Code 44
-1-
Es war bereits neun Uhr, als der
Wecker den neuen Tag für Artur und Manuela einläutete. Obwohl es für beide der
Beginn eines ganz normalen Arbeitstages war, hatten sie es nicht eilig. Als
Softwareentwickler genoss Artur die Gleitzeit, die ihm die Firma bot, bei der
er angestellt war. Er war ohnehin der Typ Mensch, der am besten dann arbeiten
konnte, wenn seine Kollegen gegangen waren. Es machte ihm nichts aus, wenn er
dann auch schon mal bis spät in die Nacht am Monitor seines Rechners klebte. Da
seine Freundin nachmittags und abends in einem Bistro arbeitete, spielte sich
ihr eigentliches Privatleben vormittags ab.
Manuela drehte sich zu ihrem
Freund und begann ihn zärtlich zu streicheln. Während sie sich eng an ihn
schmiegte, schnurrte sie wie ein Kätzchen. Gerade noch in seinen Träumen
versunken, war Artur nun wie elektrisiert. Manuela wusste genau, wie sie ihren
Lebensgefährten glücklich machen konnte und sie tat es, wann immer sich die
Gelegenheit dazu bot.
„Manu“, seufzte er,
„du machst mich wahnsinnig.“ „Warum nicht?“, hauchte
sie. „Ich bin nicht weniger verrückt nach dir.“ Ihre warmen Hände
schoben sich unter sein T-Shirt, drückten es gefühlvoll nach oben und zogen es
schließlich über seinen Kopf. Ihre fordernden, wollüstigen Blicke hafteten
dabei auf seinen Augen. Einem Reptil gleich, glitt ihre feuchte Zunge über
seine Brust, spielte mit seinen Warzen, küsste ihn mit ihren fleischigen,
vollen Lippen. Wie eine Schlange tauchte sie immer tiefer hinab, während Artur mehr
und mehr seine Augen verdrehte und voller Lust stöhnte.
Gut gelaunt und die Musik im
Autoradio um einiges lauter gedreht als sonst üblich, bog Artur Spengler erst
gegen Mittag auf den Parkplatz der MSW ein. Er stellte seinen betagten Nissan
auf dem angestammten Stellplatz unter der Birke ab und begab sich zum
Hauteingang der Media Software Wolfenbüttel. Wie immer hob er den Arm, als er
an den Sicherheitsleuten in der Pförtnerloge vorbeiging und wie immer grüßten
die Männer in den grünen Uniformen. Dass sie sich hinter vorgehaltener Hand
über sein Äußeres lustig machten, konnte Artur nicht sehen, aber selbst wenn,
wäre er nicht derjenige gewesen, der etwas dagegen unternommen hätte. Er war es
gewohnt, dass sich die Leute über die beiden großen Warzen lustig machten, die
sein Kinn zierten.
Fröhlich leise vor sich hin
pfeifend erreichte er einen der Aufzüge. Er schob die Karte in die
Zeiterfassung, die seine Anwesenheit registrierte. Erst danach fuhr er in die
dritte Etage hinauf, wo sich sein Arbeitsplatz befand. Artur saß mit acht
weiteren Kollegen in einem länglichen Raum, der sich in einzelne Boxen
gliederte. In einer dieser gläsernen Käfige befand sich sein Heiligtum. Ein
Netzwerkrechner der neusten Generation.
„Morgen Artur“,
grüsste der junge Mann in der Nachbarbox. „Spät dran heute, hä?“,
grinste er süffisant. Artur verkniff sich jeglichen Kommentar, lächelte nur
sporadisch zurück und verschwand in der Legebatterie, wie seine Kollegen die
Glasboxen auch bärbeißig nannten. Nachdem er seinen Computer hochgefahren
hatte, begann er wie an jedem anderen Arbeitstag mit der Durchsicht seines
Postkastens. Hierin befanden sich üblicherweise Mitteilungen und Arbeitsaufträge. Heute jedoch befand sich in
seiner Mailbox eine Datei, mit der er nicht so recht etwas anfangen konnte.
Eine Narretei seiner Kollegen oder ein Irrläufer, der ihn versehentlich
erreicht hatte, mutmaßte Artur und entschloss sich, die Datei vorerst zu
ignorieren. Es war nicht das erste Mal, dass man in ihm die Kuh sah, die aufs
Eis geschoben werden sollte.
Der Mann mit dem dunkelblonden
Pagenschnitt gab sich also seiner Arbeit hin, versuchte einfach nicht an die
Datei zu denken, doch seine angeborene Neugier ließ ihn nicht zur Ruhe kommen,
ließ ihn keinen klaren Gedanken fassen. Irgendwann gab er entnervt auf, schloss
wütend auf sich selbst das Programm, an dem er gerade arbeitete und lud die
ominöse Datei auf den Desktop. Bevor er dies tat, sah er sich nach allen Seiten
um und prüfte, ob er beobachtet wurde.
Auf dem Monitor leuchteten nichts
als Buchstaben und Zahlen, in einer scheinbar systemlosen und
undurchdringlichen Reihenfolge. Eigentlich nichts Ungewöhnliches für einen
Programmierer, aber in diesen Zeilen vermochte selbst Artur nicht zu lesen.
Verbissen suchte er nach einem Schlüssel, ohne der Lösung des Rätsels auch nur
einen einzigen Schritt näher zu kommen. Wer diesen ruhigen, eher schüchternen
Mann mit den beiden Warzen im Gesicht jedoch kannte, wusste nur zu genau, dass
er längst Feuer gefangen hatte, ja geradezu von dieser Herausforderung besessen
war, egal wie lange es dauern würde, sie zu meistern.
Zur selben Zeit, nur ein
Stockwerk höher.
„Ich denke, Sie wollten mir
die Datei heute Morgen auf meinen Rechner schieben, Schubert“, zeterte
der schwergewichtige Mann mit der fliehenden Stirn und den wenigen Haaren, die
sich kranzförmig um seinen Schädel verteilten. „Ja, aber ich habe
doch…“, stammelte Schubert. „Nichts haben Sie!“,
ereiferte sich Sören Gustafsohn zunehmend ungehaltener. Schubert hämmerte aufgeregt
in die Tasten seines Keyboards. „Aber ich habe Ihnen die Datei
zugemailt.“ „Gnade Ihnen Gott, wenn die Daten in die falschen Hände
geraten. Sie wissen, was das für Sie bedeuten würde“, drohte der Dicke.
„Selbst wenn es einen Irrläufer gab, könnte niemand etwas damit anfangen.
Ich habe die Datei wie immer codiert.“ „Finden Sie heraus, wo die
Mail gelandet ist und informieren Sie mich, so bald Sie Näheres wissen.“
„Selbstverständlich“, buckelte Schubert, während sein Auftraggeber
das Büro verließ.
Schubert hackte sich in jeden am Netzwerk
angeschlossenen Rechner ein. Es vergingen Stunden, bis er den Weg rekonstruiert
hatte, den seine Mail tatsächlich gegangen war. Er stellte mit Entsetzen fest,
dass die darin enthaltene Datei zu allem Überfluss bereits geöffnet worden war.
Schubert überlegte, ob er in den Ordnern des fremden Computers nach der Datei
suchen, oder seinem Auftraggeber lieber gleich mitteilen sollte, was er
herausgefunden hatte. Nun, der smarte Typ hinter dem gläsernen Schreibtisch tat
eine ganze Menge, wenn die Kohle stimmte, aber er war nicht der Mutigste. Um
bei seiner Suche auf dem PC nicht entdeckt zu werden, entschloss er sich zu
Letzterem.
In der gläsernen Box herrschte
noch immer eine gespannte Atmosphäre. Der Mann, den seine Kollegen abwertend Warze
nannten, hatte all sein Fachwissen aufgeboten, hatte Bücher gewälzt und ganze
Seiten des verschlüsselten Materials durch ein Entcodierungsprogramm gejagt und
doch waren all seine Bemühungen vergeblich. Inzwischen waren Stunden vergangen,
in denen er seine eigentliche Arbeit vernachlässigt hatte. Schweren Herzens
schloss er schließlich die Datei und wandte sich wieder der stupiden
Buchhaltungssoftware zu, die er speziell für das Niedersächsische Kirchenamt
konzipieren sollte.
Er dachte gerade über die doch
eher weltlichen Dinge nach, mit denen sich auch die Kirche herumschlagen
musste, als ihn ein Geistesblitz traf. Vielleicht lag die Lösung seines
Problems im esoterischen Ursprung des Lebens begründet, oder besser gesagt, in
deren Überlieferung, der Bibel. Möglicherweise enthielt sie den Code zur
Entschlüsselung dieser geheimnisvollen E-Mail. Es war so etwas wie der
klammernde Griff, mit dem man ihm die Programmiererehre nehmen wollte. Eine
Drachensaat, die ihm, wie er annahm, von seinen Kollegen aufgezwungen war. Es
musste sich dieser Herausforderung einfach entgegenstellen, um seine
Selbstachtung nicht zu verlieren.
In der Chefetage.
„Wir müssen etwas
unternehmen“, bekundete Schubert aufgeregt. „Spengler hat die Mail
bereits geöffnet und womöglich auch schon die Datei.“ Gustafsohn winkte
ab. „Sie sagten doch selbst, dass die Daten von niemandem gelesen werden
können, der nicht über den richtigen Code verfügt.“ „Spengler ist
einer unserer fähigsten Mitarbeiter. Der Typ ist zwar eher unscheinbar, aber er
hat Ehrgeiz. Ein Beißer, wie man so sagt.“ „Also schön, dann wollen
wir uns Ihren Beißer mal etwas genauer ansehen.“
Der Mann mit dem lichten Haar
erhob sich und durchmaß das mit dickem Teppich ausgelegte Büro. Er zog eine
Schrankwand auf, hinter der einige Monitore zum Vorschein kamen. Der Dicke
schaltete sie ein und kehrte mit einer Fernbedienung wieder zurück.
„Wollen wir doch mal sehen, was der Kerl so treibt.“ Ein
verschmitztes Schmunzeln legte sich über seine Lippen. Schubert war die
Spielerei seines Bosses nicht verborgen geblieben. Was er zwar ahnte, aber
nicht wusste, war, dass auch er ein Opfer dieser Bespitzelungen war.
Nach kurzem Zappen
hatte Gustafsohn die richtige Box auf dem Monitor. Die versteckte Kamera musste
sich an oder in der Zimmerdecke befinden. Der Betrachtungswinkel, aus der das
elektronische Auge seine gestochen scharfen Bilder aufnahm, war so eingestellt,
dass der Betrachter sowohl die betreffende Person als auch den Monitor einsehen
konnte, an dem gearbeitet wurde. Artur Spengler beendete gerade die Datei, an
der er gearbeitet hatte und sah sich nach allen Seiten um, während er eine
andere öffnete.
„Ich werd verrückt“,
keuchte Schubert, „da ist ja die Datei, die ich Ihnen zugemailt
habe.“ „Falsch!“, entgegnete der Dicke erbost.
„…die Sie in Ihrer Schusseligkeit verschludert haben!“
„Was macht er denn jetzt?“, merkte Schubert plötzlich auf.
„Das darf doch alles nicht wahr sein.“ „Was ist?“
„Er hat eine Internetverbindung zu einer Bibelseite hergestellt.“
„Ja und?“, zuckte der Dicke mit den Schultern. Die Bibel ist der
Schlüssel zur Kodierung.“ „Was?“, fuhr sein Boss in die Höhe.
„Woher weiß er davon?“ Schubert wurde kreidebleich. „Ich weiß
es nicht.“ „Gehen Sie sofort da runter und veranlassen Sie, dass
der Kerl unter einem Vorwand seine Box verlässt. Er darf auf keinen Fall
herausfinden, was es mit diesem Programm auf sich hat.“
-2-
Es war das erste Mal seit
längerer Zeit, dass ich mich wieder mit Isabelle verabredet hatte. Zwei Tage
war es her, als ich völlig überraschend eine Mail von ihr in der Mailbox meines
Computers vorfand. Immerhin hatte es bei unserem letzten Aufeinandertreffen in
einer Kneipe der Wolfenbütteler Innenstadt einiges an emotionalem Kleinholz
gegeben. Da meine Ex über ihren Schatten gesprungen war und den ersten Schritt
zu einer Aussprache getan hatte, schlug ich im
Gegenzug ein Treffen auf für sie heimischem Terrain vor. So saß ich also in
einem italienischen Cafe auf dem Braunschweiger Bohlweg, wartete geduldig auf
ihr Erscheinen und sah den Bauarbeitern auf der anderen Straßenseite
interessiert zu, wie sie an der Fassade der Schlossarkaden arbeiteten.
„Hallo Leo“, hörte
ich unvermittelt meinen Namen. „Schön, dass du gekommen bist.“ Ich
erhob mich und küsste Isabelle zur Begrüßung auf die Wangen. „Warum
nicht“, entgegnete ich lächelnd, „meine Gefühle für dich haben sich
durch unsere…“ Ich stockte um nach dem richtigen Wort zu suchen.
„…sagen wir – Meinungsverschiedenheit – nicht geändert.
Du bist nach wie vor eine sehr gute Freundin für mich.“ Isabelle lächelte
etwas verlegen zurück. „Sollten wir uns nicht erst einmal setzen?“,
fragte sie schließlich von meiner Zielstrebigkeit etwas irritiert.
„Natürlich, entschuldige.“
Ich rückte ihr, ganz Gentleman,
den Stuhl zurecht und nahm ihr gegenüber Platz. Am Eingangsportal des neuen
alten Bauwerks wurde gerade eine der Säulen platziert. Ich versuchte mein
Interesse daran so gut es ging zu verbergen. „Was darf ich dir
bestellen?“, fragte ich höflich. Isabelle sah kurz in die Karte.
„Ich nehme einen Bitterino.“ „Es
ist lange her, dass wir hier bei Adriano saßen“, stellte ich fest. Die
Kriminalhauptkommissarin nickte. „Nächsten Monat ist es ein Jahr her,
dass du unseren Verein verlassen hast. Hast du deinen Schritt bereut?“
Das hatte ich mich selbst auch schon wiederholt gefragt, ohne eine eindeutige
Antwort darauf zu finden. „Ja und nein“, sagte ich nachdenklich.
„Zum einen ist es nach wie vor erhebend, sein eigener Chef zu sein, zum
anderen wäre ich gerade in brenzligen Situationen froh, einen verlässlichen
Partner an meiner Seite zu wissen.“
„Auch wenn ein solcher
Sprung ins kalte Wasser nichts für mich gewesen wäre, so habe ich dich doch für
deinen Mut bewundert.“ „Du weißt, weshalb ich diesen Weg gehen
musste“, entgegnete ich gehaltvoll. „Glaube mir, es war das Beste
für uns alle.“ „Dadurch konntest du nichts von dem, was geschah,
rückgängig machen“, bekräftigte Isabelle mit einem tiefen Seufzer.
„Das nicht, aber so muss ich wenigstens keine Angst davor haben, durch einen
solch verhängnisvollen Fehler noch einmal einen Partner zu verlieren.“
„Ich denke, es reicht“, erwiderte Isabelle verärgert. „Du
solltest die Mitleidsnummer endlich aufgeben. Selbst wenn du den Hinterhalt
eher erkannt hättest, wärest du machtlos gewesen.“ „Ja, ja, ja und
trotzdem hat es Ralf erwischt und ich lebe noch. Kannst du nicht verstehen, wie
ich mich fühle? Ich werde Andreas Augen nie vergessen. Die Augen, mit denen sie
mich fragte, weshalb es den Vater ihrer Kinder und nicht mich getroffen
hatte.“
„Buongiorno,
haben Sie schon gewählt?“, unterbrach uns die freundliche Stimme des
Kellners. „Einen Bitterino, bitte.“
„Und für mich noch einen Latte Macchiato“,
fügte ich hinzu. Der galante Südländer machte sich auf den Rückweg. Die
Bauarbeiter hatten die tonnenschwere Säule inzwischen an ihren zukünftigen
Platz bugsiert. Ich fragte mich, ob sich der ganze Aufwand überhaupt
lohnte.
„Wollten wir uns nicht
eigentlich über unsere Beziehung unterhalten?“, fragte Isabelle gedämpft.
„Aber das ist es ja gerade“, entgegnete ich angekekst.
„Wir haben keine Beziehung mehr miteinander! Ich möchte eine solide
Freundschaft zu dir. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.“ „Ich
weiß, ich weiß. Ich habe mich nur verkehrt ausgedrückt“, lenkte Isabelle
ein. Ich hatte nicht das Gefühl, dass sie wirklich begriffen hatte, worum es
mir ging. „Du bist eine moderne und tolerante Frau“, fuhr ich fort.
„Dinge, die ich sehr an dir schätze.“ Meine Ex fühlte
sich geschmeichelt. „Ich fand es wunderbar, als wir ohne Streit
auseinander gingen, und ich fand es toll, dass diese Beziehung so
unproblematisch in eine echte Freundschaft überging.“
Isabelle holte tief Luft, um mir
zu antworten, brach aber ab, als sie den Kellner mit unserer Bestellung
bemerkte. „Scusi, der Bitterino
für Madame und der Latte Macchiato für den
Seniore.“ Der smarte Südländer setzte die Tabletts ab und verschwand mit
einem breiten Lächeln, welches sein makelloses Gebiss in voller Pracht
erstrahlen ließ. „Ich weiß, dass wir uns damals nach unserer Aussprache
zu diesem Schritt entschieden hatten, weil wir Beruf und Privatleben nicht
trennen konnten“, setzte Isabelle erneut an. „Das mag auch alles
richtig gewesen sein…“ „Moment“, unterbrach ich sie,
weil ich bereits ahnte, wohin die Reise gehen sollte. „Ich darf dich
daran erinnern, dass du diese Trennung wolltest, weil du Angst hattest, unsere
Beziehung könnte deiner Karriere hinderlich sein.“
Die Kriminalhauptkommissarin
senkte den Kopf. „Du hast ja Recht, unsere Trennung war ein Fehler, und
ich schäme mich für meine Feigheit…“ Eine solche Aussage aus dem
Mund meiner Ex hatte beinahe eine historische Bedeutung. „Aber jetzt
steht doch einer erneuten Verbindung nichts mehr im Wege“, fügte sie
beinahe enthusiastisch hinzu. „Fast war ich versucht gewesen, ihrer Reue
nachzugeben, mich erneut von ihr um den Finger wickeln zu lassen und dann das.
„Habe ich das gerade richtig verstanden?“, fragte ich rhetorisch.
„Hast du mich gerade gebeten, eine neue Beziehung mit dir einzugehen,
weil meine Arbeit als Privatermittler deiner Karriere nicht mehr im Wege
steht?“ „Das ist doch wundervoll, nicht wahr?“
Ich war wie vor den Kopf
geschlagen. Immerhin war ich einiges von Isabelle gewohnt, aber derart
selbstherrlich hatte ich sie bislang nicht eingeschätzt. Es dauerte einen
Moment, bis ich die richtige Antwort parat hatte. „Es tut mir Leid,
Isabelle, aber mehr als eine Freundschaft möchte ich nicht mehr mit dir. Wir
haben uns viel zu weit voneinander entfernt. Abgesehen davon lässt mir mein Job
momentan einfach nicht die Zeit für eine feste Beziehung. Wenn dir etwas an
unserer Freundschaft liegt, solltest du dies akzeptieren.“
Nun war es Isabelle, die mir wie vor den Kopf geschlagen gegenübersaß. Ich hätte zu gern gewusst, was sich in diesem Augenblick in ihrem hübschen Köpfchen abspielte, doch dies sollte ich wohl nie erfahren. Die Frau, dessen Kariere ihr offensichtlich über alles andere ging, stand ruckartig auf. Ihre Stirn war knallrot angelaufen, der Rest ihres Gesichtes eher kalkweiß. Sie stand da und rang nach Worten, die ihr jedoch nicht einfallen wollten. Ich hatte sie offenbar in eine Situation gebracht, die sie nicht kontrollieren konnte. In ihrem Blick lag Verzweiflung, aber auch die Entrüstung darüber, ihr Ziel nicht erreicht zu haben.
-3-
Es war sicher nur der Jux eines
Kollegen, aber nichtsdestotrotz hatte ihn der unbedingte Wille gepackt, das
Rätsel zu lösen. Der Softwareentwickler gab die Bibel als Bezugsquelle für ein
spezielles Entschlüsselungsprogramm ein. Angespannt bis in die Haarspitzen
beobachtete er, wie sich auf seinem Monitor langsam, aber bestimmt der Code für
ein Softwareprogramm herausbildete. Artur Spengler staunte nicht schlecht, als
sich das, was er ursprünglich für einen Scherz seiner Kollegen hielt, mehr und
mehr in etwas Unfassbares verwandelte.
