Detektei Lessing

 

Band 34

 

Tödliche Abrechnung

 

-1-

 

„Na, das ist ja wohl jetzt nicht dein Ernst, Leopold Lessing!“, entrüstete sich Miriam bei meinem Anblick. „Wieso? Das Ding ist wirklich spitze. Man riecht so gut wie gar nichts mehr.“ Ich nahm den Atemschutz ab und hielt ihn meiner Liebsten entgegen. „Hier, probier's doch mal aus.“ Miriam riss mir die Maske aus der Hand und warf sie wütend in die nächste Ecke. Ihre Aggression übertrug sich auf Ramona, die natürlich im gleichen Moment zu plärren begann. „Was macht der Papa mit dir, mein Schatz? Hat er dich erschreckt?“

Die Wickelkommode wechselte den Betreiber. Die vorwurfsvollen Blicke der Frau Staatsanwältin trafen mich mit der ganzen Härte des Gesetzes. „Das arme Kind bekommt ja einen Schock fürs Leben.“ „Also bis du kamst, hatten wir unseren Spaß und der Geruch der vollen Windel war erträglich. Jetzt weint Ramona und es stinkt zum Himmel.“ Damit hatte ich den Bogen überspannt. Ihr bis dato rauer Tonfall wechselte in ein unterkühltes Schweigen. Letzteres ist bei Miriam als alarmierend anzusehen.

„Ich muss dann auch los, in die Detektei“, log ich. „Ein neuer Fall.“ Wenn ich eines in der bisherigen Zeit unserer trauten Zweisamkeit gelernt hatte, dann war es rechtzeitig bei Gefahr in Verzug die Segel zu streichen. „Und nimm deine lächerliche Staubmaske mit!“ Die hatte in der Zwischenzeit bereits eine neue Interessentin gefunden. Als ich mich danach umdrehte, sah ich gerade noch, wie Bea damit aus dem Kinderzimmer verschwand. Das war es dann wohl mit meinem unerlaubten Hilfsmittel. Ob die Tauchermaske vom Tankumsee den Umzug überlebt hatte?

Ein Blick auf meine Armbanduhr verriet mir, dass mein Lieblingscafé bereits geöffnet hatte. Ich hatte zwar schon gefrühstückt, aber wenn ich zu so früher Stunde bereits in der Detektei auflief, würde Trude sicherlich eine erste Ehekriese heraufbeschwören. Abgesehen davon hatte ich Lust auf Annes leckeren Cappuccino und auf ein gutes Gespräch mit einigen Stammgästen im Café Klatsch.

Wie immer wollte ich meinen Wagen im Parkhaus am Rosenwall abstellen, doch daraus wurde nichts. Wichtige Reparaturarbeiten standen an. Ich hatte es in der Wolfenbütteler Zeitung gelesen und wieder vergessen. Wer um diese Zeit in der Innenstadt einen Parkplatz sucht, muss schon unverschämtes Glück haben, oder aber er riskiert einen Strafzettel, weil er gegen die Straßenverkehrsordnung verstößt.

Nun, wie so oft war mir dieses Glück nicht vergönnt. Weit und breit gab es nur noch freie Parkplätze für Menschen mit Handicap. Also rangierte ich meinen Wagen, zugegeben etwas dicht, neben einen Altglas Container. Verschenkte Parkfläche wie ich fand. Abgesehen davon nahm ich mir vor, nach meinem Cappuccino nach einem anderen Parkplatz Ausschau zu halten. Ich löste also einen gültigen Parkausweis und machte mich auf den kurzen Weg in mein Stammcafé.

Vorbei an meiner Lieblingstelefonzelle mit den tollen Büchern zur allgemeinen Selbstausleihe und der gemütlichen Frida, wie ich die Puppe nenne, die bei schönem Wetter stets vor dem Kosmetikladen die Kundschaft begrüßt. Geradeaus verkaufte der alte Herr wieder die Obdachlosenzeitung und der Geruch von frisch zubereitetem Fisch waberte um die Ecke. Kurz, einer dieser herrlichen Morgen, wie ich sie so sehr an meiner Stadt liebe.

Vor dem Café Klatsch waren bereits die ersten Tische besetzt und einige bekannte Gesichter lächelten mir freundlich zu. Ich setzte mich an einen der noch freien Tische und bestellte den ersehnten Cappuccino. Obwohl noch relativ früh am Tage, waren bereits viele Menschen unterwegs. Ich sah ihnen nach, wie sie geschäftig die Fußgängerzone heruntereilten. Paketdienste lieferten bestellte Waren aus. Andere kehrten den Fußweg vor ihren Läden.

„Oh schön, dass du an die Zeitung gedacht hast“, bedankte ich mich bei Anne und warf einen Blick auf die neusten Nachrichten aus aller Welt, aber auch auf das regionale Tagesgeschehen. Es ist ein wesentlicher Faktor in meinem Beruf, stets auf dem Laufenden zu sein. Dazu gehören die Meldungen vom Sport, aber auch die aus dem Feuilleton. Gerade das gesellschaftliche Leben in einer Stadt wie Wolfenbüttel kann von großer Bedeutung bei der Lösung so manchen Falles sein.

„Habt ihr schon gehört, das Autohaus Kolbe soll kurz vor der Insolvenz stehen?“, hörte ich einen der Stammgäste. „Quatsch!“, widersprach ein anderer energisch. „Soviel ich gehört habe, hatte der Kolbe einen schweren Unfall und sitzt nun im Rollstuhl. Es war wohl zunächst nicht sicher, ob er den Betrieb weiterleiten kann.“ „Und kann er?“, erkundigte sich ein weiterer Gast, der am selben Tisch saß. „Wer den Kolbe kennt, käme gar nicht auf den Gedanken, etwas anderes zu vermuten.“ Kalle Mackens kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf. „Offenbar kennst du den Mann.“ „Kennen ist zu viel gesagt, ich habe meinen Wagen dort gekauft und dort zufällig eine alte Schulfreundin wiedergetroffen. Sie arbeitet als Sekretärin bei Kolbe.“ „Alte Schulfreundin“, lachten die anderen im Chor. „So, so.“

Es sind Geschichten wie diese, die mir bei meiner Arbeit immer wieder zu Ohren kommen und die mir ein ums andere Mal weitergeholfen haben. „Was macht die Liebe?“, klopfte mir unvermittelt jemand auf die Schulter. Als ich mich umdrehte, erkannte ich den stellvertretenden Bürgermeister. „Hallo Heinz-Rainer“, begrüßte ich meinen Freund. „Setz dich doch zu mir, oder bist du wieder im Interesse unserer Stadt unterwegs?“ „Wieso, es liegt doch im Interesse der Stadt, wenn ich durch meine Anwesenheit dazu beitrage, dass unsere Flaniermeile belebt wird.“ „Da hast du natürlich auch wieder Recht.“

Als Anne kam, erhob sich der Kavalier alter Schule, um sie zu umarmen. „Wie geht es Miriam?“, kam er kurz darauf auf seine Frage zurück. „Ich glaube, sie würde lieber heute als morgen wieder arbeiten gehen“, entgegnete ich augenzwinkernd. „Ich kann mich gut an die ersten Jahre meiner Ehe und das Theater mit den Kindern erinnern“, sinnierte er. „Damals glaubte ich, mir würde alles über den Kopf wachsen. Im Nachhinein waren es die schönsten und erfülltesten Jahre meines Lebens.“ Ich sah meinen Freund nachdenklich an. „Vielleicht braucht man ja auch nur etwas Abstand zur Situation, um die nötige Ruhe für das Ganze zu bekommen.“

Heinz-Rainer hob seine Tasse und prostete mir zu. „Versuche einfach jeden einzelnen, verdammten Tag zu genießen. Sonst zerrinnt dir die Zeit wie Sand in den Händen und am Ende stehst du mit nichts da.“ Er hatte Recht und ich spürte wie der Druck entwich, der sich während der vergangenen Wochen in mir aufgebaut hatte. Auch wenn sich der Prozess unserer Eheschließung über Monate hingezogen hatte, so war ich doch, quasi über Nacht, kein Junggeselle mehr, der letztendlich nie für jemand anderen als für sich selbst Verantwortung getragen hatte. Die eigentliche Erkenntnis daraus stellt sich erst ein, wenn der vollzogene Schritt unumkehrbar erscheint.

