Detektei Lessing

 

Teuflische Allianz

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Seit einigen Minuten klapperte Lydia hektisch mit dem Geschirr. Sie hatte verschlafen und stand nun vor der fast unlösbaren Aufgabe, die verlorene Zeit aufzuholen. Jeden Augenblick musste ihr Ehemann in die Küche kommen, um mit ihr zusammen das morgendliche Frühstück einzunehmen. „Das kann doch nicht dein Ernst sein“, sah Fritz Ratenow verächtlich über den Tisch. Bist du nicht einmal in der Lage, für ein vernünftiges Frühstück zu sorgen?“ „Entschuldige, Fritz, ich habe verschlafen.“ „Kein Ei, keine Brötchen, nicht mal das Müsli steht auf dem Tisch“, stellte er wütend fest, während er das Glas mit Orangensaft zum Mund führte. „Es wird nicht wieder vorkommen“, versprach Lydia.

Im selben Augenblick spuckte der Macho den Orangensaft über den Tisch. „Der ist nicht frisch gepresst! Wie kannst du es wagen, mir ein solches Gesöff anzubieten?“ Lydia begann unterdessen den verspritzten Saft mit einem Papiertuch aufzutupfen. „Sag mal, ich rede mit dir“, schnauzte er sie an, während er gleichzeitig ihren Arm festhielt. „Ich dachte, der Saft aus der Flasche würde heute ausnahmsweise ausreichen“, lieferte Lydia die erwünschte Erklärung. „So, dachtest du“, wiederholte der Mann im Jackett abfällig. „Du solltest besser nicht denken, sondern rechtzeitig aufstehen und deine Arbeit so erledigen, dass ich mich nicht den ganzen Tag lang darüber ärgern muss.“ „Setz dich bitte, die Eier und dein Müsli sind gleich fertig“, überspielte Lydia ihre innere Anspannung so gut es ging.

„Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich mich an einen derart verschmutzten Frühstückstisch setze? Und überhaupt, wie siehst du eigentlich aus? Da vergeht einem ja der Appetit.“ Fritz griff nach seiner Aktentasche und verließ die Küche. Lydia lief ihm nach. „Aber du kannst doch nicht mit nüchternem Magen aus dem Haus gehen.“ „Keine Angst, ich werde auswärts frühstücken und dir die Kosten dafür vom Wirtschaftsgeld abziehen“, grinste er feist, griff nach seinem Autoschlüssel und verließ das traute Heim.

Einen Moment lang sah Lydia ihrem Ehemann fassungslos nach, ehe sie weinend auf die Telefonbank neben der Garderobe sank. Mit dem nächsten Atemzug vernahm sie das Klappen der Kinderzimmertür. Der zwölfjährige Martin musste zur Schule. Wenigstens hatte er seinen Handywecker nicht wie sonst üblich im Schlaf ausgeschaltet. Lydia trocknete ihre Tränen und lief zurück in die Küche, wo sie ihre verweinten Augen mit kaltem Wasser wegzuwischen versuchte. Martin sollte nichts von ihrem Streit mit seinem Vater mitbekommen. Das Kind bekam in letzter Zeit schon viel zu viel von den Problemen mit, die seine Eltern miteinander hatten.

„Wo ist mein Vater“, erkundigte sich Martin, als er in die Küche kam. Lydia hatte die Zeit genutzt, um einige Scheiben Toast zu rösten und die gekochten Eier bereitzustellen. „Papa hatte leider keine Zeit mehr. Er ist bereits zur Arbeit gefahren.“ „Du lügst!“, sagte ihr Martin auf den Kopf zu. „Du hast ihn schon wieder verärgert.“ „Aber nein“, blieb Lydia bei ihrer Version. „Mach dir keine Sorgen, zwischen deinem Vater und mir ist alles in Ordnung.“ „Pah, das wäre ja mal was ganz Neues. Du hast bestimmt wieder Mist gebaut, gib es zu!“

Lydia ging nicht weiter auf die Vorwürfe ihres Sohnes ein und ignorierte stattdessen seine Worte. „Was möchtest du auf deine Schulbrote, mein Schatz?“ „Du kannst dir deine dämlichen Brote in die Haare schmieren. Vater hat ganz Recht. Du hast den ganzen Tag nichts zu tun und bekommst trotzdem nichts auf die Ketten.“ „So, sagt dies dein Vater?“, wandte sich Lydia nicht mehr ganz so beherrscht ihrem Sohn zu. Sie griff ihn an den Schultern und begann ihn zu schütteln. „Au, lass mich los“, versuchte sich Martin dem harten Griff seiner Mutter zu entziehen. Doch die rüttelte ihren Sohn weiter, war wie von Sinnen, war nicht sie selbst. „Du tust mir weh!“, schrie Martin.

Es war so, als drang die Stimme ihres Sohnes aus weiter Ferne zu ihr und doch brachte sie Lydia dazu, aus diesem Trauma zu erwachen. Ihr Griff erschlaffte, ihre Hände ließen von seinen Schultern ab und der stoische Blick in ihren Augen wich blankem Entsetzen über ihr Handeln. „Du bist wahnsinnig!“, rief Martin, während er aus der Küche lief. Sekunden später vernahm Lydia, wie die Haustür ins Schloss knallte, dann brach sie in hemmungsloses Schluchzen aus. Fritz hatte Recht, sie war eine schlechte Mutter und sicher auch eine miserable Ehefrau.

Lydia schlug sich mit der Faust gegen den Kopf. Wie hatte sie es nur so weit kommen lassen können? Warum machte sie nur immer alles verkehrt? War es möglicherweise bereits zu spät, um ihre Ehe zu retten? Sie beschloss, sich mehr Mühe zu geben, um es Fritz und Martin wieder Recht zu machen.

-2-

„Du bist erst ziemlich spät nach Hause gekommen“, stellte Rebecca mit vorwurfsvoller Stimme fest. „Ein Anruf wäre ja wohl das mindeste gewesen, dann hätte ich das Essen nicht unnötig warm halten brauchen.“ „Stimmt mein Schatz, da hast du zweifelsohne Recht, aber die Einladung, den Vertragsabschluss mit Ritter und Söhne bei einem Abendessen zu besiegeln, kam auch für mich sehr überraschend. Es ergab sich einfach keine Gelegenheit für einen Anruf“, rechtfertigte sich Ruben Eichendorf.

Der erfolgreiche Softwareentwickler lächelte in der gewohnt lässigen Art. Er verstand es wie kaum ein anderer mit wenigen Worten zu überzeugen. Dass er dabei nicht immer bei der Wahrheit blieb, war ein Umstand, den er auf dem Weg, das gesteckte Ziel zu erreichen, ohne Skrupel in Kauf nahm. Insider trauten ihm daher auch eine Karriere als Politiker zu. Natürlich wusste auch Rebecca um diese zweifelhaften Qualitäten. Ja, sie hatte sich nicht zuletzt auf Grund seines gewandten und weltmännischen Auftretens in ihn verliebt. Wie konnte sie auch ahnen, dass ihr diese Überzeugungskraft eines Tages zum Verhängnis werden würde.

„Hör auf!“, schrie sie ihn unvermittelt an. „Warum bist du nicht wenigstens so ehrlich zu mir und sagst mir ins Gesicht, dass du mich wieder einmal betrogen hast?“ Ruben mimte nach wie vor das Unschuldslamm. „Deine alberne Eifersucht entbehrt jeglicher Grundlage, mein Schatz.“ „So, so, tut sie das?“ Rebecca griff in ihre Handtasche und förderte einen Zettel hervor. „Moment, ich habe es mir aufgeschrieben. Die Rezeptionistin vom Cityhotel rief an und fragte, ob sie mir meine Ohrringe nachsenden soll, oder ob ich sie bei Gelegenheit abholen möchte. Das Zimmermädchen hat sie beim Beziehen der Betten gefunden.“ „Es muss sich um einen Irrtum handeln“, wollte Ruben keine bessere Ausrede einfallen.

„Ich hatte zu viel getrunken und konnte kein Auto mehr fahren“, versuchte er in gewohnter Weise zu überzeugen, „...da habe ich mir kurzerhand ein Zimmer genommen. Da ist ja wohl nichts Verwerfliches bei“, rechtfertigte sich der IT Spezialist. „Ach, ich verstehe und aus lauter Kundenservice hat man dir die Dame gleich mit ins Bett gelegt.“ „Hör schon auf!“, wechselte Ruben schlagartig die Taktik. „Dann habe ich die Nacht halt mit einer anderen verbracht, na und? Du brauchst dich doch nicht zu wundern. Mit dir läuft es doch schon lange nicht mehr so wie früher. Du bist prüde und fantasielos. Ist ja kein Wunder, wenn ich meine Bedürfnisse anderswo befriedige.“

Rebecca glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. Sie wandte sich angewidert ab und suchte nach den passenden Worten, ohne jedoch einen klaren Gedanken fassen zu können. „Du bist ein mieses Schwein! Wie konnte ich mich nur all die Jahre so in dir täuschen?“ „Ich bin, wie ich immer schon war, nur du bist, im Gegensatz zu mir, einfach nur alt geworden, meine Liebe.“ „Wenn du glaubst, ich würde deine Eskapaden auch weiterhin widerstandslos hinnehmen, hast du dich geschnitten“, fauchte Rebecca. „Ich fürchte, du verkennst die Lage etwas, meine Liebe. Wenn du dich erinnern möchtest, hast du einen Ehevertrag unterzeichnet. Im Falle einer Scheidung wird dir nicht sonderlich viel bleiben. Deinen luxuriösen Lebensstandart wirst du gewiss nicht halten können.“

Daran hatte die gehörnte Ehefrau in diesem Augenblick nicht gedacht. Sofern sie die Scheidung einreichte, würde sie leer ausgehen. So verliebt, wie sie bei ihrer Hochzeit waren, hätte sie im Traum nicht daran gedacht, sich irgendwann von Ruben trennen zu wollen. Warum also hätte sie diesen Passus in dem gewünschten Ehevertrag nicht unterzeichnen sollen? Immerhin suggerierte er ihr die trügerische Gewissheit, dass sich der gut aussehende Ehegatte nicht von ihr trennen würde, denn in diesem Falle sah ein weiterer Absatz des Vertrages eine großzügige Abfindung für Rebecca vor.

„Aber weshalb zum Teufel willst du noch an dieser Ehe festhalten?“, fragte sie Ruben irritiert. „Warum sollte ich dich gehen lassen? Ich habe doch alles, was ich will. Du bist eine intelligente Frau. Ich schätze die Gespräche mit dir und die Art, wie du unsere kleine Familie nach außen repräsentierst. Meine Partner beneiden mich um dich.“ Rebecca schüttelte fragend den Kopf. „Dann verstehe ich nicht, weshalb du mich betrügst.“ „Sorry, Darling, aber du bist langweilig.“

„Ich habe meine eigene Karriere für dich aufgegeben, habe dir stets den Rücken freigehalten und dir so viel wie möglich abgenommen, damit du erfolgreich sein konntest. Ist dies jetzt der Dank dafür?“ „Bitte nicht schon wieder diese Tiraden. Als du deinen Beruf an den Nagel gehängt hast, wusstest du, auf was du dich einlässt.“ „Damals wollten wir Kinder“, wandte Rebecca ein. „Was kann ich für deine Unfruchtbarkeit“, zuckte er mit den Achseln. „Sei lieber froh, dass ich mich nicht von dir getrennt habe.“ „Du bist einfach nur widerlich.“ „Es steht dir jederzeit frei, die Konsequenzen zu ziehen“, spreizte Ruben lächelnd die Hände.