Obwohl der unscheinbare
Blondschopf kein Experte für mediale Strukturen in der Werbebranche war, ahnte
er, um was es bei diesem Programm ging. Wenn nur ein kleiner Teil seiner Ahnung
zutraf, ging es bei dieser Sache um Millionen und plötzlich wurde ihm klar,
dass er im Begriff war, eine ungeheure Sauerei aufzudecken. Spengler sah sich
ängstlich um. Ein Instinkt sagte ihm, dass wer immer auch hinter dieser Sache
steckte, über Leichen gehen würde, um sein Vorhaben in die Tat umzusetzen.
Ohne zu zögern legte er eine CD
in den Brenner und überspielte die zum Teil entschlüsselte Kopie der Datei.
Kaum dass er seine Arbeit beendet hatte und die Disk in der Tasche seines
Jacketts verschwinden ließ, stand Schubert in der Tür zu seiner Box. Spengler
mochte den unsympathischen Abteilungs-leiter nicht
sonderlich. Wo immer es möglich war, ging er ihm aus dem Weg.
„Für Sie habe ich heute
eine ganz spezielle Aufgabe, Spengler“, überraschte er den Blondschopf.
„Ich möchte, dass Sie sich um Frau Schafschneider kümmern. Eine neue
Kollegin in unserer Abteilung, die von kompetenter Hand eingewiesen werden
soll.“ Spengler traute seinen Ohren nicht. So etwas war in den drei
Jahren, die er der Firma angehörte, nicht vorgekommen. Es fiel ihm nicht
sonderlich schwer, den wahren Grund für diesen sonderbaren Wunsch zu
durchschauen. Schubert war also mit von der Partie. Die Drahtzieher hatten
demzufolge herausgefunden, welchen Weg ihre brisante Post genommen hatte.
Spengler hatte damit gerechnet, schließlich arbeitete er in einem Softwareunternehmen.
Aus diesem Grund hatte er die Mail in ihrem ursprünglichen Zustand belassen und
nur die kopierte Datei entschlüsselt. Er war sich sicher, dass auf diese Weise
niemand etwas bemerken würde.
Artur Spengler zuckte mit den
Schultern. „Ich bin zwar dabei, ein neues Programm zu entwickeln, aber
wenn Sie meinen, dass ich mich um die Dame kümmern sollte…“
„Allerdings, das meine ich“, bekräftigte Schubert.
Kurz darauf hatte sich Spengler
mit der neuen Kollegin bekannt gemacht. Im Grunde war seine neue Aufgabe eine
willkommene Abwechslung von seiner sonstigen Arbeit. Ab und an warf er einen
heimlichen Blick auf seinen Arbeitsplatz, doch die Glasbox seiner Kollegin war
soweit abseits gelegenen, dass er nicht sehen konnte, was darin vor sich ging.
„Entschuldigen Sie mich
bitte für einen Moment“, sagte er schließlich. „Ich bin gleich
wieder da.“ „Lassen Sie sich ruhig Zeit“, entgegnete die Neue
in der Annahme, sein plötzlicher Aufbruch gelte einem unaufschiebbaren
Hintergrund. „Ich komme schon klar.“ Spengler quittierte mit einem
verlegenen Lächeln. Sollte sie doch glauben, dass er aufs Klo musste, sagte er
sich, während er die Box verließ und auf Umwegen seinen eigentlichen
Arbeitsplatz ansteuerte. Er musste wissen, ob Schubert tatsächlich in seinem
Computer herumstöberte. Einige Atemzüge später wurde seine Ahnung zur
Gewissheit.
Was auch immer Schubert mit der
Sache zu tun hatte, Spengler traute ihm allemal zu, es mit dem Gesetz nicht so
ernst zu nehmen. Bevor er jedoch mit seiner Entdeckung zur Polizei gehen
konnte, musste er sich zu einhundert Prozent sicher sein. Der Blondschopf
überlegte fieberhaft. Es war sicher das Beste, eine zweite Meinung einzuholen.
Es stellte sich nur die Frage, wer kompetent genug war und wem er in dieser
Sache überhaupt noch vertrauen konnte?
Da kommt nur einer in Frage,
schoss es Spengler durch den Kopf. Einer seiner Studienfreunde war als
metrologischer Informationstechniker an die ‚PTB’, die Physikalisch
Technische Bundesanstalt nach Braunschweig gegangen. Wenn ihm einer weiter
helfen konnte, war er es, Felix Nette. Der schlaksige Mann im unscheinbaren
Sportjackett kramte sein Handy hervor und durchforstete die eingespeicherte
Nummernkartei. Als er nicht fündig wurde, stieß er einen Fluch aus, denn leider
war ihm die Adresse seines damaligen Freundes ebenso wenig geläufig.
Schließlich kam ihm die Idee, keine weitere Zeit zu verlieren und seinen
Studienfreund direkt auf der Arbeit aufzusuchen.
Er ließ einfach alles stehen und
liegen, stempelte sich an der Zeiterfassung aus und verließ das Gebäude auf
demselben Weg, auf dem er es am Morgen betreten hatte. In seiner Eile bemerkte
er nicht, dass ihm mit einigem Abstand zwei Männer folgten.
Etwa eine halbe Stunde später und
ungefähr fünfundzwanzig Kilometer von der MSW entfernt, bog Spenglers betagter
Nissan in die Bundesallee und damit auf das Gelände der Physikalisch
Technischen Bundesanstalt im nördlichen Braunschweiger Stadtgebiet. Der
Softwareentwickler parkte gleich links auf dem großen Besucherparkplatz und
begab sich in das angrenzende Gebäude, in dem sich auch die Anmeldung befand.
Artur hatte nicht den geringsten Schimmer, in welchem der zahlreichen Gebäude
sein Freund arbeitete.
Er hatte Glück, Felix Nette war
an seinem Arbeits-platz und er hatte Zeit für seinen
alten Studienfreund. Der freundliche Pförtner erklärte ihm den Weg und
versprach, dass Felix Nette ihm entgegen kommen würde. Spengler verließ das
Gebäude, überquerte den Parkplatz, auf dem er seinen Wagen abgestellt hatte und
durchquerte den schmalen Grünstreifen, der den Parkplatz von der Bundesallee
trennte.
Obwohl er seinen alten Freund
schon längere Zeit nicht mehr gesehen hatte, erkannte er ihn sofort. Er trug
noch immer denselben strubbeligen Haarschnitt und die gleiche Nickelbrille, die
ihm schon während der Studienzeit den Spitznamen Einstein einbrachte. Artur
winkte ihm zu, sah den Fahrdamm flüchtig auf und ab und trat auf die Straße.
Als er etwa in dessen Mitte angelangt war, vernahm er die quietschenden Reifen
eines Autos und noch im gleichen Augenblick die in der Sonne glitzernde
Silhouette eines schnell näher kommenden Fahrzeugs. Es blieb ihm nicht einmal
mehr die Zeit, um die Situation zu begreifen. Der Wagen raste wie ein Geschoss
heran und erfasste ihn. Der Oberkörper des Softwareentwicklers klatschte mit
einem dumpfen Knall auf die Motorhaube, seine Beine knickten wie verdorrte
Grashalme im Wind. Einer Schaufensterpuppe gleich schleuderte er schließlich im
hohen Bogen durch die Luft, um unmittelbar vor den Füßen seines Freundes reglos
liegen zu bleiben.
Felix Nette sah auf den völlig
verdreht daliegenden Körper herab, ohne so recht begriffen zu haben, was gerade
unmittelbar vor ihm geschehen war. Er starrte dem davonrasenden Sportwagen
hinterher, kniete sich nieder und fühlte seinem ehemaligen Freund den Puls.
Erst jetzt schien er zu begreifen. „Artur, komm zu dir!“ Nur für
einen kurzen Moment kam Artur Spengler noch einmal zur Besinnung. „In
meiner Tasche“, hauchte er seinem Freund zu, während er kaum merklich mit
dem Kopf auf die Jacketttasche deutete, in der er die CD aufbewahrte. Felix
Nette holte die Hülle mit der Disk hervor. Sie war unversehrt. „Was soll
ich damit?“, fragte der Mann mit dem strubbeligen Haar. Artur versuchte
seine Lippen zu bewegen. Ein Schwall Blut trat aus seinem Mundwinkel, rann über
seine Wange und tropfte schließlich auf den Asphalt. Einstein beugte sich dicht
über ihn, doch mehr als ein undefinierbares Röcheln war aus dem Munde des
Schwerverletzten nicht mehr zu vernehmen.
„Mein Gott, ich kann dich
nicht verstehen“, entgegnete Felix, während er seinem Freund voller
Entsetzen in die Augen sah. Er fühlte, dass ihm Artur etwas enorm Wichtiges
mitteilen wollte, deshalb beugte er sich noch einmal hinunter, bis sein Ohr
fast den Mund seines Freundes berührte. Im selben Augenblick erstarrte fast das
Blut in seinem Körper. Der Wagen, der den Unfall verursacht hatte, kam zurück,
und hielt genau auf die beiden zu. „44“, hauchte Artur mit einer
letzten martialischen Kraftanstrengung, bevor sein Kopf zur Seite kippte und er
für immer die Augen schloss.
Felix Nette hatte nicht viel
Zeit, um Abschied zu nehmen. Der Wagen des Teufels raste mit immer höher
werdendem Tempo auf sie zu. Nur noch wenige Meter trennten auch ihn vom Abgrund
des Todes. Geistesgegenwärtig warf er sich zurück auf die Rasenfläche, über die
er gerade gekommen war. Während er sich noch zur Seite rollte, sah er mit
Entsetzen, wie der weiße Sportwagen ein zweites Mal den leblosen Körper seines
Freundes erfasste. Schockiert beobachtete er, wie er bremste und die
Beifahrertür aufgestoßen wurde. Ein gut gekleideter Mann sprang heraus. Sein
Gesicht verbarg er hinter einer schwarzen Skimütze. In seiner Hand blitzte eine
Pistole. Der wissenschaftlich technische Assistent warf sich reaktionsschnell
hinter einen der Bäume. Ein leises Zischen, ein kurzes Plopp
und ein Projektil hackte ein Stück rötliches Holz aus der Rinde der alten
Kastanie. Die Gangster benutzten also einen
Schalldämpfer. Kein Zweifel, es musste sich um Profis handeln.
Schlagartig wurde ihm bewusst, dass er
das nächste Opfer werden sollte.
Er beobachtete, wie sich der
zweite ebenfalls maskierte Gangster an den Taschen seines toten Freundes zu
schaffen machte. Es war offensichtlich, wonach der Kerl suchte. Da, wo sich
Felix Nette gerade aufhielt, konnte er nicht bleiben. Es war nur eine Frage der
Zeit, bis die Männer nahe genug waren, um auch ihn zu erwischen. Felix nahm all
seinen Mut zusammen, schrie so laut er konnte und lief so schnell wie er es
vermochte. Er rannte um sein Leben und hoffte, dass irgendjemand auf den Lärm,
den er verursachte, aufmerksam wurde. Einen Tatzeugen konnten sie ausschalten,
überlegte er, während er in gebückter Haltung weiter rannte, aber ein
Dutzend…?
Links und rechts neben ihm
schlugen die Kugeln ein, wirbelten Dreck auf oder zischten sengend heiß um
Haaresbreite an seinem Schädel vorbei. In all der Aufregung ließ er völlig
außer Acht, dass die Gangster nicht hinter ihm, sondern möglicherweise nur
hinter der CD her waren.
-4-
„Machen Sie sich nicht ins
Hemd, Schubert. Wir verlieren zwar einen fähigen Mitarbeiter, aber sichern uns
so die nötige Zeit, um unseren Kunden zufrieden zu stellen.“ Schubert
hielt es nicht in seinem Sessel. Immer wieder durchmaß er nervös den Raum,
rannte von einer Ecke in die nächste und blieb schließlich vor dem großen
Panoramafenster stehen, durch das man bei guter Sicht bis zu den Harzbergen
sehen konnte. „Aber gab es denn wirklich keine andere Möglichkeit, den
Mann zum Schweigen zu bringen?“ „Sicher, wenn Sie sich von dem Kerl
erpressbar machen wollten und ihm immer wieder Geld in den Rachen werfen
möchten? Nein, nein, je weniger Mitwisser, desto weniger Risiko!“
„Ja, aber…“
„Nichts da, denken Sie daran, dass Spengler nur deshalb ausgeschaltet
werden muss, weil Sie Scheiße gebaut haben. Seien Sie froh, dass ich mittels
der versteckten Kamera beobachten konnte, wie Spengler die Daten auf die CD
kopierte, sonst wüsten wir nicht einmal davon. Nur gut, dass ich für solche
Fälle ein kompromissloses Team in der Hinterhand habe. Übrigens dürfte Ihnen
klar sein, dass die Kosten für diese Säuberungsaktion zu Ihren Lasten
gehen.“
Schubert wagte nicht zu
widersprechen. Nichtsdesto-trotz sah er immer wieder
nervös auf seine Armbanduhr. „Sollten Ihre Leute nicht längst Vollzug
melden? Da ist irgendetwas aus dem Ruder gelaufen, ich spüre so etwas.“
Der Dicke begann hämisch zu lachen, „Ihre Gefühle in allen Ehren,
Schubert, aber Sie sollten vielleicht mal was für Ihre Nerven tun. Die Jungs
sind Profis, die werden ihren Job ohne Wenn und Aber erledigen, da seien Sie
versichert.“
-5-
„Sie können ganz beruhigt
sein, Herr Professor. Auch wenn die Verlobung Ihrer Tochter zugegeben recht
überraschend für Sie kam, so handelt es sich bei dem jungen Mann um einen
durchaus integeren Herrn aus gutem Hause. An der Zuneigung, die er Ihrer
Tochter entgegenbringt ist nicht zu zweifeln. Ich habe den jungen Mann mehrere
Tage fast durchgängig beobachtet. Meiner Meinung nach besteht kein Grund, seine
Aufrichtigkeit in Frage zu stellen.“
Der Mann mit dem ergrauten Haar nahm
seine Brille ab, legte sie auf die Schreibtischablage und neigte sich entspannt
gegen die Rückenlehne seines Chefsessels. „Ich habe meiner Frau gleich
gesagt, dass ihre Angst völlig unbegründet ist, aber Sie wissen ja, wie Mütter
so sind.“ Ich machte ein abschätzendes Gesicht. „Wie dem auch sei,
ich bin mit Ihrer Arbeit sehr zufrieden.“ Der honore
Herr erhob sich und reichte mir die Hand. Ich tat es ihm nach. „Schicken
Sie mir bitte Ihre Rechnung.“ Ich dachte spontan an Trude. Meine
Putzsekretärin war leider nicht die Schnellste. „Keine Angst, allerdings
könnte es ein paar Tage dauern.“ Der Professor sah auf die Uhr auf seinem
Schreibtisch. „Ich möchte nicht unhöflich erscheinen, aber leider habe
ich gleich den nächsten Termin.“ „Kein Problem, ich finde allein
hinaus.“
Ich hatte also mal wieder einen
zufriedenen Klienten zurückgelassen. Langsam aber sicher kam ich besser ins
Geschäft. Nach anfänglichen Schwierigkeiten und einigem Leerlauf hatte sich
meine gute und diskrete Arbeit herumgesprochen und einige Leute kamen sogar
schon auf Empfehlung in meine Detektei. Es lief relativ rund, wie man so sagt,
denn endlich sollte sich auch an meiner Wohnsituation etwas ändern. Die schon
lange versprochene Wohnung neben meiner Detektei wurde zu guter Letzt doch noch
frei. Ich war also, von der Auseinandersetzung mit Isabelle einmal abgesehen,
in guter Stimmung, als ich über den Flur des Bürokomplexes dem Aufzug entgegen
schlenderte.
Hier also wird die Zeit gemessen,
dachte ich, meinen Blick auf die Hinweistafel im Fahrstuhl gerichtet. ‚Die PTB liefert für ganz Deutschland
die Zeit. Ihre Atomuhren steuern sämtliche Funkwecker, Bahnhofsuhren und viele
Abläufe in der Industrie’. Ich dachte an die jährliche Zeitumstellung und daran, dass ich jedes Mal Tage
brauchte, um mich an den veränderten Rhythmus zu gewöhnen. Aber das, so musste
ich fairnesshalber eingestehen, ist ein Bockmist, den
allein die Politik verzapft hatte. Auch wenn es den eigentlichen Grund für
diese Posse nicht mehr gab, wenn erst einmal etwas in Gang gebracht war, ließ
es sich nur mit Mühe wieder aufhalten, doch diese Mühe wollte sich halt keiner
der Herren Politiker machen.
Die Kabine kam mit einem leichten
Ruck an seinem Bestimmungsort an. Die beiden Hälften des Lifts schoben sich
behäbig auseinander. Eine elegant gekleidete Blondine schritt gerade in betont
anmutiger Weise den Gang entlang. Mein Blick ließ sich für einen Moment in
ihren Bann ziehen. Gern wäre ich mit ihm zu ihr hinübergeschwebt, doch die
beiden wieder zufahrenden Hälften der Kabinentür trennten uns. Fasziniert von
ihrem Antlitz, hatte ich selbst das Aussteigen vergessen. Als sich der polierte
Stahl wieder auseinander schob, war meine Traumfrau verschwunden. Mit einem
tiefen Seufzer setzte ich meinen Weg fort. Hatte ich denn gar kein Glück mehr
bei den Frauen?
Ich verließ das Gebäude durch
einen Seitenausgang, der zum Besucherparkplatz führte. Wenigstens sprang mein
Ascona beim ersten Startversuch an, was mir zumindest ein zufriedenes Lächeln
ins Gesicht zauberte. Während ich den Wagen aus der Parklücke steuerte und über
Sinn oder Unsinn der Sommerzeit nachdachte, wurde die Beifahrertür blitzartig
aufgerissen. Ein äußerst gehetzt wirkende Person warf sich auf den Sitz neben
mir und flehte mich an, loszufahren. Ehe ich richtig begriff, was eigentlich
los war, ließ irgendetwas die Scheibe der Seitentür zerplatzen.
„Sie schießen auf
mich“, rief der ungebetene Gast auf dem Sitz neben mir. Dies war alles
andere als ein dummer Scherz, der Mann durchlebte Todesängste. Während ich das
Gaspedal bis auf die Bodenwanne durchtrat und die durchdrehenden Räder meines
Wagens ihr Profil im Asphalt hinterließen, sah ich zwei Männer, die mit
gezogenen Schießeisen aus dem Dickicht der Büsche hervorsprangen. Sie schossen
auf den Wagen und damit nun auch auf mich, was ich ihnen zunehmend übel nahm,
da ihr heißes Blei immer mehr Löcher in das ehrwürdige Blech meines Asconas
stanzte.
Ich brauchte meinem unbekannten
Beifahrer nicht zu sagen, dass er auf Tauchstation gehen sollte, so schlau war
er von allein gewesen. Eigentlich sah ich nur noch seinen krummen Rücken. Der
Rest von ihm hockte zusammengekauert im Fußraum. Offensicht-lich
benutzten die Ganoven Schalldämpfer. Ich hatte es folglich mit Profis zu tun.
Als sie bemerkten, dass sich der Abstand zu uns vergrößerte, wurde meine
Annahme zur unliebsamen Gewissheit. Die schossen auf die Reifen und erwischten
sie auch. Der Ascona wirbelte unkontrollierbar herum und stellte sich
schließlich quer.
„Los, wer auch immer Sie
sind, wir müssen hier raus.“ Ich zog meine Waffe und wartete, bis sie
nahe genug herangekommen waren, um sie mit einigen bleiernen Grüßen zu
überraschen. Während wir auf die von den schießwütigen Schurken abgewandte
Seite meines Wagens robbten, zog ich mein Handy und drückte auf die
Notruftaste, die meinen besten Freund und Exkollegen bei der Braunschweiger
Kripo alarmierte. Es bedurfte nur wenige Worte, um Jogi den Ernst meiner
Situation klar zu machen. Ich wusste, dass er sofort alle Hebel in Bewegung
setzen würde, um mir aus der Patsche zu helfen.
Sekunden später waren die
Gangster weiter vorgerückt als es mir lieb sein konnte. Ich hieß sie mit einer
Salve von Schüssen, die ich in die Braunschweiger Nachmittagssonne feuerte,
herzlich willkommen. Die Herren waren äußerst überrascht, um nicht zu sagen,
perplex. „Die nächsten Grüße schicke ich um einiges tiefer“, rief
ich ihnen zu.
