Detektei Lessing

 

Band 44

 

Bumerang

 

-1-

 

Es ist fast Mitternacht, als Mike Steuer zum Treffpunkt unterhalb der Brücke kam. Neben dem Lagerplatz befinden sich Gleise. Auf der anderen Seite fließt die ‚Oker‘ in Richtung Wolfenbüttel. Der Privatermittler kennt diesen versteckten Lagerplatz der Bahn seit vielen Jahren. Er liegt zentral und doch abseits. Geschützt durch üppige Vegetation. Er selbst hatte diesen Treffpunkt vorgeschlagen. Sein Auftraggeber legte größten Wert auf Diskretion.

Mike sah zur Uhr. Ein Geschenk seiner Frau, kurz bevor sie durch einen tragischen Unfall ums Leben kam. Er hütete sie wie seinen Augapfel. Sein Klient verspätete sich. Für seinen Überraschungsbesuch bei Carola war es ohnehin zu spät. Seine Tochter wurde um Mitternacht 28 Jahre alt. Er hatte ihr zu diesem Anlass ein Geschenk besorgt. Gerade als er sie anrufen und wenigstens gratulieren wollte, näherten sich die Scheinwerfer eines Wagens über den schmalen Weg.

Der Wagen blieb stehen. Der Fahrer stieg aus. Mike hielt die Hand vor seine Augen. Die Scheinwerfer blendeten ihn. „Ich hielt es für dringend geboten, Sie heute Nacht noch zu unterrichten“, ging Mike auf den Mann zu, den er für seinen Auftraggeber hielt. Der stand zwischen den Scheinwerfern seines Wagens. Mike hielt eine Mappe mit einigen Fotos und ersten Ergebnissen seiner Recherche in der Hand. „Sie werden nicht glauben, was Sie sehen“, näherte sich Mike sarkastisch lächelnd. Erst jetzt fiel ihm auf, dass sein Klient noch kein einziges Wort gesagt hatte. Leider konnte er ebenso wenig sehen, wie sein Gegenüber im grellen Licht nach einer Waffe griff und diese auf den Detektiv richtete.

Im selben Augenblick zerriss ein Schuss krachend die trügerische Ruhe der Nacht. Hunderte Vögel schreckten aus ihrem Schlaf, flatterten in Todesangst kreischend davon. Mike kippte wie in Zeitlupe nach hinten. Das Projektil hatte ihn in die Stirn getroffen. Die Wucht des Aufpralls hatte ihn mit voller Wucht erwischt. Der Unbekannte steckte zufrieden die Waffe ein. Dann begab er sich zur Leiche, bückte sich über sie und nahm die Mappe an sich, die Mike immer noch in seiner Hand hielt. Abschließend durchsuchte er die Taschen des Toten und entnahm ihnen sämtliche Wertsachen. Selbst vor der Uhr machte er nicht halt. Bevor er verschwand, schliff er den Detektiv zu seinem Auto und setzte ihn hinein.

Stunden später, die Sonne war längst aufgegangen und die Vögel in ihre Nester zurückgekehrt, näherte sich ein Pritschenwagen der Stadtwerke dem leeren Platz. Der Fahrer parkte den Wagen nahe der Oker. Während sein Kollege den Wagen verließ, um sich zu erleichtern, packte er sein Frühstück aus und goss sich einen Becher mit Kaffee ein.

Masul Nemitchy hatte kurz darauf sein Vorhaben erfolgreich abgeschlossen. Erleichtert kehrte er zum Wagen zurück. Dabei sah er am anderen Ende des Platzes ein weiteres Auto, in dem jemand schlief. Neugierig wie er war, ging er hinüber und klopfte an eine der Scheiben. Als sich der Mann nicht rührte, ging er um das Auto und sah das Loch in der Stirn des Mannes. „Komm rüber, Ralf!“, rief er, während er seinem Kollegen aufgeregt zuwinkte.

Ralf reagierte von seinem Beifahrer genervt, aber letztlich packte auch ihn die Neugier und er unterbrach sein Frühstück, um nachzuschauen, was Masul so aus der Fassung brachte. „Beeil dich! Ich glaube, der Mann ist tot.“ „Ach was“, reagierte Ralf kopfschüttelnd. „Der hat sicherlich zu viel getrunken und schläft hier nur seinen Rausch aus.“ „Mit einem Loch im Kopf?“, erkundigte sich Masul irritiert. „Was redest du denn da?“, krauste sich Ralfs Stirn, während er um das Auto ging. „Ach du Scheiße! Der ist ja tatsächlich tot. Wir müssen die Polizei rufen.“

Nur wenig später traf der erste Streifenwagen am Lagerplatz ein. Die Beamten überprüften die Vitalwerte des Opfers, orderten Verstärkung und alarmierten einen Rettungswagen, ehe sie den Platz weiträumig mit Trassierband absperrten. Überdies nahmen sie die Personalien der Arbeiter auf. Zeitgleich informierte die Zentrale die Kollegen von der Kriminalpolizei.

„Sie wollten hier also Ihre Frühstückspause machen und haben sich über den Wagen gewundert“, fasste Kommissar Schubert die Aussagen der Stadtwerker zusammen. Ralf Lüneburger und Masul Nemitchy nickten übereinstimmend. „Ich dachte, der schläft“, bekundete der Syrer. „Da habe ich an die Scheibe geklopft, aber er hat nichts gemacht.“ „Wie denn auch mit einem Loch im Kopf“, ereiferte sich sein Kollege.

„Ist Ihnen vorher irgendetwas aufgefallen?“, wollte Schubert von den Arbeitern wissen. Die Männer sahen sich fragend an. „Nee, da war nichts“, antwortete Ralf Lüneburger. „Oder hast du noch was gesehen?“ „Nein“, schüttelte Masul den Kopf. „Ihre Adressen haben Sie den Polizisten ja schon gegeben, oder?“ „Ja“, bestätigten die Arbeiter. „Dann können Sie jetzt weiter frühstücken, aber halten Sie sich bitte noch zur Verfügung.“ „Danke, aber mir ist der Appetit vergangen“, verzog der Fahrer das Gesicht. „Mir auch“, stimmte ihm der Syrer zu.

Unterdessen suchte die Spurensicherung weitläufig das Gelände nach Hinweisen ab. Alles schien von Interesse zu sein. Zigarettenkippen, Müll jeglicher Art und Spuren, die von Schuhen oder Reifen hinterlassen worden waren. Um die von den Arbeitern hinterlassenen Spuren ausschließen zu können, wurden ihre Fingerabdrücke und die ihrer Schuhe digital gescannt. Dabei sah Lüneburger aufmerksam zu.

„Hat sich ganz schön was verändert, in den paar Jahren“, kommentierte er die Arbeit von Lotte Weiß. Die Mitarbeiterin der Kriminaltechnik war gerade dabei, die Prints des Stadtwerkers einzuscannen. „Ja, es ist noch nicht lange her, da benutzten wir noch Stempelkissen.“ „War eine ziemliche Sauerei“, erinnerte sich Lüneburger. „Sie verfügen offenbar über die entsprechenden Erfahrungen“, folgerte die junge Frau. „Eine Dummheit, die schon etliche Jahre zurückliegt“, nickte er.

Masul Nemitchy hörte interessiert zu. Davon hatte sein Kollege bislang nichts erzählt. „Ich kenne das schon“, ergriff er das Wort. „Nach meiner Ankunft in Deutschland wurde ich registriert. Dabei wurden auch meine Fingerbadrücke genommen und Fotos gemacht.“ Die Stirn seines Kollegen krauste sich. „Warum?“ „Ich weiß es nicht“, entgegnete Masul. „Ohne das darf man nicht bleiben.“

„Weshalb trat so wenig Blut aus der Wunde?“, erkundigte sich Oberkommissar Sinner bei Doktor Schnippler. „Zum einen ist der Auffindeort nicht der Tatort“, entgegnete der Rechtsmediziner. „Er wurde dort drüben getroffen“, mischte sich Gernot Räuber in das Gespräch und deutete auf eine Stelle, die etwa fünf Meter vom Wagen des Ermordeten entfernt lag. „Er wurde erst postmortal in den Wagen gesetzt.“ „Aber weshalb trat so wenig Blut aus der Wunde?“, hakte Sinner nach. „Genaues kann ich erst nach der Obduktion sagen“, erklärte der Doktor. „Es könnte am Projektil liegen. Die starke Hitzeentwicklung beim Eintritt des Geschosses hat so etwas wie eine Verödung der Eintrittsstelle bewirkt.“

„Und nun noch die Frage, die nicht fehlen darf“, wurde der Oberkommissar geradezu pathetisch. „Können Sie schon etwas zum Todeszeitpunkt sagen?“ „Ich habe schon auf die Frage gewartet“, bekundete der Doktor. „Anhand der Absenkung der Körpertemperatur des Toten würde ich von einem Zeitpunkt ausgehen, der um Mitternacht liegt“, mutmaßte Schnippler. „Plus minus einer Stunde und wie immer unter Vorbehalt versteht sich.“ Sinner nickte ihm zu. „Versteht sich. Wann kann ich mit Ihrem Bericht rechnen?“ „Ich werde mich noch heute an die Arbeit machen“, versprach er. „Wenn sich nichts Unvorhersehbares ergibt, dann müsste ich bis morgen Mittag fertig sein.“ „Das ist gut.“

„Herr Oberkommissar“, lenkte Schubert die Aufmerksamkeit seines Vorgesetzten auf sich. „Dann sehen wir uns morgen in Ihrer Pathologie“, kündigte Sinner abschließend seinen Besuch an der ‚Celler Straße‘ an. „Sie könnten eigentlich mal ein Pfund Kaffee mitbringen!“, rief ihm Doktor Schnippler nach. Sinner reckte seinen Daumen nach oben.