Du wirst ein guter Vater und Ehemann sein, davon bin ich überzeugt“, machte mir Heinz-Rainer Mut. „Gib dir einfach etwas Zeit. Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen.“ Während er zu mir sprach, dachte ich an meine ehemalige Freundin, Elisabeth Stahl, die inzwischen leider verstorben war. Sie half immer dann, wenn ich nicht weiterwusste, indem sie stets einen guten Rat parat hatte. „Leo!“, riss mich mein Freund aus den Gedanken. „Äh, wie?“ „Ob du auch noch einen Cappuccino trinken möchtest?“ Ich sah zur Uhr. „Sei mir nicht böse, aber ich muss los.“ Ich zückte mein Portemonnaie. „Du warst eingeladen“, winkte Heinz-Rainer ab. „Und grüß Miriam von mir.“ Ich griff nach meinem Stetson. „Danke, ich werde es ausrichten.“

Auf meinem Weg die ‘Lange' hinunter zur Detektei musste ich an die Worte des sonoren Herren denken und an das Gefühl, welches er mit ihnen in mir ausgelöst hatte. Meine Ehe mit Miriam war toll und ich mochte nicht einen Tag mit unserer Tochter missen, aber trotzdem war da die ganze Zeit über dieses Gefühl, von dem ich nicht wusste, woher es kam und was es mit mir machte. Nun wusste ich, dass ich bei aller Trausamkeit meine eigene Identität nicht verlieren und mir einen Teil meiner Freiheit bewahren musste.

Ich war immer noch ganz in meinen Gedanken, als ich die Tür zu meiner Detektei öffnete. „Oh Chef, schon da?“, erschrak Trude, die sofort auf die Notfalltaste ihrer Computertastatur hämmerte. Als wenn ich nicht längst wüsste, dass sie sich nur zu gern mit irgendwelchen Kartenspielen die Zeit vertrieb. „es wird höchste Zeit, dass wir mal wieder etwas Geld in die Kasse bringen. Sie wollen doch pünktlich Ihren Lohn erhalten, oder?“

Meine Putzsekretärin sah mich aus großen Augen fragend an. „Steht es so schlecht?“ „Schlechter, Trude, viel schlechter“, erklärte ich mit ernster Miene, während ich an ihrem Schreibtisch vorbei in mein Büro eilte. Ich hatte den Stetson gerade über den Garderobenhacken geworfen und meine Beine über die Ecke meines Schreibtisches gelegt, als mir Trude auch schon einen Kaffee brachte.

„Leider sind alle Fälle abgearbeitet, neue gibt es nicht und einen Anruf aus der Kanzlei Börner gab es auch nicht“, jammerte sie mit belegter Stimme. „Tja, dann müssen wir wohl Axel als laufende Werbesäule aktivieren.“ Trude schluckte trocken. „Ob er das noch mal machen würde, weiß ich nicht.“ „Na dann müssen Sie eben ran!“, feixte ich. „Ich? Nee Chef, das können Sie nicht von mir verlangen. Mich kennt doch hier jeder.“ „Na, umso besser“, trieb ich es auf die Spitze. „Das steigert den Werbeeffekt.“

Als sich daraufhin ihre Haare krausten und selbst Trude keine Worte mehr fand, hatte ich Mitleid und erlöste sie. „Alles gut, Trudchen, machen Sie sich keine Sorgen. Für solche Flauten habe ich gottlob vorgesorgt.“ Ich konnte den Stein direkt hören, der ihr vom Herzen fiel. „Das dürfen Sie nicht so oft mit mir machen, Chef“, japste sie. „So etwas verträgt mein altes Herz nicht mehr.“ „Ihre Pumpe überlebt uns alle“, lachte ich. „Aber jetzt mal Spaß beiseite. Wir sollten schon in naher Zukunft einen lukrativen Fall an Land ziehen. Ewig reichen meine Rücklagen auch nicht.“

„Wenn du glaubst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her“, erinnerte ich mich an Elisabeths Worte, als die Tür aufging und eine Frau die Detektei betrat. Trude schloss hinter sich die Tür zu meinem Büro und widmete sich der Besucherin. Ich saß derweil auf heißen Kohlen, bis endlich die quäkige Stimme meiner Putzsekretärin über die Sprechanlage ertönte und sie in der abgesprochenen Weise mit mir sprach.

„Haben Sie einen Augenblick Zeit, Chef?“ „Sie wissen doch, dass ich in Kürze einen Termin am Gericht habe“, log ich das Blaue vom Himmel. „Es scheint dringend zu sein“, spielte Trude mit. „Also gut“, seufzte ich in die Sprechanlage, “...schicken Sie die Dame herein.“

Im nächsten Moment saß eine dunkelhäutige Schönheit aus Marokko auf dem Besucherstuhl vor meinem Schreibtisch. Mein Blick hing an der Sporttasche, die sie zu ihren Füßen absetzte. „Ich habe leider nicht viel Zeit“, machte ich mich rar, weil ich auf Grund ihrer einfachen Kleidung keine Reichtümer vermutete. Womit sollte sie mich also bezahlen? Die Afrikanerin begann zu weinen. „Na, nun erzählen Sie erst einmal.“ Ich reichte ihr ein Papiertaschentuch. „Was führt Sie denn zu mir?“ „Es geht um meinen Freund“, begann sie zögerlich. „Ralf ist vor etwa drei Monaten verschwunden.“ „Er hat Sie also verlassen?“, hakte ich nach. „Ich weiß es nicht“, entgegnete sie und brach erneut in Tränen aus.

„Möchten Sie vielleicht ein Glas Wasser?“ Sie schniefte. „Haben Sie auch einen Schnaps?“ Ich sah sie ungläubig an. „Ja natürlich, einen Schnaps.“ Der Klare wirkte sofort. Die Schönheit wurde merklich ruhiger. „Ralf hat mich nicht einfach so verlassen. Es muss etwas Schreckliches passiert sein.“ „Wie kommen Sie darauf?“, krauste sich meine Stirn. Sie hob die mitgebrachte Sporttasche vom Boden, zog den Reißverschluss auf und kippte den Inhalt auf meinen Schreibtisch. Mir blieb buchstäblich die Spucke weg. Vor mir lag ein Berg von Geldbündeln. Alles Fünfzig Euro Scheine. „Deswegen“, behauptete sie. „Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht ganz folgen.“

-2-

Dieser Fall gehörte rückblickend zu den skurrilsten Aufträgen, für die ich in all den Jahren als Detektiv ermittelte. Nachdem mir Jasmina El Basisii erklärt hatte, wie ihr Freund quasi über Nacht aus ihrem Leben gerissen wurde, stand für mich fest, dass er nicht freiwillig verschwunden war. Selbst wenn der gelernte Kraftfahrzeugmechaniker kurz zuvor seine Anstellung verloren hätte, erschien mir dies bei dem derzeitigen Fachkräftemangel kein Grund, um bei Nacht und Nebel zu verschwinden und schon gar nicht, um freiwillig aus dem Leben zu scheiden. Abgesehen davon war da ja auch noch die Summe von einer viertel Million Euro, die er bei seinem Verschwinden in der gemeinsamen Wohnung des Paares zurückgelassen hatte.

Natürlich hatte ich meine Auftraggeberin nach dem Grund gefragt, weshalb sie nicht längst zur Polizei gegangen war und ihren Freund vermisst gemeldet hatte. Ihre Antwort leuchtete mir als Erklärung ein, machte mich allerdings in Bezug auf mein Honorar auch nachdenklich. Jasmina El Basisii hielt sich illegal in Deutschland auf. Um am Ende nicht auf meinen Unkosten sitzen zu bleiben, verlangte ich daher Vorkasse. Solange ich nicht wusste, woher das Geld stammte, machte ich mich nicht strafbar. Ein schlechtes Gefühl blieb trotzdem, zumal sie mir das Geld in Obhut gab.