-3-

„Wenn ich dieser Tage für jeden Seufzer einen Zehner bekäme, wäre ich sicherlich nicht in der prekären Situation, in der ich mich zurzeit befinde.“ „Mensch Leopold, so deprimiert kenne ich dich eigentlich gar nicht“, stutzte Christoph Börner. Ich saß vor seinem Schreibtisch, hatte meinen Kopf in den Nacken gelegt und starrte auf die teure Kristallbeleuchtung unter der Zimmerdecke. „Es ist einfach zum Verrücktwerden. Ich glaubte, diese Zeiten längst hinter mich gelassen zu haben, aber wenn nicht bald ein lukrativer Auftrag ins Haus kommt, weiß ich wirklich nicht, wovon ich Trude den nächsten Lohn zahlen soll.“

„Wenn ich dir übergangsweise unter die Arme greifen soll...?“ „Das ist wirklich sehr großzügig von dir, aber ich möchte unsere Freundschaft nicht damit belasten.“ „Ich dachte, Freunde helfen sich in der Not“, entgegnete der Rechtsanwalt stirnrunzelnd. „Ein Auftrag wäre mir lieber“, seufzte ich. „Ich würde wirklich alles machen.“ „Ja, wenn das so ist, hätte ich da möglicherweise etwas für dich.“ Ich horchte auf. „Sag das doch gleich.“ „Es ist keine große Sache und auch nicht gerade das, was du unter normalen Umständen annehmen würdest...“, zögerte mein Freund. „Nun mach es nicht so spannend.“

„Es geht um eine Mandantin, die ich in einer Unterhaltsache vertrete. Sie äußerte kürzlich den Verdacht, dass sich ihr Exehemann mit Schwarzarbeit etwas hinzuverdient. Ich empfahl ihr, sich an eine Detektei zu wenden. Sie wollte darüber nachdenken.“ „Würdest du die Dame für mich anrufen?“ „Natürlich, das kann ich dir ja wohl nicht überlassen“, erklärte Christoph. „Soll ich dein Büro solange verlassen?“ „Nun werde mal nicht komisch.“ Drei Minuten später hielt ich das Telefon in der Hand und sprach mit der potentiellen Klientin.

„Du hast mir mal wieder das Leben gerettet“, bedankte ich mich kurz darauf für die Hilfe meines Freundes. „Nicht der Rede wert. Vielleicht habe ich sogar noch einen weiteren Fall für dich. Es geht um einen säumigen Unterhaltspflichtigen, der seinen Job als Feuerwehrmann schmiss, um sich seiner Zahlungsverpflichtung zu entziehen. Nach Aussage meiner Mandantin hält sich der Mann seither mit Schwarzarbeit über Wasser“, erklärte Christoph. Ich hob gelassen die Schultern. „Wie ich bereits sagte, momentan bin ich zu annähernd jeder Schandtat bereit.“ „Dir muss das Wasser wirklich bis zum Hals stehen“, brachte es mein Freund auf den Punkt. Ich ließ seine Feststellung unkommentiert. Die Tatsache war mir so schon peinlich genug.

Auf dem Weg in die Detektei kehrte ich kurz im Café Klatsch ein. Da Anne noch keinen Dienst hatte, bestellte ich meinen Cappuccino bei Gregor. Wenn nicht viel zu tun ist, kommen wir eigentlich immer ins Gespräch. An diesem Vormittag kam ich hinzu, als er bereits mit einigen Stammgästen diskutierte. „Man sollte nicht den Fehler machen und die Leute, die da unter der Flagge der Pegida auf die Straße gehen, als rechte Spinner abtun“, hörte ich einen der Gäste sagen. Ein anderer pflichtete ihm bei. „Die Leute sind im Grunde gar nicht gegen Zuwanderung, sie haben einfach nur Angst.“ „Der Meinung bin ich auch“, mischte ich mich ein. „Sie fühlen sich von der Politik im Stich gelassen. Die Stimmen des Volkes werden nicht wirklich wahrgenommen. Eine Verrohung der Gesellschaft und der Verlust unserer Werte sind die Folge.“ Die drei stimmten mir zu.

Mit dieser Aussage beließ ich es und wandte mich stattdessen der Tageszeitung zu. Natürlich war die Gazette voll von diesem Thema und es ist sicher wichtig über das Für und Wider solcher Demonstrationen zu diskutieren, aber im Augenblick stand mir der Sinn eher weniger danach, mir über die Versäumnisse unserer Volksvertreter Gedanken zu machen.

Bis zu meiner Verabredung mit der neuen Klientin blieben noch etwa zwei Stunden. Genügend Zeit, um meinen Cappuccino in aller Ruhe zu genießen und vorher noch in der Detektei vorbeizuschauen. Ich war gespannt, womit sich Trude die Zeit vertrieb. Der ihr tariflich zustehende Urlaub war mittlerweile aufgebraucht und unbezahlte Kurzarbeit wollte ich ihr nicht zumuten. Immerhin hat die gute Seele auch eine Miete zu zahlen.

Als ich kurz darauf in der Detektei eintraf, spielten Trude und Axel Bauernskat. Der Freund meiner Putzsekretärin saß mir mit dem Rücken zugewandt, bemerkte meine Anwesenheit gar nicht. Daran änderten auch Trudes Grimassen nichts, mit denen sie Axel auf mich aufmerksam machen wollte. Der ehemalige Penner ließ sich in seinen Aussagen nicht bremsen. „So gut dein Chef beim Recherchieren ist, so schwer tut er sich mit der Werbung für die Detektei.“ Trude fuchtelte inzwischen eindringlich mit den Händen. „Wer seine Dienstleistung an den Mann bringen will, muss dafür sorgen, dass die Leute erfahren, was ich ihnen biete.“ Dann lehnte sich Axel zurück und schnaufte. „Wenn sich hier nicht ganz schnell etwas grundlegend ändert, ist der Ofen schneller aus, als du gucken kannst.“

„Halt jetzt endlich den Mund!“, fuhr Trude ihn an, während sie um ihren Schreibtisch herumeilte. „Axel weiß gar nicht, wovon er da spricht“, versuchte sie seine Worte als Blödsinn abzutun. „So verkehrt fand ich seine Idee gar nicht“, wiegelte ich ab. „Nicht?“ „Vielleicht mache ich wirklich zu wenig Werbung. Woher sollen die Leute wissen, welche Leistungen wir anbieten. Wie wäre es, wenn Sie ihr Spiel zu Ende bringen und sich Gedanken darüber machen, wie wir diesem Defizit so günstig wie möglich begegnen?“

Die Schamröte stieg ihr in den Kopf. „Ja natürlich, ich werde mich sofort an die Arbeit machen.“ „Kritik ist gut“, wandte ich mich Axel zu, „...aber dann auch noch eine Idee zu haben, wie man etwas besser machen könnte, ist genial.“ Ich klopfte Axel anerkennend auf die Schulter und verschwand in meinem Büro, wo ich mit Miriam telefonieren wollte. Unser gemeinsames Mittagessen bei Rialto musste wegen des Treffens mit der potentiellen Klientin verschoben werden. Ihre Enttäuschung hielt sich zu meiner Verwunderung in Grenzen. Auch wenn sich meine attraktive Staatsanwältin nichts entlocken ließ, hatte ich dennoch das Gefühl, dass sie irgendetwas ausheckte.

Auf diese Weise hatte ich einige Jahre zuvor bereits eine Freundin von ihr kennengelernt. Damals zu dem Zweck, mich von meiner Phobie gegen Hunde zu befreien. Die Aktion ging übrigens derbe in die Hose. Was Miriam nicht davon abhielt, mir schon bald die nächste Überraschung zu bereiten.

-4-

„Es tut mir leid, Knut, aber ich habe schon den ganzen Tag lang heftige Migräne“, entschuldigte sich Hanna für ihre Unlust und drehte sich herum. „Das ist nicht dein Ernst“, reagierte Knut wie von seiner Ehefrau erwartet. Sie kannte ihn gut genug, wusste, wie er auf ihre Ausrede reagieren würde und doch war dies das kleinere Übel. Beim Sex mit ihrem Ehemann ging es schon lange nicht mehr um Liebe. Meistens ertrug sie seine Gier angewidert, ließ sie es geschehen, wenn er sich an ihr befriedigte, doch in dieser Nacht war der Ekel einfach zu groß.

„Immer das gleiche Theater“, ließ sich Knut nicht abweisen. „Ich habe es satt, mich ständig von dir verarschen zu lassen. Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich dir deine Ausreden immer und immer wieder glaube.“ „Weshalb sollte ich dich belügen?“, beschwor Hanna ihren Ehemann. „Weil du eine frigide Ziege geworden bist!“, konterte Knut wütend. „Ich will es jetzt mit dir treiben“, ließ er einfach nicht locker und drehte sie gegen ihren Willen zu sich herum. Mit seinem ganzen Gewicht legte er sich über sie, nahm ihr fast die Luft zum Atmen. Gegen seine kräftigen Hände war Hanna machtlos und dennoch wehrte sie sich verzweifelt, bis sie seine flache Hand schmerzend in ihrem Gesicht verspürte. Sie erschrak so heftig, dass sie mit demselben Wimpernschlag sämtliche Gegenwehr einstellte und seine Begierde nur noch apathisch über sich ergehen ließ. Bei allem, was er ihr bislang angetan hatte, war es das erste Mal, dass er sie geschlagen hatte. Bei all den Tränen, die sie bislang vergossen hatte, waren diese, die sie innerlich weinte, die schmerzvollsten.

„So geht es nicht weiter“, nahm Hanna am nächsten Morgen allen Mut zusammen. „Ich werde mich von dir trennen.“ „Das wirst du nicht!“, griff er sie am Arm. Hanna gelang es, sich seinem Griff zu entziehen. „Oh doch und die Kinder nehme ich mit!“ „Du gehörst mir. Bevor du mich verlässt, bringe ich dich um.“ Knut sagte diese Worte so ruhig und nachdrücklich, dass Hanna nicht den geringsten Zweifel daran hatte, dass er es genauso meinte. „Wenn du meine Familie verrätst, werde ich sie für immer auslöschen.“ Damit ließ er seine Ehefrau stehen und verließ das Haus.

„Hattet ihr wieder Zoff?“, erkundigte sich die vierzehnjährige Melissa. „Nein, nein, alles gut“, belog Hanna ihre Tochter. „Du brauchst mir nichts vormachen“, entgegnete das Mädchen, „Ich habe euch vergangene Nacht gehört.“ Hanna brach in Tränen aus. „So schlimm wie diesmal war es noch nie.“ Melissa nahm ihre Mutter in den Arm. „Ich verstehe nicht, weshalb du dir das immer wieder gefallen lässt.“ „Wo sollen wird denn hin, Melissa?“ „Es gibt immer einen Weg, Mama. Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.“

Hanna war stolz auf ihre Tochter. Mit vierzehn Jahren war sie bereits sehr vernünftig und dennoch konnte sie ihrem Kind nichts von der Drohung erzählen, die Knut quasi zwischen Kaffee und Frühstückssemmel gegen sie und die Kinder ausgestoßen hatte. Sie wusste ja selbst noch nicht, ob sie seine Worte tatsächlich in all ihrer Tragweite ernst nehmen musste. Eines hatte seine Drohung jedoch so oder so bereits in ihr ausgelöst. Sie hatte eine gehörige Portion Angst vor ihrem Ehemann. Eine Angst, die eine Veränderung mit sich brachte, mit der sie erst einmal klar kommen musste.