„Was gibt es denn so Wichtiges, Schubert?“ „Da sich in den Taschen und im Wagen des Toten keinerlei Dokumente befanden, habe ich eine Halterabfrage veranlasst. Das Ergebnis ist nun klar.“ „Nun machen Sie es doch nicht so spannend, Schubert“, seufzte Sinner. „Der Wagen ist auf einen gewissen Mike Steuer, Privatermittler, zugelassen.“ Den gespitzten Lippen des Oberkommissars entfleuchte ein Pfiff. „Ich habe natürlich sofort überprüft, ob es sich bei dem Toten tatsächlich um Steuer handelt. Dabei bin ich auf sein Foto auf der Internetpräsenz seiner Detektei gestoßen.“ Schubert zeigte Sinner die betreffende Aufnahme. „Kein Zweifel, das ist unser Mann. Gute Arbeit, Schubert.“

„Damit wird ein Raubmord unwahrscheinlich“, schlussfolgerte der Kommissar. „Nicht so eilig mit den jungen Pferden“, bremste Sinner. „Bevor wir uns zu irgendwelchen Mutmaßungen verleiten lassen, sollten wir uns die Fälle des Mannes und natürlich wie gewohnt auch sein Umfeld genauer ansehen“, mahnte der Oberkommissar. „Ich nehme an, dass Sie die Adresse des Opfers bereits herausgefunden haben.“ Schubert nickte eifrig. „Er wohnt dort, wo er arbeitet.“ „Angehörige?“ Der Kommissar zuckte mit den Achseln. „Na gut, wir werden sehen.“

-2-

Kurz darauf trafen Sinner und Schubert vor dem Reihenhaus des Toten in der ‚Ernst-Moritz-Arndt-Straße‘ ein. Auf ihr Klingeln öffnete niemand. Der Kommissar sah durch die im Parterre gelegenen Fenster. „Nichts zu sehen.“ „Mike Steuer, private Ermittlungen aller Art“, las Sinner von dem Schild ab, welches an der Wand neben der Haustür montiert war. „Wie kommt es, dass wir noch nie etwas mit dem Mann zu tun hatten?“, fragte er Schubert. Der kratzte sich grüblerisch hinter dem Ohr. „Vielleicht hat er die Detektei erst vor kurzem eröffnet?“ „Das wäre zumindest eine Möglichkeit.“

„Hallo, was machen Sie da?“, hörten die Beamten hinter sich die Stimme einer jungen Frau. „Sehen Sie immer durch die Fenster in die Wohnungen fremder Leute?“ „Sie haben vollkommen Recht“, pflichtete ihr Sinner bei. „So etwas gehört sich wirklich nicht.“ Schubert wollte gerade mit seiner Antwort ansetzen, als Sinner weitere Worte folgen ließ. „Es sei denn, es gibt einen triftigen Grund.“

Carola Steuer sah sich den Dienstausweis genau an, den ihr der Oberkommissar im nächsten Moment entgegenhielt. „Okay, dann will ich mal ein Auge zudrücken“, nahm es die junge Frau locker. „Die Polizei also“, seufzte sie kopfschüttelnd, während sie den Haustürschlüssel aus der Hosentasche zog. „Hat mein Bruder mal wieder Blödsinn gemacht?“ „Wie kommen Sie darauf?“, setzte Schubert nach. Sie zuckte mit den Achseln. „Es wäre ja nicht das erste Mal.“ „Vielleicht ist es besser, wenn wir hineingehen“, schlug Sinner vor.

„Mein Vater ist bestimmt noch unterwegs“, erklärte Carola. „Martin hält sich nur gelegentlich bei uns auf. Eigentlich bewohnt er die Wohnung unserer verstorbenen Großeltern. Aber momentan schläft er wieder bei irgendeiner seiner Tussen.“ „Was Ihnen nicht sonderlich gefällt“, stellte Schubert fest. „Ich bitte Sie, er ist dreißig und hat ständig eine andere am Start. Bindungsängste, wenn sie mich fragen.“ „Es geht nicht um Ihren Bruder“, zog Sinner die Aufmerksamkeit der Frau auf sich. „Sie sollten sich besser setzen.“

Carola starrte den Oberkommissar erwartungsvoll an und sank auf das Sofa. „Wir müssen Ihnen leider die traurige Nachricht überbringen, dass Ihr Vater heute Morgen tot aufgefunden wurde.“ Sie schüttelte den Kopf. „Das kann nicht sein!“ „Ein Irrtum ist leider ausgeschlossen“, bekräftigte Schubert. Carola wurde es schwindelig. „Ich hole Ihnen ein Glas Wasser“, bot sich Schubert an und verschwand in der Küche. „Unser aufrichtiges Beileid, Frau Steuer“, sprach Sinner der jungen Frau sein Mitgefühl aus, während sein Kollege in der Küche nach einem Glas suchte.

„Hier, trinken Sie erst einmal. Das wird Ihnen guttun“, zeigte sich der Kriminalbeamte fürsorglich. „Danke, aber was ist denn überhaupt geschehen? Hatte mein Vater einen Unfall?“ „Herr Steuer wurde das Opfer einer Gewalttat“, erklärte Sinner. Carola sah den Oberkommissar fragend an. „Ihr Vater wurde erschossen. Er war sofort tot.“ Sie schüttelte den Kopf. „Wer macht so etwas?“ Tränen flossen über ihr entsetztes Gesicht. „Genau das wollen wir herausfinden“, entgegnete Sinner. „Fühlen Sie sich in der Lage, uns einige Fragen zu beantworten?“

Die junge Frau nickte. „Können Sie uns etwas über den aktuellen Fall Ihres Vaters sagen? Woran hat er derzeit gearbeitet?“ Die Tochter des Privatermittlers schüttelte den Kopf. „Mein Vater sprach nie über seine Fälle“, schniefte Carola. „Seit wann wohnen Sie in Wolfenbüttel?“, hakte Schubert nach. „Etwa ein halbes Jahr. Wir zogen wegen meiner Mutter aus Uslar hierher.“ „Ihr Vater war verheiratet?“, stutzte Sinner. „Meine Mutter ist vor einem dreiviertel Jahr bei einem Unfall gestorben. Sie kam ursprünglich aus Wolfenbüttel und wollte hier neben ihren Eltern beerdigt werden“, erklärte sie. „Verstehe.“

Schubert seufzte. Der Umstand, dass die junge Frau innerhalb eines Jahres Mutter und Vater verloren hatte, ließ den sonst so nüchtern erscheinenden Ermittler nicht kalt. „Das tut uns wirklich sehr leid“, zeigte auch Sinner Mitgefühl. „Wo genau finden wir Ihren Bruder? Haben Sie eine Telefonnummer?“, erkundigte sich Schubert. „Zum einen sollte er jetzt bei Ihnen sein, zum anderen würden wir ihn auch gern zu den Fällen Ihres Vaters befragen.“ „Ich wäre jetzt eigentlich lieber allein und ehrlich gesagt kann ich mir nicht vorstellen, dass Ihnen Martin mehr über die Arbeit meines Vaters sagen kann“, blockte Carola ab.

Sie erhob sich vom Sofa und begab sich an eine Kommode, die an der gegenüberliegenden Wand des Wohnzimmers stand, zog eine der Schubladen heraus und entnahm ihr ein Telefonverzeichnis. Nachdem sie den Eintrag ihres Bruders gefunden hatte, notierte sie die Nummer auf einem Zettel und übergab ihn Schubert. „Das Verhältnis zu Ihrem Bruder ist offenbar nicht sehr eng“, folgerte der Oberkommissar aus der Tatsache heraus, dass sie die Telefonnummer ihres Bruders weder auswendig kannte noch in ihrem vor sich liegenden Handy gespeichert hatte. „Sie sind ein guter Beobachter“, bestätigte sie die Annahme des Ermittlers. „Ist mein Job“, schürzte er die Lippen. „Gibt es einen Grund für diese Disharmonie?“ „Einige“, wich Carola aus.