Meine Überraschung hatte ihre
Wirkung nicht verfehlt. Die Gangster stoppten und starrten sich konsterniert
an. Leider besannen sie sich schon im nächsten Augenblick und trennten sich.
Ihre Absicht wurde schnell deutlich. Während einer von ihnen den Wagen in
weitem Abstand umging, suchte sich der andere eine sichere Deckung. Sie wollten
uns buchstäblich in die Zange nehmen. Ich sah mich um, konnte jedoch keine
andere Deckung in unserer Nähe ausmachen.
„Wir müssen zurück in den
Wagen“, verkündete ich im Brustton der Überzeugung. „Die Kerle
wollen uns von zwei Seiten unter Beschuss nehmen.“ „Das darf doch
alles nicht wahr sein“, jammerte der Mann mit der Nickelbrille.
„Was haben Sie gemacht?“, fragte ich ratlos. „Diese Mistkerle
haben einen Freund von mir einfach über den Haufen gefahren.“ Er
schüttelte fassungslos mit dem Kopf. „Einfach über den Haufen. Am
helllichten Tag.“
Es blieb keine Zeit mehr, um
weitere Informationen aus ihm herauszuholen, die Kerle begannen uns wieder
unter Feuer zu nehmen. Nun platzte auch die Glasscheibe in der Fahrertür und
ein weiteres Geschoss stanzte ein kreisrundes Loch in die Windschutzscheibe.
Einem Spinnennetz gleich, zogen sich dutzende feiner Risse durch das Glas.
Wütend feuerte ich zurück. Einer der beiden Killer hatte sich hinter einem Baum
postiert, den anderen konnte ich gar nicht ausmachen. Ich betete, dass sie den
Tank nicht erwischten. Ein einziger Schuss hätte uns mitsamt der Karre auf den
Mond katapultieren können.
Während ich meine Waffe nachlud,
ließ das Kreuzfeuer plötzlich nach. Kurz darauf vernahm ich den Grund dafür.
Aus der Ferne waren bereits erste Sirenen zu hören. Als ich den Kopf vorsichtig
herausstreckte, sah ich nur noch, wie die Halunken Fersengeld gaben.
„Sind Sie in Ordnung?“, fragte ich den völlig verstörten Mann, der
sich bis tief in den Fußraum vor der Rücksitzbank gedrückt hatte. „Ja,
ja, es geht schon.“ Nach und nach füllte sich der Parkplatz mit
Neugierigen, die angelockt durch das hollywoodreife Spektakelum, aus den angrenzenden Gebäuden
zusammenströmten.
Angesichts der vielen Menschen
verzichtete ich darauf, den Gangstern nachzusetzen. Zu
groß war das Risiko, dass womöglich ein Unbeteiligter von einer verirrten Kugel
getroffen wurde. Erst jetzt sah ich das Ausmaß der Zerstörungen an meinem
Wagen. Auch wenn ich meinen alternden Ascona oft genug verflucht hatte, weil er
nicht anspringen wollte, so tat mir der traurige Anblick, den er jetzt bot,
doch in der Seele weh.
Der Mann, dessen Beine da aus der
Fondtür meines Wagens baumelten und von dem ich nicht einmal den Namen kannte,
schien am Ende seiner Nerven. Jetzt, da er sich der Gefahr, in der er geschwebt
hatte, erst so richtig bewusst wurde, begann er am ganzen Körper zu zittern.
„Meine Güte, Herr Nette, was ist denn geschehen“, fragte einer der
herbeigeeilten Pförtner. Doch der Mann mit dem Afrolook war zu keiner Reaktion
fähig. Während sich die Schaulustigen den wildesten Fantasien hingaben, trafen die
ersten Einsatzfahrzeuge von Polizei und Rotem-Kreuz
am Ort des Geschehens ein. Mit dabei war mein Freund und Exkollege, Jürgen Wurzer.
„Meine Güte“, feixte
er als er mich wohlbehalten neben meinem Wagen sah. „Hast du mit deiner
Rostlaube an einem Designerwettbewerb teilgenom-men?“
Mehr als ein müdes Lächeln hatte ich nicht für ihn über. „Das sagt einer,
der sich mit einem dicken Daimler durch die Gegend chauffieren lässt.“
„Jeder liegt so, wie er sich bettet“, entgegnete Jogi spöttisch.
„Ich denke, es ist besser, ein Licht anzuzünden als in die Dunkelheit zu
schauen“, konterte ich stichelnd. „Okay“, sagte Jogi
anerkennend, „Diese Runde geht an dich.“
Unser kleiner Schlagabtausch war
alles andere als böse gemeint, er war eher eine Art Ritual, welches wir während
unserer gemeinsamen Dienstzeit zu einer
wahren Kunst entwickelt hatten. Außenstehende wussten dabei nie, ob wir
uns tatsächlich anfeindeten, was uns nicht selten zum Vorteil gereichte.
„Also, erklärst du mir, was
hier ablief?“, erkundigte sich mein Freund nun in gewohnt bedachter
Routine. „Wenn ich das nur wüsste“, entgegnete ich ohne jede Idee
auf den Mann deutend, der gerade, von einem Sanitäter betreut, in den
Rettungswagen stieg. „Er sprang plötzlich in meinen Wagen“,
erklärte ich, „und forderte mich auf, loszufahren.“ „Was du
natürlich nicht tatest, weil du…“ „Weil die Ganoven sofort zu
schießen begonnen“, unterbrach ich Jogi. „Ich habe zunächst gar
nicht begriffen, was eigentlich geschah, weil die Killer Schalldämpfer
benutzten“, erklärte ich wütend. „Wenn ich die Kerle wenigstens
vernünftig beschreiben könnte, aber sie trugen Motorradhauben. Mir fiel auf,
dass sie gut gekleidet und beide so um die dreißig waren.“ Ich weiß nur,
dass mein Fahrgast Zeuge war, als sein Freund überfahren wurde.“
„Das Opfer liegt etwa zweihundert Meter weiter vorn, auf der anderen
Seite des Parks. Bastian kümmert sich um ihn. Ich wollte erst einmal schauen,
was du so treibst.“ „Wie nett von dir“ entgegnete ich
grinsend, „aber wie du siehst, hatte ich die Sache auch ohne dich recht
gut im Griff.“ „Ich sehe und staune.“
Mein Freund und ich gingen zum
Rettungswagen hinüber, um nach dem ominösen Mann zu sehen und um eine Erklärung
von ihm zu bekommen. Er bekam gerade eine Spritze verabreicht. „Kann ich
mit ihm reden?“, fragte der Kriminalhauptkommissar. „Ich habe ihm
gerade ein Sedativum verabreicht“, entgegnete der Notarzt. „Aber
fassen Sie sich bitte kurz, der Mann steht noch immer unter einem leichten
Schock.“
„Kriminalhauptkommissar Wurzer“, stellte sich mein Exkollege vor. „Würden
Sie mir bitte Ihren Namen sagen.“ Der Mann, der von seinen Freunden auch
Einstein genannt wurde, schien durch meinen Freund hindurch zu sehen.
„Wer auch immer Sie sind“, sagte er an mich gewandt, „es muss
mein Schutzengel gewesen sein, der Sie gesandt hat. Haben Sie vielen Dank, Sie
haben mir das Leben gerettet.“ „Kennen Sie die Männer, oder können
Sie die Kerle beschreiben?“, fragte Jogi weiter. „Kennen?
Nein.“ Der Ärmste schüttelte den Kopf. „Die trugen Masken.“
„Können Sie sich vorstellen, weshalb es die Ganoven auf Sie abgesehen
hatten?“, erkundigte sich der Hauptkommissar. Einstein rang um Worte.
„Es war schrecklich, die haben Artur einfach über den Haufen
gefahren.“ „Der Tote ist Ihnen also kein Unbekannter“, merkte
mein Freund auf. „Nein, nein, wir haben zusammen studiert. Ich war zwar
sehr überrascht, als mir der Pförtner am Telefon mitteilte, dass Artur mich
besuchen wollte, aber ich habe mich gefreut, ihn nach all den Jahren wiederzusehen.“ „Und Sie haben keine Ahnung,
was er von Ihnen wollte?“ „Beim besten Willen“, beteuerte der
Mann mit der unmodernen Nickelbrille. „Dann haben Sie sicher ebenso wenig
eine Idee, was die Typen von Ihrem ehemaligen Studienfreund wollten?“
Einstein schüttelte den Kopf.
Jogis Handy läutete. Es
unterbrach die Befragung des Zeugen und gab mir die Gelegenheit, ihm
meinerseits einige Fragen zu stellen. „Darf ich fragen, auf welchem
Gebiet Sie hier tätig sind, Herr eh…? Entschuldigen Sie, aber ich habe
Ihren Namen vorhin nicht recht verstanden.“ „Felix Nette. Ich
arbeite in der Forschungsabteilung der PTB.“ „Sicher eine
interessante Tätigkeit. Könnten Sie sich vorstellen, dass der Besuch Ihres
Studienfreundes mit Ihrer Arbeit hier zusammenhängt?“ Einsteins Gesicht
spannte sich an. Auf seiner Stirn bildeten sich tiefe Falten. „Eher
nicht. Artur wusste doch gar nicht, an was ich arbeite.“ „Und
umgekehrt?“ „Kann ich nicht sagen, ich weiß nur, dass es Artur nach
Wolfenbüttel verschlagen hatte. Womit er sein Geld verdient, ist mir nicht
bekannt.“
„Verdiente“, bemerkte
Jogi, der sein Telefonat gerade beendet hatte. „Ihrem Freund war leider
nicht mehr zu helfen. Er muss sofort tot gewesen sein.“ „Ich
hab’s mir gleich gedacht“, beteuerte Felix Nette. „Er lag so
verrenkt da, dass er nur tot sein konnte. Zuerst dachte ich an einen Unfall,
aber als der Wagen drehte und noch einmal genau auf ihn zuraste, gab es keinen
Zweifel mehr. Die wollten Artur töten!“ Haben Sie sich das Kennzeichen
des Wagens merken können?“ „Tut mir Leid, es ging alles so schnell,
aber es war ein weißer Sportwagen, glaube ich.“ „Na, das bringt uns
doch schon etwas weiter. Hat Ihnen ihr Studienfreund noch etwas mitteilen
können, bevor er verstarb?“, fragte Jogi zuversichtlich. „Leider
nicht“, schluckte Einstein trocken. „Ich konnte mich nicht mal mehr
um ihn kümmern. Die Kerle begannen sofort auf mich zu schießen.“
Die Killer waren Profis, soviel
stand für mich fest. Umso mehr fragte ich mich, weshalb die Ganoven das Risiko
eingingen und ihr potentielles Opfer am helllichten Tag und dazu noch auf
offener Straße um die Ecke brachten. Aus irgendeinem Grund hatten sie keine
andere Wahl, doch welches Motiv war so immens wichtig, um ein solches Risiko
einzugehen? Da man davon ausgehen musste, dass Felix Nette ein zufälliges Opfer
wurde, konnte dieses Motiv nur in der Vergangenheit des Getöteten begründet
sein. Das jedoch lag nicht in meiner Zuständigkeit. Was mich beschäftigen
sollte, war der Zustand meines geschundenen Vehikels und die Frage, wer mir den
Schaden ersetzen würde. Da mein Ascona kriminaltechnisch untersucht werden
musste, brauchte ich mich zumindest nicht um seinen Abtransport zu kümmern. Die
Experten der KTU würden ihn in seine sämtlichen Einzelteile zerlegen, um auch
das letzte Geschoss sicherzustellen. Ein solches Ende hatte mein treuer
Gefährte nicht verdient.
-6-
„Verdammt noch mal, das
kann doch alles nicht wahr sein!“, fluchte der Dicke. „Wenn diese
Scheiß CD nicht bald wieder auftaucht, sind wir alle am Arsch!“
„Aber, wir können nichts dafür, Chef“; rechtfertigte sich einer der
beiden Ganoven. „Wie sollten wir ahnen, dass dieser schießwütige Django
plötzlich auftaucht.“ „Wisst ihr Pfeifen wenigstens, wer der Kerl
ist, an den Spengler die Disk weitergab?“ Die Männer sahen sich bärbeißig
an, doch es blieb ihnen nichts anderes übrig, als die Frechheit des Dicken
zähneknirschend zu schlucken. „Wir haben nur Spenglers Handy, aber leider
ist es bei dem Crash etwas in Mitleidenschaft gezogen worden. Schubert hat es
bereits in der Mache. Vielleicht lässt sich darin die Telefonnummer
rekonstruieren, mit der er den Kerl anrief?“
Sören Gustafsohn sprang trotz
seiner Leibesfülle wie ein Puma aus dem speziell für ihn angefertigten
Schreibtischstuhl. „Muss ich mich denn hier um alles selber kümmern?
Vielleicht wollen die Herrschaften hier so lange warten, bis sich der Typ hier
vorstellt und die Disk als Fundsache abgibt?“ Der Dicke hopste so
aufgeregt wie ein Flummi durch den Raum.
„Mensch, fahrt endlich los und dreht Spenglers Wohnung um, ehe es die
Bullen tun. Möglicherweise findet sich dort ein Anhaltspunkt, eine Notiz oder
ein Foto, über das wir dem Kerl auf die Spur kommen können.“
Die beiden Proleten verschwanden,
während sich der Dicke entnervt wieder in seinen Sessel sinken ließ. Nachdem er
einige Male tief durchgeschnauft hatte griff er zum Telefon und tippte eine
Nummer ein, die er nirgends niedergeschrieben hatte.
„Es gibt Schwierigkeiten.
Die betreffende Person wurde liquidiert, aber die Disk befindet sich leider
noch immer nicht in unserer Hand.“ Sören Gustafsohn hörte aufmerksam zu
und als der Teilnehmer das Gespräch beendet hatte, stand dem übergewichtigen
Mann hinter dem Schreibtisch der kalte Schweiß auf der Stirn. Wenn er geahnt
hätte, mit was für Leute er sich einließ, wäre er einen anderen Weg gegangen,
um seine Spielschulden zu begleichen. Immer wieder fuhr er sich mit beiden
Handflächen über das aufgedunsene Gesicht. War es das wirklich wert gewesen?
Der Dicke schlug mit der Faust auf seinen Schreibtisch, als wolle er sich selber
Mut machen. Sören Gustafsohn, da musst du
jetzt durch!
-7-
Ich stellte den alten Nissan
Bluebird vor dem Haus Nummer 14 in der Harzstraße ab. Es war das Auto von Artur
Spengler, in dem die Spurensicherung keinerlei Anhaltspunkte fand, die zur
Aufklärung des Verbrechens führen konnten. Der weiße Daimler, der quasi im
selben Moment hinter mir einparkte, war der Dienstwagen meines Freundes. Wir
hatten uns kurzerhand entschlossen, den Wagen des Opfers auf diese Weise nach
Wolfenbüttel zu überführen. Es war der einfachste Weg, um Spenglers
Hinterbliebenen wenigstens diesen, sicherlich mehr als unangenehmen Weg zu
ersparen.
„Ja bitte?“, hallte
es aus dem Lautsprecher neben der Haustür. „Frau Spengler?“, fragte
Jogi abwartend. „Wer will das wissen?“, erkundigte sich die Stimme
misstrauisch. „Entschuldigung, mein Name ist Wurzer,
ich bin von der Polizei und hätte Sie gern gesprochen.“ „Ist was
mit Artur?“ „Vielleicht sollten Sie besser öffnen, damit wir uns in
aller Ruhe unterhalten können.“ „Ja, ja, sofort“, entgegnete
die Stimme nun um einiges aufgeregter.
Jogi hielt der mehr als schlanken
jungen Frau in der Strickjacke seinen aufgeklappten Dienstausweis entgegen.
„Treten Sie bitte näher, meine Herren. Mein Lebensgefährte ist leider
noch nicht da. Er wollte noch etwas erledigen, aber er müsste jeden Moment da
sein. Kann ich Ihnen einstweilen etwas anbieten?“ „Nein danke, sehr
liebenswürdig“, lehnte mein Freund betreten ab. Ich hatte den Eindruck,
dass die junge Frau bereits ahnte, dass etwas Furchtbares geschehen war.
„Wir müssen Ihnen leider eine schlechte Nachricht übermitteln. Es ist
besser, wenn Sie sich setzen.“ „Ist er tot?“, fragte sie,
kaum dass sie in die Polster ihres Sofas gesunken war. Ihre Augen wanderten
eine Antwort suchend zwischen Jogi und mir hin und her.
„Ihr Lebensgefährte ist von
einem Auto erfasst worden“, erklärte mein Freund schließlich mit einem
dicken Kloß im Hals. „Unser aufrichtiges Beileid.“ Das Gesicht der
jungen Frau erstarrte. „Er hat nicht gelitten. Der Notarzt sagte, er sei
sofort tot gewesen.“ „Wie, wo?“, stammelte sie unter Tränen.
Möchten Sie ein Glas Wasser?“, mischte ich mich kurz ein. „Ja
bitte, in der Küche.“ „Über das Wie
können wir nicht viel sagen“, fuhr Jogi fort. „Die Ermittlungen
haben gerade erst begonnen. Es geschah auf der Bundesallee in
Braunschweig.“ Die junge Frau hob den Kopf. „Was wollte er denn
da?“ „Wir hofften, dass Sie uns etwas dazu sagen könnten.“
Sie schüttelte den Kopf. „Artur hat mich von unterwegs angerufen und
gesagt, dass es etwas später wird, weil er für die Firma noch einen wichtigen
Weg zu erledigen hat, aber er hat mit keiner Silbe erwähnt, dass er nach
Braunschweig fährt.“
Ich reichte ihr das Glas Wasser.
„Danke.“ „Er war also für seinen Arbeitgeber
unterwegs“, resümierte Jogi. Die junge Frau trank und nickte. Sie hatte
sich wieder etwas gefangen. Mein Freund zog sein Notizheft hervor. „Wo
war Ihr Lebensgefährte beschäftigt?“ „Bei der Media Software. Er
hat dort Büro- und Spielprogramme entwickelt.“ Jogi zeigte sich beeindruckt,
aber das war er immer, wenn es um Computer ging. „Gibt es sonst noch
Angehörige, die wir informieren sollten?“, erkundigte ich mich.
„Arturs Mutter lebt noch. Ich denke, es ist besser, wenn sie es von mir
erfährt“, stockte sie, erneut von einem Tränenschauer erfasst.
„Können wir sonst noch etwas für Sie tun?“, fragte Jogi
fürsorglich. „Ich möchte ihn noch mal sehen.“ „Wir müssen Sie
ohnehin um die Identifizierung bitten. Vor morgen Vormittag wird das allerdings
nicht möglich sein. Ich rufe Sie an, sobald die Rechtsmedizin den Leichnam
freigegeben hat.“
Jogi überreichte der jungen Frau
seine Karte und bat sie ihn anzurufen, falls sie doch noch Hilfe braucht, oder
für den Fall, dass ihr noch etwas einfiele, was von Bedeutung sein könnte.
Abschließend überreichte ich ihr den Autoschlüssel für den Wagen ihres
Lebensgefährten und wir verabschiedeten uns.
-8-
„Du hattest Recht, George.
Das ist tatsächlich der Typ mit der Plempe“, erkannte der kleinere der
beiden Killer. „Da haben wir voll in die Scheiße gegriffen, Alter“,
bemerkte der Jüngere. „Nur gut, dass wir die Bullen noch ins Haus gehen
sahen. Wäre eine ziemliche Überraschung gewesen, wenn wir plötzlich vor ihnen
gestanden hätten.“ Der Kleine zeigte auf sein Schießeisen und grinste.
„Ihre Freude wäre nur von kurzer Dauer gewesen.“ Sein Kumpel
schürzte ebenfalls die Lippen. „Wenn du keine bessere Idee hast, würde
ich mir jetzt gern die Wohnung ansehen.“
Nachdem der weiße Daimler mit den
beiden vermeintlichen Polizeibeamten abgefahren war, zog der Jüngere den
Schlüssel hervor, den er dem Toten abgenommen hatte. „Oder wollen wir
noch ein wenig warten?“ „Worauf?“, erwiderte der Ältere
bissig. „Keine Ahnung, aber mit irgendwem müssen die Bullen ja so lange
gequatscht haben.“ „Ist doch schön“, grinste sein Kumpan
spöttisch. „Ist doch möglich, dass uns dort oben eine kleine Entschädi-gung für unsere Unannehmlichkeiten
erwartet.“ Es dauerte einen Moment, bis Vasili kapierte. „Na, auf
das Mütterchen bin ich gespannt.“
Kurz darauf standen die beiden
Ganoven in der Tür zum Schlafzimmer von Manuela Wenzel. Die junge Frau lag
bäuchlings auf dem Bett ihres verstorbenen Lebensgefährten und schluchzte in
dessen Kissen. „Wir kommen, um dich zu trösten, Süße“, plärrte
einer der maskierten Männer unvermittelt los. Die Frau auf dem Bett erschrak
fast zu Tode. „Wie kommen Sie hier rein?“, fragte sie am ganzen
Körper zitternd. „Dein Lover war so nett, uns seinen Haustürschlüssel zu
überlassen. Mein smarter Kumpel hier und ich sollen uns ein wenig um dich
kümmern.“ „Trösten und so – du verstehst?“, grinste der
andere, ohne einen Zweifel an seinen Absichten aufkommen zu lassen.