-5-

„Lessing, mein Name. Wir hatten miteinander telefoniert.“ „Bitte treten Sie näher, Herr Lessing.“ Die Frau mit der Merkelfrisur bat mich, auf der Eckbank in ihrer Küche Platz zu nehmen. „Kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten?“ Ich nahm ihre Einladung dankend an. „Es ist sehr freundlich von Ihnen, dass Sie zu mir kommen konnten. Wie ich Ihnen bereits am Telefon erklärte, kann ich meine bettlägerige Mutter nicht allein lassen.“ „Das ist wirklich kein Problem. Doktor Börner konnte mir nur einige Andeutungen machen. Es geht also um ausstehenden Unterhalt für Ihre Kinder“, offenbarte ich, was ich von Christoph Börner bereits wusste. „So ist es“, bestätigte meine Klientin. „Kurz nach unserer Scheidung hat Karl Heinz seine Arbeit bei Agrevo hingeworfen und seine Zahlungen eingestellt.“ „Haben Sie beim Jugendamt eine Beistandschaft beantragt?“ „Das habe ich. So bekomme ich zwar den Mindestsatz nach der Düsseldorfer Tabelle, aber nicht das, was den Kinder auf Grund des Scheidungsurteils zusteht.“ „Ich verstehe.“

Ein unauffälliger Blick durch die Küche und die offen stehende Tür in das gegenüberliegende Wohnzimmer bestätigte ihre Aussage. Luxus suchte man hier vergebens. „Ich habe einen Tipp bekommen, dass Kalle seit Jahren LKW fährt, ohne dass seine Tätigkeit angemeldet wurde.“ „Also schwarz“, brachte ich es auf den Punkt. „Ich brauche das Geld, weil ich wegen der Betreuung meiner Mutter selber nichts dazu verdienen kann.“ „Machen Sie sich keine Sorgen. Wenn Ihr Ex nebenbei arbeiten geht, werde ich es herausfinden.“ „Wie teuer ist denn Ihre Recherche eigentlich“, erkundigte sie sich zögerlich. Es war mir klar, dass ich hier nicht meinen üblichen Tagessatz verlangen konnte. „Zunächst gar nichts“, beruhigte ich sie. „Falls es zu einer Nachzahlung kommt, erhebe ich eine Art Erfolgsprämie. Wenn wir keinen Erfolg haben, hoffe ich, dass Sie mich zu einem Mittagessen einladen.“ Meiner Klientin fiel offensichtlich ein Stein vom Herzen.

„Nun verraten Sie mir bitte, worauf sich Ihr Verdacht stützt.“ Ich kramte meinen Notizblock hervor, nahm den Kugelschreiber zur Hand und spitzte die Ohren. „Kalle wurde mehrfach von Bekannten in einem LKW der Firma Gundlach gesehen.“ „Das ist ein guter Ansatzpunkt. Seit wann ist er den Kindern den Unterhalt schuldig?“ Maria de Sivia lachte bitter auf. „Der Schuft hat nur zweimal gezahlt, dann warf er seinen schönen Posten hin. Er wolle nicht, dass ich mir auf seine Kosten ein schönes Leben mache.“ Solche Sprüche waren mir nicht fremd, wenn es um Unterhaltszahlungen ging. „Ich kenne die Spedition und werde mich dort mal etwas umsehen. Haben Sie vielleicht noch ein Foto Ihres Ex?“ „Hm, da muss ich nachsehen.“ Während sie im Wohnzimmer nach einer Aufnahme ihres Verflossenen suchte, sah ich mich ein wenig genauer in ihrer Küche um. Hier fehlte eine männliche Hand, so viel war bereits nach den ersten Blicken klar. Ein gewisser Renovierungsstau war offensichtlich. „Ich habe tatsächlich eins gefunden, auf dem er mit unserer Tochter drauf ist“, kehrte sie in die Küche zurück. „Es wäre ja gelacht, wenn ich ihn damit nicht auf frischer Tat erwischen könnte.“ Meine Klientin schluckte trocken. „Aber wenn er dann zur Rechenschaft gezogen wird, haben meine Kinder immer noch nichts davon.“ Die Befürchtung meiner Klientin war nur allzu verständlich. Ich ahnte, worauf sie hinauswollte. „Nun ja, ich will sehen, was sich machen lässt, aber ein Unrecht lässt sich nicht durch ein anderes aus der Welt schaffen.“

Ich trank den wirklich sehr gut schmeckenden Kaffee aus, verabschiedete mich und fuhr auf dem direkten Weg zum Betriebshof der Firma Gundlach. Die Spedition war erst vor kurzem von seinem bisherigen Stammsitz an der Adersheimer Straße in das neu geschaffene Gewerbegebiet West umgezogen. Hier hatte das Familienunternehmen endlich den benötigten Platz, um zu expandieren.

„Hallo, mein Name ist Fischer, Kai Fischer. Ich arbeite für die Onlinezeitung von Wolfenbüttel am Morgen“, stellte ich mich der älteren Dame hinter dem Tresen vor. Der nachgemachte Presseausweis, den ich zu derartigen Recherchen stets mit mir führe, verschaffte mir die nötige Aufmerksamkeit. „Ich würde gern eine Reportage über das Truckerleben bei einer hiesigen Spedition machen.“ Die Frau hatte sich mittlerweile von ihrem Schreibtischstuhl erhoben und war zu mir an den Tresen geeilt. Den Presseausweis hatte ich inzwischen wieder eingesteckt. So ganz legal ist es schließlich nicht, wenn man auf diese Weise einen, sagen wir mal, unkorrekten Eindruck vermittelt.

„Wolfenbüttel am Morgen?“ Sie stutzte. „Noch nie was davon gehört.“ „Was mich doch sehr wundert“, ging ich in die Offensive. „Wir haben uns mittlerweile recht gut im regionalen Raum etabliert.“ „Na gut, wie dem auch sei, dazu kann ich ohnehin nichts sagen. Ich hole mal eben die Chefin.“ Ups, da war ich dann doch etwas überrascht. Offensichtlich war es gar nicht so selten, dass Speditionen von Frauen geleitet wurden, wie ich erst bei meinem letzten Fall anerkennend erfahren durfte. Eine Erkenntnis, die in dieser eigentlichen Männerdomäne nicht unbedingt zu erwarten ist.

„Sie sind also Journalist bei einer Online Zeitung?“, begrüßte mich die Unternehmerin, nachdem mich die Dame aus der Anmeldung in ihr Büro gebeten hatte. „Wolfenbüttel am Morgen“, fuchtelte ich in einiger Entfernung noch einmal mit dem vermeintlichen Presseausweis herum. Ihre einladende Geste bedeutete mir Platz zu nehmen. „Es geht um eine mehrtägige Truckerreportage einer regional ansässigen Spedition. Klar, dass wir da zunächst an Ihre Firma dachten“, grinste ich breit. „Warum?“, entgegnete sie trocken. Wer an vergleichbarer Stelle nicht gut genug vorbereitet ist, kann bei derart unerwartetem Gesprächsverlauf bereits gehörig ins Schwimmen kommen. Was natürlich nicht für mich gilt. „Ein Unternehmen dieser Art, in dem eine Frau den Ton angibt, ist eben selbst heutzutage noch etwas Besonderes“, schmeichelte ich.

„Ist das so?“, antwortete sie mit scharfem Blick. „Und wie stellen Sie sich das Ganze vor?“ „Nun, um einen ersten Eindruck zu bekommen, würde ich mich zunächst gern etwas mit den Fahrern unterhalten und mir den täglichen Ablauf auf dem Betriebshof etwas näher ansehen wollen.“ Natürlich wusste die Geschäftsfrau, wie werbewirksam meine Reportage für ihr Unternehmen sein konnte. „Wenn Sie meine Fahrer nicht bei ihrer Arbeit behindern, habe ich nichts dagegen.“ Alles andere hätte mich auch mehr als gewundert. Es liegt in der Natur des Menschen, dass wir einem geschenkten Gaul nicht unbedingt ins Maul schauen. Hätte sie es getan, wäre ihr eingefallen, dass es unter ihren Fahrern zumindest einen gab, den sie möglicherweise schwarz beschäftigte.

Ich bedankte mich für ihr Einverständnis und begann sogleich mit einigen allgemein gehaltenen Fragen zur Struktur ihrer Spedition. Schließlich wollte ich ja zumindest den Anschein einer ordentlich recherchierten Reportage erwecken. Dann begab ich mich auf den Betriebshof, wo ich zwei gerade angekommene Brummifahrer in einem Gespräch belauschte. Es ging um die Manipulation ihrer Tachographen. Sie sprachen von einem Magneten, den sie an den Kitas-Geber des Getriebes ansetzten, um auf diese Weise ihre tatsächlichen Ruhezeiten zu verkürzen. Wäre ich tatsächlich ein Journalist, hätte ich bereits meine erste Schlagzeile. Auch wenn diese Praktik längst kein Einzelfall mehr darstellte. Zu Zeiten der zunehmenden Konkurrenz von Dumpinglohnspeditionen aus der östlichen EU ist der Kampf ums Überleben rauer geworden.

„Hallo!“, tat ich so, als wäre ich gerade erst auf die Fahrer aufmerksam geworden. „Fischer mein Name, ich bin Journalist und schreibe einen Artikel über Truckerfahrer. Vielleicht seid ihr so nett und beantwortet mir ein paar Fragen.“ „Zunächst würde unsere Leser interessieren, ob Sie abends zu Hause bei Ihren Lieben sein können, oder ob Sie häufiger auf großer Fahrt im Ausland unterwegs sind?“ Während sich einer der Männer abwandte und mich einfach stehen ließ, zeigte sich der andere auskunftsfreudiger. „Wir versuchen natürlich so häufig wie möglich am Abend zu Hause zu sein, aber wenn die Entfernung zu groß ist, oder wir die Lenkzeiten überschreiten würden, müssen wir halt in den sauren Apfel beißen und in der Koje schlafen.“ „Ist so ein Truckerleben nicht auch ein Stück weit ein Abenteuer?“, stellte ich die nächste Frage, die zugegebener Maßen etwas naiv war. Der Fahrer lachte kurz auf. „Die Zeiten sind längst vorbei. Heutzutage müssen Sie immer damit rechnen, dass ihnen über Nacht der Tank abgepumpt oder gar die Ladung gestohlen wird. Da ist kein Platz mehr für Romantik“, erklärte er ernüchternd.

„Da ist es umso bemerkenswerter, dass ihr Arbeitgeber eine Frau ist“, wechselte ich das Thema. „Da bin ich mir bei Karla gar nicht so sicher“, feixte der Trucker. „Wieso, Ihre Chefin ist doch eine attraktive Frau“, hakte ich nach. „Sicher, aber sie ist auch verdammt hart. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat, zieht sie es auch durch.“ „Als Frau in einer Männerwelt bleibt ihr sicher auch nichts anderes übrig“, schlussfolgerte ich. „Na ja, seitdem sie mit Kalle zusammen ist, ist sie ja nicht mehr allein.“ Ich spitzte die Ohren. Sollte es sich tatsächlich um meine Zielperson handeln?