„Gibt es ein Arbeitszimmer, in dem Ihr Vater seine Klienten empfing und in dem er die Unterlagen zu seinen aktuellen Fällen aufbewahrte?“, erkundigte sich Schubert. „Ja, gleich vorne im Flur, geradeaus“, bestätigte die junge Frau. „Wenn es Ihnen recht ist, würde ich mich dort gern etwas umsehen. Je eher wir wissen, woran Ihr Vater arbeitete, um so größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir den Täter ermitteln.“ „Ja, ja, machen Sie nur.“

„Sie sagten, Ihr Bruder wohnt mal hier mal da“, erinnerte sich Sinner. „Er zog doch mit Ihnen nach Wolfenbüttel, oder?“ „Nein, Martin wohnte bereits hier“, widersprach die junge Frau. „Er wuchs bei meinen Großeltern auf.“ In den Gesichtern der Kriminalbeamten zeichneten sich Fragezeichen ab. „Am besten ist es, wenn Sie ihn selber danach fragen“, schien Carola Steuer diesen Teil der Unterhaltung beenden zu wollen.

„Sie müssten Ihren Vater identifizieren“, erklärte der Oberkommissar. „Er befindet sich derzeit in der Rechtsmedizin an der ‚Celler Straße‘. Wenn es Ihnen recht ist, würde ich Sie morgen Vormittag gegen 11 Uhr hier abholen und nach Braunschweig begleiten“, schlug Sinner vor. Carola Steuer sah den Beamten traurig an. „Das muss wohl sein.“ „Leider ja“, bestätigte er. „Der Gesetzgeber schreibt die Identifikation durch einen Angehörigen zwingend vor.“

„Wie ist es mit der Beerdigung meines Vaters?“, erkundigte sich die Tochter des Toten. „Sowie der Leichnam freigegeben ist, können Sie ihn durch das Bestattungsunternehmen beim Institut für Rechtsmedizin abholen lassen. Der Pathologe kann Ihnen morgen schon mehr dazu sagen“, verwies Sinner auf Doktor Schnippler. „Sie sind sich sicher, dass sie mit der Situation allein zurechtkommen? Ich könnte Ihnen auch einen Psychologen oder einen Seelsorger hinzuziehen“, bemühte sich der Oberkommissar. „Das wird nicht nötig sein.“ „Gut, dann will ich mal sehen, ob mein Kollege fündig wurde.“

„Wollen Sie einen Kaffee?“, fragte Carola Steuer als sich der Ermittler erhob. Fast hatte es den Eindruck, als wollte sie doch nicht allein sein. „Danke nein, wir müssen dann auch weiter“, nahm Sinner den plötzlichen Gefühlswandel zum Anlass, noch einmal über einen Seelsorger nachzudenken. „Sie haben doch sicherlich eine Freundin oder Freund, den sie anrufen könnten.“ „Ja, das mache ich, versprochen.“ Fürs Erste beruhigt, begab sich Sinner zu seinem Kollegen ins Arbeitszimmer des Opfers.

„Und, bist du auf etwas Interessantes gestoßen?“ Schubert reichte seinem Vorgesetzten die Kamera des Detektivs. „Sieh selbst.“ „Moment mal, die Frau kenne ich doch“, reagierte Sinner überrascht. „Das ist doch die Voss-Wellenbrink.“ „Der Typ an ihrer Hand ist aber sicherlich nicht ihr Ehemann“, witzelte Schubert. „Der ist mindestens zwanzig Jahre jünger und soviel ich weiß, ist die Ehe der Wellenbrinks kinderlos.“ „Na ja, nach einem Mutter Sohn Abend sieht diese Vertrautheit ohnehin nicht aus“, bemerkte Sinner süffisant.

„Voss-Wellenbrink ist doch Besitzer einiger Edeka Märkte in Braunschweig und Wolfenbüttel, wenn ich mich nicht irre“, überlegte Schubert. „Ich habe das Foto der Frau schon häufiger in der hiesigen Regenbogenpresse gesehen“, fügte er hinzu. „Ich wusste gar nicht, dass du die Yello Press liest“, war Sinner beeindruckt. „Man will ja schließlich wissen, was in der Stadt so abgeht.“ „Dann weißt du sicherlich auch von den Gerüchten, nach denen es um die Ehe nicht sonderlich gut bestellt sein soll. Kein Wunder also, wenn sich ein Detektiv für die Dame des Hauses interessiert“, mutmaßte Sinner.

„Hast du sonst noch was gefunden?“, erkundigte sich der Oberkommissar. „Den Laptop. Leider ist er durch ein Passwort gesichert.“ „Die KTU wird ihre Freude damit haben“, nahm Sinner das Gerät an sich. „Gut, dass Sie gerade kommen. Ist Ihnen das Passwort für den Laptop Ihres Vaters bekannt?“ „Nee, wenn es um seine Fälle ging, hat mein Vater immer sehr auf Diskretion geachtet.“ „Dann müssen wir den Laptop leider mitnehmen. Sie bekommen natürlich eine Quittung und das Gerät so bald wie möglich zurück.“ „Kein Problem.“

-3-

„Ich brauche Ihnen sicherlich nicht zu sagen, dass Sie in diesem Fall äußerstes Fingerspitzengefühl beweisen müssen“, brachte es Oberstaatsanwalt van der Waldt auf den Punkt. „Frau Voss-Wellenbrink ist eine bekannte und sehr geschätzte Person in der Wolfenbütteler Öffentlichkeit.“ „Ich bitte Sie, das versteht sich von selbst, Herr Oberstaatsanwalt“, beruhigte Sinner den Justiziar. „Falls Sie im Laufe der Ermittlungen auf weitere Begebenheiten stoßen, die Frau Voss-Wellenbrink kompromittieren könnte, möchte ich es zuallererst erfahren.“ „Aber…“ „Ich hoffe, ich habe mich klar genug ausgedrückt?“, fiel van der Waldt seinem Ermittler ins Wort. „Ja, voll und ganz“, lenkte der Oberkommissar ein.

Als Oberstaatsanwalt konnte van der Waldt den Stand der Ermittlungen jederzeit einsehen. Ein Umstand, der Sinner schon lange ein Dorn im Auge war. „Schubert und ich haben heute Nachmittag einen Termin mit Norbert Voss-Wellenbrink in dessen Haus. Er soll uns erklären, weshalb er seine Frau von Mike Steuer observieren ließ.“ „Seien Sie um Himmels Willen diskret dabei“, hob van der Waldt beschwörend die Hand. „Der Mann verfügt über ausgezeichnete Connection bis in die höchsten Kreise der Politik.“ „Sie kennen uns doch, Herr Oberstaatsanwalt“, lächelte Oberkommissar Sinner. „Genau das macht mich ja gerade so nervös.“

Die eher bescheiden wirkende Villa der Familie Wellenbrink befand sich seit Generationen im ‚Hasenwinkel‘, unweit der ‚Salzdahlumer Straße‘. Dementsprechend ernüchternd schaute Schubert bei der Ankunft der Kommissare auf das Gebäude. „Der Urgroßvater von Frau Voss-Wellenbrink legte den Grundstein des heutigen Vermögens der Familie mit dem Anbau von Gemüse“, erklärte Sinner seinem Mitarbeiter. „Damals gab es all die Häuser an der ‚Salzdahlumer‘ noch nicht. Bis zum Krieg wurde hier vor allem Gemüse angebaut. Wolfenbüttel war weithin als Stadt für Obst und Gemüseanbau bekannt. Es gab mehrere Konservenfabriken.“ „Aha, sehr interessant“, gähnte Schubert. „Ich dachte etwas Insiderwissen könnte nicht schaden“, wandte sich Sinner der Klingel zu.

Über den Köpfen der Kommissare surrte eine Kamera. Sinner hielt seinen Ausweis vor die Linse. Woraufhin ein elektrischer Türöffner ertönte und sich das schmiedeeiserne Gartentor öffnete. „Treten Sie bitte näher“, ertönte eine blecherne Stimme aus dem Lautsprecher der Gegensprechanlage. „Herr Voss-Wellenbrink erwartet Sie bereits.“

Während die Kommissare auf eine distinguierte Frau in schwarzer Livree zugingen, öffnete sich rechts von ihnen ein breites Garagentor und ein rotes Cabriolet rollte heraus. „Ich werde verrückt“, staunte Schubert, als der Wagen unmittelbar vor ihm stoppte und die Frau ausstieg, die Steuer mit seiner Kamera fotografiert hatte. „Ein original ‚Karmann Ghia‘ mit beigen Ledersitzen.“ „Nun, ich will doch hoffen, dass Sie bei Verstand bleiben“, amüsierte sich die Unternehmerin. „Oberkommissar Sinner“, mischte sich sein Vorgesetzter ein. „Der Kollege Schubert ist begeisterter Oldtimerfan.“ Die Unternehmerin sah sich den Dienstausweis des Oberkommissars an.