„Verschwindet!“,
schrie Manuela. „Die Polizei hat gerade angerufen. Der Kommissar wird
jeden Moment hier sein.“ Vasili knuffte dem Älteren seinen Ellenbogen in
die Seite. „Ist sie nicht niedlich, die Kleine?“ „Die Bullen
sind gerade raus, Süße. Wir haben also eine Menge Zeit, um dich
aufzuheitern.“ Die junge Frau riss in ihrer Verzweiflung die Schublade
aus dem Nachtschränkchen und kramte eine Schere hervor. „Kommt mir nicht
zu nahe!“, rief sie. „Glaubt mir, ihr werdet keine Freude an mir
haben.“ „Uiii… jetzt bekomm ich
aber mächtig Angst.“ George gab seinem Kumpan per Handzeichen zu
verstehen, dass er sich dem Bett von der linken Seite aus nähern sollte,
während er es selbst von der Balkonseite aus probierte. Kichernd, sich einen
Spaß daraus machend, die junge Frau in Panik zu versetzen, kamen sie Schritt um
Schritt näher.
Manuela hatte sich in die Hocke
gesetzt. Die Schere wie ein Dolch in der rechten Faust, war sie bereit, sich so
teuer wie nur irgend möglich zu verkaufen. Trotz ihrer Trauer war der Instinkt,
sich zu verteidigen, größer denn je. Jetzt zählte nur noch der
Selbsterhaltungstrieb und der war bei der jungen Fitnesstrainerin besonders gut
ausgeprägt. Längst waren ihre Tränen jenem eiskalten Blick gewichen, mit dem
die Jungfrau von Orleans einst einen ganzen Krieg entschied.
„Ich lach mich tot, die
Kleine hat Rasse“, grunzte Vasili vor Vergnügen. „Buh!“,
versuchte er sie zu erschrecken. „Buh!“ Dabei geriet er unversehens
in die Reichweite der jungen Frau. Manuela stach in Todesangst zu und traf den
Killer heftig am linken Unterarm. „Verfluchtes Miststück!“,
schimpfte er, während er sich die Motorradhaube vom Kopf zog und seinen Arm
betrachtete. „Die Schlampe hat mich tatsächlich erwischt.“
George nutzte die kurze
Abgelenktheit Manuelas aus und schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht. Die
Fitnesstrainerin verlor das Gleichgewicht und krachte mit dem Hinterkopf gegen
die Wand. Die andere Hand des Killers traf ihr Handgelenk derart hart, dass
sich die Faust öffnete und sie die Schere verlor. „Hör zu, Mädchen,
entweder du sagst uns sofort wo dein Verblichener sein Papierkram aufbewahrt,
oder aber ich schicke dich dort hin, wo dein Liebster bereits ist. Vorher überlasse
ich dich allerdings noch meinem Freund, der sich sicher schon darauf freut,
sich mit dir zu trösten.“
Manuela hatte sich inzwischen so
weit von dem Schlag erholt, dass sie den ruhigen Worten des kleineren Mannes
folgen konnte. Sie versuchte kühlen Kopf zu bewahren. So war ihr sehr schnell
bewusst, dass sie diesen Überfall nicht überleben würde. Sie hatte das Gesicht
eines der Männer gesehen. Sie würden sie töten, daran bestand kein Zweifel.
Ihre einzige Hoffnung lag in der Zeit, die sie herausschinden musste, um dem
Schicksal vielleicht auf die Sprünge zu helfen. „Schauen Sie am besten in
Arturs Sekretär nach, vielleicht finden Sie dort, wonach Sie suchen.“
George ließ sich nicht lange bitten.“
-9-
Mein letzter Auftrag war
erledigt. Endlich hatte ich Zeit, um die neue Wohnung nach meinem Geschmack zu
renovieren. Viel war eigentlich nicht zu tun, aber der Teppichboden im
Wohnzimmer sollte durch Laminat ersetzt werden und
die Raufasertapete in der Küche brauchte einen neuen Anstrich. Während Trude
bereits seit einigen Tagen damit beschäftigt war, die Wohnspuren der
Vormieterin zu beseitigen, karrte ich nach und nach die Möbel heran, die ich in
meiner alten Garage in Braunschweig untergestellt hatte. Auch wenn es nur eine
neue Wohnung war, die ich bezog, so brachte sie doch endlich den lange
ersehnten Neuanfang für mein privates Leben mit sich.
Ich hatte mich von Jogi beim
Mietwagencenter absetzen lassen und war nun mit dem Pritschenwagen vor der
Detektei vorgefahren, um die Schlüssel für die Garage zu holen. Plötzlich kam
mir ein Gedanke, der Unbehagen in mir auslöste. Meines Wissens war in den
Taschen Artur Spenglers nur der Schlüssel zu seinem Auto gefunden worden, doch
was war mit den Wohnungsschlüsseln? Nahm nicht jeder, der morgens das Haus
verlässt, den Schlüssel mit, um wieder hineinzukommen? Ich führte mir die
Aussage des Tatzeugen ins Gedächtnis zurück. Hatte seinen Aussagen zu Folge
nicht einer der Gangster die Taschen des Opfers durchsucht? Wenn meine
Vermutungen zutrafen, befand sich Spenglers Lebensgefährtin möglicherweise in
ernster Gefahr. Ich rief Jogi an, um ihm meine Befürchtung mitzuteilen.
„Mir liegt leider noch
keine Aufstellung der Spuri vor. Wenn du tatsächlich
Recht hast… Ich werde mich umgehend darum kümmern. Sobald ich näheres
weiß, melde ich mich.“ Unser Gespräch war beendet, doch das dumpfe Gefühl
in meiner Magengegend war nach wie vor da. Im Gegenteil, es wurde immer
drückender und so beschloss ich kurzerhand, noch einmal bei der jungen Frau
vorbei zu sehen. Ihre Adresse war schließlich nicht weiter als fünf Minuten von
der meinen entfernt.
Da die Harzstraße eine
Einbahnstraße ist, die nicht durchgängig in eine Richtung befahren werden kann,
musste ich zunächst über den Harztorwall fahren, um zu der Hausnummer 14 zu
gelangen. In Höhe des Heckners Verlages fand ich
einen Parkplatz. Mir fiel sofort ein weißer Camaro auf, der auf die vage
Beschreibung unseres Zeugen passte. Da war sie wieder, die beklemmende Angst,
zu spät zu kommen. Es war dasselbe Gefühl, welches ich hatte, als ich meinen
Partner verlor. Mit ihm kam die Gewissheit noch längst nicht darüber hinweg zu
sein.
Schni
– schna – schnappi!
Der Klingelton meines Handys riss mich aus diesen unseligen Gedanken. Es war
mein Freund, der mir mitteilte, dass weder sein Partner noch die Leute von der Spuri bei der Leiche ein Schlüsselbund gefunden hatten. Der
Versuch, die Lebensgefährtin des Opfers zu warnen, war leider misslungen. Es
ging niemand ans Telefon. Jogi schien nicht weniger beunruhigt darüber als ich.
Als er hörte, dass ich meine Zelte vor der Tür besagter Dame bereits
aufgeschlagen hatte, schien er noch besorgter zu sein.
„Du wartest dort auf
mich!“, tönte er mit allem Nachdruck durchs Telefon. „Ich bin in 15
Minuten da.“ Ehe ich etwas sagen konnte, war unser Gespräch beendet und
ich stand da, unbeholfen wie ein Tropf. Was war, wenn die Gangster tatsächlich
bereits dort oben waren, um zu vollenden, was sie vor Stunden begonnen hatten.
Spenglers Lebensgefährtin musste irgendetwas wissen, was ihrem Auftraggeber
schaden konnte. Als ich mir vorstellte, wie sie die arme Frau unter Druck
setzten, konnte ich nicht länger warten.
Ich legte den Daumen auf einen
der anderen Klingeldrücker und läutete Sturm. Es dauerte nicht lange, bis eine
resolute Dame an einem der Fenster im Parterre erschien und sich lauthals
entrüstete. „Sind Sie noch recht bei Trost, junger Mann? Eine alte Frau
ist doch kein D-Zug!“ „Das ist ein Notfall, bitte öffnen Sie die
Tür!“, entgegnete ich, ohne auf ihre Worte einzugehen. „Ha, da
könnte ja jeder kommen. Ich sehe mir regelmäßig Aktenzeichen XY an, mit dem
netten Rudi… Ich komm jetzt nicht auf den Namen – na egal,
jedenfalls wird dort oft genug vor solchen Spitzbuben gewarnt.“
„Hören Sie, gute Frau, ich bin Privatermittler und in der Wohnung von
Herrn Spengler liegt ein Notfall vor. Bitte drücken Sie aufs Knöpfchen und
lassen mich herein. Es geht um jede Minute.“ „Sind Sie wirklich so
ein Matula?“ Ich hätte mir die Haare raufen können. „Ja, bin ich
und wenn Sie mich jetzt hereinlassen, werde ich ihnen nachher Geschichten
erzählen, dass Ihnen Augen und Ohren übergehen.“
„Versprochen?“ „Ein Detektiv – ein Wort!“
Endlich schlug der Summton des
Türöffners an. Der Weg ins Treppenhaus war frei. Ich stürmte die knarrenden Holztreppen
empor, zu der Wohnung von Artur Spengler und seiner Lebensgefährtin. Genau in
dem Moment, in dem ich vor der Tür anlangte, vernahm ich einen spitzen Schrei,
der urplötzlich erstarb. War dies der Beweis für die Richtigkeit meiner
Befürchtungen? Wenn es so war, konnte ich nicht einfach wie ein Berserker die
Tür eintreten und wild um mich schießend in die Wohnung stürmen. Andererseits
konnte ich mich ebenso wenig für einen Handwerker oder den guten Nachbarn
ausgeben, der mal schnell nach dem Rechten sehen wollte. Wenn hinter dieser Tür
dieselben Ganoven zu Gange waren, mit denen ich mir kurz zuvor einen
Schusswechsel geliefert hatte, wäre ich sofort aufgeflogen. Nein, ich musste
mir irgendetwas anderes einfallen lassen.
Immer den Gedanken im Nacken, in
der Wohnung könnte etwas Schreckliches geschehen, zermarterte ich mir das Hirn.
Letztendlich fiel mir der Balkon ein, den ich bei meinem ersten Besuch bemerkt
hatte. Er war Teil einer Stahlkonstruktion, die an der Rückseite des Hauses
angebaut war. Ich musste also in die Wohnung im Parterre, um über die Stützen
nach oben zu gelangen. Selbst wenn die Balkontür verschlossen war, konnte ich
zumindest sehen, was in der Wohnung vor sich ging. Ich musste also noch einmal
bei der alten Dame Sturm klingeln.
„Da wird doch der Hund in
der Pfanne verrückt“, hörte ich sie durch die noch geschlossene Tür
wettern. „Ach Sie schon wieder“, hörte ich sie sagen. „Ihr jungen Leute heutzutage habt einfach keine Zeit
mehr.“ „Tut mir Leid, aber ich muss auf ihren Balkon“, stürmte
ich an ihr vorbei. „Auf meinen Balkon?“, fragte sie verdutzt.
„Was wollen Sie denn da?“, kam sie mir nachgerannt. „Ich muss
sehen, was dort oben vor sich geht.“ „Na, dann kommt ja doch noch
etwas Leben in die Bude. Ich koche uns inzwischen einen Kaffee.“
Während ich mich über die
Metallstreben der Balkonkonstruktion in die Höhe hangelte, fiel mein Blick
unversehens auf die Zeiger meiner Armband-uhr. Seit
dem Gespräch mit Jogi waren knapp zehn Minuten vergangen. Er musste also bald
eintreffen. Nichtsdestotrotz musste ich wissen, was dort oben vor sich ging.
Vorsichtig und so lautlos wie eine Raubkatze glitt ich über das Geländer.
Niemand hatte mich gesehen, niemand hatte mich gehört. Tageslicht spiegelte
sich in der Glasscheibe der Balkontür, machte es notwendig, dass ich beide
Hände seitlich an die Stirn legte, um im Inneren der Wohnung etwas sehen zu
können.
Spenglers Lebensgefährtin kauerte
gefesselt und geknebelt auf dem Bett. Ein mir unbekannter Mann stand ihr
unmaskiert gegenüber. Er hielt ein Handtuch, welches er auf seinen Unterarm
presste. „Bete zu Gott, dass wir finden, wonach wir suchen“, hörte
ich ihn in südländischem Akzent durch die einen Spalt breit geöffnete Balkontür
drohen. „Du weißt, was dir sonst blüht, Miststück.“ Die junge Frau
weinte unterdessen ohne Unterlass. Ein Wunder, dass sie sich überhaupt noch so
gut hielt, nach allem, was an diesem Tag auf sie eingeströmt war.
In diesem Moment trat der zweite
Gangster in den Raum. Er war sichtlich erzürnt. Auf Grund seiner Größe und der
Art, wie er sich bewegte, erkannte ich in ihm einen der Männer, die an der
Schießerei beteiligt waren. „Meine Geduld ist am Ende! Ich habe dich
gewarnt! Wo ist die Disk?“ Für einen Moment nahm er der Frau den Knebel
aus dem Mund. Bevor sie antworten konnte, jappte sie nach Luft. „Aber ich
habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich nichts von einer CD weiß. Artur ist
gleich von der Arbeit aus nach Braunschweig gefahren. Vielleicht ist das,
wonach Sie suchen, noch im Auto?“ Der kleinere der beiden Männer trug
eine Motorradhaube. Er griff sich an den Kopf, wie jemand, dem gerade sämtliche
Schuppen vor den Augen abfielen.
„Die Karre von dem Kerl.
Die haben wir völlig vergessen.“ „Der Wagen steht unten vor dem
Haus. Die Polizeibeamten haben ihn mir vorhin gebracht“, erklärte Manuela
in der Hoffnung, die Gangster nun los zu werden. „Sieh an, die Bullen,
immer dein Freund und Helfer“, machte sich der Mann mit dem südländischen
Akzent lustig. „Blödmann“, entgegnete der andere unwirsch. Wenn die
Bullen die Karre in der Mache hatten, ist die Disk bestimmt nicht darin zu
finden.“ „Und wenn doch?“, zuckte der Größere.“
„Der Schlüssel hängt im Flur, am Haken“, erklärte die Frau auf dem
Bett, in der Hoffnung, dass die beiden Gangster die Wohnung verließen.
„Also schön, ich werde nachsehen.“ Er stopfte ihr den Knebel wieder
in den Mund und wandte sich seinem Kumpel zu. „Du hältst hier oben so
lange die Stellung.“ „Es wird mir ein besonderes Vergnügen
sein“, grinste der Unmaskierte lüstern.
Besorgt beobachtete ich, was
weiter geschah. Der Kleinere war kaum zur Tür heraus, als sich sein Kumpan auch
schon dem Bett der jungen Frau näherte. Ich ahnte, was kommen würde. „So,
nun zu uns zwei Hübschen“, sagte der Südländer mit stechend frivolen
Blick. Die Frau auf dem Bett versuchte sich noch kleiner zu machen, zog ihre
Beine dicht an ihre Brust. Angesichts dessen, was sie nun erwarten würde,
schüttelte sie immer wieder panisch den Kopf. „Je mehr du dich zierst, du
kleines Miststück, desto mehr reizt du mich.“
Es fiel mir schwer, mich zurückzuhalten.
Immer wieder sah ich zur Uhr, hoffte, dass Jogi bald einträfe, doch wenn man
die Sekunden zählt, hat man das Gefühl, die Zeit bliebe stehen. Als dieser
Kretin jedoch seine Hose fallen ließ und seinem hilflos wimmernden Opfer die
Beine spreizte, gab es kein Halten mehr. Noch während ich hinter der Mauer
vorsprang, schlug er ihr ins Gesicht, um ihren Widerstand zu brechen. Das
Überraschungsmoment auf meiner Seite, warf ich die Balkontür zur Seite,
katapultierte mich mit ein, zwei schnellen Sätzen in die Höhe und warf mich
diesem Teufel in Menschengestalt entgegen.
Meine Faust krachte ihm mitten
ins Gesicht, ließ ihn in seiner Bewegung erstarren und schließlich unter mir
zwischen Bett und Wand zu Boden gehen. Meinem ersten Schlag folgten weitere, die
den Ganoven vollends außer Gefecht setzten. Spenglers Lebensgefährtin kauerte
verängstigt, zusammenge-rollt in der äußersten Ecke
des Bettes und starrte mich apathisch an. Ich nahm ihr vorsichtig den Knebel
aus dem Mund und löste ihre Fesseln, die ich gleich wieder dazu verwandte, um
den perversen Unhold zu fixieren.
„Nehmen Sie die
Decke“, sprach ich die Ärmste mit ruhigen Worten an. „Sie können
sich noch an mich erinnern?“, fragte ich, während ich ihr beim Aufstehen
half. „Ich war vorhin mit Hauptkommissar Wurzer
bei Ihnen.“ Ihr zögerliches Nicken verriet mir, dass sie langsam wieder
zur Besinnung kam. Dennoch musste ich sie stützen, als wir ins Wohnzimmer
hinüber gingen. Den Ganoven hatte ich gut verpackt am Bett verzurrt. Er musste
sich so lange gedulden, bis er von der Polizei in Gewahrsam genommen
wurde.
„Hast du den anderen
Ganoven unten erwischt?“, fragte ich meinen Freund, als dieser endlich in
der Wohnungstür auftauchte und mir reichlich verdutzt gegenüberstand.
„Wieso den anderen?“, fragte Jogi verwundert. „Wieso bist du
überhaupt hier oben?“ „Weil ich handeln musste.“ Ich deutete
mit den Augen auf das Wohnzimmer. Mein Exkollege hatte mich auch ohne viele
Worte verstanden. „Der Kerl liegt handlich verpackt im Schlafzimmer“,
rühmte ich mich, nicht ohne dabei eine gewisse Genugtuung zu empfinden.
„Den anderen Vogel hast du ja wohl unten davonflattern
lassen“, witzelte ich, während ich dem Südländer unsanft auf die Beine
half. „Du hattest vergessen, ihn vorher zu beringen. Wie sollte ich also
wissen, dass er aus dem gleichen Schlag stammt wie dieser hier?“
„Solche Vögel erkennt man an ihrem Gefieder“, setzte ich noch einen
drauf.
-10-
„Habe ich es denn nur noch
mit unfähigen Idioten und Dilettanten zu tun?“, wetterte der Dicke.
„Wenn dein Kumpel auspackt, sind wir alle geliefert.“ „Keine
Angst, Boss, Vasili hält dicht.“ „Ich habe keine Angst, aber du
solltest welche haben. Wenn dein Kumpel nämlich quatscht, wirst du der Erste
sein, der es zu spüren bekommt. Hast du wenigstens herausgefunden, wer der Typ
ist, mit dem sich Spengler treffen wollte?“ „Ich bin mir nicht
sicher.“ George holte ein Foto hervor, das er im Sekretär des
Softwareentwicklers gefunden hatte. Er deutete auf einen jungen Mann mit wirrem
Haar, unter dem der Name Felix Nette geschrieben stand. „Ich glaube, es
war der hier.“
Gustafsohn rümpfte die Nase.
„Na, wenigstens deckt sich dies mit den Recherchen, die Schubert gemacht
hat. Allem Anschein nach hat der Typ mit Spengler zusammen die Schulbank
gedrückt. Bleibt nur noch die Frage, wer der Kerl ist, zu dem sich dieser Nette
ins Auto flüchtete.“ „Das muss ein Bulle sein, Boss.“
„Wie auch immer, um den kümmerst du dich später. Jetzt ist erst einmal
die CD wichtiger. Mach diesen Nette ausfindig und mach ihm klar, dass es
gesünder für ihn ist, wenn er die Disk herausrückt.“ „Auf die
sanfte Tour?“, fragte George grinsend. „Wie du es anstellst, ist
egal, nur bring mir endlich die CD.“
-11-
Dafür, dass ich im Grunde gar
nichts mit der Sache zu tun hatte, konnte ich ausgesprochen zufrieden mit
meiner Arbeit sein. Dass ich wegen dieser Geschichte wertvolle Zeit im
Polizeipräsidium auf der Lindener Straße vergeuden
musste, gefiel mir weniger gut. Daran änderte auch die adrette Schwarzhaarige
nichts, die just in diesem Moment mit tanzenden Hüften an mir vorbeiflanierte.