„Dieser Kalle ist wohl ein Kollege von Ihnen?“ „Na ja, eher ein Quereinsteiger. Der fährt noch nicht so lange.“ „Dann hat er ja eine gute Partie gemacht.“ „Kann man so sagen, aber jetzt habe ich keine Zeit mehr“, blockte er ab. Offenbar hatte ich ihm bereits mehr entlockt, als er eigentlich preisgeben wollte. „Wo finde ich diesen Kalle?“ „Da brauchen Sie nur den Feierabend abzuwarten. Der kommt garantiert wieder rein.“

Ich nutzte die Zeit des Wartens mit der Befragung weiterer Trucker und fand weitere interessante Details über den Freund der Chefin heraus. Die vermeintlich gute Partie hatte den Exehemann meiner Klientin offenbar gut im Griff. Nachdem er bei seiner neuen Liebe eingezogen war, hatte sie, den Aussagen der Fahrer zufolge, die Zügel mächtig angezogen. Auf jeden Fall hatte ich genug Aussagen gesammelt, um ihm das Leben ziemlich schwer zu machen. Kalle kehrte bereits im Laufe des Nachmittags auf den Betriebshof der Spedition zurück. Ich erkannte ihn anhand des Fotos bereits hinter dem Steuer seines Lastwagens. Nachdem er seinen LKW abgestellt hatte, sprach ich ihn an.

„Herr Karl-Heinz Schiefer?“ „Wer will das wissen?“, entgegnete er scheinbar schon durch meine bloße Anwesenheit genervt. „Mein Name ist Lessing, ich bin Privatermittler und arbeite für Ihre Exfrau“, ließ ich meine Maske fallen. „Sie können sich sicherlich denken, weshalb ich hier bin.“ Der Mann, der mich etwa um einen halben Kopf überragte, lachte amüsiert auf. „Das gibt es ja gar nicht, da hetzt mir die dumme Kuh tatsächlich wegen der paar Kröten einen Schnüffler auf den Pelz.“ „Sie wissen also, um was es geht“, schlussfolgerte ich aus seiner Antwort. „Verpiss dich du Flachpfeife, sonst zerquetsche ich dich wie eine Kakerlake.“ „Sie haben offenbar keine Vorstellung davon, wie viel Druck der Panzer einer Kakerlake aushält, sonst hätten Sie sicherlich einen Wurm oder etwas Vergleichbares gewählt“, entgegnete ich provokant. „Wie... was...?“ „Der Panzer einer Kakerlake...“ „Willst du mich verarschen?“, unterbrach er meinen Erklärungsversuch. Ich zögerte etwas, rieb mir dabei nachdenklich das Kinn und tat so, als müsste ich über seine Frage angestrengt nachdenken. „Ich denke schon.“

Im nächsten Moment feuerte er seine Faust in meine Richtung. Ich wich seinem Schlag aus, nutzte die Geschwindigkeit seiner Bemühungen, griff nach seiner Faust und drehte sie ihm auf den Rücken. Ehe er sich versah, hatte ich ihn in den Polizeigriff genommen. „Du hast jetzt genau zwei Möglichkeiten, mein Freund. Entweder ich mache hier ein riesiges Fass auf und deine Kollegen sowie deine neue Freundin erfahren, wie du deine Kinder im Stich gelassen hast, oder aber du meldest dich selbst beim Jugendamt und sagst denen, dass du einen Job hast und jetzt freiwillig Unterhalt zahlen willst. Solltest du meinem Vorschlag nicht nachkommen, steht hier morgen das Jugendamt auf der Matte.“ „Sie können mir gar nichts!“, zeigte sich Kalle auch jetzt noch unbeeindruckt. „So? Wenn du da so sicher bist, dann kannst du es ja drauf ankommen lassen.“ Womit ich das sympathische Kerlchen aus meinem Griff entließ, meinen Stetson wieder gerade rückte und betont lässig davon schlenderte.

-6-

Der Bus stoppte, die Tür ging langsam auf und Lydia stieg ein. Jeden Morgen das gleiche Spiel. Heute konnte sie sich einen Sitzplatz aussuchen. Lediglich einige Schulkinder, auf dem Weg in das Gymnasium nach Wolfenbüttel, waren eingestiegen. Der Bus ließ die Haltestelle an der Hauptstraße hinter sich. Kurz darauf hielt er an der Schule, drehte dann die Schleife durch den östlichen Teil Winnigstedts und stoppte am Ganterplatz. Lydia nickte einem Mädchen zu, welches sie durch ihren Sohn kannte. Bei dieser Gelegenheit fragte sie sich, weshalb die Kleine nicht mehr zu ihnen kam.

Die Fahrt ging weiter über Mattierzoll nach Roklum. Der Bus stoppte an der Haltestelle in der Hauptstraße. Im Wartehäuschen saß ein Mann und schlief. Neben ihm auf der Bank entdeckte Lydia eine Bierdose. Dann sah sie Rebecca in den Bus steigen. Die Frauen waren gemeinsam zur Schule gegangen, hatten sich dann für Jahre aus den Augen verloren und erst nach ihrer Rückkehr nach Roklum wiedergetroffen. „Hallo Lydia“, wurde sie von ihrer um einen Kopf größeren Schulfreundin begrüßt. „Hallo Rebecca. Willst du in die Stadt?“ „Ja klar, diese Woche noch, dann habe ich Urlaub.“ Lydia stieß einen tiefen Seufzer aus. „Ich beneide dich. Du hast einen tollen Job in der Bank, siehst klasse aus und wirst von allen akzeptiert.“ „Ha“, winkte ihre Freundin ab. „Das täuscht, meine Liebe. Im Vergleich zu dem, was ich hätte erreichen können, ist der Job in der Bank eher ernüchternd.“

Lydia war überrascht. Angesichts ihres eigenen Jobs an der Kasse eines Discounters erschien ihr Rebeccas Anstellung um Welten besser. Offensichtlich hatte auch sie Probleme. „Zumindest bist du glücklich verheiratet.“ „Du hast ja keine Ahnung“, schüttelte Rebecca den Kopf. Lydia bemerkte die Tränen in den Augen ihrer Freundin. „Jetzt sag nur noch, dass es bei euch auch nicht rund läuft?“ „Der Mistkerl hat mich betrogen. Er findet mich nicht mehr attraktiv.“ „Das hat er dir gesagt?“ Rebecca nickte. „Und ich dachte, du wärst mit deinem Ruben glücklich.“ „Männer sind primitiv, Wenn du sie nicht mehr füttern kannst, suchen sie sich ihr Futter woanders.“

Als Hanna Meister in den Bus einstieg, hatte dieser zwischenzeitlich die Haltestelle Ehrenmal in Remlingen erreicht. Sie setzte sich in die Sitzreihe vor Lydia und Rebecca. „Morgen Hanna“, wurde sie von den beiden Frauen begrüßt. „Hallo“, erwiderte die Lehrerin die Begrüßung eher verhalten. Wobei sie es vermied, den Frauen ins Gesicht zu schauen. Lydia und Rebecca hatten ihre verweinten Augen dennoch bemerkt.

„Was ist denn bloß los heute?“, fand Lydia klare Worte. „Gab es eine Sonneneruption oder so etwas?“ Die Frauen starrten sie irritiert an. „Na, ist doch wahr. Mein Göttergatte hat ewig was zu mäkeln, nichts ist ihm gut genug und nun hetzt er auch noch unseren Sohn gegen mich auf. Rebecca erzählt mir gerade von ihren Sorgen und nun kommst du auch noch mit verheulten Augen an. Da wird man sich wohl noch wundern dürfen.“ „Wenigstens hast du nicht erzählt, dass mich Ruben betrogen hat“, setzte Rebecca selbstironisch noch einen drauf.

„Er hat mich in der vergangenen Nacht vergewaltigt“, presste Hanna über ihre spröden Lippen, während sich weitere Tränen über das verweinte Gesicht ihren Weg bahnten. „Du sprichst doch nicht wirklich von deinem Mann?“, erkundigte sich Rebecca entsetzt. „Über wen denn sonst!“, entgegnete Hanna außer sich. „Entschuldige, aber ihr wart doch immer ein wunderbares Paar“, konnte es die Bankangestellte immer noch nicht so recht glauben.

„Alles nur Theater. Knut und ich haben die letzten Jahre nur noch heile Welt gespielt. Die Wirklichkeit sieht anders aus, aber davon dürfen seine Kollegen nichts bemerken.“ „Was ist mit den Kindern?“ „Melissa ist nicht dumm, die hat längst gemerkt wie es mit unserer Ehe steht. Sie sagt nach jeden Streit mit Knut, dass ich ihn verlassen soll.“ „...und warum tust du es nicht?“, wandte Rebecca ein. „Ich habe Angst“, gestand Hanna zögerlich. „Dazu besteht kein Grund“, legte Lydia ihre Hand tröstend auf den Arm ihrer Bekannten. „Wir stehen dir zur Seite.“ Sie sah ihre Freundin fragend an. „...nicht wahr?“ Rebecca nickte. „Klar, wir helfen dir mit der Wohnung und so.“ „Davor habe ich keine Angst.“

Die Frauen sahen Hanna fragend an. „Wovor denn sonst?“ Die Angesprochene zögerte. „Nun komm schon raus damit. Hat er dich geschlagen?“ Hannas Blicke flüchteten ins Nirgendwo. „Eigentlich ist er gar nicht so“, rechtfertigte sie sein Handeln. „Manchmal, wenn es im Job nicht so läuft, oder wenn er Sorgen hat, rastet er einfach aus.“ „Du bist doch aber nicht sein Punchingball!“, ereiferte sich Rebecca. „Du musst dich von deinem Mann trennen“, pflichtete Lydia ihrer Freundin bei. „Er wird es nicht zulassen“, lachte Hanna fahrig. „Ehe die Kinder und ich ihn verlassen, bringt er uns alle um.“ „Du musst zur Polizei“, erwiderte Rebecca außer sich vor Wut. „Ach ja, was soll ich denen denn sagen? Ich habe bislang keinen blauen Fleck und seine Drohung hat niemand gehört. Er streitet einfach alles ab und die Polizei ist machtlos.“ „Genauso ist es“, nickte Lydia zustimmend. „Du musst erst deinen Kopf unter dem Arm tragen, ehe die Polizei aktiv werden kann.“

„Warum verlässt du deinen Ruben und du deinen Fritz nicht?“, stellte Hanna die Frage, die eigentlich längst überfällig war. Die Frauen sahen einander an und jede von ihnen beantwortete diese mit den längst zurecht gelegten Worten. Und das obwohl sie wussten, dass es nur Ausflüchte sein konnten. „Martin liebt seinen Vater. Er würde sich gegen mich entscheiden.“ „Es gibt einen Ehevertrag“, fuhr Rebecca mit ihrer Erklärung fort. „Im Falle einer Scheidung würde ich völlig mittellos dastehen.“ Es folgte ein Moment des Schweigens, ehe der Bus wieder stoppte und weitere Fahrgäste zustiegen.

„Wir sind ja schon in Groß Denkte“, bemerkte Lydia. Eine weitere Frau stieg ein. Rebecca kannte sie von ihren Besuchen beim Zahnarzt. Petra Maurer arbeitete dort als Arzthelferin. Die Frauen begrüßten sich, als die Rothaarige an ihr vorbei ging und sich in den hinteren Bereich des Busses begab. „Na, die geht zum Lachen aber auch in den Keller“, stellte Lydia mit prüfendem Blick fest. „Wie man hört, hat sie mit ihrem Liebsten auch nicht gerade das große Los gezogen“, seufzte Hanna.

„Vielleicht sollten wir einen Verein gedemütigter Ehefrauen gründen“, schlug Lydia mit einer gehörigen Portion Sarkasmus vor. „Gar keine schlechte Idee. Es gibt sicherlich genügend Frauen, denen es ganz ähnlich geht, aber wie auch immer, du solltest zumindest zum Arzt gehen und dir die Vergewaltigung attestieren lassen“, kam Rebecca auf den Missbrauch zurück. „Soviel ich weiß, besteht auch in so einem Fall eine ärztliche Schweigepflicht. Wenn dann mal etwas sein sollte und du einen Beweis brauchst, kannst du den Arzt von dieser Schweigepflicht entbinden.“ „Das ist wirklich eine ausgezeichnete Idee“, pflichtete Lydia ihr bei. „Ich werde darüber nachdenken“, versprach Hanna wider besseres Wissens. Im Grunde ärgerte sie sich, überhaupt mit jemandem über die Sache gesprochen zu haben.