„Kriminalpolizei? Ich habe doch hoffentlich nichts ausgefressen?“ „Kennen Sie diesen Mann?“, fragte Sinner, während er ihr ein Foto des Opfers zeigte. „Ist der Mann tot?“, erkundigte sich Frau Voss-Wellenbrink mit gekrauster Stirn. „Er wurde heute Morgen erschossen aufgefunden“, erklärte Sinner. Schubert sah sich inzwischen den Wagen genauer an und fotografierte die hinteren Reifen. „Was macht Ihr Kollege da?“, wurde sie aufmerksam. „Bei dem Toten handelt es sich um einen Privatdetektiv, den Ihr Mann engagiert hatte, um Sie zu observieren.“

„Das ist ja wohl nicht Ihr Ernst!“, entgegnete sie aufgeregt. „Leider doch“, blieb Sinner gelassen. „Ich muss Sie daher fragen, wo Sie sich gestern Abend zwischen 22 Uhr und heute Morgen 2 Uhr aufgehalten haben.“ „Das ist eine Frechheit!“, wurde sie cholerisch. Im selben Moment tauchten Herr Voss-Wellenbrink und die in schwarz gekleidete Hausdame vor dem Eingangsportal auf.

„Fragen Sie doch einfach meinen Mann. Wenn er diesen Schnüffler engagiert hat, wird er ja wissen wo ich war.“ Damit lachte sie schon fast hysterisch, während sie in den ‚Karmann Ghia‘ einstieg und mit durchdrehenden Rädern davonbrauste.

„Was ist hier los?“, erregte sich Voss-Wellenbrink. „Ich dachte, Sie wollten zu mir und nicht zu meiner Frau.“ „Da wir ohnehin auch Ihre Frau zum Tod von Herrn Steuer befragen müssen, bot sich gerade eine erste Gelegenheit.“ „Sie hätten ja nicht unbedingt mit der Tür ins Haus fallen müssen“, hielt er dem Oberkommissar mangelnde Zurückhaltung vor. „Es tut mir wirklich leid, wenn ich Ihnen dadurch Unannehmlichkeiten bereitet haben sollte, aber es geht hier um Mord.“ „Ist ja schon gut“, wiegelte er ab und bat die Kommissare ins Haus.

„Es ist wirklich schrecklich, was da passiert ist“, bekundete der Firmenleiter seine Anteilnahme. „Aber was habe ich mit dem Tod dieses Detektivs zu tun?“ „Der letzte Fall an dem Herr Steuer arbeitete, war die Observierung Ihrer Frau“, erinnerte ihn Schubert. „Ja und?“, entgegnete Voss-Wellenbrink provokant. „Wir sind auf aktuelle Fotos von Ihrer Frau und einer noch unbekannten Person gestoßen.“ „Da sehen Sie doch, dass es allen Grund für mein Misstrauen gab“, fühlte sich der Unternehmer bestätigt. „Ich habe seit längeren den Verdacht, dass mich Manuela betrügt.“

„Es liegt nahe, dass Ihnen Herr Steuer die aktuellen Fotos zeitnah präsentieren wollte, um sein weiteres Vorgehen mit Ihnen abzusprechen“, mutmaßte der Oberkommissar. „Ja sicher, aber dazu kam es dann offensichtlich nicht mehr“, behauptete der Hausherr. Sinner griff in ein Kuvert und hielt ihm ein Foto vor, welches seine Frau in den Armen eines Unbekannten zeigte. „Kennen Sie den Herrn?“, hakte der Beamte nach. Der Unternehmer betrachtete die Aufnahme eher flüchtig. „Tut mir leid, nie gesehen.“

„Ich muss Sie routinemäßig fragen, wo Sie sich in der vergangenen Nacht zwischen 22 Uhr und 2 Uhr aufhielten.“ „Hier! Ich habe den Abend mit einem guten Buch und einer noch besseren Flasche Wein verbracht“, entgegnete Voss-Wellenbrink. „Da meine Frau erst nach 2 Uhr nach Hause gekommen sein muss, kann sie dies leider nicht bestätigen. Ich verfüge also über kein Alibi.“ Er lächelte smart. „Aber ich wusste ja auch nicht, dass ich eins brauchen würde.“

„Da unsere Spezialisten momentan das Laptop von Herrn Steuer auswerten, ist es gut möglich, dass es weitere Unterlagen zur Observierung Ihrer Frau gibt“, erklärte Sinner nicht ohne Hintergedanken. „Wir werden bei sich daraus eventuell ergebenden Fragen wieder auf Sie zukommen.“ „Machen Sie das, aber vergessen Sie meine Frau nicht. Sowie ich die Sache sehe, hätte sie doch ein ungleich größeres Motiv, den Detektiv aus dem Wege zu räumen. Allein der Skandal, wenn herauskäme, dass sie mich in aller Öffentlichkeit mit einem Kerl betrügt, der offensichtlich ihr eigener Sohn sein könnte, wäre Grund genug.“

Schubert und Sinner sahen sich vielsagend an. Voss-Wellenbrink hatte seine Frau gerade massiv belastet. Der Oberkommissar fragte sich, was der wahre Grund für seine Anschuldigung war. „Wo wir schon mal hier sind, könnten Sie mir auch gleich verraten, ob es Waffen in Ihrem Haus gibt, die auf Sie oder Ihre Frau zugelassen sind.“ „Ja sicher, das ist kein Geheimnis“, entgegnete der Hausherr bereitwillig. „Am besten gehen wir gleich zum Waffenschrank.“

Auch wenn sich bei der ersten Ansicht des Leichnams nicht die genaue Größe des Kalibers durch Doktor Schnippler bestimmen ließ, war klar, dass es sich um ein kleineres Projektil handelte. Die Ermittler konnten sich folglich auf Handfeuerwaffen konzentrieren.

„So, meine Herren. Wie Sie sehen, ist ein Zahlencode nötig, um an die Waffen und die zugehörige Munition zu gelangen.“ „Sie verfügen über die entsprechenden Waffenscheine?“ „Und ebenso natürlich über die Besitzkarten“, ergänzte Voss-Wellenbrink. „Gibt es eine Aufstellung?“, erkundigte sich Kommissar Schubert. „Aber selbstverständlich“, lächelte der Unternehmer wie eine Schlange bevor sie ihr Gift versprühte. Während Oberkommissar Sinner die Waffen auf Pulvergeruch kontrollierte, überprüfte Schubert ihre Vollständigkeit. „Das passt so weit alles“, nickte der Kommissar.

„Gibt es sonst noch irgendwelche Schusswaffen im Haus?“, hakte Sinner abschließend nach. „Nein…, das heißt, doch. Meine Frau besitzt noch eine ‚Browning Star‘ Kaliber 6,35. Soviel ich weiß, bewahrt sie die Waffe in ihrem Schreibtisch auf.“ „Es wäre gut, wenn Sie uns auch diese Waffe zeigen könnten“, bekundete Schubert. „Ich weiß zwar nicht, ob sie den Schreibtisch verschlossen hat, aber wir können ja nachsehen.“

Der Hausherr eilte in das Arbeitszimmer seiner Frau. Die Kommissare folgten ihm. Auf dem Schreibtisch lagen etliche Akten. „Ja, die Gute lässt es sich nicht nehmen, die Bilanzen akribisch zu kontrollieren“, erklärte er den Aktenberg. „Dieser Zwang muss wohl in ihrer Familie liegen“, witzelte er und zog eine der Schubladen heraus. „Da ist sie ja“, sagte er und nahm die Schatulle heraus, um sie vor den Augen der Kommissare zu öffnen. „Die Schachtel ist leer“, stellte Schubert fest. Erst jetzt sah auch der Hausherr hinein. „Ups, ja dann weiß ich auch nicht, wo sie die Waffe hat. Sie müssen wissen, dass es sich um ein Erbstück meines Schwiegervaters handelt. Die Waffe bedeutet meiner Frau sehr viel. Wahrscheinlich befindet sich das gute Stück gerade zu einer Überprüfung.“ „Wir werden Ihre Frau danach fragen müssen“, bemühte sich Sinner, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen.