Zumindest lenkte sie mich für einige Augenblicke von meinem schlechten Gewissen
ab, welches ich mir wegen Trude machte. Schließlich hatte ich die gute Seele
mit der ganzen Umzugsplackerei allein zurückgelassen.
Tim Sinner,
der neue Kommissar an Hauptkommissar Kleinschmidts Seite, trat zu mir auf den
Flur heraus. Endlich wurde ich hereingebeten. „Hauptkommissar Wurzer hat uns alles erklärt“, sagte Kleinschmidt
gelassen. „Beachtlich, beachtlich, verehrter Herr Meisterdetektiv“,
lobte er in seiner jovial, arroganten Art. „Da haben Sie ja geradezu
heldenhaft gehandelt.“ „Ich habe nicht mehr als meine
staatsbürgerliche Pflicht getan“, entgegnete ich beflissentlich.
„Trotzdem benötigen wir selbstredend eine detaillierte Aussage von Ihnen,
die wir natürlich an Ort und Stelle protokollieren müssen. Als guter
Staatsbürger wird Ihnen sicherlich daran gelegen sein, dass der Täter nicht
ungeschoren davon kommt.“ „Selbstverständlich verehrter Herr
Hauptkommissar“, entgegnete ich nicht weniger pomadig.
Der Mann mit dem breiten
Schnauzer lächelte, als ich ihm von der resoluten Dame berichtete, die
wahrscheinlich noch immer mit ihrem frisch aufgebrühten Kaffee auf mich
wartete, um sich einige haarsträubende Storys aus meinem Leben als Privatermittler
anzuhören. Er folgte mir aufmerksam, als ich erzählte, was sich im Schlafzimmer
des Opfers abspielte und er spitzte die Ohren, als ich schilderte, wie der
Tatverdächtige der jungen Frau zugesetzt hatte.
„Nun noch ein paar Worte in
eigener Sache, verehrter Herr Lessing“, fuhr Kleinschmidt fort, nachdem
ich das Protokoll unterschrieben hatte. „Es mag sein, dass Ihr Eingreifen
in diesem speziellen Fall Schlimmeres verhindert hat, doch für die Zukunft
empfehle ich Ihnen, auf die Polizei zu warten. Wir leben in einem Rechtsstaat,
in dem keinerlei Selbstjustiz geduldet wird.“ Jogi und ich sahen einander
an. „Ich habe nichts anderes als Nothilfe geleistet“, erwiderte ich
kopfschüttelnd. Es lag mir fern, mich an dem Tatverdächtigen zu rächen.“
Kleinschmidt sah mich durchdringend an. „In Anbetracht der Schießerei bei
der PTB bin ich mir da nicht so sicher.“ Ich sprang empört auf.
„Diesen Blödsinn muss ich mir nicht anhören!“
Wutentbrannt verließ ich
Kleinschmidts Büro. Anstatt froh zu sein, dass dem Opfer nicht noch mehr Leid
zugefügt worden war, machte mir der arrogante Pinsel auch noch Vorhaltungen.
Ich war mehr als bedient. „Sind Sie nicht Herr Lessing“, vernahm
ich plötzlich eine mehr als erotische Stimme. Als ich mich herumdrehte, war mein
Zorn wie weggeblasen. Vor mir stand genau die rassige Schwarzhaarige, wegen der
ich mir zuvor fast den Kopf verrenkt hatte.
„Worum geht es?“,
fragte ich neugierig. „Nun, ich bin erst kürzlich nach Wolfenbüttel
gezogen und da Ihnen ein gewisser Ruf vorauseilt, dachte ich, Sie könnten mir
ein wenig von dieser hübschen Stadt zeigen.“ Ich tippte mich fragend an
die Brust. „Sind Sie sicher, dass Sie den richtigen meinen?“
„Hundertprozentig“, entgegnete die attraktive Lady. „Es sei
denn, Sie sind nicht der Lessing, der vor einigen Wochen den faulen Apfel aus
dem Korb entfernte.“ Jetzt verstand ich nur noch Bahnhof. Gute Frau, Sie sprechen in Rätseln.“
„Also, den Detektiv, der einen Polizeibeamten enttarnt und dingfest
macht, habe ich mir etwas kombinationssicherer vorgestellt.“ Endlich
wusste ich, worauf meine Gesprächspartnerin abzielte. „Wenn Sie von
Kommissar Schneider sprechen, möchte ich weniger von einem faulen Apfel als
vielmehr von einer fehlgeleiteten Seele sprechen. Letztendlich waren es seine
eigenen Ideale, die ihm das Genick brachen. Wenn Sie mich fragen, ist Schneider
nicht mehr als ein armes Würstchen.“ * Ich stutzte. „Aber sagen
Sie, woher wissen Sie das eigentlich?“
Die schwarzhaarige Schönheit
wollte gerade antworten, als sich die Tür zu Kleinschmidts Büro öffnete und der
Hauptkommissar in voller Größe leibhaftig vor uns stand. „Sie sind ja
immer noch hier, Lessing und wie ich sehe, haben Sie sich bereits mit
Staatsanwältin Herz bekannt gemacht.“ Mir klappte die Kinnlade herunter.
„Bei Frau Herz werden Sie
mit Ihren Extratouren ganz bestimmt nicht mehr durchkommen.“
„Stimmt“, betätigte die neue Staatsanwältin. „Ich werde Herrn
Lessing heute Abend beim Essen ganz gehörig die Leviten lesen. Sie können Ihren
Mund jetzt übrigens wieder schließen. Wäre es Ihnen recht, wenn ich Sie gegen
20 Uhr vor Ihrer Detektei abhole? Ein Auto haben Sie ja wohl nicht mehr, wenn
ich richtig unterrichtet bin.“ Ich lächelte dem Hauptkommissar
triumphierend ins Gesicht. „Ja, da muss ich wohl der Obrigkeit Gehorsam
leisten.“
*Im Banne der Dämonen.
-12-
Felix Nette hatte sich unweit
seiner Arbeits- und Wirkungsstätte ein repräsentatives Einfamilienhaus gebaut.
Seine Forschungsarbeit bei der physikalisch technischen Bundesanstalt war
geachtet, von den Kollegen anerkannt und sein Job daher gut bezahlt. An diesem
Nachmittag kehrte Felix Nette früher als gewöhnlich nach Hause und in seiner
Begleitung war auch keiner der Praktikanten, mit denen er manchmal auch zu
Hause noch arbeitete, sondern Kommissar Mohamed Hariri, der ihm als
Personenschutz zur Seite gestellt war. Hauptkommissar Wurzer
hatte auf diese Vorsichtsmaßnahme bestanden. Ahnte er womöglich, dass Felix
Nette in unmittelbarer Gefahr schwebte?
Birgit erwartete ihren Mann und
seinen Begleiter bereits vor der Haustür. Sie war mehr als nervös und sie
brannte darauf, alle Einzelheiten zu erfahren. Felix hatte seine Frau vom
Polizeipräsidium aus angerufen und schonend auf das Unglaubliche vorbereitet.
Dass er damit jedoch genau das Gegenteil von dem bewirkte, was er eigentlich
erreichen wollte, hätte er wissen müssen.
„Mein Gott, Felix“,
schloss sie ihn schließlich in die Arme. „Bist du in Ordnung?“
„Aber ja“, löste er sich peinlich berührt aus ihrem Klammergriff.
Er konnte es nicht ausstehen, wenn sie ihre breiten Flügel schützend über ihn
ausbreitete. „Wie du siehst, lebe ich noch und damit dies so bleibt, wird
dieser junge Mann…“ Er wandte sich dem gebürtigen Tunesier mit
deutschem Pass zu. „…über Nacht bei uns bleiben.“ Birgit legte
ihre Hand über den geöffneten Mund. „Glauben Sie, dass es diese
Verbrecher wieder versuchen?“ Hariri zuckte mit den Schultern. „Es
ist nicht auszuschließen, aber für diesen Fall bin ich ja da. Sie brauchen also
nicht die geringste Angst zu haben.“
Birgit Nette traute dem Frieden
nicht so recht. Sie sah durch das große Blumenfenster in den Garten hinaus.
Nicolette spielte mit ihrem kleinen Jack Russel. Seit sie den Hund zu ihrem
siebten Geburtstag bekommen hatte, waren die beiden unzertrennlich.
„Setzen Sie sich doch Herr Hariri. Das Essen ist gleich fertig, kann ich
Ihnen einstweilen etwas zu trinken anbieten?“ „Ein Mineralwasser
wäre jetzt tatsächlich nicht schlecht.“ Birgit verschwand in der Küche,
um kurz darauf mit einer Flasche und drei Gläsern ins Wohnzimmer zurückzukehren.
„Was wollen diese Leute überhaupt von dir? Geht es um deine
Arbeit?“ „Nein, ein ehemaliger Studienfreund, du kennst ihn nicht,
suchte mich plötzlich gegen Mittag auf. Bevor er mir jedoch den Grund für
seinen Besuch nennen konnte, wurde er vor meinen Augen über den Haufen
gefahren.“ Birgit wurden die Knie weich. Sie stellte die Flasche ab, um
sich erst einmal zu setzen. „Um Himmels Willen, das ist ja
schrecklich.“
„Was immer der Grund für
diese Tat war“, mischte sich Kommissar Hariri in das Gespräch ein.
„Die Gangster sind offenbar nicht an ihr Ziel gelangt. Wie wir inzwischen
wissen, wurde die Lebensgefährtin des Opfers unterdessen von den vermeintlichen
Killern zu Hause aufgesucht.“ „Wenn Sie mich fragen, suchen die
doch nach irgendetwas“, kombinierte Birgit. „Nach den Angaben der
Frau suchten die Ganoven tatsächlich nach einer CD. Mein Kollege,
Hauptkommissar Wurzer und der Detektiv, zu dem Sie
ins Auto flüchteten, konnten das Schlimmste verhindern.“ Nette nickte
anerkennend. „Dieser Privatermittler scheint offenbar die seltene Gabe zu
besitzen, stets zur rechten Zeit am richtigen Ort zu sein.“
Felix Nette erhob sich.
„Bitte entschuldigen Sie mich einen Augenblick.“ Schlagartig war
ihm bewusst geworden, wie brisant die Disk in seiner Tasche eigentlich sein
musste. Artur Spengler hatte für die kleine glitzernde Scheibe sein Leben
verloren und letztendlich war auch auf ihn geschossen worden. Wenn er doch nur
eine andere Wahl gehabt hätte, aber die Schulden für die teuren Medikamente
seiner Tochter und all die anderen Verpflichtungen waren ihm längst über den
Kopf gewachsen. Mit der Disk hatte er endlich die Möglichkeit all dies hinter
sich zu lassen und vor allem bestand die Möglichkeit, Nicolette in den
Vereinigten Staaten operieren zu lassen. Noch wusste er nicht, wie er Kapital
aus der Sache schlagen konnte, aber wenn er sich den Inhalt der Disk erst
einmal angesehen hatte, würde er sicher einen Hinweis darauf finden, wie sie
ihm genug Geld einbringen konnte, um seinem Sonnenschein die teure Operation zu
ermöglichen.
Der Mann mit dem strubbeligen
Haar sah sich im Badezimmer um. Er suchte nach einem geeigneten Versteck für
die CD. Letztendlich fiel sein Blick auf die Revisionsöffnung seiner Badewanne.
Fürs Erste würde dieses Versteck reichen. Sowie er mehr Zeit hatte, wollte er
sich nach einem sichereren Ort umsehen. Er nahm eine Münze aus dem Portmonee
und löste damit die Schraube mit dem breiten Schlitz, die sich in der Mitte der
Fliesenabdeckung befand. Schließlich legte er die Schutzhülle mit der CD in das
Loch und verschloss es wieder. Dann kehrte er ins Wohnzimmer zurück.
Während sich in der kleinen Villa
der Nettes die Lage bei einem leckerem Abendessen und einem kleinen Gläschen
Rotwein zunehmend entspannte, tippte etwa einhundert Meter vom Haus entfernt
ein Mann nervös mit den Fingern auf dem mit Leder bezogenen Sportlenkrad eines
Camaros herum. Es fiel ihm von Minute zu Minute schwerer, sich in Geduld zu
fassen. So wurde mit einsetzender Dunkelheit aus dem Tippen ein Trommeln, bis
ihm irgendwann der Kragen platzte und er es nicht länger auf dem Sitz aushielt.
Wie sollte er auch ahnen, dass
der Kerl, der aller Wahrscheinlichkeit nach die CD an sich genommen hatte, mit
einem Bullen im Schlepptau nach Hause zurückkehrte. Und daran, dass der Kerl
ein Bulle war, bestand für George kein Zweifel. Diese Sippe roch er auch noch
zweihundert Meter gegen den Wind. Er galt unter seinen Berufskollegen nicht
umsonst als umsichtig und besonnen, was nicht zuletzt auf seine gute Nase und
den ausgeprägten Instinkt zurückzu-führen war. Leider
gehörte Geduld nicht unbedingt zu Georges Tugenden, was zur Folge hatte, dass
er sich, kaum dass die Dunkelheit seine Spuren verwischte, durch den
angrenzenden Garten der Nachbarvilla zum Grundstück der
Nettes schlich.
Von seinem Standort, hinter zwei
mannshohen Thuja Bäumchen, hatte er einen guten Blick auf die Terrasse und
durch das große Fenster ins Wohnzimmer. Im Hintergrund lief irgendeine dieser
völlig überzogenen amerikanischen Serien ohne Sinn und Verstand. George hasste
alles, was über den großen Teich herüberschwappte. Er war mit Herz und Seele
Chauvinist, was ihm auch den Beinamen Patriot eingetragen hatte.
Da stand er also, der
Vaterlandsfreund, zwischen den beiden Thujas, die
auch nicht aus den heimischen Wäldern stammten und wartete darauf, dass der
multikulturelle Polizeibeamte endlich seinen Dienst beendete.
Etliche Zigarettenlängen später
tat sich endlich wieder etwas im Wohnzimmer der Nettes.
George warf die Kippe zu den anderen Stummeln, die bereits zu seinen Füßen
lagen. Die Anspannung in ihm wuchs. Der Fernsehaperrat wurde ausgeschaltet.
Felix Nette und seine Frau erhoben sich ebenso wie der dunkelhaarige Bulle.
Endlich räumte der Kerl das Feld. George zog noch einmal das Magazin seiner
österreichischen Glock heraus und kontrollierte es.
Reine Angewohnheit. Die vollen achtzehn Schuss standen ihm zur Verfügung. Man
wusste ja nie. Dann machte er sich bereit, doch was war das? Der Kerl machte
sich gar nicht bereit, um das Haus zu verlassen. Georg beobachtete, wie er eine
Decke entgegennahm, die er auf dem Sofa platzierte. Er verfluchte diesen Bullen
und mit ihm die ganze Polizei. Es stellte sich die Frage, ob es nicht
sinnvoller war, die schlafenden Hunde schlafen zu lassen.
-13-
Als pünktlich um 20 Uhr ein Auto
vor dem Haus hupte, wusste ich, dass es nicht nur ein merkwürdiger Traum war.
Eine äußerst attraktive und vor allem hoch interessante Frau holte mich zu
einem, wie ich fand, außergewöhnlichen Rendezvous ab. Nun, ich bin nicht
unbedingt ein Mann, der sich an alte Traditionen klammert, aber die Art und
Weise, wie dieses Stelldichein zustande gekommen war, nötigte mir in gewisser
Hinsicht Respekt ab. Die Welt befindet sich im Umbruch.
„Guten Abend“,
begrüßte ich die neue Staatsanwältin etwas zu bieder, als ich zu ihr ins Auto stieg.
Ohne Frage, die Frau hatte Geschmack. Der Audi TT war alles andere als eine
nullachtfünfzehn Karosse. Der Sportwagen passte zu seiner Besitzerin, wie ich
bereits nach unserem ersten Gespräch am Nachmittag glaubte, feststellen zu
können. Er war nicht weniger rassig und mindestens genauso temperamentvoll wie
sie. „Schön, dass Sie sich für heute Abend frei machen konnten“,
trällerte sie gut gelaunt. „Ich hoffe, Sie mussten meinetwegen niemanden
versetzen?“ Es war verblüffend, wie zielstrebig diese Frau zu Werke ging.
„Ich bin allein stehend“, entgegnete ich, nicht weniger forsch.
„Sie können also ganz beruhigt sein.“ „Schön, dann bin ich
gespannt, wohin Sie uns nun führen werden.“
So beschaulich die alte
Lessingstadt auch wirkt, so vielfältig ist ihr Angebot an exzellenter Küche. Ob
es das war, was den berühmten Dichter und Bibliothekar einst nach Wolfenbüttel
trieb und ihn die ebenso bedeutende Bibliotheka
Augusta ins Leben rufen ließ, oder die Liebe, entzieht sich meiner Kenntnis.
Fakt ist nur, dass er an dieser Stelle die wohl schönsten, aber auch
tragischsten Jahre seines Lebens verbrachte. Das zumindest hatte ich mit meinem
Namensvetter gemein. Nach meiner Trennung von Monika war auch ich in ein Tal
tiefer Depressionen eingetaucht. Eine Frau wie Miriam Herz war da genau die
richtige Medizin.
Sie stoppte den Audi TT vor einem
chinesischen Restaurant am Wendessener Berg. Das Sun gehörte sicherlich zu den besseren Adressen
asiatischer Kochkunst. Zumindest war dies die vorherrschende Meinung in meinem
Bekanntenkreis. Wie auch immer, das von chinesischer Kunst bestimmte Ambiente
stimmte meine Begleitung zumindest schon einmal positiv ein.
„Ehrlich gesagt, hätte ich
hier nicht ein solches Restaurant erwartet“, zeigte sich Miriam angenehm
überrascht. „Wenn das Essen hält, was Konfuzius verspricht…“
„Ich weiß nicht, in wie weit dieser chinesische Gelehrte Einfluss auf das
Essen nimmt, ich weiß allerdings, dass er dazu rät, sich nach dem Essen
körperlich zu betätigen.“ Die Staatsanwältin stutzte. Ich griente
verschmitzt. „Ich würde vorschlagen, nach dem Essen in den Keller zu
wechseln, um auf der hauseigenen Kegelbahn einige ruhige Kugeln zu
schieben.“ Miriam starrte mich ungläubig an. „Kegeln? Ein
chinesisches Restaurant mit einer Kegelbahn? Was für eine entzückende Idee.
Meine Güte, wissen Sie wann ich das letzte Mal…?“ „Ich kann
nur hoffen, dass es eine Weile zurückliegt, damit ich neben Ihnen nicht ganz so
blass aussehe.“
Das Essen war ausgesprochen
lecker, unsere Gespräche wurden mit jedem Reisschnaps lockerer und die
Glückskekse verkündeten den Beginn einer Romanze. Wobei diese Vorraussagung
sicherlich auf jedem Glückszettel stand, der an diesem Abend gelesen wurde.
Vielleicht trug dieses kleine Stück Papier dazu bei, dass Miriam und ich kurz
darauf Brüderschaft miteinander tranken. Vielleicht war es aber auch der
Schnaps, von dem wir eindeutig das eine oder andere Gläschen zuviel erwischt
hatten. Wie auch immer, an diesem Abend kamen wir jedenfalls beide auf unsere
Kosten. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals zuvor so viel Spaß beim
Kegeln hatte, obwohl sicherlich nie zuvor so viele Pumpen geworfen wurden.
Besonders beeindruckt war ich jedoch von der Unbekümmertheit mit der mir Miriam
begegnete.