„Es war gut mit euch geredet zu haben“, log sie, sich die Tränen aus den Augen wischend. „Ich muss hier aussteigen“, erklärte sie gefasst, während der Bus den Wendessener Berg hinunterrollte. „Du kannst doch jetzt nicht zur Schule gehen“, versuchte Rebecca ihre Bekannte von dessen Vorhaben abzubringen. „Weshalb nicht? Die Ablenkung durch die Kinder wird mir gut tun.“ „Sorry, meine Liebe, aber ich habe das Gefühl, dass du völlig neben dir stehst.“ „Das lass mal meine Sorge sein“, entgegnete Hanna aufgebracht. „Und überhaupt, war nichts von dem, was ich euch erzählt habe wahr.“ „Das glaubst du doch selber nicht!“, griff Rebecca nach Hannas Arm, um sie am Aussteigen zu hindern. „Du kannst ihn doch nicht einfach so davon kommen lassen!“ Der Bus stoppte inzwischen an der Haltestelle Doktorkamp. „Lass mich in Ruhe“, riss sich Hanna los und hastete aus dem Bus. Die beiden Frauen sahen ihr fassungslos nach, bis sie nicht mehr zu sehen war.

„Ich finde deine Idee gar nicht so schlecht, Lydia“, kam Rebecca nach einer Weile betretenen Schweigens auf den Vorschlag ihrer Freundin zurück. Die sah sie nur irritiert an. „Was für eine Idee?“ „Wir sollten uns zusammentun und eine Art Selbsthilfegruppe ins Leben rufen“, überlegte die Bankangestellte, während sie mit dem Kopf auf Petra Maurer deutete, die nach wie vor im hinteren Teil des Busses saß. „Mit ihr wären wir schon vier“, lächelte sie euphorisch. Lydia dagegen sah ihre Freundin nur ungläubig an. „Du meinst es wirklich ernst, hä?“ „Worauf du einen lassen kannst!“

-7-

„Guten Morgen ihr zwei“, begrüßte ich Axel und Trude, als ich meine Detektei betrat. „Habt ihr euch in Sachen Werbung etwas einfallen lassen?“ „Einen wunderschönen guten Morgen Chefchen“, lächelte meine Putzsekretärin schelmisch. Ich rieb mir nachdenklich die Nase. Hier war irgendetwas im Busche. „Uns ist in der Tat etwas eingefallen. Leider ziert sich Axel noch ein wenig.“ Trude verschwand hinter ihrem Schreibtisch, holte ein Pappplakat hervor und klappte es auseinander.

„Nun komm schon her!“, befahl sie dem armen Axel. Der gehorchte eher widerwillig. Nach einigen Handgriffen stand eine lebende Litfaßsäule vor mir. Auf Brust und Rücken waren mit schwarzem Edding einprägsame Werbebotschaften geschrieben. „Bei Recherchen aller Art, weiß Detektiv Lessing Rat“, las ich schmunzelnd. „Günstig und diskret, wir wissen wie es geht.“ Darunter waren Adresse und Telefonnummer angegeben. „Na, was sagen Sie, Chefchen?“ „Ich finde die Idee großartig. Wenn du damit ein paar Tage lang die Fußgängerzone rauf und runter gehst, Axel, sollte der Erfolg nicht ausbleiben. Wenn es klappt, spendiere ich euch ein tolles Abendessen und lege noch ein Scheinchen obendrauf.“ „Was für ein Scheinchen?“, erkundigte sich Trudes Liebster. „Das kommt natürlich auf die Resonanz an, die du damit auslöst.“ „Hm, ich wusste doch, dass die Sache einen Haken hat.“

Der berühmt berüchtigte Blick meiner Putzsekretärin verfehlte nicht seine Wirkung. „Ist ja schon gut, ich mache es ja“, gab Axel jeglichen Widerstand auf. Wenn die zwei die Aussicht auf ein inniges Zusammenleben waren, bestärkte mich dies in meiner Entscheidung, meine Wohnung zu behalten und damit mein eigener Herr zu bleiben. Na gut, sagte ich mir, die zwei mussten schließlich miteinander klar kommen. Mir war Axels Einlenken in diesem Falle nur allzu recht.

Während sich der ehemalige Obdachlose auf den Weg machte, verschwand ich in meinem Büro. „Stellen Sie mir bitte eine Verbindung mit der Kanzlei Börner her“, wies ich Trude an, ehe ich die Tür schloss. Kurz darauf läutete das Telefon. Mein Freund, der Rechtsanwalt, hatte wenig Zeit, daher beschränkte sich unser Gespräch auf das Wesentliche.

„Hast du etwas für meine Mandantin erreichen können?“ „Ich denke schon. So wie ich diesen Herrn Schiefer einschätze, wird er sich schon sehr bald bei deiner Mandantin melden und seiner Unterhaltspflicht nachkommen.“ „Na, da bin ich ja gespannt“, vernahm ich eine gewisse Skepsis in seinen Worten. „Was ist mit der zweiten Sache, von der du sprachst?“, hakte ich nach. „Ich konnte den Mandanten leider noch nicht erreichen.“ „Dann gib mir doch einfach die Telefonnummer, damit ich es versuchen kann.“ Christoph druckste herum. „Ich weiß nicht, ob es dem Mandanten Recht wäre, wenn ich seine Handynummer an dich weitergebe.“ „Ach, ich mache das schon“, beruhigte ich meinen Freund. „Du kennst mich doch.“ „Ja eben“, Funkstille, „…also schön, aber geh bitte äußerst diskret vor. Mein Mandant ist eine bekannte Persönlichkeit.“ Ich verdrehte die Augen. „Sei ganz unbesorgt, ich mache das schon.“ Sein Schlucken war selbst durch die Leitung noch zu vernehmen.

Ich hatte kaum aufgelegt, als mein Telefon erneut klingelte. „Eine Frau Maria de Sivia möchte Sie sprechen“, avisierte Trude. „Stellen Sie bitte durch.“ Die Exehefrau von Kalle Schiefer schien freudig erregt. Sie erklärte mir, dass sie bereits gestern Abend von ihrem geschiedenen Ehemann angerufen wurde und er ihr versprach, künftigen Unterhalt pünktlich zu zahlen und sämtliche Rückstände abzustottern. Die gute Frau war überglücklich und ich schon bald um dreihundert Euro reicher. Das war nämlich die Summe, die ich ihr auf ihre Frage nach meinem Honorar nannte. Somit war zumindest wieder ein schwaches Licht am Ende des Pleitetunnels zu erkennen.

Voller Zuversicht wählte ich nun die von Christoph erhaltene Telefonnummer eines weiteren Mandanten. Ich staunte nicht schlecht, als sich der Hersteller eines bekannten Magenbitters am anderen Ende der Verbindung meldete. Ich stellte mich kurz vor und erwähnte, mit der Kanzlei Börner zusammenzuarbeiten. Zu meiner Überraschung war ihm der Name meiner Detektei bereits geläufig. Wir verabredeten uns noch für denselben Vormittag. Nun verstand ich natürlich auch, weshalb Christoph ein solches Geheimnis um seinen Mandanten gemacht hatte.

-8-

Es war Montagmorgen, es war kalt und es regnete. Der Mann in der vorletzten Sitzbank machte ein Gesicht, wie es nicht besser zum Wetter passen könnte. Immer wieder starrte er ungeduldig auf seine Armbanduhr und mit jedem Blick auf das Zifferblatt schien sich seine Laune zu verschlechtern. Zunächst hatte er sich wieder einmal über seine Frau geärgert und dann hatte sich zu allem Überfluss auch noch der Wagen gegen ihn verschworen. Er hasste Unprofessionalität, hasste es, zu spät zu kommen und er hasste es, wenn etwas nicht so lief, wie er es wollte. Im diesem Moment hasste er die Kinder, die zwei Reihen vor ihm lärmten.

Der Mann versuchte sich zu beruhigen und sah aus dem Fenster. Der Bus rollte behäbig den Grandberg hinauf, vorbei am Sportplatz und weiter in Richtung Mattierzoll und der Mann fragte sich mürrisch, weshalb die Fahrt so langsam voran ging. Die Linie 710 stoppte kurz bevor der Bus auf die Bundesstraße abbog. An der Haltestelle stiegen zwei weitere Fahrgäste ein und setzten sich zwischen ihm und die Kinder. Wieder sah er auf seine Uhr und seufzte.

Es dauerte drei Minuten, ehe sie Roklum erreichten. Er sah schon von weitem, wie sich an der Haltestelle weitere Fahrgäste drängten. Da der Mann sonst nie mit dem Bus fuhr, stellte ihn die Fahrt auf eine harte Geduldsprobe. Die neu hinzu gestiegenen Fahrgäste verteilten sich im Bus. Auch in die Sitzreihe hinter ihm. Er hasste es, wenn ihm jemand im Nacken saß, daher ärgerte er sich jetzt, nicht in der letzten Reihe Platz genommen zu haben. Kurz nachdem die Fahrt endlich weiterging, musste der Fahrer heftig bremsen. Ein gelber Kleinwagen hatte ihm die Vorfahrt genommen. Die Frau hinter ihm wurde offensichtlich nach vorn gerissen. Als sie sich abfing, kratzte sie ihn mit ihren Handschuhen im Nacken. „Aua, so passen Sie doch gefälligst auf!“, fauchte er sie an, während er sich mit der Hand prüfend an den Hals griff. „Oh, verzeihen Sie bitte, es war keine Absicht“, entschuldigte sich die Frau. „Das wäre ja auch noch schöner“

Die Linie 710 erreichte den Ort Hedeper und stoppte an der Haltestelle. Während einige Fahrgäste hinzukamen, verließ eine Person den Bus, um in einen gelben Kleinwagen zu steigen, der bereits vor dem Café Isensee auf sie wartete.

Sekunden später bemerkte der Mann, wie seine Glieder schwerer und schwerer wurden, so schwer, dass er weder seine Hände noch etwas anderes bewegen konnte. Atemnot stellte sich ein. Er wollte um Hilfe schreien, doch er war nicht in der Lage, auch nur einen einzigen Ton herauszubringen. Luft, Luft, er versuchte zu atmen, doch in seiner Lunge brannte es, als würde sie lichterloh in Flammen stehen. Im nächsten Moment war er tot.

Da er nach wie vor auf seinem Platz saß, nahm niemand davon Notiz. Erst als der Bus in Semmenstedt einfuhr und mit einigem Tempo nach links auf die Bundesstraße 79 abbog, kippte sein lebloser Körper nach rechts. Mehrere Fahrgäste wurden auf den Mann aufmerksam. Einige schüttelten mit dem Kopf, weil sie annahmen, er sei betrunken, andere machten sich über ihn lustig. Eine der beiden Frauen, die in der Sitzbank vor ihm saßen, drehte sich zu ihm herum und sprach ihn an. Der Mann rührte sich jedoch nicht. Als sie in seine Augen sah, begann sie zu schreien. „Der Mann ist tot!“

Der Busfahrer steuerte die in unmittelbarer Nähe gelegene Haltestelle an und eilte nach hinten. Er beugte sich über den Mann, versuchte dessen Puls zu fühlen und bestätigte schließlich bestürzt den ersten Eindruck. „Sie haben Recht, der Mann ist tot.“ Die Fahrgäste, die sich in seiner Nähe befanden, drängten nach vorn. Pures Entsetzen war aus ihren Gesichtern zu lesen. Ulrich Mücke nahm Verbindung mit der Zentrale auf. Noch vor dem Ersatzbus trafen Polizei und Rettungswagen an der Haltestelle ein. Trotz leichtem Nieselregen wollte keiner der Leute im Bus bleiben.