-4-

„Wir konnten Ihren Bruder bislang nicht erreichen“, gestand Oberkommissar Sinner der Tochter des Ermordeten ein. „Haben Sie in der Zwischenzeit mit ihm sprechen können?“ „Nein und ehrlich gesagt habe ich es auch nicht versucht“, entgegnete Carola Steuer. „Ich hoffe Ihre Freundin konnte sie etwas über die ersten Stunden hinwegtrösten“, erkundigte sich der Ermittler, während er den Dienstwagen am Sternhaus vorbeisteuerte.

„Mein Vater hat mir viel bedeutet. Ich weiß noch gar nicht, wie es jetzt weitergehen soll.“ „Gehört das Haus Ihnen?“, hakte Sinner nach. „Noch gehört es der Bank“, lächelte die junge Frau gequält. „Ich habe nicht den leisesten Schimmer, wovon ich die nächste Rate bezahlen soll.“ „Was machen Sie eigentlich beruflich?“, fragte der Oberkommissar nach. „In Uslar habe ich als Notarfachangestellte gearbeitet. Leider habe ich hier noch nichts Passendes gefunden.“ „Ich verstehe Ihr Dilemma.“

„Wenn wir gleich hineingehen, sollten Sie sich Zeit lassen, ehe sie dem Pathologen Ihre Bereitschaft signalisieren“, bemühte sich Sinner, die junge Frau schonend auf die Identifizierung vorzubereiten. „Ihr Vater starb durch einen Schuss in den Kopf.“ Die Beine der jungen Frau sackten einen Moment lang zusammen. Sinner musste sie stützen.

„Atmen Sie tief durch, es wird gleich wieder besser. Sie bestimmen das Tempo.“ „Es geht schon wieder“, hielt sie sich tapfer, während sie sich über den langen Flur dem Obduktionssaal 3 näherten. „Guten Tag, Frau Steuer“, begrüßte Doktor Schnippler die Hinterbliebene. „Mein Beileid.“ „Danke.“ „Wie fühlen Sie sich?“, erkundigte sich der Mediziner. „Es geht schon“, nickte ihm Carola zu. „Dann folgen Sie mir bitte.“

Doktor Schnippler hatte Mike Steuers Leichnam in einer Ecke des Saals aufgebahrt. Sie war mit einem weißen Laken abgedeckt. Während er an die rechte Seite des Toten trat, positionierte sich Carola auf der linken und Sinner oberhalb des Kopfes, um die Reaktion der Tochter beobachten zu können.

„Wenn Sie so weit sind, würde ich nun das Laken zurückziehen“, erklärte der Rechtsmediziner ruhig und pietätvoll. Carola nickte ihm zu. Der Ermittler staunte nicht schlecht, als er die Stirn des Toten sah. Doktor Schnippler hatte das Einschussloch kaum sichtbar verschlossen. Er sah auch, wie sich einige Tränen des Kummers über das Gesicht der jungen Frau bahnten. „Ja, das ist mein Vater“, bestätigte sie schließlich. „Sie sind sich absolut sicher?“, hakte Sinner nach, weil jeder Zweifel ausgeschlossen werden musste. Sie nickte. „Kann ich bitte allein mit meinem Vater sein?“ „Natürlich, wenn Sie fertig sind, kommen Sie einfach raus“, sagte der Doktor.

„Der Tod ihres Vaters hat sie voll erwischt“, beschrieb Sinner ihre Situation. „Na ja, wer will schon auf solche Weise den Vater verlieren?“, zeigte der Doktor Mitgefühl. „Können Sie schon mehr über den Todeszeitpunkt und das Kaliber sagen?“ „Meine erste Einschätzung war goldrichtig. Der Mann ist gegen Mitternacht erschossen worden. Plus minus einer Stunde. Es war eine Heidenarbeit, das Projektil heraus-zubekommen. Durch den Aufprall auf die Schädeldecke wurde es ziemlich deformiert. Es handelt sich um das Kaliber 6 35.“ Sinner schürzte die Lippen. „Vielleicht eine ‚Browning Star‘.“ „Da fragen Sie besser die Jungs von der Kriminaltechnik. Sie können das Geschoss gleich mitnehmen.“ „Gute Arbeit, Herr Doktor.“

Als sich die Tür zum Obduktionssaal öffnete und die Tochter des Opfers auf den Flur trat, schien sie sich wieder gefangen zu haben. Bei der Konfrontation mit dem Tod reagiert jeder anders, aber nichts ist für Hinterbliebene so wichtig, wie die Möglichkeit sich verabschieden zu können. Wobei auch der Abschied sehr unterschiedlich ausfallen kann und ganz sicher nichts mit der Größe der Liebe zu tun hat, die man dem Verstorbenen zu Lebzeiten entgegenbrachte. Nachdem Doktor Schnippler das Geschoss und den Obduktionsbericht übergeben hatte, fuhr Sinner mit Carola Steuer in die Dienststelle an der Lindener Straße.

„Sie sagten zwar schon, dass Ihr Vater nicht mit Ihnen über seine Fälle sprach, aber vielleicht können Sie uns etwas über seinen Bekanntenkreis sagen. Ihr Vater hatte doch sicherlich Freunde, mit denen er sich gelegentlich traf oder zumindest telefonierte. Wir können seinen Tod nicht ausschließlich mit seiner Arbeit in Verbindung bringen. Es ist wichtig, so viel wie möglich über sein Leben zu wissen“, beschrieb der Oberkommissar die Kriterien, die für die Ermittlungen von Relevanz waren. „Nach dem Tod meiner Mutter und dem Wegzug aus Uslar haben wir alles hinter uns gelassen.“ „Sie meinen, Sie haben alle Kontakte in die Heimat abgebrochen und hier keine neuen Bekanntschaften geknüpft?“, verstand Sinner ihre Aussage als einen Akt der Enttäuschung.

„Was geschah in Uslar, abgesehen vom Tod Ihrer Mutter, wirklich?“ Carola schüttelte den Kopf. „Ich möchte jetzt nach Hause“, wich sie aus. „Es geht mir nicht gut.“ „Gut, eine Streife bringt Sie heim“, lenkte der Oberkommissar ein. „Bitte halten Sie sich bis auf Widerruf zu unserer Verfügung“, bat er die junge Frau. „Wann wird der Leichnam meines Vaters für die Beerdigung freigegeben?“ „Ich denke, schon Morgen.“ „Dann kann ich also einen Bestatter beauftragen“, schlussfolgerte Carola. Sinner nickte ihr zu. „Ich melde mich morgen Vormittag bei Ihnen.“ „Gut, dann warte ich auf Ihren Anruf.“

„Ich habe mich schon mal etwas schlau gemacht“, brach Schubert sein Schweigen, nachdem Carola Steuer das Büro verlassen hatte. „Konntest du herausfinden, was in Uslar passierte?“ „Es könnte gut sein, dass die Familie die Stadt nicht nur wegen dem Tod der Mutter, sondern auch wegen einer nicht verurteilten Vergewaltigung verließ.“ Sinner spitzte die Ohren. „Carola Steuer erstattete vor etwa einem Jahr Anzeige wegen Vergewaltigung. Angeblich soll sie in dem Hotel, in dem sie beschäftigt war, von einem prominenten Gast vergewaltigt worden sein. Es kam jedoch zu keiner Verurteilung, weil die Aufnahmen einer Überwachungskamera schadhaft waren.“ „Na, das stinkt ja förmlich bis zum Himmel. Kein Wunder, dass die arme Frau nicht darüber sprechen will.“

„Das Geschoss wird übrigens noch heute in der Kriminaltechnik untersucht“, informierte Schubert seinen Vorgesetzten. „Um einen Beschuss ihrer ‚Browning‘ durchführen zu können, sollte uns Frau Voss-Wellenbrink möglichst umgehend die Waffe aushändigen oder aber eine plausible Erklärung für dessen Verschwinden geben können“, argwöhnte der Oberkommissar. „Ich weiß nicht so recht, glaubst du wirklich, dass sie den Detektiv erschossen hat, weil sie ihre Affäre geheim halten wollte?“ „Wer weiß, es wurden schon Menschen aus perfideren Gründen getötet.“

„Hast du eigentlich bemerkt, wo das Bild von Frau Voss-Wellenbrink und ihrem Lover aufgenommen wurde?“ „Zeig mal her“, bat Sinner um das Foto. „Das ist doch vor der Tanzschule am Teichgarten“, erkannte er ebenfalls den Hintergrund. „Genau. Da liegt es doch nahe, dass sich das Paar dort auch kennenlernte“, sinnierte der Kommissar. „Das kann schon sein“, pflichtete ihm Sinner bei. „Am Tage ist es ja am Stadtgraben ganz nett, aber so wie es dort dunkel ist…“

„Am besten ich rufe gleich mal in der Tanzschule an“, griff Schubert zum Telefon. „Gut, dann gehe ich in der Zwischenzeit rüber in die KTU. Ich bin gespannt, ob es schon etwas Neues gibt.“ „Grüßen Sie Marianne von mir“, zwinkerte ihm der Kollege zu, ehe er die Telefonnummer der Tanzschule eintippte.

