. „Wie Sie meinen, Herr Wurzer, aber ich gebe zu bedenken, dass...“ Hariri gelang es auch dieses Mal nicht auszusprechen. „Jawohl Chef, wie Sie meinen.“

Der Kommissar sah seinen Schutzbefohlenen irritiert an. „Offensichtlich wurde der zweite Tatverdächtige in der City gesehen. Ich werde für seine Observation gebraucht. Hauptkommissar Wurzer will auf diese Weise an die Auftraggeber herankommen.“ Nette reagierte bühnenreif. „Aber dann bin ich ja völlig auf mich gestellt.“ „Keine Sorge“, wiegelte Hariri ab, „so lange der Tatverdächtige unter Beobachtung steht, sind Sie sicher.“ „Ihr Wort in Gottes Ohr.“ „Sie werden sehen, heute Abend ist der ganze Spuk vorbei und Sie können sich ganz beruhigt wieder in Ihre Arbeit stürzen.“

So recht wohl fühlte sich der Kommissar nicht, als er daran dachte, was geschehen konnte, wenn sich herausstellte, dass der Verdächtige nicht der Richtige war, oder wenn sie ihn aus den Augen verlieren würden. Andererseits kannte er seinen Vorgesetzten gut genug, um zu wissen, dass dieser nicht unüberlegt handelte.

„So wie es etwas Neues gibt, gebe ich Ihnen Nachricht“, versprach Hariri. „Ich werde Sie jetzt noch nach Hause begleiten. Sie bleiben dann bitte daheim und öffnen niemandem außer mir oder den Kollegen die Tür.“ „Worauf Sie sich verlassen können“, entgegnete der Informationstechniker gespielt beunruhigt.

 

-22-

 

Ich kam mir vor wie Doppelagent 007 in tödlicher Mission für Recht und Gerechtigkeit. Einerseits gaukelte ich meinem Auftraggeber vor, die Polizei nicht eingeschaltet zu haben und ihn bei der Übergabe der ominösen Disk lediglich als eine Art Bodyguard zu begleiten. Andererseits konnte und wollte ich mir, falls etwas schief ging, nicht zeitlebens die Schuld daran geben müssen. Erfahrung lehrt bekanntlich. Die Einweihung meines Freundes war also nicht ganz selbstlos, wie ich zugeben muss.

Jogi und ich waren mit Einbruch der Dämmerung in den Braunschweiger Hafen gefahren, um uns den Ort, wo um Mitternacht der Austausch stattfinden sollte, in aller Ruhe anzusehen. Der luxuriöse Dienstwagen des Hauptkommissars holperte gut abgefedert durch die Schlaglöcher der ramponierten Betonplatten, die mit uraltem Kopfsteinpflaster und etlichen Bahnschienen wechselten. Am Kai, vor einem Verladegebäude der ‚Umschlag und Lagerhaus Gesellschaft’, lag ein Frachtkahn vertäut und dümpelte idyllisch vor sich hin. An seinem geringen Tiefgang konnte ich erkennen, dass seine Ladung bereits gelöscht war.

Jogi umfuhr das Gebäude, so weit es möglich war und parkte die klapprige Karre, die er sich extra für diesen Zweck von der Fahrbereitschaft geholt hatte, durch einem angrenzenden Schuppen gut verdeckt, in einer Nische. Es war keine Menschenseele zu sehen. Die Arbeiter der ‚ULG’ hatten das Gelände längst verlassen. Die grellgrünen Leuchtziffern der Instrumentenanzeige sprangen gerade auf 19 Uhr, als wir ausstiegen.

„Die Entführer haben den Ort der Übergabe gut gewählt“, musste ich neidlos anerkennen. „Von hier aus können sie beide Zufahrtswege kontrollieren und schon von weitem erkennen, wenn sich ein Fahrzeug nähert.“ Ich sah mit griesgrämigem Gesichtsausdruck nach oben. „Wenn die Kerle dort oben einen Mann postieren, haben sie das gesamte Hafengebiet im Blick.“ „Stimmt, andererseits gibt es aber auch nur diese beiden Fluchtmöglichkeiten.“ Ich legte meine Hand auf die Schulter meines Freundes und schüttelte argwöhnisch den Kopf. „Ehrlich gesagt, kann ich mir nicht vorstellen, dass es uns die Entführer so einfach machen. Das sind Profis. Ich glaube nicht, dass die wirklich damit rechnen, dass Felix Nette die Polizei aus dem Spiel lässt.“ „Du hast Recht, sie werden zumindest damit rechnen, dass wir mit von der Partie sind.“ „Dann werden sie sich möglicherweise das Wasser als Rückzugsweg ausgeguckt haben“, überlegte ich laut. Jogi zog ein Gesicht, als habe er gerade in eine besonders saure Zitrone gebissen.

„So geht das alles nicht! Das Risiko, die Ganoven mit der Disk davon kommen zu lassen, ist eine Sache, aber was ist, wenn der Austausch aus irgendeinem Grunde nicht reibungslos über die Bühne geht?“, gab mein Freund plötzlich seine Bedenken zum Ausdruck. „Du musst mir erlauben, zumindest die Fluchtwege durch meine Leute abriegeln zu lassen und die Kollegen der Wasserwacht hinzuzuziehen.“ Ich war selbst lange genug Polizist gewesen, um Jogis Bitte nachvollziehen zu können. „Du weißt, welches Risiko wir damit eingehen? Sowie die Gangster auch nur eine einzige Uniform sehen, werden sie die ganze Aktion platzen lassen.“ „Du warst lange genug bei dem Verein, um zu wissen, dass dies die einzige Chance ist, die das Kind hat.“ „Also schön“, stimmte ich schweren Herzens zu. „Aber außer dir will ich niemanden hier sehen. Du postierst dich am besten schon drei Stunden vor der geplanten Übergabe. Pass aber bloß auf, dass dich niemand entdeckt.“ Jogi sah mich verärgert an. „Also, für wie dämlich hältst du mich?“ „Entschuldige bitte, ich fühlte mich gerade in unsere gemeinsame Zeit zurückversetzt.“

Auch wenn Jogi wusste, dass ich es nicht so meinte wie es den Anschein hatte, hellte sich die Miene meines Freundes nur unwesentlich auf. „Ich werde mich im Fond von Nettes roten Skoda Fabia verstecken“, fuhr ich fort. „Falls etwas schief geht, möchte er mich in unmittelbarer Nähe wissen.“ „Keine Frage, nach der Schießerei vor der PTB scheint der Mann ein schier unerschöpfliches Vertrauen in deine Fähigkeiten zu haben.“ Ich zwinkerte mit dem Auge. „Qualität setzt sich eben durch.“