Während der Notarzt den Leichnam untersuchte, nahmen die Streifenbeamten die Personalien sämtlicher Fahrgäste auf. Ulrich Mücke konnte nur wenig zur Klärung des Sachverhalts beitragen. „Der Mann erlitt eindeutig einen Herzinfarkt“, teilte der Notarzt den Beamten nach Abschluss seiner Untersuchung mit. „Der Totenschein geht Ihnen im Laufe des Nachmittags zu“, erklärte er routiniert. „Gut“, seufzte der dienstgradhöhere Beamte. „Dann rufe ich jetzt am besten ein Bestattungsinstitut, um den Toten abholen zu lassen. Letztlich bleibt uns dann wohl nur noch die unangenehme Pflicht, den Angehörigen die traurige Nachricht zu überbringen.“ „Keine einfache Aufgabe“, nickte der Notarzt.

Einige Zeit später befanden sich die beiden Beamten vor dem Haus, in dem der Verstorbene gemeldet war. Polizeihauptmeister Anton Lücke atmete noch ein letztes Mal tief ein, bevor er auf die Klingel der Familie Ratenow drückte. „Ja bitte?“, öffnete eine zierliche Frau die Haustür. Als sie zwei Polizeibeamte vor der Gartenzauntür erkannte, erschrak sie. „Sind Sie Frau Ratenow?“ „Ja, kommen Sie bitte herein“, forderte sie die Polizisten auf.

„Was um Himmels Willen ist denn passiert?“, erahnte Lydia Schreckliches. „Vielleicht ist es besser, wenn wir ins Haus gehen und Sie sich setzen.“ „Jetzt sagen Sie mir bitte, was los ist“, stand der Witwe die Angst ins Gesicht geschrieben. Die Polizisten warteten mit der Antwort, bis sich Lydia gesetzt hatte. „Wir müssen Ihnen leider die traurige Nachricht vom Tod Ihres Mannes überbringen. Lydia schüttelte ungläubig den Kopf. „Das kann nicht sein. Sie müssen sich irren, meine Herren. Fritz ist heute Morgen mit dem Bus gefahren, weil sein Auto kaputt ist.“

„Ihr Mann verstarb nicht bei einem Unfall“, erklärte Anton Lücke. „Er erlitt, während er mit dem Bus unterwegs war, einen Herzinfarkt. Es ging sicher alles ganz schnell. Er musste bestimmt nicht leiden. Keiner der übrigen Fahrgäste hat etwas bemerkt.“ „Was ist denn hier los?“, trat Martin unvermittelt hinzu. Weshalb ist die Polizei bei uns?“ Lydia griff nach der Hand ihres Sohnes und zog den Jungen an sich heran. „Du musst jetzt sehr tapfer sein“, sprach sie mit bebender Stimme. „Die Polizisten sind hier, weil dein Papa gestorben ist.“

„Das ist eine verdammte Lüge!“, rief der Junge und riss sich von seiner Mutter los. „Martin!“, rief ihm Lydia nach, während sie ihm ein Stück weit nacheilte. Ihr Sohn rannte die Treppe hinauf, wo er sich in seinem Zimmer einschloss. „Entschuldigen Sie, Martin hat seinen Vater über alles geliebt.“ „Seine Reaktion ist nur allzu verständlich. Lassen Sie ihm Zeit.“ „Wie geht es denn jetzt weiter?“, versuchte sich Lydia zusammenzureißen. „Wo ist Fritz denn jetzt?“ Der Polizeibeamte klappte sein Notizheft auf. „Nachdem der Notarzt den Tod Ihres Mannes festgestellt hat, wurde der Leichnam vom Beerdigungsinstitut Knoll abgeholt und in das städtische Krankenhaus verbracht“, erklärte er. „Dort müssen Sie Ihren Mann identifizieren, bevor sie dann einen Bestatter Ihrer Wahl beauftragen können.“

„Ich möchte Fritz jetzt sehen“, griff die Witwe fahrig nach ihrer Handtasche. „Sie müssen das nicht gleich erledigen. Vielleicht sollten Sie zunächst etwas zur Ruhe kommen“, schlug der jüngere der beiden Polizisten mitfühlend vor. „Ich sage nur meiner Nachbarin Bescheid, damit sie sich solange um Martin kümmert.“ Lydia tippte die Telefonnummer in das Display. Mit knappen Worten erklärte sie, was geschehen war. „Sie kommt rüber“, wandte sie sich den Beamten zu. „Gut.“ „Kann ich bei Ihnen mitfahren?“, schien sie äußerlich kühlen Kopf zu bewahren. „Unser Auto springt nicht an.“ „Ja natürlich.“ Im nächsten Augenblick läutete es an der Haustür. „Das wird schon meine Nachbarin sein“, lief Lydia hektisch zur Tür, öffnete und sackte quasi in deren Arme.

„Auch das noch“, kommentierte der jüngere Polizist überfordert, während der ältere keine Zeit verlor und der Nachbarin dabei half, die zusammengebrochene Witwe auf dem im Wohnzimmer befindlichen Sofa abzulegen. „Ich habe einen Rettungswagen geordert“, informierte Polizeimeister Münch seinen Kollegen. Der war damit beschäftigt, Lydia ein Glas Wasser zu holen. „Gut“, erwiderte er knapp. „Die Ärmste steht offenbar unter Schock“, befand Lücke. „Ist vielleicht ohnehin besser, wenn sie mit dem RTW ins Krankenhaus fährt.“

Nur wenige Minuten später meldete sich die Einsatzzentrale bei Polizeihauptmeister Lücke. Der Dispatcher teilte ihm mit, dass der Rettungshubschrauber Christoph 30 in Kürze in der Nähe der Feldstraße eintreffen würde. „Der Heli kommt“, rief er seinem Kollegen zu. „Am besten, wenn er auf dem Feld hinter dem Haus runtergeht. Du solltest ihn dort gleich einweisen.“ Angesichts der Tatsache, dass es doch eigentlich nicht um Leben oder Tod ging, zeigte sich Münch vom Einsatz des Hubschraubers etwas irritiert. Andererseits hätte die Anfahrt mit einem Rettungswagen ungleich länger gedauert.

Kurz darauf kehrte Hauptmeister Münch mit dem Notarzt zurück. Lücke schilderte ihm kurz was vorgefallen war. Nach erfolgter Behandlung wurde die wieder ansprechbare Witwe in den ebenfalls eingetroffenen Rettungswagen verbracht. Unterdessen hatten sich zahlreiche Nachbarn und andere Neugierige in der Feldstraße eingefunden. „Inwieweit es sich um Schaulust oder tatkräftige Anteilnahme handelt, wird sich erst in den folgenden Tagen erweisen“, brachte es Lücke auf den Punkt.

-9-

Seit nunmehr einer Woche war ich wegen meines neuen Falles aktiv. Mein Auftraggeber hatte mich auf seine Frau angesetzt. Wie so oft ging es um Untreue. Ein Mann im gesetzten Alter mit einer um annähernd zwanzig Jahre jüngeren Frau war sicherlich ein Wagnis, um nicht zu sagen etwas naiv. Welch prachtvoller Vogel ließ sich schon auf Dauer in einen Käfig sperren. Selbst wenn es sich um eine goldene Voliere handelte, konnte dies kein Garant für Treue und schon gar nicht für Liebe sein. Nun gut, ich war angehalten, so vorsichtig und diskret wie möglich vorzugehen um der Ehefrau auf keinen Fall bei der Observation aufzufallen.

Meine Beobachtungen beschränkten sich daher lediglich auf die akribische Protokollierung der täglichen Aktivitäten der besagten Zielperson. „Fußpflege, Nagelstudio, Friseur, Shoppingtouren mit Freundinnen und zu meiner Verwunderung eine tägliche Fahrt nach Groß Denkte, wo sich die Frau meines Auftraggebers über mehrere Stunden hinweg in einem alten Backsteingebäude aufhielt. Da sich mein Auftrag lediglich auf die Observation der Zielperson bezog, konnte ich der Sache nicht ohne Rücksprache mit meinem Klienten auf den Grund gehen. Ich war gespannt, wie er auf die von mir geschossenen Fotos reagieren würde.

„Wie ich Ihnen ja bereits am Telefon mitteilte, stieß ich bei der Observation Ihrer Gattin auf keinerlei Hinweise, die ihren Verdacht bestätigten.“ Ich legte dem Geschäftsmann Fotos vor, die seine Ehefrau an der Seite ihrer Freundinnen beim Shopping oder in verschiedenen Cafés zeigte. „Die einzige Ungereimtheit stellt der tägliche Besuch in diesem Haus in Groß Denkte dar. Ihre Frau hält sich dort stets zwei bis drei Stunden auf, ehe sie dann nach Hause fährt.“ „Die Fotos von dem Gebäude sagen mir nichts“, bekundete mein Auftraggeber.

„Wenn Sie es wünschen, würde ich der Sache auf den Grund gehen“, bot ich meinem Klienten die Gewissheit an, nach der er im Grunde die ganze Zeit über schon suchte. „Verstehen Sie mich recht, Herr Lessing“, zögerte er. „Natürlich möchte ich Klarheit, aber ich möchte meine Frau auch nicht verlieren, weil sie glaubt, dass ich kein Vertrauen zu ihr habe.“ „Da kann ich Sie gut verstehen“, versetzte ich mich in seine Lage. „Andererseits wird Ihnen die Ungewissheit mit der Zeit mehr und mehr zusetzen.“ Um meinem Auftraggeber die Entscheidung leichter zu machen, erklärte ich ihm für den Fall, dass er sich für eine Klärung ausspricht, meine weitere Vorgehensweise. „Also gut, Herr Lessing, Sie haben mich überzeugt“, willigte er schließlich ein. „Auf diese Weise kann ja eigentlich gar nichts schief gehen.“ „Es ist Ihre Entscheidung“, betonte ich abschließend. „Ich weiß.“

Am darauf folgenden Nachmittag wieder das gewohnte Bild. Die Frau meines Auftraggebers stellte ihr Audi Cabrio vor dem besagten Objekt in Groß Denkte ab und verschwand im Eingang. Die für diesen Fall mit meinem Klienten abgesprochene Finte kam somit zum Einsatz. Die am Gebäude angebrachte gelbe Tafel wies einen Gasanschluss aus. Ein geschlossener VW Caddy, den mein Auftraggeber zur Verfügung stellte, war von mir in weiser Voraussicht bereits am Morgen mit zwei von Trude am Computer nachgemachten Aufklebern versehen. Das für diesen Zweck unentbehrliche technische Equipment besorgte ich mir bei einem Baugeräteverleih. Der Ausweis des Gasversorgers gehörte schon seit längerem zu meiner Grundausstattung. Das Basecup und die Brille mit dem Fensterglas ebenso.

„Ihr Gasversorger, mein Name ist Schludrop“, stellte ich mich vor, nachdem mir ein Herr in grauem Arbeitskombi die Tür geöffnet hatte. „Die Zentrale hat mich ja bereits angemeldet“, behauptete ich überzeugend. „Wie, ja – nein, also hier hat sie niemand angemeldet“, entgegnete der kräftige Mann. „Oh, das ist aber dumm. Ich hoffe, Sie haben dennoch etwas Zeit. Die Messungen dienen Ihrer Sicherheit.“ Im Gesicht des Mannes zeichnete sich ein Fragezeichen ab. „An der Gasleitung dieses Bezirks wurde ein unüblicher Gasverlust festgestellt“, erklärte ich. „Wir überprüfen derzeit sämtliche in Frage kommenden Haushalte.“ Zur Bekräftigung meiner Behauptung deutete ich auf das Messgerät, welches ich gut sichtbar mit mir führte.