„Ach du dicker Vater!“, entfuhr es Trude, als sie den Geldhaufen auf meinem Schreibtisch erblickte. „Das ist doch wohl nicht Ihr Notgroschen?“ „Schön wäre es. Das Geld hat Frau El Basisii mitgebracht. Wir sollen es solange für sie in Verwahrung nehmen, bis wir wissen, woher es stammt.“ Im Gesicht meiner Putzsekretärin zeichnete sich ein Fragezeichen ab. „Sie hat es nach ihrer eigenen Aussage in ihrer Badewanne gefunden“, erklärte ich. „Da bekommt das Wort Geldwäsche endlich eine praktikable Bedeutung.“ „Sie meinte natürlich ein Versteck hinter der Revisionsklappe unter der Wanne“, präzisierte ich. „Ich bin ja nicht blöd“, entgegnete Trude beflissentlich.

„Da ich das weiß, habe ich auch gleich eine Aufgabe für Sie.“ Die gute Seele spitzte die Ohren. „Suchen Sie mir bitte alle Einbrüche und Überfälle heraus, die in einem Zeitraum von drei Monaten vor dem Verschwinden von Ralf Rosskopf stattfanden und die eine Beute von etwa einer viertel Million Euro erbrachten.“ „Bundesweit?“ „Beschränken Sie sich zunächst auf Niedersachsen und Sachsen-Anhalt“, zerstreute ich Trudes schlimmste Befürchtungen. „Was ist mit einer möglichen Erpressung und Entführung?“ Ich verzog das Gesicht. „Sie haben Recht, bei einer solchen Summe können wir auch diese Delikte nicht ausschließen.“

Während Trude für die nächsten Stunden beschäftigt war, wollte ich meine Auftraggeberin in ihrer Wohnung aufsuchen, um mir ein Bild von den persönlichen Dingen zu machen, die der Vermisste dort zurückgelassen hatte. Leider ging es mir wie Jasmina El Basisii, nur dass ich mein Auto vermisste. Die Idee, meinen Wagen neben den Altglas Container abzustellen, war offenbar nicht so gut, wie ich angenommen hatte. Mein besorgter Anruf bei der Dienststelle der Polizei auf der ‘Lindener Straße' ergab die ernüchternde Gewissheit, dass sich mein Skoda in der Verwahrstelle des vom Ordnungsamt beauftragten Abschleppunternehmens befand. Da ich nicht wollte, dass Miriam Wind davon bekam, ließ ich mich von einem Taxi zur ‘Ahlumer Straße' fahren.

Meine Fehleinschätzung, ich hätte meinen Wagen auf einem adäquaten Parkplatz abgestellt, kostete mich über zweihundert Euro zuzüglich Bußgeld und Depotkosten. Der Tag war so gut wie gelaufen. Als ich endlich zur Adresse von Jasmina El Basisii kam, war es beinahe Mittag. Die Marokkanerin stand in der Küche und bereitete Lammhackbällchen. Der Duft ließ mir bereits im Hausflur das Wasser im Mund zusammenlaufen.

„Sie kommen gerade rechtzeitig zum Essen, Herr Lessing“, empfing sie mich mit demselben Akzent, der mir bereits in der Detektei aufgefallen war. „Es wäre sehr nett, wenn Sie die Pantoffeln anziehen würden“, deutete sie auf meine Schuhe. „Natürlich, kein Problem.“ „Das Bad ist geradeaus“, forderte sie mich dezent zu der von ihrer gewohnten Reinlichkeit auf. Ein Verhalten, wie ich es bereits von meinen arabischen Bekannten in Salzgitter kannte.

„Bitte erzählen Sie mir von Ihrem Lebensgefährten“, bat ich meine Auftraggeberin. Sie brauchte einige Momente, ehe sie die passenden Worte fand. „Ralf und ich sind seit über einem Jahr zusammen“, erzählte sie. „Was ist mit der Familie Ihres Lebensgefährten? Eltern, Großeltern, Geschwister. Vermisst ihn von denen niemand?“ „Ralf ist allein. Außer mir hat er niemanden mehr“, erklärte sie. „Das ist ungewöhnlich, aber es erklärt natürlich, dass er nicht als vermisst gemeldet wurde“, überlegte ich.

„Können Sie sich an irgendetwas erinnern, was am Tag seines Verschwindens ungewöhnlich war? Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen, was vielleicht anders als sonst verlief? Hat er sich anders verhalten? Sagte er etwas zu ihnen, was Sie möglicherweise erst später mit seinem Verschwinden in Zusammenhang brachten?“ „Glauben Sie mir, Herr Lessing, all diese Fragen habe ich mir selbst bereits hundertfach gestellt, ohne dass ich auch nur eine einzige Antwort darauf gewusst hätte“, seufzte sie. „Es war ein Tag wie jeder andere. Ralf wollte mich von der Arbeit abholen, doch er kam nicht. Zunächst nahm ich an, er müsste länger arbeiten, aber als er auch über Nacht nicht nach Hause kam, wusste ich, dass etwas passiert Schlimmes sein musste.“

„Weshalb nahmen Sie an, es sei etwas Schlimmes geschehen?“, hakte ich nach. „Ralf kam immer nach Hause, auch wenn es in der Kneipe mit seinen Freunden oder den Kollegen mal spät wurde und er einen über den Durst getrunken hatte“, erklärte sie überzeugend. „Hatte Ihr Freund eine Stammkneipe?“ „Er traf sich meistens in der Schlossschänke mit seinen Kumpels“, entgegnete sie. „Kennen Sie seine Freunde?“, hakte ich nach. „Meistens traf er sich mit seinen Arbeitskollegen. Ich kenne nur den Peter mit Namen. Mit dem war er aber auch schon seit einigen Jahren befreundet.“ „Peter“, notierte ich mir. „Kennen Sie auch den Nachnamen?“ Die Marokkanerin verschwand in ihrem Wohnzimmer.

„Hier ist seine Telefonnummer und der Nachname. Ralf hat sie im Telefonverzeichnis eingetragen.“ „Kann es sein, dass er sich am Tag seines Verschwindens ebenfalls in der Schlossschänke treffen wollte?“ „Wie gesagt, Ralf wollte mich am Nachmittag von der Arbeit abholen und anschließend mit mir Bummeln gehen.“ Ich legte das Besteck zur Seite und steckte den Zettel mit der Telefonnummer ein. „Das Essen war ausgezeichnet“, lobte ich. „Ein Rezept aus Ihrer Heimat?“ Jasmina El Basisii nickte.

„Ich würde jetzt gern die Gegenstände sehen, die Ihr Freund bei Ihnen zurückgelassen hat.“ „Moment, ich hole sie.“ Während sie im Schlafzimmer herumkramte, verließ ich die Küche und sah mich im Wohnzimmer um. „Wo arbeiten Sie eigentlich?“, erinnerte ich mich an ihren illegalen Aufenthaltsstatus. „Ich putze privat in einem Haushalt“, erklärte sie mit einem Aktenordner und einer kleinen Schachtel unter dem Arm. „Wann wurden die Fotos aufgenommen?“, deutete ich auf die Bilderrahmen an der Wand über der Sitzecke. Sie nahm eines der Bilder ab und strich sanft mit dem Zeigerfinger darüber.

„Letztes Jahr im Herbst. Es entstand bei einem Ausflug auf der Oker.“ „Ist das ein Floß von den Okerpiraten?“, erinnerte ich mich an meine Schulzeit und damit an den Besitzer. „Ja, Ralf kennt einen der Männer, die dort arbeiten.“ Jasmina tat einen tiefen Seufzer. „Da war noch alles okay. Ich verstehe das alles nicht.“ Ich schlug den Aktenordner auf und stieß auf Gehaltsabrechnungen, die ihrem Datum entsprechend abgeheftet waren. Zwei Monate vor seinem Verschwinden waren keine weiteren Abrechnungen mehr hinzugefügt worden.