„Hallo mein lieber Jens“, begrüßte Sinner den Kriminaltechniker und alten Weggefährten. „Oh, der Chef persönlich“, freute sich Jens Räuber über den seltenen Gast, „Sonst schickst du doch immer deinen Adjutanten.“ „Wenn du einen Kaffee hast, besuche ich dich in Zukunft öfter.“ „Du musst ziemlich unter Druck stehen.“ Sinner zuckte mit den Achseln. „Es geht um Mord. Was sich in den ersten 24 Stunden nicht erledigen lässt, läuft dir zeitlich davon.“ „Na, dann spitz mal die Ohren. „Wir fanden fremde DNA an der Kleidung des Toten.“ Sinner horchte auf.

Ein guter Anfang und ein Indikator, wenn es um die Bestätigung eines Verdächtigen ging. „Das hört sich gut an“, lächelte Sinner zufrieden. „Was ist mit den Spuren, die ihr am Fundort der Leiche sicherstellen konntet?“ „Na ja, da wird es schon schwieriger“, räumte Jens Räuber ein. „Die beiden Arbeiter haben uns einige Spuren zertrampelt und letztlich konnten wir neue und ältere Spuren nicht wirklich sauber voneinander trennen. Gerichtsfest ist das Ergebnis daher nicht.“ „Aber sie könnten ein Indiz sein“, strotzte der Oberkommissar vor Zuversicht.

Räuber reichte ihm mehrere Fotos, auf denen einige recht gut isolierte Schuhabdrücke zu sehen waren. „Von was für Schuhen sprechen wir hier?“, fragte Sinner. „Ein guter Herrenschuh, leider kann ich keine Marke zuordnen, aber teuer.“ „Das Opfer war ja nun nicht gerade schmächtig“, überlegte Sinner laut. Dem Obduktionsbericht zufolge wog der Mann 95 Kilogramm. Die trägt man nicht ohne Weiteres spazieren. Eine Frau als Täterin ist daher eher unwahrscheinlich.“ „Sei da nicht so voreilig. Es kommt immer darauf an, mit welcher Technik du jemanden ziehst. Mit dem sogenannten Rautek-Griff kriegst du schon ziemlich was bewegt.“

„Okay, ich habe eine Frau ja nicht ausgeschlossen“, besann sich der Ermittler. „Die Frage ist doch, weshalb das Opfer überhaupt in sein Auto gesetzt wurde“, brachte es Sinner auf den Punkt. „Vielleicht wollte der oder die Mörderin nicht, dass der Tote zu schnell entdeckt wird.“ „Das wäre der einzige Grund, der mir dazu eingefallen ist“, bestätigte der Oberkommissar. „Hat ja prima geklappt“, verzog Räuber das Gesicht. „Allein das Risiko, bei der Aktion am Wagen des Opfers Spuren zu hinterlassen, steht doch in keinem Verhältnis zum Nutzen, den eine später entdeckte Leiche bringen könnte.“ „Sag das nicht, Jens“, widersprach Sinner. „Je mehr Zeit vergeht, desto schwieriger wird es, den genauen Todeszeitpunkt zu bestimmen. Somit wird die Bedeutung, die einem Alibi zukommt, immer geringer.“ „Stimmt.“

„Was kannst du mir zu den Reifenspuren sagen?“ „Es gab nur eine Reifenspur, die etwa zehn Meter weit von der asphaltierten Straße weg über den unbefestigten Boden führte“, gab Räuber an. „Es handelt sich um Reifen der Größe 185/65R15 88S wie sie häufig auf Mittelklassefahrzeugen montiert werden.“ Sinner stieß einen tiefen Seufzer aus. „Na super, wir brauchen also nur zwanzig Millionen Reifen kontrollieren.“ „Aber wenn ihr die infrage kommenden aussortiert habt, gibt es ein Merkmal, mit dem du dann den richtigen Reifen herausfiltern kannst“, machte Räuber dem Ermittler wieder Hoffnung. Sinners Stirn krauste sich. „Einer der Reifen weist eine markante Zeichnung in der Lauffläche auf. Sieh selbst.“

Der Ermittler sah sich die Laufflächen-rekonstruktion des betreffenden Reifens genauer an. „Sieht aus wie ein Hakenkreuz. Kein Wunder, dass es dir auffiel.“ „Dann müsst ihr nur noch den mutmaßlichen Mörder finden“, legte Räuber seine Hand locker auf die Schulter des Oberkommissar. „Die sichergestellten Spuren dürften den Täter locker überführen.“ „Du hast gut reden. Kann ich das Foto des Abdrucks mitnehmen?“ „Ja klar.“

Zurück im Büro wurde Sinner schon von seinem Kollegen erwartet. „Hast du Marianne Grüße von mir ausgerichtet?“ Sein Chef griff sich an den Kopf. „Sorry, das habe ich vergessen.“ „Nicht so schlimm. Wir müssen dann auch los. Die Angestellte, mit der ich sprach, konnte mir keine Auskunft geben. Aber der Besitzer wird in fünf Minuten in der Tanzschule erwartet.“ „Worauf warten wir dann noch?“

Mordkommission, Oberkommissar Sinner.“ „…und Kommissar Schubert“, stellten sich die Ermittler vor, während sie ihre Dienstausweise präsentierten. „Herr Maruba hat sie bereits angekündigt. Daniel-Peter Hase, mein Name. Mordkommission? Was kann ich für Sie tun?“ Schubert zückte das Foto von Manuela Voss-Wellenbrink und dem Unbekannten. Kennen Sie den Mann auf dem Foto?“ Hase sah natürlich auch, in welcher Weise die beiden Personen fotografiert worden waren und zögerte daher mit seiner Antwort. „Kai ist einer unserer Tänzer. Er ist der Tanzpartner von Frau Voss-Wellenbrink.“

„Auf dem Foto sieht es allerdings so aus, als wenn die zwei eine intimere Beziehung zueinander unterhalten“, brachte es Sinner auf den Punkt. „Oder ist dieser Kai so etwas wie ein Callboy?“ „Nein, nein, so etwas unterstütze ich in meiner Tanzschule nicht.“ „Wie heißt der Herr mit Nachnamen und wo wohnt er?“ „Da müsste ich erst in den Unterlagen nachsehen?“ „Dann tun Sie das bitte“, forderte ihn Schubert auf.

„Herr Hütter wohnt in Halchter, ‚Siedlerstraße‘ 14“, informierte Daniel Hase die Ermittler. „Seit wann läuft da was zwischen den beiden?“, hakte Sinner nach. „Das kann ich Ihnen nun wirklich nicht sagen. Ich habe keine Zeit darauf zu achten, wer von meinen Schülern mit wem herummacht. Der Kurs läuft jedenfalls seit drei Wochen.“ „Sie sagten, Herr Hütter sei einer Ihrer Tänzer. Was heißt das?“ „Na ja, es melden sich permanent mehr Frauen als Männer zu den Kursen an. Sie können sich sicherlich vorstellen, dass es für eine Frau im Normalfall nicht sonderlich attraktiv ist, mit einer anderen Frau zu tanzen. Abgesehen davon hätte der männliche Part später erhebliche Anpassungsprobleme.“

„Was verdient so ein Tänzer bei Ihnen?“ „Ich kann mir nicht vorstellen, dass dies für Ihre Ermittlungen von großer Bedeutung sein kann“, entgegnete der Besitzer der Tanzschule ausweichend auf Schuberts Frage. „Darüber zerbrechen Sie sich man nicht den Kopf“, erwiderte der Kommissar bestimmt. „Also?“ „Ich zahle pro Stunde und Anwesenheit 20 Euro.“ „Es steht zu hoffen, dass Sie die Herren angemeldet haben.“ Der Mann im grünen Seidenhemd schluckte trocken. „Aber selbstverständlich.“ „Also, wohl eher ein Job für Studenten und Leute, die sich was nebenbei dazuverdienen wollen“, fasste Sinner abschließend zusammen. „Na ja, leben können die Jungs davon nicht.“

„Okay, wir werden jetzt nach Halchter fahren, um Herrn Hütter einen Besuch abzustatten. Sollten Sie ihn in der Zwischenzeit anrufen und vor unserem Besuch warnen, werden Sie sicherlich schon bald Post vom Finanzamt bekommen“, warnte ihn Sinner unmissverständlich. „Warum sollte ich?“, erwiderte der Tanzschulbetreiber.