„Dauert das länger?“, zeigte sich der Mann einsichtig. „Das kommt ganz auf die Größe des Gebäudes an“, erläuterte ich. „Ich muss sämtliche Räume im Parterre durchmessen, aber länger als zehn Minuten werde ich sicherlich nicht benötigen.“ „Also gut, was soll's. Kommen Sie herein.“ „Am besten fangen wir an Ihrem Hausanschluss an und arbeiten uns von dort aus bis zur Therme vor.“

Der Mann in der Arbeitshose stiefelte besorgt die Kellertreppe hinunter. Ich folgte ihm. Nach einigen Messungen, die mich vom Keller aus in ein Nebengebäude führten, betraten wir eine ehemalige Fabrikhalle. Ich traute meinen Augen nicht, als ich mitten in der Halle einen alten Jaguar entdeckte. Der Oldtimer war mittels einer Hebebühne soweit angehoben, dass unter ihm jemand arbeiten konnte.

„Was haben Sie denn da für ein Schmuckstück?“, zeigte ich mich begeistert. „Ein Jaguar XK 120 Coupe Spezial Baujahr 53“, verriet mir der Mann in der Latzhose. „Jetzt sagen Sie nur noch, Sie restaurieren hier Oldtimer?“ „Nun ja, solche Raritäten habe ich hier eigentlich weniger.“ Im nächsten Augenblick klappte mir buchstäblich die Kinnlade herunter. Der zweite Monteur war niemand anderes als die Frau meines Auftraggebers. „Meine Cousine hat den Wagen im Internet ersteigert und baut ihn nun mit meiner Hilfe wieder auf“, erklärte der Mann. „Alle Achtung“, staunte ich. „Da haben Sie aber ein tolles Hobby.“ „Nee, nee, der ist nicht für mich. Das soll ein Geschenk werden.“ „Na, da wird sich aber jemand freuen. „Das hoffe ich“, lachte sie, griff sich einen Steckschlüssel und verschwand wieder unter dem Wagen. Was für ein Auto, was für eine Frau.

„Haben Sie demnächst Geburtstag?“, erkundigte ich mich bei meinem Auftraggeber, ehe ich ihm das Ergebnis meiner Recherche mitteilte. „Woher wissen Sie das?“ „Sie haben eine fantastische Frau“, lächelte ich ihm anerkennend zu. „Ich kann Ihnen nicht genaueres sagen, ohne Ihnen die Überraschung zu verderben, aber glauben Sie mir, es gibt keinerlei Anlass an der Treue Ihrer Frau zu zweifeln.“ Mein Auftraggeber sah mich skeptisch an. „Was treibt sie denn in diesem Gebäude?“ „Sie bereitet dort etwas für Ihren Geburtstag vor“, erklärte ich, ohne zu viel zu verraten. „Sie sollten es dabei bewenden lassen und Ihrer Frau das Vertrauen entgegenbringen, von dem Sie unlängst sprachen.“ Der Klient nickte mir zu. „Schicken Sie mir Ihre Rechnung, Sie haben gute Arbeit geleistet.“

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„Hallo, junger Mann“, sprach Roswitha den Herrn auf der Bank an. „Ist Ihnen nicht gut? Kann ich helfen?“ Doch der Mann rührte sich nicht. Besorgt tippte sie ihn an der Schulter an und sah erschrocken zu, wie er zur Seite kippte. Roswitha sah sich um und stellte fest, dass niemand sonst auf dem Friedhof war. Nachdem sie sich etwas beruhigt hatte, versuchte sie den Puls des Mannes zu fühlen. Zitternd streckte sie ihre Hand nach ihm aus und legte die Finger an seine Halsschlagader. Mit dem nächsten Atemzug war ihr klar, dass der Mann tot war.

Etwas anderes konnte auch der herbeigerufene Notarzt nicht feststellen. „Der Mann ist tot. Es deutet alles auf einen Herzinfarkt hin“, erklärte er den ebenfalls anwesenden Polizisten. „Können Sie den ungefähren Todeszeitpunkt bestimmen?“, erkundigte sich Polizeiobermeister Gundlach. „Die Totenstarre ist nahezu vollständig eingetreten.“ Er drückte seinen Daumen an verschiedenen Körperstellen in die Haut. „Sehen Sie, meine Herren, die Druckpunkte sind gut ausgeprägt und bilden sich auch nur sehr zögerlich wieder zurück“, erklärte der Mediziner. Während Gundlach der Demonstration nicht wirklich folgte, zeigte sich sein Kollege recht interessiert. „Wenn ich nun die Temperatur der vergangenen Nacht berücksichtige, die bei etwa zwölf Grad Celsius lag, verlangsamte sich der Prozess der einsetzenden Totenstarre, so dass ich auf einen Todeszeitpunkt komme, der in den späten Abendstunden des gestrigen Tages liegen dürfte.“

„Da stellt sich schon die Frage, was der Mann so spät auf dem Friedhof zu suchen hatte“, brachte es Obermeister Gundlach auf den Punkt. „Tja, meine Herren, da bin ich nun wirklich überfragt. Vielleicht sollten Sie diesbezüglich besser seine Hinterbliebenen befragen. Für mich ist die Sache klar. Der Mann starb an einem Herzinfarkt.“

Kurze Zeit später wurde der Leichnam in einen Zinksarg gelegt und von einem Bestattungsunternehmen abtransportiert. Den beiden Polizeibeamten stand nun die unangenehme Pflicht bevor, die Angehörigen des Verblichenen die traurige Nachricht zu überbringen. Da keinerlei Anzeichen zu einem Verbrechen gegeben waren, konnten sie diesen Gang auch nicht auf die Kollegen von der Kripo abwälzen.

„Mir ist so richtig übel“, gestand Gundlachs Kollege, nachdem sie den Streifenwagen verlassen hatten und nun vor dem Haus standen, in dem der Verstorbene zuletzt gemeldet war. „Ich hätte nicht hinsehen sollen, als der Notarzt an dem Leichnam herumdrückte.“ „Da musst du jetzt durch, Hansi. Allein gehe ich da ganz sicher nicht rein.“ „Ist ja schon gut“, lenkte der Polizeimeister ein, während er seinen Daumen auf das Klingelschild drückte.

„Wenn Sie zu den Eichendorfs wollen, werden Sie um diese Zeit wenig Glück haben. Die sind beide auf Arbeit.“ „Wissen Sie zufällig, wo Frau Eichendorf beschäftigt ist?“ Die Nachbarin eilte neugierig herbei. „Was ist denn los?“ „Das würden wir Frau Eichendorf gern selber sagen.“ „Man wird ja noch fragen dürfen“, wandte sich die Frau pikiert ab. „Rebecca arbeitet bei der Volksbank in Wolfenbüttel.“ „Vielen Dank.“ „Warten Sie, meine Herren“, drehte sich die füllige Frau nochmals um. „Rebecca kommt in einer halben Stunde nach Hause. Wenn Sie wollen, können Sie so lange bei mir warten.“ Die Polizisten lehnten dankend ab.

„Sie warten auf mich?“, klopfte unvermittelt eine Frau an die Tür des Streifenwagens. „Wenn Sie Frau Ratenow sind...?“ „Was ist denn passiert?“ „Wenn es Ihnen recht ist, würden wir lieber im Haus mit Ihnen reden.“ Rebecca hob verwundert die Schultern. „Woher wissen Sie eigentlich, dass wir auf Sie warten?“, hakte Obermeister Gundlach nach, während sie das Haus betraten. „Meine Nachbarin hat mich auf dem Handy angerufen.“ „Na, das hätte ich mir ja denken können.“

„So, dann setzen Sie sich mal. Einen Kaffee, die Herren?“ „Nein danke. Sie sollten sich besser zu uns setzen.“ „Was ist denn bloß los?“, zeigte sich die Witwe zunehmend beunruhigter. „Wir müssen Ihnen leider eine traurige Nachricht überbringen“, begann Gundlach zögerlich. „Ihr Ehemann erlitt einen Herzinfarkt. Wir haben ihn tot auf einer Sitzbank auf dem Friedhof in Remlingen aufgefunden.“

Rebecca Ratenow schüttelte ungläubig den Kopf. „Das kann ja gar nicht sein“, winkte sie lächelnd ab. „Ruben ist seit gestern auf einer Weiterbildung in Bad Pyrmont.“ Gundlach legte den Ausweis und die Brieftasche des Toten auf den Küchentisch. „Gehören diese Sachen ihrem Ehemann?“ Rebecca fiel es wie Schuppen von den Augen. „Das kann nicht sein!“ „Haben Sie eine Idee, weshalb sich ihr Mann auf dem Friedhof aufhielt?“ „Ich weiß es nicht“, entgegnete sie fahrig. „Warten Sie, Rubens Mutter liegt dort begraben. Vielleicht wollte er auf dem Weg nach Pyrmont ihr Grab besuchen? Eine andere Erklärung habe ich nicht.“ „Das klingt plausibel“, nickte Gundlach.

„Haben Sie jemanden, der sich um Sie kümmern kann?“ „Ich rufe meine Mutter an.“ „Es ist nicht gut, wenn Sie jetzt allein sind.“ Nachdem die Polizeibeamten der Witwe alles Weitere erläutert und die Telefonnummer sowie den Namen des Bestatters mitgeteilt hatten, verabschiedeten sie sich. Sie ließen eine Frau zurück, die zwar äußerlich gefasst, aber innerlich am Boden zerstört wirkte. „Dies sind die Momente, in denen ich lieber einen anderen Beruf hätte“, bekundete Obermeister Gundlach.

Zurück in der Polizeistation Schöppenstedt trafen die Polizisten auf ihre Kollegen Münch und Lücke. Natürlich erzählten sie von dem unheimlichen Auffindeort des toten Softwareentwicklers. „Vor zwei Wochen der Herzinfarkt im Bus und nun einer auf dem Friedhof? Ist schon recht makaber, was für Orte sich die Leute zum Sterben aussuchen.“ „Stimmt, ich erinnere mich an die Sache im Bus“, überlegte Obermeister Gundlach. „Beide Male waren die Opfer Männer und beide waren erst Mitte vierzig.“ „Da läuft es einem kalt über den Rücken“, schauderte sich Münch. „Ja, ja, die Einschläge kommen näher.“

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Mette und ihr Stiefvater saßen auf dem Sofa, als Petra unverhofft dazukam. Sie sah, dass sich die Hand ihres Ehemannes zwischen den Schenkeln ihrer Tochter befand. Mette schob sie immer wieder zur Seite, ohne dass Andreas ihre Ablehnung akzeptierte. Ja, es schien ihn auch nicht sonderlich zu stören, als er Petra in der Tür bemerkte. „Was um Himmels Willen treibst du da?“, stellte sie ihn zur Rede. Mette war aufgesprungen und aus dem Wohnzimmer gelaufen. „Was meinst du?“, stellte sich Andreas dumm. „Glaubst du, ich habe nicht gesehen, wo du deine Pfote gerade hattest?“ „Ja und? Wir haben ein bisschen herumgealbert. Es sind deine Gedanken, die aus einem harmlosen Spiel eine perverse Sache machen.“

Petra war sich nicht mehr sicher, ob sie die Situation am Ende nicht doch falsch interpretiert hatte. Sie beschloss daher, mit Mette zu sprechen und folgte ihr deshalb ins Kinderzimmer. „War das, was ich da gerade beobachtet habe, das, wonach es aussah?“, redete Petra nicht lange um den heißen Brei herum. Mette wusste, wie verzweifelt ihre Mutter nach dem Tod ihres Vaters war. Erst nachdem sie Andreas kennen gelernt hatte, kehrte das Glück wieder in ihr Leben zurück. Anfangs lief alles prima. Andreas war wie ein Vater zu ihr und sie verstanden sich gut. Dies sollte sich mit dem Tag, als er ins Bad kam und sie unter der Dusche sah, schlagartig ändern. Seine Äußerungen wurden anzüglich, seine Avancen deutlicher und die Situationen, in denen er ihr scheinbar unabsichtlich nachstellte, wurden häufiger.