„Wo sagten Sie, war Ihr Freund beschäftigt?“ Jasmina deutete auf die Lohnzettel. „Im Autohaus Kolbe als KFZ Mechaniker.“ „Die müssen sich doch bei Ihnen gemeldet haben, als ihr Mitarbeiter nicht mehr zur Arbeit kam.“ Die Marokkanerin zuckte mit den Achseln. „Hier hat sich niemand gemeldet.“ Ich schüttelte ungläubig den Kopf. „Was ist mit der Miete für Ihre Wohnung? Wenn Sie illegal in Deutschland leben, verfügen Sie sicherlich über kein eigenes Konto, von dem die laufenden Kosten für die Wohnung, wie Strom, Telefon oder Versicherungen abgebucht werden.“

Jasmina El Basisii sah mich erschrocken an. „Ich weiß und vielleicht habe ich auch etwas Falsches getan, aber ich wusste mir keinen anderen Rat. Ralf hat mir am Computer alles erklärt.“ „Sie machen Online Banking“, schlussfolgerte ich. „Ohne seine Karte kann ich nichts überweisen und kein Geld abheben, aber es geht alles automatisch.“ „Ihr Freund hatte alle regelmäßigen Zahlungen über Lastschriftaufträge abgewickelt“, kombinierte ich. „Aber war denn so viel Geld auf dem Konto, dass es bis heute reichte?“ „Seit letztem Monat ist kein Geld mehr drauf“, begann meine Auftraggeberin zu weinen. Ich nahm sie in den Arm und tröstete sie. „Am besten loggen Sie sich gleich mal auf dem Konto ein, damit ich mir ein Bild von dem Geldfluss machen kann.“

Kurz darauf war klar, dass der Dispo von Ralf Rosskopf bereits bis zum Anschlag ausgereizt war. Gehalt war seit dem Datum der letzten Abrechnung nicht überwiesen worden. Somit war für mich klar, dass der Vermisste seine Arbeit bereits vor seinem Verschwinden verloren hatte. Aber war dies ein hinreichender Grund, um auszusteigen oder, sogar freiwillig aus dem Leben zu scheiden? Auf jeden Fall wollte ich der Sache auf den Grund gehen und deshalb mit seinem Arbeitgeber sprechen. In wie weit der tragische Unfall von Michael Kolbe etwas mit der Kündigung zu tun hatte, musste sich zeigen.

„Darf ich mir das Foto mitnehmen? Ich bräuchte es für meine Recherchen“, fragte ich. „Wenn Sie es mir zurückgeben“, trennte sich die Marokkanerin nur ungern von dem Andenken. „Es gibt nicht so viele Fotos von Ralf und mir.“ „Ich werde es einscannen lassen und für meine Zwecke ausdrucken. Dann bekommen Sie es schon morgen zurück“, versprach ich. „Das ist lieb von Ihnen“, bedankte sie sich. „Aber was wird denn nun aus mir? Mit dem wenigen Geld, was ich bei den Talers im Haushalt verdiene, komme ich gerade über die Runden. Wovon soll ich nur die Miete und den Strom bezahlen?“

Die Situation der Marokkanerin war verzwickt. Einerseits hatte sie eine Tasche voller Geld, von dem sie locker einige Jahre hätte leben können. Andererseits wusste sie nicht, ob es sich bei dem Geld um die Beute aus einer Straftat handelte. „Wir nehmen jetzt einfach an, dass Ihr Freund im Lotto gewonnen hat, aber nicht mehr dazu kam, Ihnen von seinem Gewinn zu erzählen. Wenn es Ihnen recht ist, nehme ich davon fünftausend Euro und zahle das Geld auf dem Konto Ihres Freundes ein. Wenn es sich tatsächlich um sauberes Geld handelt, haben Sie es nicht mal veruntreut, weil es ja auf Ralf Rosskopfs Konto eingezahlt wird.“ Jasmina El Basisii war von meinem Vorschlag begeistert. „Das ist eine gute Idee, so machen Sie es bitte.“

 

-3-

Bevor ich mit dem Geld auf die Bank ging, sah ich mir die Scheine genauer an. Schließlich wollte ich nicht mit Falschgeld erwischt werden. Man weiß ja nie. An der Echtheit des Geldes bestand jedoch kein Zweifel. Ich fragte mich, ob es der Geldautomat mitbekommen würde, wenn die Seriennummern registriert waren. Da meine Einzahlung nicht auffallen sollte, teilte ich die Summe in drei Raten auf. Nachdem die Einzahlung von eintausend Euro problemlos verlief, ließ ich zwei weitere mit je zweitausend Euro folgen.

Nachdem das erledigt war und meine Auftraggeberin nun keine Angst mehr vor einer Räumungsklage haben musste, machte ich mich auf den Weg zum Autohaus Kolbe auf der ‘Goslarsche Straße'. Ich war gespannt, ob sich der Tratsch, den ich am Morgen von einigen Gästen in meinem Stammcafé mitbekommen hatte, der Tatsache entsprach.

„Guten Tag, Frau Paulus“, las ich auf dem Schildchen auf dem Schreibtisch ihren Namen. „Lessing, Leopold Lessing“, reichte ich ihr meine Visitenkarte. „Ich hätte gern Herrn Kolbe gesprochen.“ „Haben Sie einen Termin mit meinem Chef?“, erkundigte sie sich lauernd. „Leider nicht, aber es handelt sich wirklich um eine sehr wichtige Angelegenheit.“ „Sie glauben gar nicht, wie oft ich das zu hören bekomme.“ „Warum nicht?“, entgegnete ich augenzwinkernd. „Also schön, ich werde sehen, ob der Chef für Sie Zeit hat. Warten Sie bitte einen Moment.“

Während Frau Paulus telefonierte, sah ich mir die Bildergalerie der Firmengeschichte an. Der Betrieb war über drei Generationen in der Familie jeweils vom Vater auf den Sohn weitergegeben worden. Im Vergleich zu den eher bescheidenen Anfängen, hatte sich der Betrieb unter der Führung von Michael Kolbe von einer KFZ Werkstatt zu einem stattlichen Autohaus entwickelt. Die angeschlossene Vertragswerkstatt hatte auch über die Stadtgrenze einen ausgezeichneten Ruf.

„Sie haben Glück, Herr Kolbe ist für Sie zu sprechen“, verkündete die Sekretärin, offenbar selbst überrascht. „Prima, haben Sie vielen Dank, Frau Paulus.“ Die recht zierlich wirkende, attraktive Frau in den Dreißigern begleitete mich zum Büro ihres Chefs, klopfte an und öffnete mir die Tür.

„Was führt Sie zu mir, Herr Lessing?“, begrüßte mich der robust erscheinende Mann hinter dem Schreibtisch. Ich schätzte ihn auf Mitte vierzig. Die fliehende Stirn ließ ihn älter erscheinen. „Meine Sekretärin erwähnte, dass Sie ihren Lebensunterhalt als Detektiv bestreiten.“ „Das ist korrekt“, bestätigte ich. „Mal ehrlich, Herr Lessing, nur interessehalber, kann man von Ihrem Beruf eigentlich leben?“ „Wenn man in seinem Job gut ist“, lächelte ich vielsagend. „Und, sind Sie gut?“ „Gut genug, um gut davon leben zu können“, schmunzelte ich.

„Lassen Sie mir bitte Ihre Karte hier“, meinte er es ernst. „Man weiß ja nie, vielleicht brauche ich irgendwann mal einen Privatdetektiv.“ Während ich mein Portemonnaie nach einer Visitenkarte durchsuchte, kam er mit seinem Rollstuhl hinter dem Schreibtisch vorgerollt. Die Männer im Café hatten also die Wahrheit gesagt. Er bemerkte das Erstaunen in meinen Augen, obwohl ich meine Reaktion auf seinen Anblick zu verbergen versuchte.