Wenig später hielt der zivile Dienstwagen vor dem Mehrfamilienhaus in der ‚Siedlerstraße‘. Da gerade jemand das Haus verließ, nutzten die Kommissare die Gelegenheit und betraten das Gebäude. „Warum wohnen Studenten eigentlich immer unter dem Dach?“, schnaufte Schubert. „Die Miete für eine Mansardenwohnung ist meistens günstiger“, wusste der Oberkommissar. „Vier Etagen und kein Lift, so etwas müsste verboten werden“, schimpfte Schubert, während sein Chef den Daumen auf den Klingeldrücker presste.

Die Ermittler waren überrascht, als ihnen die Tür von einer jungen Frau geöffnet wurde. Sinner stutzte und wich zurück, um auf das Namensschild zu sehen. „Hütter“, las er. „Dann sind wir ja doch richtig.“ „Darf ich fragen, wer Sie sind?“ Der Oberkommissar hielt ihr seinen Dienstausweis entgegen. „Der Herr zu meiner Linken ist mein Kollege Schubert.“ „Ist Kai etwas passiert?“, bekam sie einen Schreck. „Nein, nein, wir müssen nur mit Herrn Hütter sprechen“, beruhigte sie der Oberkommissar. „Kai ist nicht da und ich weiß auch nicht, wann er nach Hause kommt“, entgegnete die junge Frau.

„In welchem Verhältnis stehen Sie zu Herrn Hütter?“, griff Schubert in das Gespräch. „Wir teilen uns die Wohnung“, erklärte sie. „Nur die Wohnung oder auch das Bett?“, schoss der Kommissar mal wieder über das Ziel hinaus. „Wie gesagt, Kai ist nicht da und ich muss jetzt zur Arbeit“, reagierte die Angesprochene bärbeißig. „Zwei Fragen noch“, reagierte Sinner, bevor sie den Beamten die Tür vor der Nase zuschlug. „Wie ist die Telefonnummer von Herrn Hütter und wie ist Ihr Name?“ „Kira Glück und die Telefonnummer weiß ich nicht. Kai musste sich ein anderes Handy zulegen, weil er sein altes verlegt oder verloren hat.“ Sinner reichte ihr seine Visitenkarte. „Richten Sie ihm bitte aus, dass er sich wegen einer Zeugenaussage bei uns melden soll.“ „Wird gemacht“, versprach sie und schloss die Tür.

-5-

Auf dem Handy von Manuela Voss-Wellenbrink ging eine Nachricht ein. Als sie sah, wer ihr geschrieben hatte, freute sie sich zunächst, doch als sie, las was ihr Liebhaber geschrieben hatte, wurde sie wütend. Als sie den angehängten Film sah, geriet sie in Panik. Eine weitere Nachricht traf ein. 'Ich will einhunderttausend Euro oder der komplette Film geht ins Netz'. Die Unternehmerin wusste, was dies für sie als eine Frau, die sich für soziale Projekte engagierte und die auf keiner Benefizveranstaltung fehlen durfte, bedeuten würde. Nachdem sie sich gefangen hatte, antwortete sie Kai daher, dass sie auf seine Erpressung eingehen würde.

Nachdem er ihr das Hotelzimmer, in dem sie sich in der Nacht zuvor getroffen hatten, als Treffpunkt und eine Zeit genannt hatte, die ihr nur zwei Stunden zum Besorgen des Geldes ließ, rief sie bei ihrer Hausbank an und bestellte das Geld. Sie bemerkte nicht, wie sie von diesem Augenblick an auf Schritt und Tritt beobachtet wurde.

„Ist alles in Ordnung?“, erkundigte sich Renzo von Hammelsprung, der dem Bankhaus am Stadtmarkt bereits seit vielen Jahren vorstand. „Ja natürlich. Ich will Norbert nur eine Freude machen.“ „Na so viel Glück möchte ich auch mal haben“, entgegnete der Banker. „Jutta ist doch auch eine Liebe“, bekundete die Unternehmerin und packte das Geld in den mitgebrachten Koffer. „Grüß Norbert bitte von mir und vielleicht machen wir ja mal wieder etwas zusammen.“ „Ja gern, ich würde mich freuen“, ließ sich Manuela Voss-Wellenbrink nichts anmerken und verließ das Büro.

Es war 16 Uhr, als sie ihren roten ‚Karmann Ghia‘ auf den Hotelparkplatz parkte. An der Rezeption herrschte wie meistens geschäftiges Treiben. Die Rezeptionistin bemerkte nicht, wie sie das Hotel betrat und an ihr vorbei zu den Aufzügen ging. Die Frau mit dem Geldkoffer wusste, wohin sie gehen musste. Der Lift stoppte in der dritten Etage, sie ging über den Flur zum Zimmer 312 , klopfte und öffnete die Tür.

Auf der Mattscheibe des Fernsehgerätes flimmerte der Film, von dem sie bereits einen Ausschnitt gesehen hatte. Angewidert wandte sie sich ab und entdeckte neben dem Bett ihren Liebhaber. Sein Hemd war von Blut getränkt. Sein Anblick ließ sie bis ins Mark erschrecken. Sie beugte sich über ihn, suchte nach seinem Puls, ohne ihn zu fühlen und versuchte ihn schließlich mit einer Herzmassage am Leben zu halten. Mit demselben Atemzug erschrak sie ein weiteres Mal, als sie aus aller nächster Nähe einen Schuss hörte. Entsetzt sah sie auf ihre blutigen Hände und begriff, dass die Situation völlig aus dem Ruder lief.

Panisch lief sie ins Bad und schrubbte ihre Hände, doch das Blut klebte wie Pech an ihr. Manuela zwang sich zur Ruhe und überlegte, wie sie sich verhalten sollte. Sie musste das Zimmer so schnell wie möglich verlassen, so viel war klar. So, wie sich die Situation darstellte, deutete alles auf sie als Täterin. Sie zog den USB-Stick vom Fernsehgerät ab und nahm den Koffer mit dem Geld wieder an sich. Dann verließ sie das Hotelzimmer auf demselben Weg, wie sie es betreten hatte.

Erst als sie in ihrem Wagen saß und den Koffer hinter dem Sitz verstaut hatte, atmete sie durch. Gleichzeitig brachen alle Dämme und sie begann hemmungslos zu weinen. Doch auch jetzt, in diesem emotionalen Moment, blieb ihr keine Zeit, um das Erlebte zu verarbeiten, denn schon fuhren Polizei und Rettungswagen vor. Sie startete mit zitternden Händen ihren Wagen und fuhr los.

Irgendwann hielt sie wieder, ohne zu wissen, wo sie sich eigentlich befand. Sie war einfach nur gefahren, ohne zu wissen wohin, nur gefahren, um den Kopf wieder freizubekommen. Irgendjemand wollte sie für diesen Mord verantwortlich machen, wollte, dass sie als Mörderin ins Gefängnis musste, aber wer? Wer außer ihrem Mann wusste von dieser Affäre, von der Erpressung und dem schmutzigen Film, der auf der Mattscheibe des Fernsehgerätes lief?

Sie überlegte, ob sie Norbert von dem Toten erzählen sollte. Auch wenn ihre Ehe schon seit Jahren nicht mehr funktionierte und nur nach außen hin weiterbestand, waren sie, was die Firma anging, eigentlich noch ein gutes Team. Doch was war, wenn er selbst etwas mit der Sache zu tun hatte? Sie hielt inne, der Atem stockte ihr. Nein, das konnte nicht sein. Manuela schämte sich für ihre Gedanken. Sie hatten aus Liebe geheiratet. So viel Niedertracht traute sie ihm nicht zu.

Die Sonne ging bereits unter, als sie sich so weit beruhigt hatte, dass sie auf die Idee kam, sich ihren Standort durch das Handy anzeigen zu lassen. Sie befand sich auf einem Parkplatz kurz vor Halle. Um jetzt noch nach Hause zu fahren, war es zu weit, zumal sie sich nicht sonderlich gut fühlte. Als sie sich genauer umsah, entdeckte sie die Neonreklame eines Motels. Kurz entschlossen entschied sie sich dort einzuchecken. Alles Weitere musste der nächste Tag ergeben.