Immerhin waren wir vernünftig genug,
den Audi stehen zu lassen und uns ein Taxi zu rufen. Dass dieses Taxi dann
allerdings nur bis zur Jägermeisterstraße fuhr, war so eigentlich nicht
vorhersehbar. „Du bringst mich aber noch ins Bett“, lallte sie,
während der Wagen vor dem Hochhaus stoppte. „Meine Güte“, grinste
sie reichlich beschwipst. „Ich glaub, ich habe ein bisschen zu viel
getrunken. Das Haus, in dem ich wohne, ist plötzlich zweimal da.“
„Nein, nein“, beruhigte ich sie, „das zweite ist so etwas wie
eine Fata Morgana.“ „Und in welchem von den beiden Häusern wohne
ich nun?“
Ich war mehr als glücklich, als
ich meine Eroberung endlich in ihrer Wohnung hatte. Auch wenn es mir zugegeben
nicht leicht fiel, ich blieb meinem Prinzip, eine derartige Situation niemals
auszunutzen, auch in jener Nacht treu. Als ich einige Stunden später fröstelnd
zu mir kam, lag ich immer noch angekleidet auf ihrem Sofa. Der kleine
Gentleman, den ich mir vorsichtshalber eingesteckt hatte, befand sich immer
noch an Ort und Stelle. Passiert war also nichts. Ich wälzte mich noch etwas
wackelig auf den Beinen aus den Polstern und huschte ins Bad. Kurz darauf
machte ich mich schon mal in der Küche nützlich.
„Würden Sie mir
freundlicherweise erklären, was Sie in meiner Küche treiben?“, vernahm
ich plötzlich Miriams reichlich zerknautscht wirkende Stimme. „Du
wirkst…, sagen wir mal…, etwas deplatziert. Kann es sein, dass du
dich weder an gestern Abend noch an die letzte Nacht erinnerst?“, fragte
ich amüsiert. „Du…, haben wir etwa…?“ Miriam griff sich
geschockt an den Kopf, während ich mit meinem nickte. „Sie und
ich?“ „Also, ich bin sehr enttäuscht von dir. Heute Nacht hatte ich
zumindest das Gefühl, dass es dir mächtigen Spaß bereitete“, gab ich ihr
zweideutig zu verstehen. „Oh Gott, oh Gott.“
„Einen Kaffee?“
„Nur wenn Sie mir versprechen, mit dem entsetzlichen Geklapper
aufzuhören.“ Ich reichte ihr die Tasse und lächelte die nun gar nicht
mehr so sicher auftretende Staatsanwältin mitleidig an. Ihr Blick fiel durch
die geöffnete Tür auf das zerwühlte Sofa im Wohnzimmer. „Haben
Sie…, ich meine hast du dort die ganze Nacht verbracht?“ Natürlich
wusste ich genau, was sie so nachdrücklich beschäftigte, aber noch wollte ich
sie nicht erlösen. Ich wollte ganz einfach ihre Unsicherheit noch ein wenig
genießen. Denn die brachte eine Seite von ihr zum Vorschein, die sie in einem
sehr sympathischen Licht erscheinen ließ.
„Nicht die ganze Nacht,
aber das weißt du doch. Habe ich wirklich so wenig Eindruck bei dir
hinterlassen, dass du dich an nichts erinnern kannst?“ „Natürlich
nicht, mir fehlen nur einige Details.“ Womit sie seufzend an ihrem Kaffee
schlürfte und ins Bad verschwand. Der Männer verschlingende Vamp war also nur
Fassade. Ich fragte mich, ob ihr Verhalten eine Art Schutzwall war, den sie um
sich herum aufgebaut hatte, um niemanden wirklich
an sich heran zu lassen.
Während Miriam im Bad war, hatte
ich mir die Freiheit genommen und ein kleines Frühstück hergerichtet.
„Geht es dir inzwischen etwas besser“, erkundigte ich mich, als wir
uns später gegenüber saßen. Miriam nickte betreten. „So etwas ist mir
noch nie passiert. Hoffentlich habe ich mich nicht allzu sehr daneben
benommen?“ „Aber nein“, beruhigte ich sie, „du warst
sehr ausgelassen. Wir hatten wirklich viel Spaß, vor allem beim Kegeln. Der
chinesische Reiswein muss dich aus der Bahn geworfen haben.“ „Oh
Gott, oh Gott.“ Miriam griff sich an die Stirn, stützte ihren Kopf in die
Ellenbogen und sah mich schließlich aus zwei geschwollenen Augen Mitleid
erregend an. Der Moment, ihre Befürchtungen zu zerstreuen, schien gekommen.
„Hoffentlich hat uns niemand gesehen.“ „Ich kann dich
beruhigen, du bist weder peinlich aufgefallen noch ist zwischen uns etwas
gelaufen.“ Miriam blickte mich verstört an. „Wie jetzt, du meinst
wir haben nicht…?“ „Nein! Was glaubst du? Ich bin kein Mann,
der eine solche Situation ausnützen würde.“
Die Frau auf der anderen Seite
des Tisches sackte erleichtert zusammen. Sämtliche Anspannung war schlagartig
von ihr abgefallen. „Ich habe dich ausgezogen und ins Bett gebracht. Was
ein ziemliches Stück Arbeit war. Es ist sicher leichter, einen Sack Flöhe zu
hüten.“ Miriam sah zu mir auf. „Danke, dass du die Situation nicht
ausgenutzt hast.“ Ich verzog eine Braue und seufzte. „Ich bin halt
zu gut für diese Welt.“
-14-
George hatte mit dem dicken
Gustafsohn telefoniert. Sie waren übereingekommen, den schlafenden Hund in Form
der Polizei nicht zu wecken. Solange nicht klar war, was Nette über die Disk
wusste, konnte jede Aktion, die unnötig Staub aufwirbelte, nach hinten
losgehen. George sollte das Haus weiter im Auge behalten und auf den richtigen
Moment warten, um zuzuschlagen.
Der Killer setzte sich wieder in
den Camaro und nahm eine Mütze Schlaf. Erst als der Morgen graute, wurde er
durch ein klappendes Gartentor geweckt. Der Zeitungsbote hatte direkt neben dem
Wagen sein Fahrrad abgestellt. Der Mann für das Grobe verbarg sein Gesicht
vorsichtshalber hinter einem Stadtplan. Während er noch von einer heißen Tasse
duftenden Kaffees träumte, tat sich etwas am Haus der Nettes.
Zunächst erschien der Polizeibeamte. Er sah sich nach allen Seiten um, peilte
die Lage und winkte schließlich seinen Schutzbefohlenen und dessen Tochter
heran. Sie stiegen in den Passat des Beamten und fuhren los. George folgte
ihnen ein Stück weit auf der Peiner Straße, bis der
Wagen nach rechts abbog. Kurz darauf kamen sie am Schulzentrum an. Das Kind
stieg aus und verschwand winkend in dem Gebäude.
Die Fahrt ging weiter, jetzt in
die entgegengesetzte Richtung, zum Arbeitsplatz von Felix Nette. Der Passat bog
auf den Parkplatz ein, auf dem George und sein Kumpan am Vortag die Schießerei
hatten. Der Killer war immer noch zornig, wenn er an den Kerl mit der alten
Karre dachte. Sein Auftrag wäre längst erledigt gewesen, hätte sich der Sheriff
nicht eingemischt.
George stoppte den Camaro auf der
Bundesallee. Weit genug weg, um nicht gesehen zu werden, jedoch nahe genug, um
den Passat im Blickfeld zu behalten. Entgegen seiner Hoffnung stieg auch der
Bulle aus. Er begleitete Nette quer über den Parkplatz zu einem roten Skoda Fabia.
Es handelte sich offenbar um den Wagen der Zielperson. Nette nahm etwas heraus
und verschwand mit dem Polizeibeamten in einem der angrenzenden Bauwerke. Der
Killer griff sich an den Kopf. Sollte die Disk die ganze Zeit über unbewacht in
Nettes Wagen gelegen haben?
George wurde die Sache allmählich
zu dumm. Er hatte das Gefühl, der Auftrag würde ihm entgleiten. Wer wusste
schon, wie lange Vasili wirklich dicht hielt. Die Ganovenehre galt letztendlich
nur so lange, bis das Angebot stimmte, welches der Staatsanwalt in Aussicht
stellte, um an die wirklich großen Happen, die Hintermänner, heranzukommen. Mit
der so genannten Kronzeugenregel hatte Justitia schließlich schon so manche
Organisation auffliegen lassen.
Wenn es nach George gegangen
wäre, hätte er Nette und seinen Wachhund längst in das Reich der ewigen Träume
geschickt, doch das wollte Gustafsohn nicht. Der Mann hinter dem Sportlenkrad
suchte eine Idee und er fand sie. Ohne zu zögern startete er seinen Camaro und
raste zurück zur Schule. Warum sollte er sich nicht ein geeignetes Druckmittel
besorgen? Auf diese Weise würde man ihm die verfluchte Disk auf einem silbernen
Tablett servieren. Die Frage war nur, wie er ohne viel Aufsehen zu erregen an
das Gör herankam? Die Schwierigkeit lag überdies darin, dass er die Kleine nur
für einen kurzen Moment bei Morgengrauen gesehen hatte.
Die Telefonnummer des
Sekretariats war schnell herausgefunden. Den Namen des Tatzeugen hatte er vom
Klassenfoto des inzwischen leider
verschiedenen Artur Spenglers. „Hier spricht Felix Nette. Meine Tochter
hat gerade Unterricht. Ich bin im Klinikum Salzdahlumer
Straße. Meine Frau hatte einen schweren Verkehrsunfall. Wir wissen noch nicht,
ob sie überlebt. Ich schicke meinen Assistenten, Herrn Wortmann bei Ihnen
vorbei, um meine Tochter abzuholen.“ Die Sekretärin zeigte sich betroffen
und versprach, alles Nötige zu veranlassen.
George ging an den Kofferraum.
Für solche Fälle hatte er stets sein so genanntes Notfallköfferchen dabei. Mit
einigen geübten Handgriffen klebte er sich einen Schnauzer und falsche
Koteletten an. Zusammen mit der brünetten Echthaarperücke sah er nun wie ein
anderer Mensch aus.
„Guten Tag, mein Name ist
Wortmann“, stellte er sich schließlich im Sekretariat der Schule vor.
„Ich bin Mitarbeiter von Herrn Nette und soll hier seine Tochter
abholen.“ Ruth Schimmelpfennig machte ein betrübtes Gesicht. „Sie
sind uns bereits durch Herrn Nette angekündigt. Die kleine Nicolette müsste
jeden Augenblick hier sein. Wie schlimm steht es denn um Frau Nette?“
„Das kann ich Ihnen leider auch nicht sagen, ich habe lediglich den
Auftrag, die Tochter meines Chefs hier abzuholen und ins Krankenhaus zu
bringen. Aber ich fürchte, es ist ernst.“ „Da ist es gut, dass Sie
so freundlich sind und Nicolette bei uns abholen“ lobte die Sekretärin.
„Heutzutage kann man nicht vorsichtig genug sein.“ George nickte
zustimmend. „In der Not müssen wir eben alle ein wenig enger zusammen
rücken.“ „Das haben Sie aber nett gesagt“, flirrte Ruth
Schimmelpfennig mit den Augen. Ihre Begeisterung für den brünetten Mann mit dem
Schnauzer war unübersehbar.
„Ah, da ist unser kleiner
Sonnenschein ja schon“, begrüßte sie Nicolette, die durch den Hausmeister
hereingeführt wurde. „Was ist mit meiner Mama?“, ereiferte sich das
Mädchen aufgeregt. „Beruhige dich erst einmal, Nicolette. Deine Mama
hatte einen Unfall, aber es geht ihr einigermaßen gut und damit es ihr schon
bald wieder besser geht, möchte sie dich sehen.“ Fräulein Schimmelpfennig
stand bewundernd hinter ihrem Tresen. „Wie gut Sie mit Kindern umgehen können“
lobhudelte sie ihn nochmals. „Vielleicht trifft man sich ja mal bei einer
anderen Gelegenheit“, streckte sie sogleich ihre Fühler aus. „Es
würde mich freuen“ entgegnete George, während er die Tür öffnete und das
Kind auf den Flur hinausschob.
-15-
„Es ist wirklich nicht
nötig, dass Sie die ganze Zeit über hier bleiben“, erklärte Felix
Nette.“ Ich habe bis etwa 16 Uhr in meinem Büro zu tun. Ich denke, hier
bin ich sicher. Fahren Sie ruhig nach Hause und legen Sie sich erst einmal hin.
Sie haben vergangene Nacht sicher kein Auge zubekommen.“ „Ich habe
wirklich kaum geschlafen“, stimmte Mohamed Hariri zu. „Ich müsste
allerdings zunächst mit Hauptkommissar Wurzer
Rücksprache halten.“ „Tun Sie das. Ich bin sicher, er hat nichts
einzuwenden.“
Der Computerelektroniker brannte
darauf, die CD endlich unbeobachtet in seinen Rechner legen zu können, um dem
Geheimnis endlich auf die Spur zu kommen. Die ganze Nacht über war ihm das
Bildnis seines Studienfreundes nicht aus dem Kopf gegangen. Immer wieder hörte
er ihn die ominöse 44 sagen. Was nur, was konnte es mit dieser Zahl auf sich
haben? War sie der Schlüssel zu einer kodierten Datei, die sich auf dem runden
Silberling befand?
„Okay“, hörte er den
jungen Kriminalbeamten sagen. „Mein Chef hat nichts dagegen. Ich hole Sie
dann um 16 Uhr wieder ab.“ Er reichte Felix Nette eine Visitenkarte mit
seiner Handynummer. „Rufen Sie mich bitte unverzüglich an, wenn Ihnen
etwas merkwürdig vorkommt. Ich komme sofort.“ „Na, machen Sie sich
mal keine Sorgen. Die Gangster waren vermummt. Warum sollten die Angst haben,
dass ich sie wieder erkenne?“ „Ach Herr Nette, wer weiß schon, was
in einem kranken Hirn vor sich geht? Vielleicht waren die Killer der Meinung,
der Tote hätte Ihnen vor seinem Ableben noch etwas anvertraut.“ Einstein
schüttelte verständnislos den Kopf. „Wie sollte er, der Ärmste muss
sofort tot gewesen sein.“
Der im Grunde sehr sympathische
Polizeibeamte war gegangen. Endlich hatte der Informationstechniker die nötige
Ruhe, um die Disk, die er am Morgen wieder an sich genommen hatte, auf ihren
Inhalt zu überprüfen. Bis in die wuscheligen Haarspitzen gespannt, öffnete er
die Datei. Leider war sie nur teilweise entschlüsselt, doch das, was er las, war
auch so schon dermaßen unglaublich, dass es ihm fast die Luft zum Atmen nahm.
Selbst für ihn als Fachmann war es nicht leicht, sich zwischen all den
Gleichungen und Formeln zurechtzufinden, aber letztendlich war er sich sicher,
auch ohne den noch verschlüsselten Rest der Datei lesen zu können, dass dieses
Programm die Medienlandschaft auf den Kopf stellen würde. Dies wiederum
bedeutete, dass er für die CD eine sechsstellige Summe Finderlohn herausholen konnte. Es stellte sich nur die Frage, wer
hinter alle dem steckte, denn eines war klar, diese Sache war für Artur eine
Nummer zu groß. Da mussten ganz andere Kaliber die Fäden ziehen.
Felix Nette überlegte noch, wie
er an die richtigen Leute gelangen konnte, als das Telefon auf seinem
Schreibtisch anschlug. Er erschrak regelrecht, als er die aufgeregte Stimme
seiner Frau vernahm. Um überhaupt etwas zu verstehen, musste er den Hörer ein
gutes Stück weit von seinen Ohren entfernt halten. „Nun beruhige dich
erst einmal, Birgit. Ich verstehe ja kein einziges Wort.“ Doch die sonst
so besonnene Frau wollte und konnte sich offenbar nicht beruhigen. Nach einigem
Hin und Her begriff Einstein, dass seine Tochter von der Schule entführt worden
war. Ein Mann hatte sie angerufen und damit gedroht, dass sterbenskranke Kind zu
töten, falls die Polizei eingeschaltet werden würde. „Der Mann fordert
seine CD von uns zurück!“, dröhnte Birgit ins Telefon. „Weißt du
etwas davon?“, fragte sie ihn eindringlich.
Felix Nette hatte mit vielem
gerechnet, doch dass die Gangster nicht einmal davor zurückschreckten, ein
siebenjähriges Kind zu kidnappen, hatte er nicht erwartet. Welch bittere Ironie
der Geschichte. Wenn seine Tochter nicht binnen der nächsten sechs Monate
operiert wurde, würde sie unausweichlich an einer seltenen Form der Leukämie
sterben. Wenn er das aus der Hand gab, was ihm genug Geld für die aufwendige
Operation brachte, musste sie es ebenso. Doch wer konnte ihm garantieren, ob
die Gangster seinen Sonnenschein nicht doch töteten, wenn sie die Disk erst
einmal hatten? Allmählich wurde ihm klar, dass die Leute, die hinter dem Ganzen
steckten, auch ihn nicht davon kommen lassen konnten. Wer gewährleistete ihnen,
dass nicht noch mehr Kopien von der Disk gemacht wurden? Einstein griff sich
verzweifelt an den Kopf. Auf was hatte er sich da nur eingelassen?
„Bleib wo du bist,
unternimm nichts und versuch dich zu beruhigen. Ich bin in 10 Minuten zu
Hause!“
-16-
Meine gute Seele hatte sich
einmal mehr selbst übertroffen. Schlaf- und Badezimmer waren nicht wieder zu
erkennen. Trude hatte die beiden Räume mit viel Liebe zum Detail ganz nach
ihrem Geschmack eingerichtet. Ohne Frage, sie hatte es wirklich gut gemeint,
aber der Himmel allein weiß, woher sie die Tagesdecke mit den vielen Rüschen
und Spitzen hatte, die mein Allerheiligstes zierte. Vielleicht hätte ich diese
Geschmacksvergewaltigung noch hingenommen, aber als ich mich auf dem neuen Bett
breit machte und an der gegenüberliegenden Wand die antiquierten Bilder ihrer
Großmutter sah, war’s mit meinem Verständnis vorbei.
Anstatt den Augenblick verdienter
Ruhe ein wenig zu genießen, trieb es mich sofort wieder aus den Federn. Die
scheußlichen Bilder konnten keinesfalls hängen bleiben. Was sollte mein Besuch
von mir denken. Ich nahm sie unverzüglich ab und stellte sie in die Ecke, neben
den Wäschekorb. Um meine Putzsekretärin für ihre natürlich gut gemeinte Geste
nicht anzublaffen, atmete ich erst einmal tief durch. Während ich das
Wohnzimmer durchquerte, fiel mein Blick auf die beiden Wände, deren Raufaser
ich noch weiß streichen wollte. Der verdammte Farbroller, schoss es mir durch
den Kopf. Ich hatte total vergessen, einen neuen zu besorgen. Schnell schnappte
ich mir Lederjacke und Stetson, hastete auf die Tür zu und bekam selbige mit
voller Wucht an den Kopf geknallt. Der Stetson segelte von meiner lädierten
Birne geradewegs in den noch offenen Farbeimer.
„Oh, oh, Leopold“,
hörte ich die verzerrte Stimme meiner Sekretärin. „Haben Sie sich etwas
getan?“ Ich torkelte noch ein wenig benommen durch den Raum, versuchte
mich auf den Beinen zu halten und einen klaren Gedanken zu fassen.
„Setzen Sie sich erst einmal, Chef. Ich habe Sie nicht gesehen.“
„Durch die geschlossene Tür wohl schwerlich möglich“, bemerkte ich
reichlich angefressen. „Ich hole ihnen Eiswürfel aus dem Kühlschrank. Das
runde Ding da an Ihrer Stirn wird zunehmend größer.“ Auch das noch,
dachte ich, wie peinlich.
Während Trude in die Detektei
hinüberhastete, fühlte ich vorsichtig meine Stirn. Dort wuchs tatsächlich eine
ordentliche Beule heran. Ganz zu schweigen von meinem Brummschädel.
Gerechterweise musste ich mir jedoch eingestehen, dass ich den kleinen
Zusammenstoß durch meine Unaufmerksamkeit selbst verursacht hatte. Trude traf
nicht die geringste Schuld. Als ich allerdings meinen geliebten Stetson im
Farbeimer erblickte, war’s mit der Einsicht vorbei. Ich bückte mich, zog
den Hut aus dem Eimer und ließ die dickflüssige Farbe in das Behältnis
zurücktropfen. Was dann geschah, hätte ich wissen müssen.
In dem unbedingten Willen, mir so
schnell wie möglich Linderung zu verschaffen, stürmte Trude heran. Ich hörte
sie durch den Flur kommen, eine Reaktion war trotzdem nicht mehr möglich. In
diesem Augenblick war ich auch viel zu sehr mit meinem Stetson beschäftigt, als
dass ich an irgendetwas anderes gedacht hätte. Was sich noch mit demselben
Atemzug rächen sollte.