„Ein Unfall“, erklärte er ohne Umschweife. „Wie Sie sehen, geht es auch ohne Beine. Denken spielt sich im Kopf ab. Aber weshalb wollten Sie mich denn nun sprechen?“ Ich reichte ihm die letzte, etwas zerknickte Visitenkarte. Im Gegenzug bot er mir einen der Stühle vor seinem Schreibtisch an. „Es geht um einen Ihrer ehemaligen Mitarbeiter. Einen gewissen Ralf Rosskopf. Er hat bis zum Herbst des vergangenen Jahres als KFZ Mechaniker bei Ihnen gearbeitet.“ „Stimmt, ich kann mich erinnern. Herr Rosskopf war einige Jahre für uns tätig.“ „Es würde mich interessieren, weshalb Sie ihn entließen.“ Kolbe räusperte sich. „Sie wissen schon, dass ich Ihnen schon aus Datenschutzgründen keine Auskunft über den Herrn erteilen kann?“

Mein zerknirschter Gesichtsausdruck hinterließ Wirkung. „Herr Rosskopf wird seit einigen Monaten vermisst. Seine Lebensgefährtin macht sich große Sorgen über seinen Verbleib. „Also schön, von mir haben Sie das allerdings nicht.“ Ich versprach die Auskunft für mich zu behalten, indem ich ihm mit dem Kopf zunickte. „Mein Werkstattmeister überführte Rosskopf des Diebstahls. Er hatte, wahrscheinlich bereits über einen längeren Zeitraum, Ersatzteile mitgehen lassen und im Internet verkauft. Es blieb mir nichts anderes übrig, als dem Mann fristlos zu kündigen.“ Ich verzog das Gesicht wie jemand, der gerade in eine besonders saure Zitrone gebissen hatte. „Haben Sie ihn wegen der Diebstähle angezeigt?“ „Nein, ich wollte alles vermeiden, was dem Ruf unseres Unternehmens schadet.“ „Da konnte Herr Rosskopf aber froh sein, dass Sie es lediglich bei der Kündigung beließen“, tat ich meine Meinung kund. „Das war er auch“, beschrieb Kolbe die Situation als entspannt und seinen ehemaligen Mitarbeiter als einsichtig.

„Können Sie sich vorstellen, dass Herr Rosskopf seine Lebensgefährtin einfach so sitzen lässt und sich bei Nacht und Nebel verdrückt?“ „Es tut mir leid, Herr Lessing, aber ich kannte Herrn Rosskopf nicht näher. Er gehörte eher zu den Mitarbeitern, die nicht an unseren kleinen Betriebsfeiern teilnahmen.“ „Dann können Sie mir sicherlich ebenso wenig sagen, ob er irgendwo anders Arbeit fand“, suggerierte ich eine mögliche Antwort. „So ist es, aber möglicherweise kann Ihnen Herr Stock mehr dazu sagen“, verwies mich Kolbe. „Herr Stock ist unser Betriebsratsvorsitzender. Er war sehr bemüht, um eine sozialverträgliche Kündigung zu erwirken.“ „Die es jedoch nicht gab“, stellte ich fest. „Würden wir uns kennen, wüssten Sie, dass ich der Letzte wäre, der nicht mit sich reden ließ, aber wenn es um eine ganze Serie von Diebstählen geht, kann ich kein Verständnis dafür aufbringen.“

Die Haltung des Unternehmers war gerechtfertigt. Manch anderer war schon für weitaus weniger entlassen worden. „Wo finde ich diesen Herrn Stock?“ „Sein Büro befindet sich zwei Türen weiter, wenn Sie rauskommen, gleich links.“ Ich bedankte mich bei Herrn Kolbe und erhob mich. Dabei fiel mein Blick auf einen Bilderahmen auf seinem Schreibtisch, auf dem Kolbe mit einem kleinen Mädchen zu sehen war. „Ihre Tochter?“, fragte ich den Mann im Rollstuhl lächelnd. „Ja“, entgegnete er knapp. „Niedlich.“ Ich weiß nicht, ob ich damit gerechnet hatte, dass er mir nun etwas zu seiner Tochter erzählen würde, er tat es nicht und somit bedankte ich mich für seine Zeit und verabschiedete mich.

Anders als erwartet stand ich am Büro des Betriebsrats vor verschlossener Tür. Da sich auf mein Klopfen nichts rührte, wollte ich schon wieder gehen, als ich plötzlich undefinierbare Laute aus dem Büro vernahm. Ich hatte eine spezielle Vermutung, die meine Neugier weckte. Am Ende des Flurs befand sich ein Wartebereich. Ich setzte mich hinter einen großen Gummibaum, um nicht gesehen zu werden und wartete gespannt darauf, wer das Büro verlassen würde.

Ich staunte nicht schlecht, als sich einige Minuten später die Tür öffnete und der Kopf von Frau Paulus zögerlich zum Vorschein kam. Sie sah zu beiden Seiten den Gang hinunter und verließ das Büro erst, als sie niemanden sah. So verbrachte die Sekretärin also ihre Mittagspause. „Ach, gut dass ich Sie gerade sehe“, stellte ich sie bloß, “...Sie haben wohl nicht zufällig den Herrn Stock gesehen?“ „Ich, äh nein, wie kommen Sie denn darauf?“ „Ich sah Sie gerade zufällig aus seinem Büro kommen“, stellte ich mich naiv.

Frau Paulus bekam einen hochroten Kopf und wurde zum Saulus. „Da müssen Sie sich irren und außerdem geht es Sie nichts an.“ Ich sah ihr amüsiert nach, wie sie über die Treppe nach unten stakste. So viel zum Thema, Pflege eines guten Betriebsklimas. Als sich der Rauch verzogen hatte, startete ich einen zweiten Versuch und klopfte erneut an die Tür. Diesmal bat mich jemand herein.

„Guten Tag, mein Name ist Lessing. Ich komme gerade von Herrn Kolbe. Er meint, Sie könnten mir mehr über Herrn Rosskopf erzählen.“ Mein Gegenüber sah mich verwundert an. „Wieso sollte ich? Wer sind Sie denn eigentlich?“ „Ich bin privater Ermittler und der Mann, der bereits vor fünf Minuten an Ihre Bürotür klopfte.“ Stock sah mich an und hatte verstanden. „Als Vorsitzender des Betriebsrats habe ich das eine oder andere vertrauliche Gespräch zu führen.“ „Natürlich“, grinste ich.

„Wieso interessieren Sie sich für Herrn Rosskopf?“, stellte Stock die Frage, die ich bereits erwartet hatte. „Er wird vermisst“, entgegnete ich vage. „Vermisst? Von wem?“ „Eigentlich wollte ich die Fragen stellen“, blockte ich ab. „Vielleicht hat er sein Gequatsche ja endlich wahr gemacht“, überlegte Stock. „Wovon sprechen Sie?“ „Ralf wollte schon immer nach Australien auswandern, bekam aber nie genügend Geld zusammen.“ „Was demzufolge bedeuten würde, dass er jetzt das Geld zusammen hätte“, schlussfolgerte ich. „Hat er eine Abfindung bekommen?“ Stock brach in schallendes Gelächter aus. „Das ist nicht Ihr Ernst. Offenbar ist Ihnen nicht bekannt, dass Ralf wegen Diebstahls fristlos gekündigt wurde. Der kann froh sein, dass ihn der Alte..., ich meine Herr Kolbe, nicht angezeigt hat. Wenn es nach mir gegangen wäre...“

Ich horchte auf. Hier gab es eine erste Diskrepanz. „Nach meiner Information sollen Sie sich sehr für Herrn Rosskopf eingesetzt haben.“ „Wer sagt das?“ „Ihr Boss.“ Hinter der Stirn des Betriebsratsvorsitzenden rumorte es. „Na ja“, ruderte er zurück, “...Herr Rosskopf war krank, spielsüchtig, wenn Sie verstehen. Jedenfalls klaute er deswegen Ersatzteile im Lager und machte sie zu Geld. Vor dem Arbeitsgericht wäre er damit vielleicht sogar durchgekommen.“ Jetzt wusste ich, woher der Wind wehte. „Als Vertreter von Arbeitnehmerinteressen hätten Sie ihn darüber eigentlich informieren müssen.“ „Genau deshalb habe ich mich mit dem Alten in die Flicken bekommen.“ „Da ist einem das Hemd natürlich näher als die Hose, nicht wahr?“

Stock schwieg. Ich wusste auch so, dass es mit dem Betriebsklima bei weitem nicht so gut bestellt war, wie es mir Kolbe weismachen wollte. Mit dem Verschwinden von Ralf Rosskopf war es nach meinem Kenntnisstand irrelevant. „Zumindest hat Ralf ein tadelloses Zeugnis ohne versteckte Haken und Ösen bekommen“, erklärte Stock. „Ich habe mich persönlich dafür eingesetzt.“ Hoppala, das widersprach sich aber gewaltig. „Ist Ihnen bekannt, ob er mit diesem Zeugnis eine andere Anstellung fand?“ Mein Gegenüber zuckte mit den Achseln. „Da bin ich überfragt. Herr Rosskopf und ich hatten nach seiner Entlassung keinen Kontakt.“

„Welcher Art war eigentlich der Unfall Ihres Chefs?“ Stock rieb sich die Nase, sah mich nachdenklich an und warf schließlich seine Bedenken, mit mir darüber zu sprechen, über Bord. „Der Chef hatte mal wieder Zoff mit seiner Frau, als es passierte. Er war sicherlich dadurch abgelenkt. Der Unfall geschah auf dem Weg zu seinem Auto. Der Chef missachtete die Vorfahrt eines Lastwagens. Offenbar hatte er ihn nicht kommen sehen. Jedenfalls konnte der Fahrer nicht mehr rechtzeitig bremsen und überrollte ihn schließlich.“ „Das klingt nicht gut“, lief es mir eiskalt den Rücken hinunter.