Mette wollte nicht, dass ihre Mutter wieder unglücklich wurde. Sie gab sich eine Mitschuld an seinem Verhalten. Anstatt sich ihrem Alter entsprechend reizvoll zu kleiden, versuchte sie ihre Rundungen zu verbergen, ging ihm überall dort aus dem Weg, wo sie mit ihm allein sein würde. Fielen in der Schule Stunden aus, ging sie zunächst mit zu Klassenkameraden oder trödelte durch die Stadt, bis sie sicher sein konnte, dass ihre Mutter zu Hause war. Doch trotz aller Vorsicht schaffte es Andreas in der letzten Zeit immer häufiger, sich in ihrer Nähe aufzuhalten und sie auch körperlich zu bedrängen.

Manchmal träumte sie davon, dass er des Nachts auf ihrem Bett saß und seine Hand unter die Decke schob und dann wachte sie schweißgebadet auf. Manchmal war sie sich im ersten Augenblick gar nicht sicher, ob sie wirklich geträumt hatte. Manchmal glaubte sie verrückt zu sein und manchmal hasste sie sich für das, was da mit ihr geschah.

„Rede mit mir, Mette. Passiert so etwas häufiger?“ Die Vierzehnjährige bekam kein einziges Wort heraus. Stattdessen bahnten sich dicke Tränen ihren Weg. Sie wollte es gar nicht, konnte ihren Schmerz jedoch nicht länger verbergen. „Seit wann tut er dir das schon an?“ „In den letzten Wochen wurde es immer schlimmer“, schluchzte Mette. „Ich werde diesen Mistkerl sofort zur Rede stellen!“, fuhr Petra angewidert auf und stürmte zurück ins Wohnzimmer.

„Mette hat mir alles erzählt!“, schrie sie Andreas an. „Deine Tochter ist eine Bitch. Sie macht mich schon seit Wochen an, fordert mich geradezu heraus und jetzt versucht sie mich in deinen Augen schlecht zu machen.“ „Das glaubst du doch selber nicht. Wenn du deine verdammten Pfoten nicht von ihr lässt, werde ich dich anzeigen!“ „Wenn du das machst, schmeiße ich dich und deine Hucke hinaus. Soll deine bekloppte Mutter doch irgendwelche Penner nerven.“ „Was bist du nur für ein Mensch? Ja, ich glaube, du würdest meine an Demenz erkranke Mutter tatsächlich vor die Tür setzen.“

„Wie du dich vielleicht noch erinnerst, gehört mir dieses Haus. Wenn du dich gegen mich stellst, ist es wohl nur allzu verständlich, wenn ich euch dann vor die Tür setze.“ „Was bist du nur für ein erbärmliches Schwein? Wie hatte ich mich nur so in dir täuschen können?“ „Großzügig wie ich bin, gebe ich euch bis zum Ende des Monats Zeit, um hier auszuziehen.“

Damit erhob sich Andreas und verließ das Haus. Was um alles in der Welt sollte sie tun? Beweise für die sexuelle Nötigung ihrer Tochter hatte sie nicht. Hier stand Aussage gegen Aussage. Einen Anspruch auf das Haus hatte sie nicht, weil es sein Elternhaus war. Wo also sollte sie nur mit ihrer kranken Mutter hin? Als Zahnarzthelferin in einer Halbtagsstelle verdiente sie viel zu wenig, um sich eine halbwegs geeignete Wohnung zu mieten. Ganz zu schweigen von einer adäquaten Betreuung für ihre Mutter, die nie auf Karte gearbeitet hatte. Ihre Rentenansprüche waren daher sehr gering.

„Du brauchst dich nicht mehr zu sorgen, Mette. Ich trenne mich von Andreas. Zum Ende des Monats werden wir hier ausziehen.“ „Aber dann bist du doch wieder unglücklich“, entgegnete der verzweifelte Teenager. „Ich kann nur dann wirklich glücklich sein, wenn du es bist. Abgesehen davon ekelt es mich vor diesem Mann.“ Mette fiel ihrer Mutter um den Hals. „Mach dir also um Himmels Willen keine Gedanken, mein Schatz. Dieser Mistkerl ist es nicht wert, dass wir wegen ihm auch nur einen einzigen Gedanken verschwenden.“

Nachdem der Versicherungsvertreter das Haus noch einmal verlassen hatte, um einen letzten Termin an diesem Abend wahrzunehmen, kam Petra endlich zur Ruhe. Erst jetzt spürte sie den unbändigen Hass, der sich während der letzten Wochen in ihr aufgestaut hatte. Natürlich waren ihr die ständigen Avancen und der unnatürliche Körperkontakt, den Andreas zu Mette suchte, nicht verborgen geblieben. Sie hatte es abgetan, ignoriert, verdrängt, doch nun konnte sie schon um ihrer Tochter Willen nicht länger tatenlos zusehen. Sie hatte die Reißleine gezogen und das war gut so.

Petra hatte nicht den Hauch einer Idee, wovon sie die drei durchbringen sollte und wer ihr möglicherweise dabei helfen würde. Wem konnte sie sich anvertrauen? Die Bekannten, mit denen sie sich trafen, waren allesamt Freunde von Andreas. Von ihnen hatte sie keine Hilfe zu erwarten. Nicht einer seiner Freunde würde ihr glauben. In ihrer Verzweiflung fielen ihr die drei Frauen ein, denen sie vor kurzem im Bus begegnet war. Aus einigen Gesprächsfetzen, die sie während der Fahrt aufschnappte, war zu entnehmen, dass auch sie Ärger mit ihren Partnern hatten. Sie erinnerte sich an einen Satz, der seit dieser Begegnung immer wieder durch ihre Gedanken geisterte. Zwei der Frauen sprachen davon, eine Selbsthilfegruppe ins Leben zu rufen. Auch wenn Petra nicht so recht wusste, was sie davon halten sollte, so war diese Idee das einzige, woran sie sich jetzt klammern konnte.

Eine der Frauen kannte sie aus der Zahnarztpraxis in der sie beschäftigt war. Sie nahm sich vor, gleich am nächsten Morgen bei Arbeitsantritt den Namen und die Telefonnummer herauszusuchen. Letztendlich hatte sie nichts zu verlieren.

-12-

„Was ist denn los?“, begriff ich eher zögerlich, gerade erst aus dem schönsten Schlummer unsanft geweckt, was Trude mitten in der Nacht von mir wollte. „Sie müssen sofort in die Detektei kommen, Chef. Hier ist der Bär los.“ Ich kapierte immer noch nicht, was die gute Seele eigentlich von mir wollte, aber wenn meine Putzsekretärin derart aufgeregt anrief, musste etwas Außergewöhnliches geschehen sein. Mein Blick auf den Radiowecker und das zur angezeigten Uhrzeit passende, durch die Fenster fallende Tageslicht, machte mir klar, dass ich wohl schon etwas später dran war. Angesichts der anstehenden Arbeit war es mit zehn Uhr aber auch nicht zu spät.

Erst als ich unter der morgendlichen Dusche stand und langsam zu mir kam, schlich sich der Gedanke, dass es sich eventuell auch um einen Wasserrohrbruch handeln konnte, in mein Bewusstsein. Mein Pulsschlag erhöhte sich, Muskeln und Sehnen spannten sich an und ich lief für diese Uhrzeit zu unerwarteter Höchstform auf. Gerade zwanzig Minuten nach Trudes Anruf riss ich die Tür zu meiner Detektei auf und erstarrte in jeglicher Bewegung.

In der Anmeldung wimmelte es nur so von Menschen. Während meine Putzsekretärin eifrig Termine vergab, hatte Axel alle Ohren voll am Telefon zu tun. „Gott sei Dank sind Sie endlich da, Chef!“, rief sie mir entgegen. Keine so gute Idee, wie ich mit dem nächsten Atemzug feststellen musste. All die Leute, und ich rede hier von einem runden Dutzend, drehten sich zu mir herum und stürmten im nächsten Moment auf mich zu. Die Situation erinnerte an eine Massenpanik, wie man sie sonst nur aus Indien oder dem fernen Osten kennt.

Mein Büro bot mir den letztmöglichen Zufluchtsort. Nun, es blieb mir nichts anderes übrig, als mich der Meute zu stellen, um überhaupt erst einmal in Erfahrung zu bringen, was die Leute eigentlich von mir wollten. Gottlob bestätigte sich mein erster Gedanke nicht. Es waren keine Gläubiger. Angelockt durch Axels Plakataktion, handelte es sich tatsächlich um potentielle Klienten.

Es brauchte Stunden, die Anliegen der Leute auf ein machbares Maß zu reduzieren. Aufträge, die sich auf die Wiederbeschaffung gestohlener Fahrräder, oder auf Recherchen nach entlaufenen Katzen bezogen, wimmelte ich mir von vornherein ab. Hier würde mein Honorar den erhofften Erfolg beziehungsweise den Wert des Gutes sicherlich übersteigen. Auch wenn unter den Anfragen vieles war, womit sich ein Detektiv nicht beschäftigte, so muss ich eingestehen, dass meine Detektei zumindest für einige Zeit in aller Munde war.

Immerhin waren vier Aufträge darunter, die nicht nur Geld ins Haus brachten, sondern auch mein Interesse weckten. So war beispielsweise aus dem Haus einer Auftraggeberin eine wertvolle Vase verschwunden. Da sie den Dieb im Kreise ihrer Bekannten vermutete, wollte sie keine Anzeige erstatten und die Polizei nicht einschalten. Ein weiterer Fall begründete sich in ausartenden Nachbarschaftsstreitigkeiten. So wurde mein Auftraggeber immer wieder Opfer heftiger Attacken. Vor seiner Haustür wurde Müll ausgekippt, sein Auto wurde mit Majonäse beschmiert und seine Gartenpflanzen wurden immer wieder zerschnitten. Besonders brisant erschien mir jedoch die Entmietung eines Mehrfamilienhauses in Klein Stöckheim. Ein Investor wollte das Gebäude sanieren, um die dann entstandenen Luxuswohnungen zu verkaufen. Dabei schien er in der Wahl seiner Mittel nicht sonderlich zimperlich vorzugehen. Leider ließ sich bislang nichts beweisen. Das sollte sich mit meiner Hilfe nun ändern.

Natürlich fehlte auch der Klassiker nicht. Der vierte Auftrag drehte sich um Ehebruch. Mit der Mutter des Ehemannes handelte es sich allerdings um eine eher ungewöhnliche Auftraggeberin. Mir war es letztendlich egal, wovon ich meine Miete zahlte. Auch wenn ich mitunter gestehen muss, dass es sich bei solchen Fällen nicht um die Aufgaben handelt, an die ich dachte, als ich mich vom Polizeidienst lossagte. Damals war ich noch voller Ideale und Tatendrang, doch inzwischen musste ich einsehen, dass man von Idealismus allein nicht satt wird.