Wieder flog die Tür auf. Diesmal
traf sie mich am Hintern. ich verlor das Gleichgewicht, kippte vornüber und
schlug mitsamt dem Stetson lang hin. Dass ich bei dieser Gelegenheit gleich den
Farbeimer mit umstieß, bemerkte ich erst, als ich wieder aufstand. Der weiße
Brei hatte sich in genau die Richtung ergossen, in die ich gefallen war. Ich
sah aus, als wäre ich in die Mehltonne gesegelt. „Um Himmels Willen, Herr
Lessing!“, erschrak Trude zu Stein erstarrt. „Wie sehen Sie denn
aus?“ Ich hob den Stetson und setzte ihn wehmütig auf den Kopf.
„Nun passt wenigstens wieder alles zueinander.“
Da stand sie nun, mit dem
Eisbeutel in der Hand und dem Wissen, einen gebrauchten Tag erwischt zu haben.
Ratlos und bestürzt, immer noch in der Absicht, Gutes zu tun, doch ohne den
Mut, auch nur noch einen einzigen Finger zu rühren. Das Klingeln des Telefons
in ihrer Tasche muss wie eine Erlösung für sie gewesen sein. „Detektei
Lessing, Sekretariat, Berlitz am Apparat. Einen
kleinen Moment bitte, Herr Lessing steht gerade neben mir.“ Meine weißen
Finger fuhren genervt an die Stirn. Intensiver Schmerz ließ mich
zusammenzucken. „Musste das sein?“, flüsterte ich ärgerlich. Trude
hob mit unschuldsvoller Miene die Schultern und reichte mir das Telefon.
„Lessing.“ Es meldete sich die aufgeregte Stimme eines Mannes. Ich
erkannte nicht sofort, dass sie zu Felix Nette gehörte. „Herr Lessing,
ich brauche Ihre Hilfe. Wir müssen uns unbedingt treffen, es geht um Leben und
Tod.“ Ich stutzte. „Kennen Sie einen Ort, an dem wir ungestört
sind?“, fuhr er fort. Er schien vor irgendetwas ungeheure Angst zu haben.
„Also schön, treffen wir uns in einer Stunde im Fahrstuhl vom
I-Punkt.“
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„So verstehen Sie doch,
Herr Lessing. Diese Leute sind über jeden meiner Schritte informiert. Wenn die
spitz kriegen, dass ich mich nicht an ihre Anweisungen halte und mich an die
Polizei wende, tun sie meiner Tochter etwas an.“ Ich ahnte die ganze Zeit
über, dass etwas an dieser Sache faul war. „Aber was wollen die von Ihnen?
Welche Forderungen stellen die Entführer?“ „Artur hatte mir vor
seinem Ableben eine Disk übergeben. Wahrscheinlich suchen die Gangster
danach.“ Ich musterte ihn argwöhnisch. „Was für eine Disk?“
Der Fahrstuhl stoppte im obersten
Stockwerk des Gebäudes. Die auseinander schiebenden Türhälften gaben den Blick
auf das Restaurant frei. Da niemand einsteigen wollte, drückte ich den Knopf
für die unterste Etage. Ich fühlte mich in meine Lausbubenzeit zurückversetzt,
als ich mit den Freunden den lieben langen Tag damit verbrachte, in
irgendwelchen Kaufhäusern in Fahrstühlen oder auf Rolltreppen hoch und runter
zu fahren.
„Was kann es so wichtig auf
einer CD geben, dass die Gangster selbst vor Mord und Kidnapping nicht
zurückschrecken?“, fragte ich Nette. „Es handelt sich um ein
verschlüsseltes Programm. Ich habe in der kurzen Zeit leider nur einen kleinen
Teil entkodieren können“, erwiderte er, aber
soweit ich erkennen konnte, handelt es sich um ein mediales Programm mit dem
das Kaufverhalten der Konsumenten suggestiv beeinflusst werden kann.“
„Gab Ihnen Artur Spengler einen Hinweis, als er Ihnen die Disk
übergab?“ Nette schüttelte den Kopf. „Sie meinen einen Code?“
Ich nickte. „Er versuchte es, aber ich konnte ihn kaum verstehen.“
Seine Aussage deckte sich zumindest
mit dem, was Manuela Wenzel angab. Die Gangster hatten auch sie nach einer Disk
gefragt. Demnach vermuteten sie nur, dass Nette sie hatte. „Selbst wenn
Sie dem Entführer die Disk aushändigen, glaube ich kaum, dass sie ihre Tochter
einfach so laufen lassen. Schon allein deswegen halte ich es für besser, die
Polizei zu informieren. Dort gibt es speziell geschulte Leute, die sich bestens
mit solchen Fällen auskennen.“
Felix Nette wischte meinen Rat
energisch zur Seite. „Die Disk ist Nicolettes einzige Chance. Weiß ich,
wer hinter alledem steckt? Möglicherweise gibt es eine undichte Stelle und
irgendetwas sickert durch. Abgesehen davon glaube ich kaum, dass die Polizei
tatsächlich bereit wäre, die Originaldisk in die Hände der Verbrecher zu geben.
Nein, nein, ich vertraue Ihnen das
Leben meiner Tochter an, sonst niemandem.“
Bevor ich antwortete, musste ich
erst einmal tief Luft holen. „Ihr Vertrauen ehrt mich, trotzdem bitte ich
Sie inständig Ihre Entscheidung noch einmal zu überdenken.“ Felix Nette winkte
entschlossen ab. „Seien Sie versichert, Herr Lessing, meine Frau und ich
haben es uns ganz sicher nicht leicht gemacht. Die Entscheidung ist uns sehr
schwer gefallen, aber sie ist aus unserer Sicht die einzige Chance, die
Nicolette hat. Bitte retten Sie das Leben unserer Tochter.“
Auch wenn ich, schon wegen meiner
Vergangenheit bei der Polizei, der Meinung war, dass es besser gewesen wäre,
die Hüter für Recht und Ordnung einzuschalten, musste ich die Entscheidung der
Nettes akzeptieren.
Für einige Augenblicke war in der
Fahrstuhlkabine nichts als das surrende Geräusch der Laufräder zu hören, die
den Aufzug in der Spur hielten. Ich war von dem Schicksal des kleinen Mädchens
sehr betroffen. Es war nur allzu verständlich, dass der Mann neben mir große Angst
um das Leben seiner Tochter hatte.
„Meine Frau rief mich in
der PTB an. Der Entführer hatte ihr kurz zuvor mitgeteilt, dass er Nicolette in
seiner Gewalt hat. Er ließ keinen Zweifel daran, dass mir Spengler die Disk
übergeben hatte. Er muss beobachtet haben, wie ich mich über Artur
beugte.“ Auch wenn mir das Ganze noch immer mehr als suspekt vorkam,
bestand kein Grund, an der Aussage meines Klienten zu zweifeln. „Bevor
ich Ihnen meine Hilfe zusage, würde ich gern wissen, was Sie von mir
erwarten.“ „Ich habe mir überlegt, dass ich mich mit dem Anrufer
treffe und die Disk gegen meine Tochter austausche. Sie sollen sich im
Hintergrund halten und erst dann eingreifen, wenn etwas schief läuft.“
Obwohl ich mir wie in einem schlechten Film vorkam, willigte ich ein.
„Also schön, ich bin dabei.“
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Weiße, mit den Jahren stumpf
gewordene Fliesen gaben dem Betrachter einen sterilen Eindruck wieder. Sie
waren stumme Zeugen einer längst vergangenen Zeit. Einer besseren Zeit, wie
George fand. Blut war an ihnen hinunter gelaufen, das Blut unzähliger Schweine
und Rindviecher, die an dieser Stelle ihren Tod fanden. Er selbst hatte einst
an diesem Ort gearbeitet, hatte blutige Schweinehälften wahrhaft kunstvoll
zerlegt, bevor sie zu Schinken und Koteletts weiter verarbeitet wurden. Damals,
das war bevor sein jüngerer Bruder wegen einer kleinen Dummheit von einem
übereifrigen Bullen erschossen wurde. Damals, als er sich schwor, nicht länger
für einen Hungerlohn zu malochen.
Seither waren mehrere Jahre ins
Land gezogen und der Mann mit dem flinken Messer, wie man ihn in einschlägigen
Kreisen nannte, hatte sich einen Namen in der Szene gemacht. Nun war er also in
ein anderes Leben zurückgekehrt. Auch wenn der Schlachthof längst seine Pforten
geschlossen hatte, so konnte er das Quieken der Tiere in ihrem Todeskampf
trotzdem noch deutlich vernehmen. Man brauchte nur aufmerksam hinzuhören.
„Jetzt halt endlich die
Klappe“, riss George der Geduldsfaden. Der falsche Bart kitzelte unter
seiner Nase. „Bis jetzt ist das hier nicht mehr als ein Ausflug für dich,
aber wenn du nicht sofort mit dem Geplärre aufhörst, werde ich dich in den
Keller sperren. Da kannst du dann soviel schreien wie du willst.“
Nicolette erschrak. Sie hatte Angst vor diesem Mann, aber noch mehr fürchtete
sie sich davor, allein in einem dunklen Keller eingesperrt zu sein. Tränen
rannen über ihr blasses Gesicht. „Ich will zu meiner Mami“, fügte
sie mit dünner Stimme kaum hörbar hinzu. „Ich hasse Kinder!“
George sprang auf. Ein Wagen
näherte sich. Knirschender Kies, der unter der Last eines schweren Wagens unter
den Rädern zusammengedrückt wurde, hielt unmittelbar vor der alten
Verladerampe. Der Killer setzte mit drei, vier schnellen Sätzen zur Tür hinüber
und peilte durch einen schmalen Schlitz nach draußen.
Er kannte den Wagen, er gehörte Gustafsohn, der offenbar nach dem Rechten
schauen wollte.
George kehrte an seinen Platz
zurück und band dem Mädchen ein Tuch vor die Augen. Sein dicker Auftraggeber
betrat die ehemalige Schlachte. „Ein unangenehmer Ort, an dem du dich
hier zurückgezo-gen hast“, sah sich Gustafsohn
mit gerunzelter Nase um. „Hast du inzwischen mit dem Kerl von der PTB
gesprochen?“ „Dieser Nette wird keine Sperenzien machen. Er weiß,
um was es geht.“ „Das hoffe ich für dich“, drohte der Dicke.
Noch so eine Pleite und wir können beide unser Testament machen.“
Nicolette hörte aufmerksam zu.
Einer der Männer hatte ihren Nachnamen ausgesprochen. Wenn sie doch nur etwas
sehen könnte, aber die Hände, mit denen sie das Tuch herunterziehen konnte,
waren ja auf dem Rücken gefesselt. Beharrlich rieb sie ihren Kopf gegen die
angezogenen Knie und schaffte es schließlich, den Stofffetzen so weit nach oben
zu schieben, dass sie an dem Tuch vorbeiblinzeln konnte. Ein letztes Mal rieb
sie ihren Kopf gegen das Knie, da geschah es. Das Tuch lockerte sich und
rutschte schließlich ganz über den Kopf. Nicolette sah in die Richtung aus der
sie die Stimmen vernahm. Es dauerte einige Sekunden, bis sich ihre Augen an das
grelle Licht der Deckenstrahler gewöhnt hatten. Sie konnte den Mann nicht
richtig sehen. Sein Gesicht verbarg sich in einem Lichtschatten. Eines fiel ihr
jedoch auf. Er war außergewöhnlich dick.“
„Sag mal, bist du von allen
guten Geistern verlassen?“, empörte sich der Dicke als er zu Nicolette
hinüber sah. „Das Mädchen hat mich gesehen.“ „Das kann nicht
sein“, wiegelte George ungläubig ab, bevor auch er sich zu dem
gefesselten Kind umdrehte. „Verdammt! Sie müssen mir glauben, ehe ich Sie
hereinließ, habe ich ihr eine Augenbinde verpasst.“ „Du hättest ihr
etwas anderes verpassen sollen! Sie wird mich wieder erkennen. Das Risiko kann
ich nicht eingehen. Du wirst sie liquidieren müssen!“ George starrte
Gustafsohn entgeistert an. „Ich kann doch kein
Kind töten.“ „Sie hat uns beide gesehen.“ George griff sich
instinktiv an den falschen Bart. „Deine lächerliche Verkleidung wird dich
wohl kaum davor bewahren, dass sie dich in der Verbrecherkartei wieder erkennt.
Es wird unumgänglich sein, wenn du die nächsten Jahre nicht auf Staatskosten leben
willst?“
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Mir blieb nicht viel Zeit zum
Handeln. Die Entführer hatten sich bereits ein weiteres Mal gemeldet. Felix
Nette hatte das Gespräch auf dem Anrufbeantworter mitgeschnitten, um es mir nun
Wort für Wort vorspielen zu können. Der Anrufer fasste sich kurz. Eine
Rückverfolgung wäre also selbst mit dem technischen Equipment der Polizei nicht
möglich gewesen.
„Ich will mit meiner
Tochter sprechen!“, forderte Felix Nette. „Wer sagt mir denn, dass
sich Nicolette überhaupt in Ihrer Hand befindet?“ Kurz darauf war die
ängstliche Stimme eines kleinen Mädchens zu vernehmen. „Genug
jetzt!“, beendeten die schroffen Worte des Entführers den Augenblick der
Erleichterung. „Kommen Sie heute Abend mit der Disk in den Hafen.“
„Der Hafen ist groß“, unterbrach ihn Nette. „Kommen Sie um
Mitternacht zur Getreideverladung. Wenn Sie Ihr Balg in einem Stück zurückhaben
wollen, sollte dort kein Bulle auftauchen!“ „Glauben Sie wirklich,
ich würde das Leben meiner Tochter aufs Spiel setzen?“ Der Gangster
beendete das Gespräch mit einem hässlichen Lachen.
„Das haben Sie wirklich gut
gemacht“, lobte ich Felix Nette. „Wenigstens wissen wir jetzt, dass
es Ihrer Tochter den Umständen entsprechend gut geht.“ Der Mann mit dem
wuscheligen Haar nickte betreten. „Wie geht es eigentlich Ihrer
Frau?“ „Meine Schwägerin ist da. Sie ist Krankenschwester. Ich
glaube, sie hat Birgit etwas zur Beruhigung gegeben.“ „Ich muss
sagen, Ihre Frau hält sich ganz großartig. Das habe ich schon ganz anders
erlebt.“ „Meine Frau weiß, dass ich alles unternehmen werde, um
unseren Sonnenschein unbeschadet nach Hause zu holen.“ „Was ist mit
dem Personenschutz?“, fragte ich nachdenklich. „Herr Hariri holt
mich gegen 16 Uhr bei der PTB ab.“ „Das wird ein Problem“,
überlegte ich nach einem Ausweg suchend. „Ich kenne Hariri. Ein guter
Mann. Der lässt sich nicht so ohne weiteres abschütteln.“
Je mehr ich über unser Vorhaben
nachdachte, desto mehr plagte mich die Erkenntnis, dass ich im Begriff war,
einen Fehler zu begehen. Immer wieder drängte sich jene verhängnisvolle Nacht
in mein Bewusstsein zurück, als mein Partner, Ralf Kestner,
das Opfer einer solchen Fehlentscheidung wurde. Nicht zuletzt wegen seines
Todes hatte ich meinen Dienst bei der Kripo quittiert. Genutzt hatte es im
Grunde nichts. Die Vergangenheit holte mich auch jetzt noch, in meinem neuen
Leben wieder ein. Ich konnte ihr nicht aus dem Wege gehen, hier und jetzt
musste ich eine Entscheidung treffen. Eine Entscheidung, von der ich nicht
wusste, ob sie wirklich die Richtige war.
„Darüber habe ich mir auch
schon den Kopf zerbrochen. Vielleicht kann ich ihm ein Schlafmittel in den
Drink mischen.“ Ich lächelte gequält. „Es wäre zumindest eine
Möglichkeit.“ Ich sah zur Uhr. „Wir haben es jetzt 15 Uhr. In einer
Stunde holt Sie Hariri ab. In neun Stunden findet die Übergabe der Disk statt.
Ich denke, es ist sinnvoll, wenn ich mir den Ort erst einmal ansehe, an dem der
Austausch stattfinden soll.“ „Das ist sicher eine gute Idee“,
stimmte mir der Mann mit der Nickelbrille zu. „Aber bitte, seien Sie
rechtzeitig wieder da.“ „Versuchen Sie ruhig zu bleiben, es wird
schon alles gut gehen.“
Mit diesen Worten erhob ich mich
und ließ Felix Nette in seinem Wohnzimmer zurück. Fast wäre ich an dem
Leihwagen vorbeigelaufen, den ich mir eine gute Stunde zuvor bei der Esso Tankstelle
auf dem ‚Neuen Weg’ besorgt hatte. Meine Gedanken wucherten kreuz
und quer durch meinen Kopf. Es gab so viele Ungereimtheiten, die diesen Fall so
verworren machten, dass ich die vielen Fakten und Indizien erst zu einem
halbwegs geordneten Bild zusammenfügen musste.
Artur Spengler war bei seiner
Arbeit für die Media Software Wolfenbüttel offensichtlich auf etwas
Ungeheuerliches gestoßen. Da die MSW bislang keine Anzeige erstattet hatte,
musste es sich bei der Software allem Anschein nach um etwas Illegales handeln.
Er kopierte die betreffenden Daten und machte sich auf den Weg zu seinem
ehemaligen Studienfreund Felix Nette, um dessen fachlichen Rat einzuholen. Wozu
es nicht kam, weil Spengler überfahren wurde, bevor er mit seinem Freund
sprechen konnte. Daraus folgerte ich, dass der Softwarespezialist bereits an
seinem Arbeitsplatz beobachtet worden war.
Da die Killer die Disk nicht bei
ihrem Opfer fanden, mussten sie davon ausgehen, dass der Mann sie an sich
genommen hatte, der auch Zeuge dieses Mordes geworden war. Seine Verfolgung
scheiterte, weil sich Felix Nette in meinen Wagen rettete. Womit auch ich im
Spiel war.
Was folgte, war die Suche nach
dem Namen jenes Mannes und nach dessen Adresse. Zu diesem Zweck statteten die
Gangster der Lebensgefährtin des Ermordeten einen Besuch in dessen Wohnung ab.
Nach den Angaben von Manuela Wenzel fanden sie ein Foto aus Spenglers
Studienzeit, auf dem sie Felix Nette wieder erkannten. Die dazugehörige Adresse
herauszufinden, war keine Schwierigkeit. Leider schwieg der in der Wohnung von
Artur Spengler gefasste Killer bislang beharrlich.
Die Wahrscheinlichkeit, dass es
sich bei dem Entführer der kleinen Nicolette um seinen noch flüchtigen
Komplizen handelte, war groß. Das Kind war also in den Händen eines skrupellosen
Mörders, von dem es bislang nichts als eine vage Beschreibung von Manuela
Wenzel gab, die ihn dazu nur mit einer Motorradhaube über dem Gesicht gesehen
hatte. Wenn meine Schlussfolgerungen stimmten, konnte ich mein Wissen um die
Entführung nicht vor der Polizei zurückhalten.
Der Kidnapper musste Felix Nette
beobachtet haben. Er musste den Mitarbeiter der PTB in Begleitung von Machmud
Hariri gesehen haben. Als ihm klar wurde, dass er nicht an seine Zielperson
herankam, kam er auf die Idee, dessen Tochter zu entführen. Er musste sich
zuvor also ein genaues Bild von der Familie verschafft haben. Ich zog den
Zündschlüssel wieder ab und stieg aus. Irgendwo hier hatte er sein Opfer
beobachtet, da war ich mir sicher. Doch von der Straße aus war dies nur sehr
bedingt möglich.
Mein Blick fiel auf das
Nachbargrundstück. Ich läutete an der Gartenpforte und hoffte, dass niemand zu
Hause war. Für lange Erklärungen hatte ich jetzt weder die Zeit noch die
Prämisse. „Ja?“, röhrte die Stimme einer älteren Dame von der sich
öffnenden Haustür herüber. Ich klappte meinen Ausweis herunter. Selbst ein
Adler hätte aus der Entfernung nicht erkennen können, was darauf zu lesen war.
„Sprengmittelbeseitigungsdienst“, plärrte ich knapp zurück.
„Wir haben Grund zur Annahme, dass sich im Erdboden Ihres Gartens eine
bislang nicht detonierte Fliegerbombe befindet. Bitte bleiben Sie im Haus, bis
ich alles durchsucht habe.“ Die Tür flog blitzartig zu.