Ich dachte an diverse Auseinandersetzungen, die ich in der Vergangenheit mit Miriam hatte und an meine Reaktionen darauf. Nicht selten hatte ich meinen Kummer in Alkohol ertränkt. Ein, zwei Schnäpse, um den Frust hinunterzuspülen waren für mich verständlich. Im Hinblick auf Kolbes schrecklichen Unfall waren sie natürlich fatal.

„Zu allem Überfluss verlor seine Tochter daraufhin ihre Stimme und weil das alles noch nicht reichte, verließ ihn auch noch seine Ehefrau“, beschrieb Stock ein wahres Horrorszenario. „Ich wunderte mich schon, weil ich auf dem Schreibtisch Ihres Chefs nur ein Bild mit seiner Tochter sah“, merkte ich an. „Soviel ich weiß, soll die Nochehefrau des Chefs mit ihrem Lover auf Teneriffa leben und dort eine Tauchschule betreiben“, verriet mir Stock. Ich war geschockt. „Was ist das für eine Mutter, die ihr eigenes Kind für ihren Geliebten zurücklässt?“ „Was ist das für eine Ehefrau, die ihren Mann in der Not im Stich lässt?“, fügte Stock an.

„Es ist ein Wunder, wie der Alte alles unter den Hut bekommt“, seufzte der Mann mit dem Lippenstift am Hals. „Wer kümmert sich denn um die Kleine, wenn Kolbe hier in der Firma ist?“, erkundigte ich mich. „Das war zunächst wohl gar nicht so einfach. Das Mädchen ist ja erst neun Jahre. Inzwischen gibt es eine Psychologin, die sich um das Kind bemüht.“ Ich hatte schon öfter von Behinderungen gehört, die sich durch ein traumatisches Erlebnis einstellten, aber in diesem Fall hatte sich das Kind nicht im Unfallwagen befunden. Ich fragte mich, ob der bloße Anblick ihres verletzten Vaters schon ausgereicht hatte, um ein solches Trauma hervorzurufen.

„Ich kann Ihnen wirklich nichts mehr dazu sagen“, riss mich Stock aus meinen Gedanken. „Leider habe ich keine Visitenkarte mehr, aber Frau Paulus kann Ihnen ja die geben, die ich gerade bei ihr gelassen habe.“ Stock sah mich verdutzt an. „Falls Ihnen noch etwas einfällt, wäre es nett, wenn Sie mich anrufen.“ „Geht klar.“

Viel hatte mir der Besuch des Autohauses nicht gebracht. Ein Ansatzpunkt konnte die Spielsucht des Vermissten sein. Meine Auftraggeberin hatte davon allerdings nichts erwähnt. Ich nahm mir vor, sie danach zu fragen, wenn ich ihr das Foto zurückbrachte. Zunächst wollte ich mich allerdings in der Szene umhören, ob Rosskopf dort bekannt war.

-4-

Fünf Monate zuvor.

Es ging gerade ein leichter Schauer nieder, als der blaue VW Bus auf der Landstraße zwischen Fümmelse und Wolfenbüttel seine Geschwindigkeit reduzierte, bis er neben dem Fahrrad des neunjährigen Mädchens fuhr. Anna war wegen dem wenigen Platz, den ihr der Fahrer des Wagens gelassen hatte, gezwungen, immer weiter am Straßenrand zu fahren. Als weit und breit kein anderer Wagen zu sehen war, drängte sie der Fahrer ganz von der Fahrbahn ab.

Anna stürzte vom Rad und fiel in den Graben. Der VW Bus stoppte. Der Fahrer stieg aus, vergewisserte sich, ob es Zeugen gab, zog eine Sturmhaube über, öffnete den Laderaum und stieg zu dem Mädchen in den Graben. Erst jetzt begriff Anna den Ernst der Situation und rief um Hilfe. „Hör auf zu plärren, sonst muss ich dich knebeln!“ Das Mädchen realisierte die Worte des Mannes nicht. Sie hatte Angst und sie hatte Schmerzen am Knie. Der Mann riss ein breites Stück Klebeband von einer Rolle, die im Laderaum bereit lag und klebte diesen über Annas Mund. Dann fixierte er ihre Hände damit und zog sie unter ihrem Fahrrad hervor.

Ein hastiger Blick in beide Fahrtrichtungen der Straße verschafft ihm die Gewissheit, dass er immer noch allein mit dem Kind war. Er schob sie in den Bulli und stieg noch einmal in den Graben, um das Fahrrad zu holen. Anna versuchte den Moment zur Flucht zu nutzen. Sie sprang von der Ladefläche und stürzte. Das Klebeband über ihrem Mund löste sich. Sie rappelte sich auf, doch ihr Fluchtversuch blieb nicht unbemerkt.

„Hiergeblieben!“, fauchte sie der Mann an, während er sie auch schon am Arm packte und zurück in den Bulli drückte. Bevor er sich wieder um das Fahrrad kümmerte, wickelte er das Klebeband um ihre Beine und einmal komplett um ihren Kopf. Dann schnappte er sich das rote Kinderfahrrad und warf es neben sie auf die Ladefläche. Anna hatte Todesangst, als er die Seitentür zuzog und es um sie herum dunkel wurde.

Der Bulli setzte sich in Bewegung. Das Rad schepperte über den Blechboden. In den Kurven wurde das Mädchen immer wieder hin und hergeworfen. Sie versuchte an das Handy in ihrer Jackentasche zu gelangen. Der Mann hatte es ihr nicht abgenommen. Durch das Klebeband, mit dem Ihre Hände gefesselt waren, gelangte sie jedoch nicht an die Jackentasche. In ihrer Verzweiflung versuchte sie sich von den Fesseln zu befreien. Da die Fahrt jedoch bereits nach wenigen Minuten endete und die Tür wieder aufgezogen wurde, blieb ihr nicht genug Zeit.

Der Mann packte sie, nahm sie unter den Arm und trug sie wie ein Sack Kartoffeln durch eine Tür in eine große Halle. Anna hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Sie versuchte so viel wie möglich zu sehen, sich Details einzuprägen, doch nichts von dem, was sie sah, kam ihr bekannt vor. Was um Himmels Willen wollte der Mann von ihr? Wo brachte er sie hin? Während er sie trug, wehrte sie sich nach Leibeskräften, doch all das Winden und Strampeln nutzte ihr nichts. Der Mann war einfach zu stark. Mit der Sturmhaube wirkte er bedrohlich.

Er schleppte sie in den hinteren Bereich der Halle und weiter in einen Raum, der sich anschloss. Als Anna sah, dass er den Deckel einer riesigen Gefriertruhe öffnete, unternahm sie einen letzten verzweifelten Versuch, sich zu befreien. Natürlich hatte sie gegen den kräftigen Mann nicht den Hauch einer Chance. Er durchsuchte ihre Taschen und fand das Handy. Anschließend befreite er sie von dem Klebeband, welches er ihr um Mund und Kopf gewickelt hatte und legte sie in die Truhe. Anna schrie so laut sie konnte.