-6-

„Das ist der zweite Mord innerhalb von 48 Stunden. Es steht ja wohl außer Frage, dass beide Fälle zusammenhängen“, überlegte der Ermittler. „Können Sie schon etwas zum Todeszeitpunkt sagen, Doktor?“ Der Rechtsmediziner verzog das Gesicht. „Der Schuss erfolgte aus nächster Nähe. Ich schätze etwa aus zwei Metern Abstand.“ „Vielmehr ist in diesem Zimmer ja auch nicht möglich“, sinnierte Sinner. „Interessant ist das Kaliber, mit dem der Mann erschossen wurde. Es dürfte sich um die gleiche Waffe handeln, mit der auch der Mord an dem Detektiv begangen wurde.“ „Aber hier gibt es viel mehr Blut“, fiel dem Ermittler auf. „Das liegt an der geringen Distanz“, erklärte Doktor Schnippler. „Ich würde sagen, gegen 18 Uhr. Plus minus eine Viertelstunde.“

„Das kann ich tatsächlich besser“, erklärte Schubert, der gerade von einer ersten Befragung zurückkehrte. „Die Zeugen sind sich darin einig, um genau 18 Uhr einen Schuss gehört zu haben.“ Der Rechtsmediziner nickte ihm zu. „Das könnte passen“ „Was ist mit der Kamera, die ich auf dem Flur sah?“, erkundigte sich der Oberkommissar bei dem Mann von der Security. „Ist das eine Attrappe oder zeichnet die tatsächlich auf?“ „Die brauchen wir für die Versicherung“, erklärte der Wachmann. „Ich kann Ihnen die Aufzeichnungen kopieren.“ „Gibt es weitere Kameras im Hotel?“ „In jedem Gang, in der Lobby und auf dem Parkplatz“, gab er bereitwillig Auskunft. „Gut, dann möchte ich alle Videos.“ Der Wachmann schluckte und nickte. „Ich mache sie Ihnen fertig.“ „Wir holen uns die Aufnahmen dann nachher bei Ihnen ab. „Brauchen Sie mich hier noch?“ „Nein, nein, gehen Sie ruhig.“

„Gehen Sie um Himmels Willen so diskret wie möglich vor, Herr Kommissar“, flehte der Direktor. „Wenn sich das herumspricht, kann ich den Laden dichtmachen“, lamentierte er, als er die Männer mit der Zinkwanne über die Treppe nach unten kommen sah. „Mussten Sie den Sarg unbedingt durch das Treppenhaus gehen lassen?“ „Ich glaube nicht, dass der Fahrstuhl groß genug gewesen wäre“, entgegnete Schubert.

Es hatte etwas Beklemmendes, als der Sarg dann auch noch durch die Lobby auf den Parkplatz getragen wurde. „Sie hätten ja ein Tuch darüber decken können“, schlug Sinner vor, der gerade mit den Kameraaufzeichnungen aus dem Büro der Security zurückkehrte. „Dafür ist es nun auch zu spät“, seufzte der Hoteldirektor. „Ist inzwischen klar, wer das Zimmer gebucht hat?“, hakte Sinner nach. „Eine telefonische Buchung auf den Namen Voss-Wellenbrink. Die Zimmerkarte wurde einem Herrn Hütter ausgehändigt.“ „Das war ja klar“, nickte der Oberkommissar. „Gab es auf einen dieser Namen in den vergangenen Wochen noch weitere Buchungen?“ „Ich dachte mir schon, dass Sie danach fragen würden und habe Ihnen daher eine Liste mit den entsprechenden Daten ausdrucken lassen“, erklärte der Direktor. „Sehr gut. Leider können wir den Tatort noch nicht wieder freigeben. Das Zimmer wird so lange versiegelt.“

„Wann kann ich das Zimmer denn wieder reinigen lassen, um es wieder zu vermieten?“, erkundigte sich der Direktor. „Sobald die Spurensicherung ihre Arbeit erledigt hat, bekommen Sie Bescheid. Da die Kriminaltechnik zunächst alles auswerten muss, kann es allerdings noch zwei Tage dauern.“ „Kann man nicht wenigstens das Siegel entfernen? Ich verspreche Ihnen, dass niemand den Raum betreten wird.“ „Bedaure, das ist leider nicht möglich.“

„Das wird dann wohl eine Nachtschicht“, mutmaßte Schubert bei dem Gedanken an die Aufzeichnungen aus den Überwachungskameras. „Sinner zog ein gequältes Gesicht. „Glauben Sie mir, Schubert, ich würde auch lieber nach Hause fahren, aber Job ist halt Job.“

Kurz darauf saßen die Ermittler vor ihrem Computer und starrten auf die Monitore. Der Wachmann hatte ihnen die Mitschnitte des gesamten Tages kopiert. Sie wussten, dass sie Stunden brauchten, um das komplette Material zu sichern. Wo immer es möglich war, benutzten sie daher die Einstellung des Schnelldurchlaufs. Nach etwa zwei Stunden stieß Schubert auf verheißungsvolle Bilder, auf denen das spätere Opfer zu sehen war. Die Kamera auf dem Parkplatz hatten ihn aufgenommen. Sie zeigten, wie Kai Hütter seinen Wagen abstellte und das Hotel betrat. Wenig später zeigte ein weiterer Mitschnitt, wie er die Zimmertür mittels Schlüsselkarte öffnete.

Einige Minuten lang geschah nichts. Die auf dem Monitor mitlaufende Zeit der Aufnahme zeigte 17:47 Uhr an, als der Zimmerservice an die Tür klopfte und mit einem Servierwagen im Zimmer verschwand. Nur 3 Minuten später verließ der Kellner das Zimmer wieder, ohne sein Gesicht in die Kamera zu drehen. Möglicherweise war dies Zufall, doch Sinner wollte es genauer wissen.

„Hast du zufällig die Inventarliste der Spusi in Griffnähe?“, erkundigte sich Sinner bei seinem Kollegen. „Suchst du nach etwas Bestimmten?“ „Auf dem Video wird nur deutlich, dass der Sektkühler samt Inhalt im Zimmer blieb. Mich würde interessieren, was ihm der Kellner sonst noch brachte und ob die Bestellung irgendwo aufgeführt ist.“ Schubert zog ein gestresstes Gesicht, aber er kam der Bitte seines Chefs ohne Murren nach.

„Abgesehen von der Flasche Schampus war da nichts“, schlussfolgerte Schubert anhand der Liste. „Wie viele Sektgläser gab es und waren sie gefüllt?“ „Moment, ich muss nachsehen. Zwei Gläser, eins war unbenutzt, dass andere zur Hälfte geleert.“ Der Oberkommissar nickte und ließ die Aufzeichnung bis zu der Stelle weiterlaufen, an der Manuela Voss-Wellenbrink an die Tür klopfte und ohne zu warten im Zimmer verschwand. Es war 17:58 Uhr. Sinner spulte die Szene einige Male zurück, bis ihm klar war, was ihn daran störte.

„Die Frau ging ganz sicher nicht zu einem Schäferstündchen“, befand er. „Sieh dir mal an, mit welcher Intensität sie an die Tür klopft. Die ist doch total aufgebracht.“ Schubert nickte. „Du hast Recht, die freut sich nicht, die ist sauer. Eigentlich schade, dass die Kamera keinen Ton aufnimmt.“ „Ja, dann ließe sich die Aussage der Zeugen, was den Schuss angeht, bestätigen“, erkannte Sinner die Gedanken seines Kollegen. „Im Moment interessiert mich vielmehr, was sich in dem kleinen Koffer befindet, den sie bei sich hat.“

Als der Oberkommissar den Mitschnitt wieder stoppte, blieben die Ziffern der Uhrzeit bei 18:06 Uhr stehen. Manuela Voss-Wellenbrink öffnete die Zimmertür und sah sich nach allen Seiten um, bevor sie hektisch über den Flur davoneilte. Den Koffer trug sie auch jetzt wieder bei sich. Nach ihr verließ niemand das Zimmer, bis der Wachmann von der Security eintraf und letztlich den Toten fand.

„Wenn du mich fragst, ist die Sache klar“, sinnierte Schubert. Im Koffer befand sich die Tatwaffe. Der Schuss fiel, während sie im Zimmer war. Als sie es betrat, war sie wütend, als sie es verließ, war sie hektisch, fast panisch.“ „Dann fehlen uns nun nur noch die Tatwaffe und das Motiv“, seufzte Sinner. „Ich bin gespannt, was der Oberstaatsanwalt zu der veränderten Sachlage sagt. Ich fürchte, ohne die Tatwaffe wird er die Verdächtige nicht anklagen.“

„Warten wir also zunächst ab, was die Obduktion von Kai Hütter ergibt“, brachte es Schubert auf den Punkt. „Wenn tatsächlich beide Männer mit derselben Waffe erschossen wurden, wird es eng für Frau Voss-Wellenbrink.“ Sinner schüttelte grübelnd den Kopf. „Ich frage mich, was so aus dem Ruder lief, dass sich eine so erfolgreiche und angesehene Geschäftsfrau zu einem Mord hinreißen lässt.“ „Wir werden es sicher schon bald erfahren“, zeigte sich Schubert zuversichtlich. „Sicher?“