Ich weiß schon, was Sie jetzt
denken, Okay, okay, Sie haben ja Recht, aber in Anbetracht der Situation zählte
möglicherweise jede Minute, die ich hier unnutz mit langen Erklärungen vergeudet hätte. Das Grundstück grenzte direkt an den Garten
der Nettes. Die Sicht auf die Terrasse war nur durch
einige Thuja beeinträchtigt. Als ich zwei von ihnen etwas zur Seite drückte, um
besser hindurch sehen zu können, fielen mir einige auf dem Boden liegende
Zigarettenkippen auf. Ich wettete mit mir selbst, dass sie erst wenige Stunden
an dieser Stelle lagen und dass sie von niemand anderem als von dem flüchtigen
Killer stammten. Dem Mann, der meinem Erachten nach auch der Entführer von
Nicolette Nette war. Ich bückte mich, um einige der Kippen einzutüten, als ich
plötzlich einen heftigen Schlag an meinem Gesäß verspürte.
„Tagedieb,
Wegelagerer“, betitelte mich die resolute Pensionärin. „Ich habe
mit meinem Sohn telefoniert. Sie sind gar kein Minenräumer. Die melden sich
nämlich vorher an, sagt mein Sohn.“ Und ein weiteres Mal sauste der
Teppichklopfer in meine Richtung. Ich konnte gerade noch abtauchen. „Okay,
ich habe geschwindelt. Ich bin Privatermittler. Sehen Sie, hier ist mein
Ausweis.“ Die rüstige Evastochter setzte ihre Brille auf und las.
„Ja und, was treiben Sie hier in meinem Garten?“ Ich deutete auf
die Zigaretten-kippen. „Rauchen Sie?“
„Sehe ich so aus, als wenn ich meine Stummel im Garten verstreue?“
Ich verkniff mir jeglichen Kommentar.
„Sieht ganz so aus, als
hatten Sie in der vergangenen Nacht einen ungeladenen Zaungast.“
„Ein Spanner in meinem Garten?“, empörte sie sich. „Ich habe
Birgit schon so oft gesagt, dass sie ein paar Gardinen anbringen soll. Aber sie
sagt immer, sie habe nichts zu verbergen. Na, wenn ich den Kerl zwischen die
Finger bekomme.“ Ich war davon überzeugt, dass sie tatsächlich meinte,
was sie sagte. „Ihnen ist also nichts Außergewöhnliches
aufgefallen?“ „Natürlich nicht, ich hätte doch sofort die Polizei
gerufen.“ „Dann haben Sie sicher nichts dagegen, wenn ich ein paar
von den Kippen mitnehme?“ „Aber nein, packen Sie ruhig alle ein.“
Die alte Dame rückte mir nicht
eher von der Pelle, bis auch die letzte Kippe in meiner Tüte verstaut war.
„Was wollen Sie eigentlich damit?“ „Die gehen ins
Labor“, erklärte ich ihr. „Aller Wahrscheinlichkeit nach lässt sich
dort die DNA Ihres ungebetenen Besuchers feststellen.“ „Ach ja, das
habe ich neulich gerade im Tatort gesehen. Wenn der Kerl in der
Verbrecherkartei steht, wissen Sie, wer er ist.“ Ich staunte nicht
schlecht. „Genauso machen wir es.“ „Versprechen Sie mir aber,
mich auf dem Laufenden zu halten.“ Ich versprach es und machte mich auf
die Socken.
-20-
Es war, als wäre ich nie fort
gewesen. Alles war noch so, wie an jenem Tag vor nun schon sieben Monaten, als
ich den Dienst bei der Braunschweiger Kripo quittierte. Das altehrwürdige
Bauwerk in der Münzstraße, in dem das Präsidium untergebracht war, hatte sich
nicht verändert. Die breite Steintreppe, über die man in die erste Etage
gelangte, wies noch immer die ausgetretenen Stufen auf. Seit Jahren sollte sie
renoviert werden, doch für dergleichen unpopuläre Baumaßnahmen war im
Stadtsäckel eben kein Geld. Das wurde für Prestigeobjekte gebraucht, die mehr
Wählerstimmen brachten.
Die Tür zum Büro meines Freundes
meldete auch noch jeden Besucher auf dieselbe markerschütternde Weise an, wie
sie es seit Jahren machte. Ein lang gezogenes, unüberhörbares Quietschen,
welches sich auch dadurch nicht reduzieren ließ, indem man die Tür langsamer
öffnete oder sie mit einem Ruck aufstieß.
„Welch Glanz in meinen
bescheidenem Büro“, empfing mich Jogi. Er hatte ein breites Lächeln auf
seinen schmalen Lippen. Seine Zigarette verqualmte wie eh und je in einem der
Ascher auf seinem Schreibtisch. Eine seiner kleinen Unarten, denen ich früher
kaum eine Bedeutung bemaß. Erst jetzt fielen sie mir auf, weil ich sie
vermisste. Selbst die ellenhohe goldfarbene Figur auf einem Sockel mit der
Inschrift: ‚Die ideale Justitia’ stand noch auf seinem
Schreibtisch. Sie war den klassischen Athene-Statuen nachempfunden, von hohem,
schlankem Wuchs und in ein schlichtes Gewandt gehüllt, das an den schönsten
Rundungen des üppigen Körpers jene Falten warf, die zum Wesen antiker Darstellungs-kunst gehören. Der winzige Blätterkranz auf
dem Kopf erinnerte an die Siegessymbole griechischen Altertums. Die schwarz
gemalte Klappe über dem rechten Auge verfremdete die Figur. Ich hatte sie
meinem Freund zu seiner Beförderung zum Hauptkommissar geschenkt. Sie sollte
ihm Mahnung und Ansporn zugleich sein. Ein Wink, nicht alles stets so verbissen
zu sehen und Triebfeder, Gesetz und Menschlichkeit miteinander zu verbinden.
„Was führt dich zu
mir?“ „Ich muss dich dringend sprechen“, entgegnete ich mit
ernster Miene. „Worum geht’s?“ Ich kramte das Tütchen mit den
Kippen hervor. „Die sind vom Nachbargrundstück der Nettes. Offensichtlich
wurde Felix Nette gestern Abend beobachtet.“ Jogi griff zum Telefon.
„Ich werde die Stummel sofort ins Labor bringen lassen.“
„Vielleicht haben wir Glück und der Entführer befindet sich in der
Verbrecherkartei.“ „Entführer?“, stutzte Jogi und ließ den Hörer
sinken. „Die Tochter der Nettes ist heute
Vormittag von einer unbekannten Person, die sich als Mitarbeiter der PTB
ausgab, von der Schule abgeholt worden. Der Kidnapper hat sich bereits
gemeldet.“
Jogi sprang verärgert auf und
flitzte hinter seinem Schreibtisch her. „Warum weiß ich nichts
davon?“ „Wenn es nach Felix Nette geht, wüsstest du immer noch
nichts. Der oder die Entführer haben damit gedroht, die Kleine zu töten, falls
er die Polizei einschaltet. Daraufhin hat er sich an mich gewandt. Ich konnte
ihn leider nicht umstimmen.“ „Es ist gut, dass du trotzdem gekommen
bist.“ Mein Freund beruhigte sich wieder. „Es gibt noch etwas, was
du wissen solltest.“ Jogis Stirn krauste sich. „Na, mach’s
mal nicht so spannend.“ „Die Entführer verlangen im Austausch eine
Datendisk.“ „Was für eine Disk?“ „Nette hat sie von
Spengler, als der im Sterben lag. Er wollte so etwas wie einen Finderlohn
herausschlagen.“ „Ja fangen denn plötzlich alle an zu
spinnen?“
Die quietschende Tür unterbrach
unser Gespräch an einer denkbar ungünstigen Stelle. „Jetzt nicht!“,
fuhr der Kriminalhauptkommissar herum. „Aber ich denke, ich soll etwas
fürs Labor abholen?“, piepste eine Stimme kleinlaut zurück. „Ach
so, kommen Sie herein.“ Jogi reichte der zierlichen Frau das Tütchen mit
den Zigarettenkippen. „Die sollen alles andere stehen und liegen lassen.
Ich brauche so schnell wie möglich eine DNA Analyse.“ „Geht
klar“, nickte die eingeschüchterte Botin. „Ach ja, entschuldigen
Sie, war nicht bös gemeint.“ Die junge Frau nickte und verließ das Büro.
„Wann und wo soll die
Übergabe stattfinden?“ Ich sah meinen Freund nachdenklich an.
„Bevor ich dir diese Frage beantworte, möchte ich von dir wissen, wie du
reagieren wirst.“ „Na wie schon, ich werde natürlich den ganzen Apparat
in Bewegung setzten.“ „Dann tut es mir Leid. Mein Auftraggeber hat
ausdrücklich verlangt, die Polizei aus der Sache herauszuhalten. Wenn ich dir
nun trotzdem etwas gesagt habe, dann unserer Freundschaft Willen und weil ich
es für einen Fehler halte, eine solche Aktion allein durchzuführen. Du weißt,
was diese Gangster mit Spengler gemacht haben. Ein Mord mehr oder weniger macht
da keinen Unterschied.“
Jogi ging zum Fenster hinüber und
sah auf die Straße hinunter. Was er dort sah, waren jedoch nicht die
vorbeihetzenden Menschen mit ihren voll gepackten Einkaufstaschen, sondern all
die unschuldigen Kinder, die Jahr für Jahr Opfer irgendwelcher Verbrechen
wurden. „Was zum Teufel ist auf dieser verdammten CD, was es
rechtfertigt, ein Kind in Angst und Schrecken zu versetzen?“ „Spengler
hat wohl einen Teil der Dateien entschlüsselt. Er wollte seinen Studienfreund
offensichtlich um Rat fragen. Felix Nette weiß nach eigenem Bekunden nicht, um
welche Daten es sich handelt.“
Mein Freund wippte nachdenklich
auf seinen Zehen. „So, wie sich die Sache momentan für mich darstellt,
hat Spengler die CD oder zumindest die Daten darauf bei seinem Arbeitgeber
gestohlen.“ Jogi zog die linke Braue nach oben. „Eine Anzeige liegt
bislang allerdings nicht vor.“ „Wart ihr schon bei der MSW?“
„Klar, aber dort vermisst angeblich niemand eine verloren gegangene
Disk.“ „Was ist mit dem Kerl, den wir in der Wohnung Spenglers
kassiert haben?“ „Schweigt weiterhin beharrlich“, entgegnete
Jogi mit einem müden Achselzucken. „Wenn wir wenigstens wüssten, wer der andere
war, der uns durch die Lappen ging.“ „Dafür habe ich euch die
Kippen mitgebracht.“ „Tja, vielleicht haben wir ja das nötige
Quäntchen Glück. Ich werde dich auf jeden Fall auf dem Laufenden halten.“
Inzwischen schlängelte sich eine
graue Wurst durch den Aschenbecher. Die Glut hatte mittlerweile auf den Filter
übergegriffen und verursachte einen penetranten Gestank. Jogi drückte den
Stummel aus und steckte sich eine neue Zigarette an, von der er ein, zwei,
tiefe Züge inhalierte, um sie dann wie immer im Aschenbecher zu deponieren.
„Ich mache dir einen Vorschlag“, begann er lauernd. „Du
nennst mir Zeit und Übergabeort und ich verspreche dir, auf die Kavallerie zu
verzichten.“ „Du hast lange gebraucht, um mich zu verstehen“,
entgegnete ich zufrieden.
-21-
Felix Nette brütete intensiv über
dem Computer, als Kommissar Machmud Hariri sein Büro betrat. Es war kurz nach
halb vier Uhr am Nachmittag. Der junge Kommissar wollte den metrologischen Informations-techniker, wie abgesprochen, nach Hause
begleiten. Hariri konnte seinem Schutzbefohlenen nicht viel Neues berichten.
Die Ermittlungen gingen eher schleppend voran. Obwohl der Mord an Artur
Spengler am helllichten Tag und dazu auf offener Straße geschah, gab es, allem
Anschein nach, außer Felix Nette keine weiteren Zeugen. Zudem schwieg der
gefasste Tatverdächtige nach wie vor beharrlich. Wenigstens hatte man
inzwischen über Europool die Identität des Bosniers klären können. Es handelte
sich um einen gewissen Vasili Radischeskow, der in
seiner Heimat bereits wegen ähnlicher Straftaten gesucht wurde.
Felix Nette sah kurz auf, als
Hariri das Büro betrat. „Ah, da sind Sie ja schon.“ Sein Blick flog
in die rechte Ecke seines Computers. „Meine Güte, es ist ja schon fast
vier. Bitte nehmen Sie noch einen Moment Platz, ich bin gleich soweit.“
Der Kommissar setzte sich auf einen der Besucherstühle. „Kein Problem,
lassen Sie sich Zeit.“ Der Informationstechniker wollte einen letzten
Versuch unternehmen, die letzten noch immer codierten Dateien auf der CD zu
entschlüsseln. Er war sich sicher, dass der Kommissar nichts von dem verstehen
würde, was er eventuell auf dem Monitor sehen konnte. Zudem hatte ihn so etwas
wie das Jagdfieber gepackt. Es war wie ein Zwang, eine Sucht, die von ihm
Besitz ergriffen hatte. Nette hatte die Zahl 44 in alle nur möglichen
Gleichungen zerlegt und sie dann als möglichen Code ausprobiert. Doch egal, was
er anstellte, das Ergebnis war stets das Gleiche. Die Dateien blieben ihm
verschlossen.
Die Zeiteinblendung an seinem
Computer hatte die 16 Uhr Marke längst überschritten. Der Mann mit der
Nickelbrille fragte sich mittlerweile, wann sich der Detektiv melden würde, um
ihm den Kommissar vom Halse zu schaffen. Er selbst hatte sich deswegen bereits
das Hirn zermartert, war aber zu keiner brauchbaren Idee gekommen. Er war
Wissenschaftler und kein Mafioso. Woher sollte er wissen, wie er einen Profi
auf elegante Weise abschüttelt?
Er hatte seine Gedanken noch
nicht ganz vollzogen, als ihn einer dieser fürchterlichen Klingeltöne aus
denselbigen riss. Hariri warf ihm einen entschuldigenden Blick herüber und
kramte sein Handy hervor. „Kommis...“ Weiter kam er nicht, denn die
Person am anderen Ende unterbrach ihn, indem er seinen Namen nannte. „Wie
Sie meinen, Herr Wurzer, aber ich gebe zu bedenken,
dass...“ Hariri gelang es auch dieses Mal nicht auszusprechen.
„Jawohl Chef, wie Sie meinen.“
Der Kommissar sah seinen
Schutzbefohlenen irritiert an. „Offensichtlich wurde der zweite
Tatverdächtige in der City gesehen. Ich werde für seine Observation gebraucht.
Hauptkommissar Wurzer will auf diese Weise an die
Auftraggeber herankommen.“ Nette reagierte bühnenreif. „Aber dann
bin ich ja völlig auf mich gestellt.“ „Keine Sorge“, wiegelte
Hariri ab, „so lange der Tatverdächtige unter Beobachtung steht, sind Sie
sicher.“ „Ihr Wort in Gottes Ohr.“ „Sie werden sehen,
heute Abend ist der ganze Spuk vorbei und Sie können sich ganz beruhigt wieder
in Ihre Arbeit stürzen.“
So recht wohl fühlte sich der
Kommissar nicht, als er daran dachte, was geschehen konnte, wenn sich
herausstellte, dass der Verdächtige nicht der Richtige war, oder wenn sie ihn
aus den Augen verlieren würden. Andererseits kannte er seinen Vorgesetzten gut
genug, um zu wissen, dass dieser nicht unüberlegt handelte.
„So wie es etwas Neues
gibt, gebe ich Ihnen Nachricht“, versprach Hariri. „Ich werde Sie
jetzt noch nach Hause begleiten. Sie bleiben dann bitte daheim und öffnen
niemandem außer mir oder den Kollegen die Tür.“ „Worauf Sie sich
verlassen können“, entgegnete der Informationstechniker gespielt beunruhigt.
-22-
Ich kam mir vor wie Doppelagent
007 in tödlicher Mission für Recht und Gerechtigkeit. Einerseits gaukelte ich
meinem Auftraggeber vor, die Polizei nicht eingeschaltet zu haben und ihn bei der
Übergabe der ominösen Disk lediglich als eine Art Bodyguard zu begleiten.
Andererseits konnte und wollte ich mir, falls etwas schief ging, nicht
zeitlebens die Schuld daran geben müssen. Erfahrung lehrt bekanntlich. Die
Einweihung meines Freundes war also nicht ganz selbstlos, wie ich zugeben muss.
Jogi und ich waren mit Einbruch
der Dämmerung in den Braunschweiger Hafen gefahren, um uns den Ort, wo um
Mitternacht der Austausch stattfinden sollte, in aller Ruhe anzusehen. Der
luxuriöse Dienstwagen des Hauptkommissars holperte gut abgefedert durch die
Schlaglöcher der ramponierten Betonplatten, die mit uraltem Kopfsteinpflaster
und etlichen Bahnschienen wechselten. Am Kai, vor einem Verladegebäude der
‚Umschlag und Lagerhaus Gesellschaft’, lag ein Frachtkahn vertäut
und dümpelte idyllisch vor sich hin. An seinem geringen Tiefgang konnte ich
erkennen, dass seine Ladung bereits gelöscht war.
Jogi umfuhr das Gebäude, so weit
es möglich war und parkte die klapprige Karre, die er sich extra für diesen
Zweck von der Fahrbereitschaft geholt hatte, durch einem angrenzenden Schuppen
gut verdeckt, in einer Nische. Es war keine Menschenseele zu sehen. Die
Arbeiter der ‚ULG’ hatten das Gelände längst verlassen. Die
grellgrünen Leuchtziffern der Instrumentenanzeige sprangen gerade auf 19 Uhr,
als wir ausstiegen.
„Die Entführer haben den
Ort der Übergabe gut gewählt“, musste ich neidlos anerkennen. „Von
hier aus können sie beide Zufahrtswege kontrollieren und schon von weitem
erkennen, wenn sich ein Fahrzeug nähert.“ Ich sah mit griesgrämigem
Gesichtsausdruck nach oben. „Wenn die Kerle dort oben einen Mann
postieren, haben sie das gesamte Hafengebiet im Blick.“ „Stimmt,
andererseits gibt es aber auch nur diese beiden Fluchtmöglichkeiten.“ Ich
legte meine Hand auf die Schulter meines Freundes und schüttelte argwöhnisch
den Kopf. „Ehrlich gesagt, kann ich mir nicht vorstellen, dass es uns die
Entführer so einfach machen. Das sind Profis. Ich glaube nicht, dass die
wirklich damit rechnen, dass Felix Nette die Polizei aus dem Spiel
lässt.“ „Du hast Recht, sie werden zumindest damit rechnen, dass
wir mit von der Partie sind.“ „Dann werden sie sich möglicherweise
das Wasser als Rückzugsweg ausgeguckt haben“, überlegte ich laut. Jogi
zog ein Gesicht, als habe er gerade in eine besonders saure Zitrone gebissen.
„So geht das alles nicht!
Das Risiko, die Ganoven mit der Disk davon kommen zu lassen, ist eine Sache,
aber was ist, wenn der Austausch aus irgendeinem Grunde nicht reibungslos über
die Bühne geht?“, gab mein Freund plötzlich seine Bedenken zum Ausdruck.
„Du musst mir erlauben, zumindest die Fluchtwege durch meine Leute
abriegeln zu lassen und die Kollegen der Wasserwacht hinzuzuziehen.“ Ich
war selbst lange genug Polizist gewesen, um Jogis Bitte nachvollziehen zu
können. „Du weißt, welches Risiko wir damit eingehen? Sowie die Gangster
auch nur eine einzige Uniform sehen, werden sie die ganze Aktion platzen
lassen.“ „Du warst lange genug bei dem Verein, um zu wissen, dass
dies die einzige Chance ist, die das Kind hat.“ „Also schön“,
stimmte ich schweren Herzens zu. „Aber außer dir will ich niemanden hier
sehen. Du postierst dich am besten schon drei Stunden vor der geplanten
Übergabe. Pass aber bloß auf, dass dich niemand entdeckt.“ Jogi sah mich
verärgert an. „Also, für wie dämlich hältst du mich?“
„Entschuldige bitte, ich fühlte mich gerade in unsere gemeinsame Zeit
zurückversetzt.“
Auch wenn Jogi wusste, dass ich
es nicht so meinte wie es den Anschein hatte, hellte sich die Miene meines
Freundes nur unwesentlich auf. „Ich werde mich im Fond von Nettes roten
Skoda Fabia verstecken“, fuhr ich fort. „Falls etwas schief geht,
möchte er mich in unmittelbarer Nähe wissen.“ „Keine Frage, nach
der Schießerei vor der PTB scheint der Mann ein schier unerschöpfliches
Vertrauen in deine Fähigkeiten zu haben.“ Ich zwinkerte mit dem Auge.
„Qualität setzt sich eben durch.“