„Das kannst du dir sparen, hier kann dich niemand hören. Je eher dein Vater für dich bezahlt, umso früher bist du wieder frei.“ „Ich will da nicht rein!“, wehrte sich Anna mit letzter Kraft. „Hör zu, Kleine, ich sage es nur einmal. In der Truhe sind Luftlöcher, wenn du sie verstopfst, wirst du ersticken. An der Seite findest du einen Eimer, falls du mal musst, und eine Taschenlampe. Wenn du sparsam mit dem Licht bist, werden die Batterien ausreichen. Ich habe dir eine Flasche Brause und etwas zu essen neben den Eimer gelegt. Wenn alles so läuft, wie ich es mir vorstelle, bist du morgen wieder bei deiner Familie.“

Mit diesen Worten hob er Anna in die Truhe, befreite sie von dem Klebeband um ihre Handgelenke und schloss den Deckel. Anna schrie immer noch aus Leibeskräften, doch sie konnte den Mann nicht daran hindern, die Truhe zu verschließen und unter schweren Gegenständen zu verbergen. Zunächst fiel spärliches Licht durch die Lüftungslöcher, doch nachdem der Mann die Tür zu dem Raum geschlossen hatte, spürte sie nur noch einen schwachen Luftstrom, der auf dem gleichen Weg in die Truhe gelangte.

Nach einer Weile realisierte Anna, dass sie tatsächlich niemand hören würde. Während ihre Schreie erstarben, liefen die Tränen. Sie fürchtete sich vor der Rückkehr des Mannes und sie fürchtete sich vor der Dunkelheit und dem Ort, an dem sie eingesperrt war. Nachdem sie sich etwas beruhigt hatte, tastete sie den Boden der Truhe nach der Taschenlampe ab. Sie fand sie schließlich und schaltete sie ein. Sie sah die weißen Wände aus Blech, die sie umgaben. Sie sah die Decke, die auf dem Boden ausgebreitet war. Anna richtete ihren Oberkörper auf und sah den Eimer, die Brauseflasche und das Essen, welches sich daneben, am anderen Ende der Truhe befand. Ein muffiger Geruch kribbelte ihr in der Nase, löste einen leichten Ekel in ihr aus. Jetzt erst spürte sie den Schmerz in ihren Beinen und sie fühlte eine heftige Beule an ihrem Kopf. All das hatte viel Kraft gekostet und so kauerte sie sich in einer Ecke zusammen und schlief irgendwann ein.

-5-

„Ich mache keine Scherze, Herr Kolbe!“, wurde die verzerrte Stimme nachdrücklicher. „Wenn Sie Ihre Tochter lebend wiedersehen wollen, halten Sie bis morgen um 15 Uhr 250000 Euro bereit. Sollten Sie die Polizei einschalten, ist Ihre Tochter tot. Wenn Sie das Geld nicht aufbringen können, ist Ihre Tochter tot.“ „Wer sagt mir denn, ob Sie mein Kind wirklich entführt haben und ob es Anna gut geht? Ich will sofort mit ihr sprechen!“ „Sie haben hier keine Forderungen zu stellen!“, erwiderte der Entführer wutentbrannt. „Eine viertel Million, oder Ihre Tochter ist tot. Sie haben die Wahl.“

Mit diesen Worten beendete der Anrufer das Gespräch. Michael Kolbe war kreideweiß, als er das Telefon zur Seite legte. In diesem Moment wurde die Haustür geöffnet und seine Frau kam herein. Sie stellte die Einkaufstaschen gut gelaunt auf den Küchentisch, zog den Mantel aus und warf ihn über einen Stuhl. „Hallo Schatz“, ließ sie die offene Küche hinter sich, um an der Bar im Wohnbereich nach der Flasche Sherry zu greifen. So, wie es seit einiger Zeit zur Gewohnheit geworden war.

Michael riss ihr wortlos die Flasche aus der Hand. „Spinnst du?“, keifte sie ihn an. „Wo ist Anna?“, blökte er zurück. „Ist sie nicht zu Hause?“ Ihr Mann griff sie mit beiden Händen an den Schultern und schüttelte sie. „Wieso hast du Anna nicht vom Reiterhof abgeholt?“ Franziska Kolbe griff erneut nach dem Sherry. „Deine Prinzessin ist alt genug. Außerdem wollte sie mit dem Fahrrad fahren.“ „Du bist so erbärmlich“, fand er kaum Worte, um seine Empfindungen auszudrücken. „Anna muss bei Wind und Wetter mit dem Rad fahren, damit du in aller Ruhe shoppen kannst. Du solltest dich in Grund und Boden schämen!“ „Also hör...“ „Darum geht es jetzt nicht“, ließ Michael Kolbe seine Frau nicht zu Wort kommen. „Anna wurde entführt. Ich soll bis morgen eine viertel Million zahlen.“

Franziska Kolbe schenkte sich ein großes Glas Sherry ein und leerte es in einem einzigen Zug. „Hast du die Polizei schon angerufen?“ „Der Entführer hat mich eindringlich davor gewarnt“, entgegnete ihr Ehemann. „Aber das tun die doch immer“, relativierte Franziska, während sie sich ein weiteres Glas einschenkte. „Hör jetzt endlich mit dem Saufen auf!“, schrie er sie an. „Du musst jetzt einen klaren Kopf bewahren.“ „Es reicht doch, wenn du nüchtern bist.“ Als sie erneut ansetzen wollte, schlug ihr der Unternehmer das Glas aus der Hand. „Kapierst du es nicht? Unser Kind wurde entführt!“

Franziska Kolbe sah ihrem Mann mit vernebeltem Blick ins Gesicht. „Du bist ja betrunken“, stellte er entsetzt fest. „Was du nicht sagst. Da habe ich mir in der Stadt wohl schon ein Likörchen gegönnt.“ Michael Kolbe winkte ab. Von seiner Frau hatte er keine Unterstützung zu erwarten. So viel stand fest. „Damit eins klar ist...“, gab er ihr unmissverständlich zu verstehen, “...du wirst die Polizei nicht anrufen. Wir müssen alles vermeiden, was Annas Leben gefährden könnte. Wenn Sie wieder zu Hause ist, können wir uns das Geld wieder zurückholen.“ „Du bist der Boss“, lallte Franziska, während sie sich in die Sofaecke lümmelte.

Michael und Franzi hatten seit einiger Zeit Probleme. Sie war unausgeglichen und sie fühlte sich von ihrem Mann unverstanden. Es gab Tage, an denen sie depressiv war und Tage, an denen sie wie aufgezogen wirkte. Die Rolle als Hausfrau und Mutter füllte sie schon seit längerem nicht mehr aus. Immer dann, wenn ihr dies bewusst wurde, versuchte sie ihre Unzufriedenheit mit einer Shoppingtour zu kompensieren. Doch dies reichte in letzter Zeit nicht mehr aus und so benebelte sie sich immer öfter die Sinne mit Alkohol.

Die Zeit, in der die Eheleute miteinander reden konnten, war längst vorbei. Michael machte sich nicht einmal mehr die Mühe, seine Frau zu verstehen. Er konzentrierte seine Kraft auf die Firma. Nach dem Ausscheiden seines Partners vor drei Jahren musste er sich um alles selber kümmern. So war es nur logisch, dass er immer mehr Zeit aufwenden musste, um seiner Verantwortung als Unternehmer gerecht zu werden. Die wenige Zeit, die ihm blieb, verbrachte er überwiegend mit Anna, die er über alles liebte.

Dass seine Ehe dabei auf der Strecke blieb, war eine logische Konsequenz, der er sich nicht bewusst war. Für ihn war die klassische Rollenverteilung unabdingbar. Während er für den Unterhalt sorgte, sollte sich seine Ehefrau um das Wohl der Familie kümmern. Nun hatte diese heile Fassade einen tiefen Kratzer bekommen. Jetzt, da er Franziska brauchte, funktionierte sie nicht. Zum ersten Mal war ihm dies wirklich bewusst geworden. Sobald Anna wieder da war, wollte er sich darum kümmern.

Eine viertel Million war genau die Summe, die er in seinem Tresor aufbewahrte. Schwarzgeld, welches er an der Steuer vorbei in den letzten Jahren angehäuft hatte. Der Unternehmer fragte sich, ob dies Zufall war, oder ob der Entführer davon wissen konnte? Er verwarf diesen Gedanken ebenso schnell, wie er ihm gekommen war. Es konnte nur Zufall sein. Franzi hatte keine Ahnung von seinem Notgroschen und die Kombination für den Tresor war ausschließlich ihm bekannt.

Obwohl er genau wusste, dass er die gewünschte Summe im Safe hatte, begab er sich in sein Büro, verschloss die Tür und nahm das Geld aus dem Tresor. Er zählte es und tat es in eine Plastiktüte. Er hatte nicht eine Sekunde gezögert, als ihn der Entführer vor die Wahl stellte. Für kein Geld der Welt würde er das Leben seiner Tochter gefährden. Es war nur Geld, sonst nichts. Einzig die Tatsache, dass sich Franziska nicht an die Absprache gehalten und Anna nicht vom Reitstall abgeholt hatte, ärgerte ihn maßlos.

Nachdem er das Geld zurückgelegt hatte, kehrte er ins Wohnzimmer zurück. Franziska war inzwischen auf dem Sofa eingeschlafen. Er deckte sie mit einer Decke zu und setzte sich mit einem Glas Whisky in einen der Sessel. Während er seiner Frau beim Schlafen zusah, überlegte er, wer der Entführer sein konnte. Wer kannte Annas Gewohnheiten und wusste von ihrem Hobby? Hatte er sie beobachtet? Gab es jemanden, dem er kürzlich auf die Füße getreten war? Er war Unternehmer, natürlich gab es im Zusammenhang mit seinen Geschäften immer wieder Menschen, die sich von ihm übervorteilt fühlten.

Michael Kolbe war ratlos. Seiner Meinung nach gab es in diesem Zusammenhang nichts, was die Entführung seiner Tochter rechtfertigen würde. Ob Justus Marschall, sein ehemaliger Partner, dahintersteckte? Drei Jahre war es inzwischen her, dass er sich von ihm getrennt und ihn ausgezahlt hatte. Seine Zockerei hatte ihre Freundschaft und nicht zuletzt die Firma in ernste Schwierigkeiten gebracht. Justus hatte sich an der Firmenkasse vergriffen, um seine Spielschulden zu zahlen. Als es Michael bemerkte, hatte Justus bereits eine sechsstellige Summe veruntreut.

Als die Sache aufflog, zeigte sich sein Partner reumütig. Die beste Lösung erschien beiden die Trennung und damit seine Auszahlung zu sein. Als die Firma daraufhin bewertet wurde, fiel der Betrag, der ihm nach Abzug der Veruntreuung blieb, geringer aus, als von ihm erwartet. Wie so oft, wenn sich Partner trennen, glaubte Justus von Michael betrogen worden zu sein. Da Kolbe nichts mehr von seinem ehemaligen Partner hörte, glaubte er, dieser habe sich besonnen und letztendlich mit der Restsumme abgefunden. Sollte er sich nun in solch niederträchtiger Weise an ihm rächen wollen?

Kolbe überlegte, ob er seinen ehemaligen Partner anrufen und ihn gerade heraus nach der Entführung fragen sollte, verwarf diesen Gedanken jedoch wieder, weil ihm das Risiko zu hoch erschien. Sollte er mit seiner Vermutung ins Schwarze treffen, würde er Anna unnötig gefährden. Er traute Justus Marschall einiges zu, aber um eine solche Aktion durchzuführen, war er definitiv zu weich.

Immer und immer wieder waren ihm die Worte des Entführers durch den Kopf gegangen. Immer und immer wieder musste er auch an Franzis Worte denken. War es wirklich besser, sich an die Forderung des Mannes zu halten und die Polizei aus der Sache herauszulassen? Es war nicht nur die Warnung des Entführers, sondern auch die Tatsache, dass er in diesem Fall kein Schwarzgeld verwenden konnte, sondern einen Bankkredit aufnehmen musste, um die Lösegeldforderung bedienen zu können. Wenn die Tat nicht nur aus der Gier nach Geld, sondern aus Hass gegen ihn motiviert war, würde der Täter nach seiner Festnahme den Ort, an dem er Anna versteckt hielt, möglicherweise nicht preisgeben. Ein solches Risiko konnte er auf keinen Fall eingehen. Es war schlimm genug, nicht zu wissen, wie es Anna ging. In diesen Stunden nicht bei ihr sein zu können, sie zu trösten und ihr Mut zuzusprechen, brach ihm das Herz.

Er sah zu Franziska hinüber. Sie schlief völlig entspannt. Es schien ihm, als habe sie die Entführung ihres Kindes in ihrem von Alkohol vernebelten Hirn gar nicht mitbekommen. Michael schüttelte ratlos den Kopf. Warum nur hatte sie sich so sehr verändert? Was hatte das Leben mit ihnen gemacht? Was hatte es aus ihrer Ehe gemacht? War es schon zu spät, um auf die Reset Taste zu drücken und noch einmal dort zu beginnen, wo sie den Faden zueinander verloren hatten? Vielleicht konnte die Entführung der Anlass für einen Neubeginn sein? Waren ihre Gefühle füreinander überhaupt noch stark genug? Michael war klar, dass es so nicht weitergehen konnte. Wenn er ihre Ehe retten wollte, mussten sie miteinander reden. Möglicherweise sogar zu einer Paartherapie gehen.

-6-

Irgendetwas war da draußen, tippelte durch den Raum und nun sogar über die Truhe. Anna war davon aus dem Schlaf geschreckt. Sie hatte Angst, suchte panisch nach der Taschenlampe. Irgendwo musste sie doch liegen! Sie hatte die Lampe doch direkt neben sich abgelegt. Da, da war es wieder, dieses Trippeln. „Hallo! Ist da jemand?“, rief Anna verzweifelt in die Dunkelheit. Doch eine Antwort blieb aus. „Hallo! Ich bin hier drinnen, in der Truhe. Bitte helfen Sie mir!“ Anna schlug an die Blechwände ihres Gefängnisses. Dann lauschte sie. Was immer da draußen war, es rührte sich nicht mehr.

Nun waren es leise Tränen, die Anna weinte. Wenigstens spürte sie plötzlich die Taschenlampe unter sich. Sie schaltete sie ein. Der Lichtkegel leuchtete auf den Eimer. Bis jetzt hatte sie nichts von dem genommen, was ihr der Mann in der Truhe an Essen und Trinken zurückgelassen hatte, aber nun war ihr Durst zu stark geworden, um es nicht anzunehmen. Langsam schob sie sich zur Flasche, öffnete sie und nahm einen ersten, zaghaften Schluck. Gleich darauf einen zweiten. Dann sah sie nach, was in der Frischhaltebox lag.

Sie konnte es kaum glauben, als sie darin den Kuchen entdeckte, den sie am liebsten aß. Woher wusste der Mann davon, oder hatte er durch Zufall die Plunderstücke gewählt? Als sie gegessen hatte, schob sie den Rest zurück in die Frischhaltebox. Eigentlich musste sie auch auf die Toilette, doch der Anblick des Eimers ließ sie zögern. Irgendwann blieb ihr nichts anderes übrig, als ihn zu benutzen.

Immer wieder sah sie auf ihre Uhr, zählte die Stunden, die immer langsamer zu vergehen schienen und dachte an die Worte des Mannes. ‘Wenn alles so läuft, wie ich es mir vorstelle, bist du morgen wieder bei deiner Familie'. Anna war klug genug, um sich denken zu können, dass der Mann ihre Eltern um Geld erpressen wollte. Immer wieder hatte sie solche Sendungen im Fernsehen gesehen. Nun war sie selbst entführt worden. Anna fragte sich, was ihre Freundinnen in der Schule sagen würden, wenn sie ihnen davon erzählte. Aber was war, wenn ihr Vater nicht genug Geld hatte oder wenn niemand erfuhr, wo sie war?

Sie versuchte diese Gedanken zu verdrängen, doch einmal da, waren sie nicht mehr zu ignorieren. Mit jeder Stunde, die verging, wurden diese Gedanken stärker und die Angst davor, in der Truhe zu verhungern, ließen jeden ihrer Atemzüge schneller werden. Schließlich brach in ihr Panik aus. Sie begann zu schreien, trommelte mit Fäusten und Füßen gegen die Innenwände der Truhe. Sie stemmte sich gegen den Deckel der Truhe und versuchte ihn mit aller Kraft nach oben zu drücken. Erst als sie keine Kraft mehr hatte, rollte sie sich zusammen und weinte, bis sie schließlich irgendwann völlig erschöpft einschlief.